Bernhard Winkler • So nicht!

Bernhard Winkler

So nicht!

Anklage einer
verlorenen Generation

ISBN 978-3-218-00885-3
Copyright © 2013 by Verlag Kremayr & Scheriau KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Kurt Hamtil, Wien
Lektorat: Katharina J. Schneider
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Inhalt

1. Anklagepunkt

Prolog

Politik und ich: Vom Freak zum Frustrierten

2. Anklagepunkt

Wie ich mein Interesse für Politik weckte und wie alles wieder zunichte gemacht wurde

3. Anklagepunkt

Wir suchen Superpolitiker, finden aber nur Phrasendrescher

4. Anklagepunkt

Das Geld regiert die Welt, die Politik ist sein Sklave

5. Anklagepunkt

Reißt endlich das Ruder rum, sonst entern Piraten das Parlament!

6. Anklagepunkt

Demokratie ist kein Kindergarten: Wir müssen hart arbeiten, um sie zu bewahren

7. Anklagepunkt

Politiker sind keine Landwirte. Warum betreiben sie dann Kuhhandel?

8. Anklagepunkt

Geiz ist auch in der Presse leider geil: Wo sollen wir uns in Zukunft seriös informieren?

9. Anklagepunkt

Im Laufschritt marsch zurück in die Vergangenheit

10. Anklagepunkt

Der Arbeitsmarkt ist kein Selbstbedienungsladen und die Jugend wartet nicht angeleint vor der Tür

11. Anklagepunkt

Generation ohne Lobby: Wir sitzen alle im selben Boot

12. Anklagepunkt

Ihr wechselt politisches Kleingeld auf Kosten der Jugend

13. Anklagepunkt

Alte gegen Junge: Eine Front, die es nicht gibt

14. Anklagepunkt

Jeder will jung aussehen, niemand will jung sein

15. Anklagepunkt

Verbannt Vorurteile von vorgestern, wir brauchen Platz in der Mitte

16. Anklagepunkt

Warum stellt ihr uns unter Generalverdacht? Auch für uns gilt die Unschuldsvermutung!

17. Anklagepunkt

Eigennutzen statt Gemeinwohl: Krisen machen uns zu Egoisten

18. Anklagepunkt

Konsumenten an die Macht! Die bösen Konzerne sind nur so böse wie wir selbst

19. Anklagepunkt

Die Europäische Union kennt ihr Ziel nicht, will es aber als Erster erreichen

20. Anklagepunkt

Epilog

Fangen wir neu an, ohne alte Fehler zu wiederholen! Ein Plädoyer gegen die Politikverdrossenheit

1. Anklagepunkt

Prolog

Politik und ich
Vom Freak zum Frustrierten

Es war an meinem 13. Geburtstag, als mir mein bester Freund eine Jugendzeitschrift schenkte. „Jetzt bist du ein Teenager“, sagte er und wie die meisten Pubertierenden fand ich großes Interesse am Inhalt dieses Hefts. Es trug den Titel „Yam!“. Wir nannten es fachmännisch und dem anglizistischen Zeitgeist entsprechend „Tschähm“. Heute weiß ich, dass wir einfach hätten lesen sollen, was auf dem Titel stand: Yam, Young Adult Magazine, einfach Yam, gesprochen: Iam.

Es war ein Geburtstagsgeschenk, wie es auch viele andere an so einem bedeutenden Datum bekamen, und auch der Tag – es war Hochsommer – verlief klassisch mit Baden, Musik Hören und Fußballspielen.

Ich erinnere mich allerdings, dass wir uns damals, nach dem Schwimmen in der Sonne trocknend, keineswegs über die Themen des Tschähm unterhielten. Vielmehr sprachen wir über Politik. Mein bester Freund war zwei Jahre älter als ich und vermochte seine Weltanschauung recht gut darzustellen. Schon die Tatsache, dass er mit 15 Jahren überhaupt eine hatte, faszinierte mich.

Er warf mit Fachbegriffen um sich, sprach von Konservativen, Sozialisten und Liberalen. Interessiert folgte ich seinen Ausführungen, wusste sie aber nicht so recht zu deuten. Es klang zwar alles interessant und wenn ich, in der Wiese liegend, die Augen schloss, hatte ich den Eindruck, der Bundeskanzler höchstpersönlich halte soeben neben mir eine Rede. Verstehen konnte ich davon aber rein gar nichts. Hin und wieder fiel ein Stichwort, zu dem ich mich einklinken wollte. Ich ließ es dann aber doch bleiben, weil mein politisierender Geburtstagsgast schon wieder beim nächsten Thema angelangt war, zu dem ich nur wiederholendes Nicken und kurze Ausrufe des Staunens wie „Echt?“ oder „Hätt ich nicht gedacht“ oder beides kombiniert beisteuern konnte.

Insgeheim nutzte ich die Zeit seines Redeschwalls, um darüber nachzudenken, welches Geburtstagsgeschenk ich wohl von meinen Eltern bekommen würde, wenn sie am Abend mit der Arbeit fertig waren. Ich dachte an ein neues Mountainbike, an „Game Boy“-Spiele und an das Buch, das ich mir schon lange wünschte. Diese Überlegungen mussten wohl ein Lächeln auf mein Gesicht gezaubert haben, denn zwischen seinen Ausführungen über Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hielt mein Freund plötzlich inne und fragte, wie ich es bei so einem Thema wagen könne, blöd zu grinsen. Ob mir die Tragweite dieser Angelegenheit denn nicht begreiflich sei?

Das rüttelte mich auf. Denn eigentlich bezeichnete ich mich schon zu diesem Zeitpunkt als politikinteressiert. Und gut informiert war ich auch, dachte ich zumindest. Ich entnahm der täglichen Lektüre einer kleinformatigen Tageszeitung, die ich beginnend mit den Sportseiten von hinten zum Politikteil nach vorne las, dass das alles bestimmende innenpolitische Thema die Frage war, ob Österreich neue Kampfflugzeuge zur Verteidigung des Luftraums kaufen sollte oder nicht. Mein bester Freund, oder vielmehr: der Referent, dessen Ausführungen ich lauschte, war dafür. Er verehrte alles, was mit Luftfahrt und Militär zu tun hatte.

Nicht ohne Stolz wusste ich, wie die großen Parteien zur Luftraumüberwachung standen: Die ÖVP war für die neuen Abfangjäger, die SPÖ dagegen. Ich konnte es gar nicht erwarten, diese Fachkenntnis nebenbei, aber doch prominent platziert, in die bisher sehr einseitige Diskussion einzubringen. Ungeduldig wartete ich auf den richtigen Zeitpunkt.

Mein Wissen über die Parteienlandschaft war, abgesehen von dieser einen Streitfrage, nicht gerade ausgeprägt. Bei diesem Thema jedenfalls erschien mir die SPÖ sympathisch. Warum sollte Österreich auch Kampfflugzeuge zur Verteidigung brauchen? Krieg ist out, sagte ich mir. Und viele Leute in meinem Alter teilten diese Meinung, wie ich an den auf ihren Schulrucksäcken aufgenähten „Peace“-Abzeichen erkennen konnte.

Dann sah ich meine Chance gekommen. Das politische Grundsatz-Referat meines Kumpels schien langsam zu einem Ende zu gelangen. Emotional wies er nochmal auf seine wichtigsten Argumente hin. Aus den Politikerreden, die ich zuvor im Fernsehen gesehen hatte, konnte ich erahnen, dass gleich der polternde Schluss kommen würde, mit dem er seine Sympathisanten für die kommende Wahl nochmal richtig heiß machen wollte. Und genauso war es: Wild gestikulierend und fast schreiend beendete er mit Tränen in den Augen seine Rede und griff zu seinem Glas, um seine trockene Kehle mit einem Schluck Cola für die eben erlittenen Qualen zu entschädigen.

Als ich an diesem Nachmittag, ganz selbstbewusster Neo-
Teenager, mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg halten wollte, kam es zu einer Diskussion, die diesen Namen auch verdiente. Das war ein Novum, schließlich hörte ich sonst immer nur zu. Gekonnt artikulierte ich den Status quo in der Kampfflugzeug-Frage und legte mit meiner Meinung, die exakt dem Gegenteil jener meines Freundes entsprach, ein Schäuflein nach. Ein Schäuflein, mit dem ich die Glut zum Brennen brachte. Als ich auf die Frage, welche Partei ich wählen würde, wenn ich dürfte, mit „Grün“ antwortete, schleuderte mir mein bester Freund ein empörtes und politisch nicht korrektes „Fuck! Warum das denn?!“ entgegen.

Dann war er kurz sprachlos, was mich ebenso sprachlos machte, weil ich Sprachlosigkeit bei meinem besten Freund nicht gewohnt war. In die Stille hinein setzte er plötzlich zu einer Rede an, die in etwa jenen Verzweiflungstelefonaten mit unschlüssigen Bürgern entsprach, die in den USA die Teams der Präsidentschafts-Kandidaten ein paar Tage vor der Wahl zigtausendfach führten. Mit einem Flehen in der Stimme wollte er mich zu sich auf seine inhaltliche Linie ziehen, mich auf den richtigen Weg lotsen. Außer hinsichtlich seiner Abneigung gegen die Grünen konkretisierte er allerdings nie seine parteipolitischen Präferenzen. Er war ein Sachpolitiker und die Hauptsache war eine Landesverteidigung, die jederzeit einen Luftangriff des Feindes abwehren konnte. Auch eine Antwort auf die Frage, wer unser Feind sei, blieb er mir schuldig.

Egal. Es half ohnehin alles nichts. Ich änderte meine Meinung nicht. Im Gegenteil: Ich begründete mein imaginäres Kreuzchen neben der unliebsamen Partei mit messerscharfer Redekunst: „Die sind für die Umwelt und setzen sich für vom Aussterben bedrohte Tiere ein“, sagte ich wissend und in Gedanken den grünen Daumen erhebend. Mein bester Freund war schockiert. Ob mir denn nicht klar sei, dass „Grün“ in der Politik nicht einfach nur für Umwelt stünde. Wieder hörte ich mehrmals das Wort „links“. Mit einem flüchtigen und, um Peinlichkeiten zu vermeiden, kaum merkbaren Blick in diese Richtung konnte ich auch dieses Mal nicht nachvollziehen, was er damit meinte. Links von uns befand sich ein grüner Wasserball, der neben dem Pool auf das nächste Match wartete. Vielleicht war er ihm ein Dorn in seinem vor Wut zuckenden rechten Auge.

Ich schwor mir, meine Fachkenntnis und Fähigkeit zum politischen Diskurs schnellstmöglich auf Expertenniveau zu steigern. Ziel war es, schon an meinem 14. Geburtstag derjenige zu sein, der die großen Reden schwang, der die versammelte Gästeschar mit seiner empathischen Rhetorik auf Jahrzehnte verzaubern würde und, wenn er 30 Jahre später als Bundeskanzler kandidierte, die Stimmen seiner Geburtstagsgäste ob des bleibenden Eindrucks aus dem Jahr 2003 noch immer sicher hätte.

Die nächsten zwei Stunden standen im Zeichen der unüberbrückbaren politischen Differenzen zwischen meinem besten Freund und mir. Unsere Freundschaft, die wir jahrelang im gegenseitigen Einvernehmen wie eine durch nichts zu erschütternde Große Koalition geführt hatten, stand auf der Kippe. Wir waren beide kurz davor, die Vertrauensfrage zu stellen und Neuwahlen auszurufen. Der Pool und der Wasserball bewahrten uns davor, und wir versuchten unsere Meinungsverschiedenheiten mit einigen hitzigen Matches vergessen zu machen. Jedes Mal, wenn mein sportlicher und nun auch politischer Gegner den Ball bekam, drosch er auf ihn ein, als wäre er der Grund allen Übels.

Gott sei Dank beendeten wir das Turnier nach vier Spielen mit einem gerechten zwei zu zwei unentschieden. Sonst wäre unsere Freundschaft Geschichte gewesen. Wir versöhnten uns erst wieder richtig, als ich ihn am Abend zu einem Eis einlud und vorschlug, das von ihm gestiftete Tschähm durchzublättern. Bei alterstypischeren Themen waren wir meist einer Meinung.

Meine Karriere als politisch interessierter Teenager nahm die nächsten Jahre analog zum Hormonspiegel einige Wendungen. Noch im Anfangsstadium meines Daseins als politisch Interessierter entdeckte ich auch – jetzt wusste ich um die Bedeutung der Richtungsangaben – die rechte Seite.

Bei der FPÖ stand neuerdings ein Mann an der Spitze, den ich zwar als „uralt“ einstufte, dessen Geburtsdatum aber meiner Generation trotzdem am nächsten kam. Mädchen in meinem Alter bezeichneten ihn als attraktiv und sein Sinn für Mode war ausgesprochen gut. Wenn man ihm zuhörte, fand er auf alle Fragen, denen andere Politiker mit nichtssagenden Floskeln begegneten, eine klare Antwort. Diese war manchmal hart, immer verständlich, aber nie zu überhören. Ganz nebenbei war der HC, so nannten ihn alle, des Öfteren in Diskotheken anzutreffen, wie die meisten in meinem Alter auch. Sein Gesamtbild erschien mir authentisch und meine kleinformatige Stamm-Tageszeitung teilte diese Meinung.

So entwuchs ich dem Teenager-Alter, wurde erwachsen und veränderte mich und meine politischen Ansichten noch einige weitere Male. Im gleichen Maße wie meine Körpergröße schoss auch mein politisches Interesse in die Höhe. Zwar wollte ich mich nie in einer Partei aktiv einbringen. Ich verfolgte aber alle Diskussionen, TV-Sendungen, Berichte verschiedener Printmedien und teilte meine Meinung in Internetforen mit. Ich lernte das politische Spektrum kennen und entdeckte die Großparteien für mich. Die politische Mitte. Das schien mir sympathisch. Die besten Ideen aus allen Richtungen je nach Thema in der Mitte gebündelt. Solche Überlegungen hege ich heute noch, wenn ich mir über politische Themen eine Meinung bilde. Maßgebliches hat sich aber verändert: Die Politik hat ihre Glaubwürdigkeit verloren.

***

Ein Jahrzehnt nach meinem 13. Geburtstag: Die Politik hat es geschafft, aus einem wissbegierigen jungen Menschen einen Frustrierten zu machen. Bei den ersten Wahlen, die ich mit meinem Kreuzchen mitentscheiden durfte, hatte ich meine staatsbürgerliche Pflicht noch stolz erledigt. Jedes Mal gab es ein Angebot, das zumindest ein bisschen meinen Vorstellungen entsprach.

Heute, im Jahr 2013, ist alles anders. Die Politik kämpft mit einem Ansehen als im besten Fall notwendiges Übel. Die Bürger flüchten sich in Zorn, Resignation und Sarkasmus. Österreich setzt der internationalen Krise der Politik die Krone auf: Im Parlament gibt es derzeit nur eine gewählte Partei, deren Politiker noch nicht in Gerichtsprozesse um Bestechlichkeit, Veruntreuung oder einen anderen fragwürdigen Umgang mit öffentlichem Geld verwickelt gewesen sind. Die Innenpolitik-Seiten der Zeitungen sind voller Berichte, die mit der immer gleichen juristischen Formulierung „Es gilt die Unschuldsvermutung“ die längst geschehene Vorverurteilung der Politiker verhindern sollen.

Für Bürger, die gern unbestechliche, nicht in die eigene Tasche wirtschaftende Politiker wählen, ist das Angebot an Parteien dürftig. Wenn wir auch in jedem anderen Lebensbereich im Überfluss leben – in der Politik ist inhaltliche Enthaltsamkeit das Gebot der Zeit. Wie viele Parteien bleiben als wählbar übrig, wenn wir das bescheidene Angebot auf seine Inhalte prüfen? Eine oder keine? Ist es das, was wir im 21. Jahrhundert Demokratie nennen?

2. Anklagepunkt

Wie ich mein Interesse für Politik weckte und wie alles wieder zunichte gemacht wurde

Ich weiß nicht, welches Motiv genau dahintersteckte, als ich anfing, mich für Politik zu interessieren. Vielleicht wollte ich erwachsener wirken. Vielleicht faszinierten mich Menschen, die nicht nur wussten, was die Namenskürzel der Parteien ausgeschrieben hießen, sondern auch ihre inhaltliche Bedeutung erklären konnten.

Jedenfalls begann ich, Artikel über Politik in Zeitungen zu lesen und mir Berichte im Fernsehen anzusehen. Ich gefiel mir in der Rolle als Halbwüchsiger, der sich zwar noch das Marmeladebrot von der Erziehungsberechtigen streichen ließ, aber bereits wie ein mündiger Bürger mit der Zeitung beim Frühstück saß und aufmerksam verfolgte, was es im Parlament Neues gab. Beim Fernsehen am Abend tauschte ich die amerikanischen Serien gern gegen österreichische Diskussionssendungen und lauschte den Plädoyers der Politiker. Das Einzige, das mir dabei abging, waren die nachträglich hinzugefügten Publikumslacher. Schon damals hätte es genügend passende Momente dafür gegeben.

Meistens waren die morgendliche Zeitungslektüre und die Fernsehabende aber nicht mehr als Leseübungen und Berieselungen, weil ich nichts davon verstand. Ich hatte damals ein Wörterbuch neben dem Fernseher platziert, um unbekannte Wörter sofort nachschlagen zu können. Oft war mir auch nach dieser Recherche nicht klar, was ein Begriff bedeutete, und während ich noch darüber nachdachte, verwendete der Politiker schon das nächste Wort, das ich nicht kapierte. Oft wusste ich nicht einmal, wie es zu buchstabieren war und konnte es somit auch im Wörterbuch nicht finden.

Manchmal las ich einen Zeitungsartikel und hatte nach dem letzten Satz nicht die Spur einer Ahnung, um was es eigentlich ging. Nur wenige Jahre zuvor war ich im Fach Lesen in der Volksschule beim Vortragen von Texten und der anschließenden Nacherzählung in eigenen Worten eigentlich immer recht gut gewesen. Und jetzt, da anstatt der Schüler-Zeitschrift „Spatzenpost“ eine Tageszeitung vor mir lag, konnte ich mein vermeintliches Sprachentalent nur auf die handwerkliche Fähigkeit beschränken, das Subjekt, Prädikat und Objekt der gedruckten Sätze zu bestimmen. Ihr Inhalt lag verborgen wie ein zugeklapptes Buch mit einem Hängeschloss vor mir auf dem Tisch.

Das frustrierte mich und weckte Selbstzweifel. Es war jedes Mal aufs Neue ein mentaler Rückschlag, wenn die vielen Buchstaben, Wörter und Sätze sowohl einzeln als auch gemeinsam keinen Sinn ergaben. Heute weiß ich, dass praktisch jeder Erwachsene bisweilen mit demselben Problem konfrontiert ist, wenn er sich seine Lieblingszeitung zu Gemüte führt. In Zeiten von komplizierten Wirtschafts- und Staatskrisen mehr als je zuvor. Das bringt viele dazu, bei der Wahl der Tageszeitung an alte „Spatzenpost“-Erinnerungen anzuknüpfen.

Den Kampf mit der Tageszeitung focht ich jeden Tag aus. So viele Fachbegriffe, so viele Namen, so viele ungeschriebene zeitgeschichtliche Querverbindungen – wie sollte mein wissbegieriges, aber unerfahrenes Hirn das alles jemals richtig verarbeiten können? Ich fragte mich oft, warum die Redakteure für ihre Artikel nicht einfachere Worte verwendeten. Warum schrieben sie „essenziell“ statt „wesentlich“? Warum trafen sich Parteien mit möglichen Partnern zu „Sondierungsgesprächen“, anstatt über Inhalte zu reden?

Heute glaube ich die Antwort zu wissen. Der Autor eines Zeitungsartikels befindet sich beim Schreiben nicht, wie viele meinen, in einer Redaktion, sondern in einer Zwickmühle. Als Dienstleister für ein breites Publikum muss er seine Worte für eine Leserschaft formulieren, die vom politikinteressierten Jugendlichen bis zum Greis reicht, der das 20. Jahrhundert selbst erlebt hat und nicht mithilfe von Geschichtsbüchern nachlernen muss. So kommt es, dass der Journalist bei der Wahl seiner Worte zu einem Kompromiss gezwungen ist: Einerseits soll jeder verstehen, was er schreibt. Andererseits sollen sich Experten bei der Zeitungslektüre nicht langweilen. Und manchmal, so lautet meine böse Vermutung, soll das Geschriebene einfach nur intelligent wirken. Im Fall der letzteren nicht durch Fakten belegten Behauptung gilt selbstverständlich die Unschuldsvermutung.

Ich suchte mir andere Wege, um politische Zusammenhänge besser verstehen zu können. Ich konzentrierte mich auf die österreichische Innenpolitik. Freilich war das keine bewusste Entscheidung. Mir erschienen Karl-Heinz Grassers Budgetreden in dem erheiternden Gemisch aus Kärntner Dialekt und Schönbrunner Deutsch nur weitaus spannender als George W. Bushs besorgte Miene, wenn er in texanischem Kauderwelsch über den Kampf gegen die selbst erfundene Achse des Bösen schwadronierte. Ich dehnte mein Interesse mit den Jahren auf Europa und die ganze Welt aus, sodass dieser Weg nicht zur Sackgasse wurde.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten für Jugendliche, Interesse an Politik zu entwickeln. Eine davon ist die Nachahmung politischer Präferenzen erwachsener Vorbilder. Ich beobachtete das in meinem Bekanntenkreis. Wenn etwa die Eltern stark mit einer Partei sympathisieren, kann sich diese Begeisterung leicht auf die Kinder übertragen. Oder im Gegenteil: Das Kind interessiert sich genau für die gegnerische Partei. Schließlich ist die Pubertät auch heute noch die Zeit des Aufmuckens. Zwar nicht unbedingt politisch, aber wenn Politik hilft, gegen die eigenen Eltern zu rebellieren, ist das im häuslichen Kampf um Macht und Anerkennung ein gutes Mittel zum Zweck.

Ebenfalls eine Strategie, die manchem Kind das Thema Politik näher bringt: Politiker zu finden, mit denen man sich auch abseits von Inhalten persönlich identifizieren kann. Die einem als Vorbild erscheinen. Das funktioniert allerdings fast nie über Inhalte, sondern über Banalitäten: Haarschnitt, Kleidungsstil, Hobby. Auch solche Dinge helfen Jugendlichen, Politik nicht völlig aus ihrem Leben zu streichen. Kein Wunder, dass bei überdurchschnittlich vielen von ihnen der FPÖ-Vorsitzende Heinz-Christian Strache gut ankommt. Er ist der einzige österreichische Parteichef, der sich abseits der gar nicht jugendlichen Inhalte zu einem betont jugendlichen Lebensstil bekennt. Oder zu dem, was er darunter versteht. Für einen Großteil der Bevölkerung ist das peinlich, für manche Jugendliche einfach nur cool.

Jeder junge Mensch lernt auch in der Schule über Politik. Die Schule ist ein Ort, an dem man sich grundsätzliches, neutrales Politikwissen aneignen kann. Das klingt gut. In höheren Schulen gibt es ein eigenes Fach dafür. Bei mir hieß das damals „Politische Bildung“. Das Schulfach kam aber eindeutig zu spät, um mein Interesse für Politik zu wecken. Denn das war längst erledigt. Erst im Alter von 17 Jahren absolvierte ich meine erste Unterrichtsstunde in diesem Fach.

Alle Neulinge auf diesem Gebiet hatten somit ein Jahr Zeit, um sich auf ihr Dasein als wahlberechtigte Staatsbürger vorzubereiten. Das war bei zwei Unterrichtsstunden pro Woche viel zu wenig. Also standen die Erstwähler bei der Entscheidungsfindung erst recht wieder allein da. Ihnen blieb der Wahlkampf als Informationsquelle. Sich aus dessen Versprechungen und Slogans eine fundierte Meinung zu bilden, war aber schlicht und einfach unmöglich. Irgendwie waren alle Parteien für niedrigere Steuern, für mehr Wohlstand, für Fairness in der Politik und für mehr Sacharbeit statt Streitereien. Da hätte man sich gewünscht, mehrere Stimmen zu haben, um alle Parteien für ihre guten Standpunkte belohnen zu können. Leider ließ sich aus geschliffenen Phrasen, Feuerzeugen in Parteifarben und Bierzelt-Reden keine Entscheidung für eine bestimmte Partei ableiten, die man mit mehr als einem Halbsatz begründen konnte.

Obwohl die wenigsten jungen Menschen gut informiert waren, wurde uns allen das Wahlrecht irgendwie als Pflicht jedes Staatsbürgers nahegelegt. Wählen zu gehen war offensichtlich wichtiger, als sich vorher eine gut begründete Meinung zu bilden. Das schmerzte mich besonders, nachdem ich jahrelang so viel Energie investiert hatte, um mir Wissen über Politik anzueignen. Plötzlich musste ich mir von Gleichaltrigen erklären lassen, dass sie sich für diese oder jene Partei entschieden, weil der Spitzenkandidat ihnen von allen zur Wahl stehenden „am sympathischsten“ war. Oder noch schlimmer: Jemand wählte eine Partei, weil das in der Familie so Tradition war. Fehlten nur noch Erstwähler, die sich die kostbare Stimme um Taschengeld abkaufen ließen. Bei der Nationalratswahl 2008 gingen dann jedenfalls fast alle aus meinem Bekanntenkreis wählen. Auch jene, die bis eine Woche davor eine Aversion gegen alles verspürten, was mit Politik zu tun hatte.

Letztlich war alles egal und umsonst: meine Überlegungen, welcher Partei ich meine Stimme geben sollte, meine Diskussionen mit Leuten, die sich nicht für Politik interessierten, meine Überzeugung, mit meiner Stimme etwas bewirken zu können, meine Brandreden für den hohen Stellenwert von Politik. Die in den nächsten Jahren aufgedeckten Korruptionsfälle aus der Zeit vor der letzten Wahl hatten meiner eigenen Meinungsbildung und meinen Argumenten in Diskussionen nachträglich jede Grundlage entzogen. Ich hatte später entdeckte Unwahrheiten als Fakten hingenommen und auf ihnen meine Meinung aufgebaut. Jene, die immer schon eine Abneigung gegen Politik hatten, waren im Recht. Leute wie ich waren im Unrecht.

Alle beschriebenen Möglichkeiten, bei Jugendlichen Begeisterung für Politik zu wecken, sind heute vernichtet. Der Umgang mit Wirtschafts-, Staatsschuldenkrisen und Korruption erstickt jeden winzigen Keim wachsenden Interesses an Politik. Inhaltliche Positionen werden so schnell revidiert, dass man nur schwer mitkommt. Die Imagewerte der Politik liegen am Boden. Ein Korruptionsfall nach dem anderen kommt ans Licht. Da nützt es auch nichts, dass das Wahlalter in Österreich auf 16 Jahre gesenkt wurde. Das war ohnehin nur eines der so beliebten Kuhhandelsgeschäfte: Den Wunsch der SPÖ nach einem niedrigeren Wahlalter tauschte die ÖVP gegen die Einführung der Briefwahl im Inland.

Welche Konsequenzen dieses Chaos für die Zukunft hat, ist noch niemandem klar. Immer wenn Jugendliche von Politik hören, werden sie nicht mehr primär mit Inhalten konfrontiert, sondern mit Käuflichkeit, Vertuschung, Schönfärberei und Resignation. Sie haben keine Chance, sich ein sachliches Bild zu machen. Früher verspürte ich für politikverdrossene Jugendliche Verachtung. Heute habe ich Verständnis. Zwar ist es immer schon ein Wunschtraum gewesen, alle Jugendlichen für Politik zu begeistern. Heute ist das aber nicht einmal mehr bei einer kleinen Minderheit möglich. Zwölfjährige, die sich für Politik interessieren, wird es künftig wohl kaum mehr geben – ausgenommen jene, die Kriminalbeamter als Berufswunsch haben.