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Nr. 960

 

Das UFO-Serum

 

Diagnose Bebenkrebs – eine neue Krankheit bringt den Tod

 

von MARIANNE SYDOW

 

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Man schreibt den August des Jahres 3587 terranischer Zeitrechnung. Perry Rhodan setzt in Weltraumfernen seine Expedition mit der BASIS planmäßig fort. Dem Terraner kommt es, wie erinnerlich, darauf an, sich Zugang zu einer Materiequelle zu verschaffen, um die so genannten Kosmokraten davon abzuhalten, die Quelle zum Schaden aller galaktischen Völker zu manipulieren.

Alle sieben Schlüssel, die zusammen mit Laires Auge, das ebenfalls Perry Rhodan übergeben wurde, das Durchdringen der Materiequelle erlauben sollen, sind bereits im Besitz des Terraners. Und während dieser nun hofft, auch bald die Materiequelle selbst auffinden zu können, spitzt sich die Lage in der Menschheitsgalaxis immer mehr zu.

Die Verantwortlichen der Liga Freier Terraner und der GAVÖK sind gleichermaßen beunruhigt über das Auftreten der Orbiter und ihrer Flotten. Die so plötzlich aufgetauchten Fremden, die alle das Aussehen der sieben letzten Flibustier besitzen, sehen ihre Aufgabe darin, die Garbeschianer – so bezeichnen sie alle Humanoiden – aus der Galaxis zu vertreiben.

Neben den Orbitern kommt nun noch eine weitere Gefahr auf die Menschheit zu. Es ist eine tödliche Krankheit, die nur bekämpft werden kann durch DAS UFO-SERUM ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Alurus – Ein Diener der Kosmokraten.

Kert Davort und Leevina Worsov – Zwei jugendliche Ausreißer.

Denver – Ein vernünftiger junger Terraner.

Kiranzohn – Ein besonders pflichtbewusster Kommandant der GAVÖK.

Julian Tifflor – Der Erste Terraner begegnet den UFO-Leuten.

1.

 

Julian Tifflor war gerade dabei, sich über die letzten Ereignisse zu informieren, als Ronald Tekener in sein Büro kam und ihm schweigend eine Folie vorlegte. Tifflor drückte auf einen Knopf, und die in flottem Tempo durchlaufenden Nachrichtentexte verschwanden von dem kleinen Bildschirm. Der Erste Terraner widmete sich der Folie, denn wenn Tekener ihm eine Information so nachdrücklich ans Herz legte, tat man normalerweise gut daran, sich um die Angelegenheit zu kümmern.

Als der Erste Terraner dann aber den Text auf der Folie las, wäre er fast in seinem Vertrauen in die überragenden Fähigkeiten des ehemaligen USO-Spezialisten schwankend geworden.

»Tahun meldet sprunghaftes Ansteigen der Zahl von Neueingängen, die unter Leukämie leiden«, stand da in ziemlich holperigem Interkosmo, so dass Tifflor sich unwillkürlich fragte, auf welchen Umwegen die Nachricht nach Terra gelangt sein mochte. Über Tahun stand eine gigantische Flotte von Keilschiffen, und die Orbiter hatten entschieden etwas dagegen einzuwenden, dass die Bewohner der von ihnen belagerten Planeten Verbindungen irgendeiner Art zu den übrigen Welten der Milchstraße unterhielten.

Tifflor sah auf und schüttelte unwillkürlich den Kopf.

»Was soll das?«, fragte er ärgerlich. »Hat man auf Tahun kein AL-Serum mehr? Wir werden kaum welches hinschicken können. Die Orbiter haben für so etwas überhaupt kein Verständnis.«

»Tahun ist in dieser Beziehung autark«, erklärte Tekener. »Sie können das Serum in nahezu unbegrenzten Mengen herstellen.«

»Aber dann ...«

»Es hilft den Kranken nicht«, schnitt ihm der Mann mit dem Narbengesicht das Wort ab. »Das Serum wirkt nicht.«

Tifflor ließ sich zurücksinken. Er starrte Tekener nachdenklich an.

»Warum kommst du damit zu mir?«, fragte er schließlich. »So etwas ist eine Aufgabe für Wissenschaftler. Ich kann nichts für die Kranken tun. Oder erwartest du etwa von mir, dass ich dich und Jenny nach Tahun schicke, damit ihr dort Mikroben jagt? In diesem Fall muss ich dich enttäuschen. Ich brauche euch für andere Aufgaben, die mir dringlicher erscheinen.«

»Fahr doch nicht gleich aus der Haut«, bat Tekener lächelnd. »Es geht um folgendes: Wenn ich meine Lektionen in Geschichte nicht ganz und gar vergessen habe, wurde das AL-Serum genau zur selben Zeit entwickelt, zu der Perry Rhodan den ersten Flug zum Mond unternahm. Einer der ersten Patienten, denen man mit diesem Serum das Leben rettete, war der Arkonide Crest – womit bereits bewiesen wäre, dass das Zeug auf Lemurerabkömmlinge aller Art wirkte, nicht nur auf Terraner. Rund eintausendsechshundert Jahre lang verwendete man das Serum in der galaktischen Medizin, und es hat sich immer wieder als absolut zuverlässig erwiesen. Wenn es jetzt auf einmal versagt, dann muss etwas faul sein an der ganzen Angelegenheit!«

»Vielleicht haben die Giftköche von Tahun versehentlich die falschen Zutaten verwendet«, überlegte Tifflor, warf einen Blick auf Tekener und hob lächelnd die Hände. »Schon gut, ich weiß, dass dieser Verdacht absurd ist.«

»Du wirst es nicht glauben, aber ich habe auch daran gedacht«, nickte Tekener. »Aber es ist nicht anzunehmen, dass man zur selben Zeit auf Aralon denselben Fehler machte.«

»Soll das heißen, dass es auch dort solche Fälle gibt?«

»Allerdings. Die Aras sprechen bereits von einer neuen Seuche.«

»Wie viele Kranke dieser Art haben sie denn auf Aralon?«, fragte Tifflor bestürzt.

»Ein paar hundert.«

»Ein bisschen wenig für eine Seuche, wie?«

»Vielleicht. Aber die Dunkelziffer ist hoch. Es werden schließlich nicht alle Kranken auf diese beiden Planeten geschafft. Wer weiß, wie viele Fälle es jetzt schon gibt, Kranke, die in irgendwelchen Kliniken liegen und von denen man gar nicht weiß, was in Wirklichkeit mit ihnen los ist.«

»Unsinn. Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter! Die Diagnosegeräte ...«

»... versagen wie das Serum«, fiel Tekener ihm ernst ins Wort. »Nachdem ich diese lakonische Nachricht durch einen Zufall in die Hände bekam, habe ich mich intensiv darum gekümmert, und ich habe einiges herausgefunden, was mir die Haare zu Berge stehen ließ. Tiff, diese verdammte Krankheit wird immer mysteriöser, je eingehender man sich mit ihr beschäftigt. Es gibt keinen Erreger. Man hat mit allen nur denkbaren Mitteln nach ihm geforscht – er ist nicht auffindbar. Das Krankheitsbild hat Ähnlichkeit mit dem, was nach Kontakten mit einigen Giften auftritt. Darum vermutet man eben auch, dass die Krankheit in vielen Fällen nicht richtig diagnostiziert wird. Die Geräte zeigen nur Krankheiten an, die sie kennen und auf die sie programmiert sind.«

»Sie geben Alarm, wenn sie auf etwas Unbekanntes stoßen«, stimmte Tifflor zu.

»Und genau da wird es interessant«, fuhr Tekener grimmig fort. »Du weißt, wie es um den Nachschub an komplizierten technischen Geräten bestellt ist. Es herrscht überall noch ein gewisser Mangel, wir haben die Folgen der Konzilsherrschaft noch lange nicht überwunden. Ein Teil der Geräte, die man in Betrieb hat, ist überaltert und darum mit allerlei Fehlern behaftet. Ärzte sind auch nur Menschen – manche Diagnosegeräte gaben und geben so oft Alarm, dass man sich allmählich daran gewöhnt. Nur in knapp einem unter tausend Fällen ist der Alarm berechtigt. Und darum sind viele Fachkräfte auf einen ganz einfachen Trick verfallen.«

»Wie sieht der aus?«, fragte Tifflor, und eine böse Vorahnung befiel ihn.

»Ganz einfach. Man schaltet den Alarm ab und fordert das Gerät auf, die Symptome einem speziellen Auswertungssystem zu überspielen. Dieses zweite Gerät nun vergleicht die gelieferten Daten mit dem bereits gespeicherten Material. Sobald es ein Krankheitsbild gefunden hat, das dem vom Diagnostiker geschilderten in allen wesentlichen Punkten entspricht, spuckt es ein Ergebnis aus. Damit ist die Diagnose gestellt, und die Behandlung kann beginnen. In den allermeisten Fällen geht das gut. Aber bei einer Krankheit, die noch völlig unerforscht ist, kann man diese Methode ruhig als Mord bezeichnen. Der Kranke bekommt gar keine Chance. Erst wenn sich sein Zustand trotz der angeblich optimalen Behandlung noch verschlechtert, zieht man ein zweites Diagnosegerät heran. Es ist durchaus denkbar, dass nun das böse Spiel von vorne beginnt. Aber vielleicht hat der Patient auch Glück und wird an einen Spezialisten weitergereicht, der sich auf seinen eigenen Verstand verlässt. Fast alle Fälle, die man auf Aralon hat, haben einen solchen Leidensweg hinter sich.«

»Das ist alles sehr tragisch«, sagte Julian Tifflor nach einer langen Pause. »Aber ich weiß immer noch nicht, wie ich in diesem Fall helfen könnte. Soll ich etwa einen Appell an das gesamte medizinische Personal richten?«

Ronald Tekener beobachtete den Ersten Terraner, und er stellte fest, dass Tifflor nervös war, fast schon gereizt. Das war kein Wunder. Gigantische Flotten der Orbiter standen über Olymp, Tahun und anderen wichtigen Planeten der GAVÖK. Ein Krieg von unvorstellbaren Ausmaßen schien fast unvermeidlich, denn man würde die Forderungen der Orbiter nicht erfüllen können. Diese rätselhaften Wesen hielten alle Lemurerabkömmlinge der Milchstraße für Angehörige der Horden von Garbesch, und es war ihr Auftrag und wohl auch einziger Daseinszweck, diese Horden zu bekämpfen und zu vertreiben.

Nichts anderes hatten sie nun mit der großen Schar menschlicher Völker in dieser Galaxis vor: Sie alle sollten die von ihnen »unterdrückten« Planeten stehenden Fußes verlassen und auf und davon fliegen, mindestens bis zum Andromedanebel, so musste man wenigstens annehmen.

Waren die Orbiter bereits eine Bedrohung, wie sie der Menschheit nie zuvor begegnet war, so stellten die Weltraumbeben ein mindestens ebenso gefährliches Phänomen dar. Sie kamen ohne jede Ankündigung und zogen Raumschiffe, Stationen, Satelliten oder auch ganze Planeten in den Strudel der Vernichtung. Wie aus dem Nichts entstanden bewegliche Gravitationsfelder von unvorstellbarer Stärke, und was in ihren Bann geriet, das wurde zermalmt und zerdrückt.

Der einzige, der zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht etwas gegen die Orbiter ausrichten konnte, war der Vario-500, dem Durchschnittsmenschen allein in seiner organischen Maske als Anson Argyris, König der Freifahrer, bekannt. Der Vario war auf dem Weg zu den geheimen Stützpunktwelten der Orbiter, und es schien, als hätten diese Wesen den blinden Passagier noch nicht entdeckt.

Gegen die Weltraumbeben dagegen konnte man gar nichts tun.

Über die Orbiter hatten sie erst vor zwei Tagen einiges erfahren, woraus sich vielleicht in absehbarer Zeit eine Lösung ableiten ließ. Die echten Flibustier, denen die Orbiter nachgebildet waren, hatten einen umfangreichen Bericht geliefert. Seitdem diese ehemaligen Piraten außerdem umfassende Geständnisse abgelegt hatten, um ihre Identität zu beweisen, wusste man, dass sie die Wahrheit sagten.

Julian Tifflor war nicht der einzige, der in diesen Tagen nicht zur Ruhe kam. Aber auf dem Ersten Terraner lastete ein so hohes Maß an Verantwortung, dass ein schwächerer Mann als Tifflor schon längst darunter zusammengebrochen wäre.

Er könnte einen Erfolg gebrauchen, dachte Ronald Tekener. Es würde ihm neuen Mut geben.

Und als er das gedacht hatte, verkündeten ein leises Summen und ein rhythmisch flackerndes Lämpchen, dass ein Besucher im Vorzimmer wartete.

»Wer ist es?«, fragte Tifflor, nachdem er sich gemeldet hatte.

»Eine Bürgerin namens Rania Coftor«, kam die Antwort aus einem Lautsprecher. »Ihr Sohn Jed Coftor gehörte zu den Kindern, die vor einem halben Jahr von den so genannten UFOs entführt wurden.«

Julian Tifflor stand für einen Augenblick regungslos da.

»Schickt sie herein!«, bat er schließlich, und seine Stimme klang heiser. Er drehte sich um und sah Ronald starr an.

»Es war zu erwarten, dass die Eltern dieser Kinder sich eines Tages melden würden, Tiff!«, bemerkte Tekener sanft.

»Das ist es nicht«, sagte der Erste Terraner benommen. »Ron – kannst du dir vorstellen, wie mir zumute ist? Ich habe diese Kinder glatt vergessen ...«

2.

 

An einem ganz anderen Ort, unendlich weit vom Planeten Terra entfernt, fassten genau in diesem Augenblick, in dem Julian Tifflor sich voller Entsetzen eines weiteren Problems bewusst wurde, zwei kleine Terraner einen verhängnisvollen Entschluss.

»Wir laufen weg!«, sagten sie zu Bobby Tabir.

Bobby, ein kleiner, blasser Junge von sechs Jahren, sah die beiden älteren Kinder mit großen Augen an, und vor Staunen blieb ihm der Mund offen.

»Da hinaus?«, fragte er schließlich.

Kert Davort nickte. Er war mit zehn Jahren eines der ältesten Kinder in dieser Gruppe, ein robuster, etwas untersetzter Junge, vom Aussehen her einer der typischen, braunhäutigen Mischterraner dieses Zeitalters. Seine dunklen Augen blitzten, und er hielt die etwas kleinere Leevina Worsov an der Hand, als müsste er verhindern, dass sie ihm davonlief, ehe er seinen Fluchtplan durchführen konnte.

Der Schein trog, das wusste sogar Bobby. Leevina hatte den Teufel im Leib, und mit absoluter Sicherheit stammte die Idee zu diesem abenteuerlichen Unternehmen von ihr. Sie war ebenfalls schon zehn Jahre alt, aber kleinwüchsig und dünn, und mit ihren blonden Locken und den stets unschuldig blickenden blauen Augen wirkte sie zart und hilfsbedürftig wie kaum ein anderes der siebenundneunzig Kinder in der Station. Aber unter dem blonden Schopf saß ein Gehirn, das allem Anschein nach nur dazu da war, einen Streich nach dem anderen zu planen. Viele Kinder konnten ein Lied von Leevinas Erfindungsreichtum singen, und selbst Alurus schien bisweilen so etwas wie Respekt vor diesem Persönchen zu empfinden.

»Das sage ich Denver!«, kündigte Bobby an.

»Bist du verrückt geworden?«, zischte Kert. »Wenn du das tust, verprügele ich dich so sehr, dass du drei Tage lang nicht sitzen kannst!«

»Das wäre dumm«, behauptete Bobby altklug. »Dann weiß Alurus, dass ihr euch wieder etwas ausgedacht habt.«

»Alurus ist ein Dummkopf!«, rief Kert verächtlich, und Bobby, darauf abgerichtet, jeden sich bietenden Vorteil sofort zu ergreifen, wandte sich zur Flucht. So flink er aber auch war – Kert erwischte ihn. Der Zehnjährige packte Bobby bei beiden Schultern und warf ihn zu Boden. Bobby fiel aufs Gesicht, und das Gewicht des Größeren hinderte ihn daran, sich zu erheben. Er blieb still liegen, obwohl ihm das Blut aus der Nase rann, und wartete geduldig auf eine Chance. Vor einem halben Jahr hätte er wegen eines weit geringeren Schmerzes laut geweint. Inzwischen aber wusste er, dass er damit nur weiteres Ungemach herausgefordert hätte.

»Na warte«, knurrte Kert Davort, der sich dem kleinen Jungen gegenüber ungeheuer stark fühlte. »Es wird Zeit, dass du lernst, wie du dich uns gegenüber zu verhalten hast.«

Er kam auf die Knie, setzte sich auf Bobbys mageres Hinterteil und schlug mit beiden Fäusten auf Kopf, Rücken und seitliche Rippenpartien seines Opfers ein.

»Ich werde dich verprügeln, bis du uns gar nicht mehr verraten kannst!«, zischte er dabei. Er zielte auf Bobbys linkes Ohr und schlug zu.

»Lass ihn in Ruhe!«, sagte Leevina wütend.

Kert Davort war darüber so verblüfft, dass er für ein paar Sekunden von Bobby abließ.

»Was hast du gesagt?«, fragte er.

Leevina packte ihn am Arm und zog ihn hoch. Sie war nicht kräftig genug, um es mit Kert aufnehmen zu können, aber der Junge folgte dem Zug ihrer mageren Hände fast mechanisch. Er war stärker als Leevina, aber nicht so intelligent, und er ordnete sich dem Mädchen fast immer unter.

Bobby bekam von der Unterhaltung so gut wie nichts mit. Er spürte nur, dass plötzlich nicht mehr Kerts harte Knie ihm fast die Beine zerquetschten, kein Schlag traf ihn mehr, und so raffte er seine bescheidenen Kräfte zusammen. Er schoss vom Boden hoch wie eine Rakete und rannte den Korridor hinunter, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her.

»Er verrät uns!«, schimpfte Kert. »Ich muss ihn einholen. Er läuft doch bestimmt zu Denver, und dieser Trottel erzählt alles diesem Lackäugigen.«

Aber er blieb stehen, denn Leevina hielt ihn noch immer fest.

»Lass ihn doch«, sagte das Mädchen lachend. »Was kann er schon erzählen? Dass wir weglaufen wollen – das wird ihm niemand glauben. Sie denken doch alle, dass wir ihre Märchen glauben.«

»Hm«, machte Kert.

»Ich habe es dir doch schon oft genug erklärt«, sagte Leevina geduldig. »Du brauchst nur hinzusehen.«

Sie deutete dabei auf die transparente, äußere Wand des Korridors, und Kert empfand wie immer nackte Angst beim bloßen Anblick der Welt, die jenseits der schützenden Wände lag. Was er sah, das war ein einziger Albtraum aus wuchernden Pflanzen, armlangen Insekten und seltsamen, sich windenden Dingern zwischen niedrigen Farnkräutern.

»Sie haben uns immer wieder gesagt, dass wir draußen nicht leben können«, sagte Leevina eindringlich. Ihre blauen Augen funkelten unheimlich, und sie fasste Kert am Arm und führte ihn ganz dicht an die Wand heran. »Sie sagen, dass es zu heiß und zu nass ist und dass es giftige Tiere und mörderische Pflanzen gibt. Aber ich glaube ihnen nicht. Je öfter sie es sagen, desto größer wird die Lüge, die sie uns erzählen. Hast du das nicht endlich begriffen? Sie haben uns so viel Angst gemacht, und jetzt glauben sie ganz fest daran, dass wir nicht mal dann weglaufen würden, wenn alle Schleusen weit offen wären.«

»Und wenn es nun wahr ist?«, flüsterte Kert wie betäubt.

Leevinas glockenhelles Kinderlachen klang unheimlich angesichts der dampfenden grünen Hölle.

»Hast du es schon einmal erlebt, dass die Erwachsenen uns die Wahrheit sagen?«, fragte sie spöttisch. »Diese Steingesichter und Alurus sind Erwachsene, und sie lügen uns an, weil sie daran gewöhnt sind, Kinder zu belügen.«

Kerts sonst nicht sehr beweglicher Geist erspähte diesmal einen schwachen Punkt in Leevinas Beweisführung.

»Sie haben gar keine Kinder«, wandte er ein. »Sie wissen nicht, wie man uns behandelt.«

Leevina hasste nichts mehr, als wenn sie auf Widerstand traf. In ihren Augen lag für Sekunden ein gefährliches Leuchten, aber dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.

»Sie haben ihre Kinder nicht hier«, korrigierte sie nüchtern. »Schleppen unsere Eltern uns etwa mit sich herum, wenn sie einen Auftrag zu erledigen haben?«