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Marie-Luise Scherer

Die Bestie von Paris

Marie-Luise Scherer

DIE BESTIE VON PARIS

und andere Geschichten

Paris|Passagen

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INHALT

Die Bestie von Paris

Der letzte Surrealist

Dinge über Monsieur Proust

Kleine Schreie des Wiedersehens

DIE BESTIE VON PARIS

Mademoiselle Iona Seigaresco hatte es eilig, eine alte Frau zu werden. Sie trug einen kleinen, braunen Filzhut, den sie sich, ohne das Echo ihres Garderobenspiegels zu beachten, einfach überstülpte. Nur fest und tief musste er sitzen und das Gesicht wegnehmen. Die Handtasche hing ihr an einem knappen Riemen vor der Brust. Sie ging stark gebeugt, was ihr jedoch nicht ersparte, die Obszönitäten am Boulevard de Clichy zu sehen, an dem sie wohnte.

In welcher Richtung sie ihr Haus auch verließ, immer kam sie an den Fotos mit den nackten Mädchen vorbei, die sich mit brechenden Augen die Lippen leckten, und deren schwarzes, scharfkantiges Dreieck sich wie das Muster einer Bordüre wiederholte.

Am frühen Morgen schon, wenn sie zum Bäcker ging, fassten die Türsteher die Männer am Ärmel, und aus den Vorhängen der Etablissements trat die Kundschaft. Da es für diese Ereignisse am Boulevard de Clichy keine ungewöhnlichen Stunden gab, schirmte Mademoiselle Seigaresco ihre Sinne ab. Sie weigerte sich, jemanden zu kennen auf diesem Abschnitt ihrer täglichen Wege, und erwiderte keinen Gruß. Sie sah sich auch nicht um.

Erst wenn sie heimkehrend den Türöffner der Nummer 60 gedrückt hatte und das Schloss des geschmiedeten Tores aufsprang, betrat Mademoiselle Seigaresco wieder einen ihr bekömmlichen Ort. Schon unter dem Säulengewölbe des Entrees, das dem Haus eine hohe soziale Einschätzung gab, setzte sie die Füße nur noch knapp voreinander, als läge ein Fassreifen um ihre Fesseln. Jetzt, wo sie sich außerhalb der Behelligungen des Boulevards befand, ließ sie sich in eine Gebrechlichkeit fallen, von der manche sagten, sie sei nur angeeignet. Wahrscheinlicher ist, dass es sich bei Mademoiselle Seigaresco, das Altern betreffend, um das Phänomen einer Nachgiebigkeit handelte. Dass sie mit einundsiebzig Jahren schon herbeisehnte, wovor sie sich am meisten fürchtete.

Vor ihr lag das Steinmuster des weiten ersten Hofes; neben dem hellen Aufgang zu den Wohnungen von großem, herrschaftlichem Zuschnitt die schwächer beleuchtete Lieferanten- und Dienstbotentreppe. Auch in der Loge der Concierge Laura Bernadaise, in die zu keiner Jahreszeit die Sonne schien, brannte das sparsame gelbe Licht.

Mademoiselle Seigaresco mochte die Pförtnerin, der über den neun Jahren, in denen sie ihr Amt versah, das Lachen nicht vergangen war, obwohl sie mit Mann und zwei Kindern in diesem dunklen Winkel lebte. Vor allem schätzte sie die feine Witterung der Madame Bernadaise, die sofort wusste, wenn Mademoiselle Seigaresco nicht gestört zu werden wünschte, wenn sie nur grüßen, weiter aber keinen Austausch wollte. Madame Bernadaise schlug dann einfach den Gartenschlauch zur Seite, mit dem sie das Laub in eine Ecke des Hofes spritzte, und ließ, ohne abwartend stehenzubleiben, die langsame Frau vorbei.

Am frühen Nachmittag des 2. November 1984, einem Freitag, bevor sie gegen Abend ermordet wurde, war Mademoiselle Seigaresco in den Parkanlagen des Hauses, das in seiner Gesamtheit mit allen Ateliergebäuden, dem Akazien-, Platanen- und Ölbaumpavillon, den Seiten- und Hinterhäusern den Namen Cité du Midi trägt, noch gesehen worden. Sie hatte ihre herbstliche Tätigkeit aufgenommen und abgestorbene Gräser und Blätter ausgezupft.

Es war der gewohnte, jedes Jahr wieder bizarre Anblick, den sie bot. Denn Mademoiselle Seigaresco stand so gebogen über den Rondellen und Längsrabatten, dass ihr Kopf verschwand wie bei einem eintauchenden Wasservogel. Sichtbar blieb ein steiler Hügel aus grauem Mantelstoff, von dem ein Gummihandschuh wegschnellte und in die Pflanzen griff.

Als Mademoiselle Seigaresco gegen 17 Uhr bei Madame Bernadaise klopfte, kam sie von ihren Einkäufen in der Rue Lepic zurück. Und wie immer hing ihr das Netz in der spitzen Form eines geschlossenen Regenschirms in der Hand, da sie außer einem kleinen Stück Fisch nur noch eine Lauchstange darin hatte, deren sandiger Bart über den Boden schleifte. Zum Klopfen benutzte sie nicht den Knöchel ihres Zeigefingers, sondern trommelte wie ein kleiner Hagelschauer kurz mit den Nägeln gegen das Fenster der Loge. Danach drückte sie die Klinke und steckte den Kopf herein.

Ihre scharfe Nase lag halb im Schatten des tiefsitzenden Hutes. Vor dieser gekrümmten, kleinen Gestalt hatten sich die Kinder der Madame Bernadaise früher gefürchtet. Jetzt sprangen sie in der vergeblichen Hoffnung, dass Mademoiselle Seigaresco einmal den offerierten Stuhl annehmen und sich zu ihnen setzen würde, von ihren Schulheften auf. Sie wolle nur, sagte sie in der Tür stehend an den Jungen Carlos gewandt, an morgen erinnern, Punkt 15 Uhr.

Mit allen guten Wünschen für den Abend ausgestattet, überquerte Mademoiselle Seigaresco den ersten Hof bis zur Freitreppe, die in das mittlere Haus des tiefen Anwesens hinaufführte. Die Glasfackeln der beiden Statuen rechts und links der Treppe waren noch nicht angezündet, als sie sich mit ihrem Federgewicht über den Stufen entfernte. Es herrschte noch Dämmerung, jenes strittige Licht, welches für das Ermessen der Pförtnerin Bernadaise, die die elektrischen Hauptschalter zu bedienen hatte, noch dem Tag zuzuschlagen war.

Da Mademoiselle Seigaresco zum Wohle aller sparsam war, drückte sie nie den Lichtknopf ihres Treppenhauses. An jenem Spätnachmittag spielte Nicolas, der dreijährige Sohn von Pénélope Robinson, in der Eingangshalle. Pénélope Robinson war die Concierge für die hinteren Häuser. Wie das Kind Nicolas sich drei Jahre später zu erinnern glaubte, wurde es damals von einem dunkelhäutigen Mann gefragt, ob die Dame, die gerade die Treppe hinaufgehe, hier wohne. Da das Kind genickt oder »ja« gesagt haben mag, war dieser Mann ebenfalls die unbeleuchtete Treppe hinaufgegangen.

Für das bevorstehende Wochenende und den darauffolgenden Montagmorgen hatte Laura Bernadaise die Vertretung ihrer Kollegin Pénélope Robinson übernommen. Sie musste in deren weitverzweigtem hinteren Revier die Post verteilen und war froh über jeden, der sie sich selbst bei ihr abholte. Gewöhnlich sah auch Mademoiselle Seigaresco, obwohl sie auf nichts abonniert war und nur selten einen auffällig frankierten Brief aus Rumänien bekam, mit einer kleinen Fragehaltung ihres Kopfes in das Logenfenster.

An diesem Samstag hätte Madame Bernadaise die Post für Mademoiselle Seigaresco ihrem Sohn Carlos mitgeben können, der um 15 Uhr zu seinem Nachhilfeunterricht in Französisch mit ihr verabredet war. Aus Gründen der Korrektheit, zu denen die augenscheinliche Wichtigkeit des Briefes noch hinzukam, stieg Madame Bernadaise nach dem Mittagessen jedoch selber die drei Stockwerke hoch. Da sich hinter der Tür nichts rührte und sie um diese Zeit nicht klingeln wollte, legte sie den Brief unter die Matte. Als dann Carlos gleich nach 15 Uhr wieder bei seiner Mutter in der Loge stand, fügte sich Madame Bernadaise in die ihr selbst nicht geheuere Annahme, Mademoiselle Seigaresco sei erschöpft und ruhe sich aus.

Auch am Sonntag, wo dies ihr kaum noch vorstellbar war, wagte Madame Bernadaise es nicht, sich Gewissheit zu verschaffen. Sie fürchtete, in den Abstand, den Mademoiselle Seigaresco zwischen sich und der übrigen Welt eingenommen hatte, einzubrechen. Erst am Montag, als sie keinen Vorwand mehr brauchte, um sich in der dritten Etage des mittleren Hauses aufzuhalten, hob sie die Fußmatte von Mademoiselle Seigaresco an. Der Brief von Maître Dieu de Ville, einem Rechtsanwalt, lag noch immer darunter.

Madame Bernadaise verständigte ihren Mann, einen Polizisten, der nach seiner Nachtstreife zu Hause war und schlief. Dieser sperrte die nur eingeklinkte Tür mit dem Pförtnerschlüssel auf, vermochte sie jedoch nur einen Spalt breit zu öffnen, da Mademoiselle Seigaresco tot dahinter lag.

Nach der bloßen Kenntnisnahme der sich täglich ereignenden Morde in Paris ließ der Tod von Iona Seigaresco Interessiertheit aufkommen. Die pensionierte, aus Rumänien stammende Lehrerin war die vierte alte Frau, die innerhalb von vier Wochen auf sich gleichende Weise ums Leben kam. An Händen und Füßen gefesselt, im Mund einen Knebel, lag sie erschlagen in ihrem Flur. Nase, Kinnlade, Halswirbel und die Rippen der rechten Seite waren gebrochen. Sie hatte noch den Mantel an, neben dem Kopf den Hut, neben der Tür das Einkaufsnetz.

Die Wohnung schien mit einer wütenden Energie durchsucht worden zu sein. Im speziellen Fall des Opfers Seigaresco sah sich der Täter zudem durch eine Unmenge von Büchern in seiner Erwartung enttäuscht, was bei ihm eine zusätzliche Lust auf Revanche ausgelöst haben muss. Über allem, was wie umgepflügt am Boden lag, standen aufgeschlitzt und ausgeweidet das Sofa und die Sessel.

Der Täter muss mit großer Selbstsicherheit aufgetreten sein, um in dem Haus, das auf seine Nachbarschaften von Place Pigalle und Place Blanche mit besonders abweisender Vornehmheit reagiert, nicht aufzufallen. Denn in einer Gegend wie dieser ist es eher möglich, dass jemand, der einen Philatelisten sucht, dabei in die Etage eines Stundenhotels gerät, wo er unbehelligt zwischen den Haufen gebrauchter Laken herumirren kann. Da er, obwohl er fremd war, tief in das Anwesen eindringen konnte, muss der Täter gut gekleidet gewesen sein. Seine Erscheinung muss jedes Misstrauen beschwichtigt haben.

Für das Ehepaar Nicot war Germaine Cohen-Tanouji keine alte Dame der besseren Pariser Prägung. Ein fast ungeziemendes Entgegenkommen habe sie gezeigt, zutraulich wie ein Kind und leicht mit aller Welt am Lachen. Madame und Monsieur Nicot treten in gehobener Stimmung aus dem Neubau in der Rue Montera Nr. 17 im zwölften Arrondissement. Sie sind zum Tee eingeladen und verbreiten das Behagen einer nie erschütterten Zweisamkeit. Den rechten Mittelfinger in der Schlaufe eines Kuchenkartons, auf dem Kopf einen Pepitahut mit seitlich eingestanzten Ösen, stellt Monsieur Nicot den Eroberer eines Sonntagnachmittages dar. An Madame Nicots Handtasche hängt ein Seidentuch an einem Kettchen. Beide tragen Kamelhaarmäntel.

Germaine Cohen-Tanouji sei eine kleine Person gewesen, rund wie eine Kugel und gegen Abend häufig noch im Morgenrock. Das Frühstück habe sie am Tresen im Café genommen. »Und fast jeden im Haus«, sagt Madame Nicot, »hat sie auf ein Glas zu sich gebeten.« Auch die Nicots habe sie versucht zu gewinnen, die dieses Kontaktieren aber nur befremdend fanden. »Sie lebte in den Tag hinein«, sagt Monsieur Nicot, als liege darin die Voraussetzung für eine Ermordung.

Als die zweiundsiebzig Jahre alte Germaine Cohen-Tanouji am 4. Oktober 1984 mit einem Lederriemen erwürgt auf ihrem Bett gefunden wurde, den Kopf mit Kissen zugedeckt, war der Tod dieser Frau für die Nicots fast eine logische Folge für deren Menschensucht. Und beider Entsetzen galt weniger diesem Schicksal als dem Umstand, dass dieses Schicksal sich in ihrem Haus vollendete.

Ecke Avenue de Saint-Mandé und Rue de la Voûte liegt das Café Bel Air. Hier kehrte Germaine Cohen-Tanouji ein, wenn sie aus der Rue du Rendez-Vous von ihren Einkäufen kam. Oft hatte sich die Tür hinter ihr noch nicht geschlossen, und der Wirt drückte schon den Hebel der Kaffeemaschine über ihrer Tasse herunter. Sie stellte sich an ihren angestammten Platz neben der Etagère mit den hartgekochten Eiern, wo auch die schwere Schäferhündin Editha immer saß und sie mit fegendem Schwanz zu erwarten schien. Meistens hatte sich auch Monsieur Benaïs eingefunden, wie Madame Cohen-Tanouji tunesisch-jüdischer Abstammung.

Monsieur Benaïs besitzt ein Textilgeschäft in der Rue de la Voûte, was er als eher traurige Existenz empfindet, da er gern Sänger geworden wäre. Diesen Lebenskompromiss lindert er sich hin und wieder als musikalischer Animateur bei jüdischen Hochzeiten in Hotels. So hat die Innigkeit, mit der er über Germaine Cohen-Tanouji spricht, auch künstlerische Gründe. Denn sie malte tunesische Landschaften aus dem Gedächtnis. Ihn freuten diese Bilder. Und sie freute es, wenn er bei schlechtem Wetter sagte, jetzt müsse er dringend die Sonne sehen, und sie dazu brachte, die Schleifen ihrer Mappe zu lösen.

Sie habe der Résistance angehört und ein wunderbares Französisch gesprochen. Als ehemalige Lehrerin an einer höheren tunesischen Mädchenschule bezog Germaine Cohen-Tanouji eine Pension. Obwohl sie Paris sehr zugetan war, verkörperte sie für Monsieur Benaïs das krasse Gegenteil einer Pariserin. Sie sei generöser und besser gelaunt gewesen. Auch das Misstrauen, das allen hauptstädtischen Menschen eigen sei, habe ihr gefehlt. Sie müsse sich für Misstrauen zu schade gewesen sein, es als unwürdige Eigenschaft einfach nicht angenommen haben. Sie sprach Einladungen zu sich nach Hause aus, um ihre Bilder zu zeigen, und servierte Wein und Nüsse. Germaine Cohen-Tanouji im Café zu wissen, morgens gegen zehn und dann noch einmal gegen vier am Nachmittag, ließ Monsieur Benaïs zu den gleichen Stunden seinen Ladentisch verlassen. Und schon nach ein paar Schritten sah er hinter der Scheibe, was er zu sehen hoffte: die wohltuende Frau aus Tunis mit ihrer dicken Brille, in ihrem untaillierten, arabisch wirkenden grauen Kleid.

Bei den ersten neun seiner einundzwanzig gestandenen Morde hatte der Täter einen Komplizen. Beide hielten in Einkaufsstraßen und auf Wochenmärkten nach alten Frauen Ausschau, die hinfällig zu sein schienen und nur mühsam, oder auf einen Stock gestützt, gehen konnten.

Germaine Cohen-Tanouji gilt nach den Ermittlungen der Polizei als ihr erstes Opfer. Da sie einen behänden Gang hatte und auch sonst nicht geschwächt wirkte, müssen Täter und Komplize in ihrem Fall eine andere Anregung gehabt haben, um sie heimzusuchen. Sie könnte für sie eine schwierige Einübung in ihre weiteren Morde gewesen sein. Denn schon am folgenden Tag, dem 5. Oktober 1984, suchen sie sich zwei Frauen aus, deren körperliche Schwäche augenfällig ist.

Thierry Paulin und Jean-Thierry Mathurin wohnen das Jahr 1984 über im Hotel Laval in der Rue Victor-Massé Nr. 11 im neunten Arrondissement. Mit einem Stern ein Hotel der untersten Kategorie; Bett, Tisch und Stuhl bilden die rohe Möblierung. Die Zimmer sind nicht schmutzig, aber miserabel; die Bewohner meistens Dauergäste in Nachtberufen mit unberechenbaren Einkünften. Einziger Wertgegenstand in ihrem wenigen Gepäck ist das aktuelle Modell einer Lederjacke. Ihr Geld versickert in der Tagesmiete von 85 Franc, in Schnellreinigungen, Marlboros und in den tragbaren Mahlzeiten amerikanischer Imbissketten. Bleiben ein paar Taxifahrten übrig und das Dosenbier vom Automaten, das gegen Morgen, bei der Rückkehr ins Hotel, die Nacht besiegelt. Kein nobles, aber auch kein schlimmes Leben für Paris, wo ein Hotel wie dieses mehr ist als ein minimales Obdach.

Der einundzwanzig Jahre alte Paulin und der neunzehn Jahre alte Mathurin bewohnen das für 185 Franc teuerste Zimmer. Sie verfügen über einen Kleiderschrank und eine Dusche, fahren regelmäßig im Taxi vor und werden auf der Hoteltreppe nie mit einem Sandwich gesehen. Es sind liquide Leute, und besonders Paulin hat eine geläufige Art, Trinkgelder zuzustecken. Im Aufenthaltsraum, der außer einem unbeleuchteten Aquarium und einem Fernsehapparat keine weiteren, die Wohnlichkeit steigernden Requisiten aufweist, sorgt Paulin für Stimmung, indem er aus dem Getränkeautomaten alle freihält.

Für den Pächter des Hotels und seine alte Mutter, für die Tag- und Nachtportiers und das übrige Personal gehören Paulin und Mathurin der Tanztruppe des Paradis Latin an. Das erklärt ihnen deren abstechendes, auftrumpfendes Verhalten in ihrem unscheinbaren Haus mit seinen knapp kalkulierenden Gästen. Denn im Applaus des Paradis Latin zu stehen, nach den besten Choreographien gewagte Nummern vorzuführen, ein Publikum, das tausendköpfig rast, Abend für Abend zu beglücken, ist ein exklusiver Arbeitsplatz, die reine Sonnenseite für die übrigen Nachtknechte des Hotels.

Paulin und Mathurin sind ein wohlgelittenes, gut anzusehendes, immer geduschtes und gecremtes schwules Paar. Beide sind farbig; Paulin ein eher hellhäutiger Mulatte mit einer wie zertrümmert breiten Nase, Mathurin ein eher dunkelhäutiger Mestize mit versammelten Gesichtszügen. Paulin stammt aus Fort-de-France auf Martinique, Mathurin aus Saint-Laurent-du-Maroni in Französisch-Guayana.

Paulins Mutter ist sechzehn, als er unehelich geboren wird. Er wächst in der Obhut seiner Großmutter auf, der Mutter seines Vaters, der Martinique verlassen hat und in Toulouse lebt. Als seine Mutter ihn mit sechs Jahren zu sich nimmt, erwartet sie wieder ein Kind. Nach einem weiteren Kind heiratet sie, und es kommt noch ein Kind. Drei kleine Halbgeschwister und eine strapazierte Mutter mit einem Mann, der nur schwer zur Ehe zu bewegen war; Paulin ist zuviel am Tisch. Er wird später in Paris erzählen, seine Mutter habe ihn als Besorger und Hausgehilfe an andere Leute vermietet.

Um der Familie ihren knappen Frieden zu erhalten, bietet sich sein Verschwinden an. Als er zwölf ist, verabschiedet ihn die Mutter auf dem Flughafen von Fort-de-France, und Paulin fliegt zu seinem Vater nach Toulouse. Der Vater hat es dort zu einer Klempnerei gebracht, hat Frau und zwei Kinder. Paulins Ankunft in Toulouse ist vom Vater nicht erbeten worden. Nur eine nachzuholende Fürsorgepflicht stimmt ihn nachgiebig für das Auftauchen des Sohnes. Und Paulin ist wieder der hinzugekommene Älteste für zwei Halbgeschwister. Und wieder gefährdet er einen Familienfrieden.

Er bricht eine Friseurlehre ab und gesellt sich den Mopedhorden der Slums zu. Sie jagen durch Toulouse und freuen sich am Schrecken, den sie verbreiten. Sie machen Mundraub in Crêperien, brechen in Kinos und Diskotheken ein. In einem Brief beschreibt Paulin später diese Jahre als eine Epoche seiner Dummheiten. 1984 beendet er seinen Militärdienst und kommt mit einem Gesellenbrief als Friseur nach Paris. Er ist einundzwanzig. In der Rue Béranger hinter der Place de la République übernimmt er, ohne dass die Vermieter davon wissen, die Dienstbotenkammer einer jungen Frau, die ihm in der Armee vorgesetzt war.

Er macht seine Mutter ausfindig, die, inzwischen geschieden, mit vier Kindern von Martinique nach Frankreich übergesiedelt ist und in Nanterre wohnt. Sie ist Hauswartin in einer Schule. Paulin zieht zu ihr und hat das Erlebnis, als Sohn und Bruder willkommen zu sein. Bis auf den Zwischenfall, bei dem die Mutter ihn in Frauenkleidern vor dem Spiegel agieren sieht, leben sie gut miteinander.

Abends nimmt Paulin den Zug nach Paris. Er hat eine Stelle als Hilfskellner. Auf dieser Arbeitsstelle begegnet er Mathurin. Mathurin ist schon seit zehn Jahren in Paris. Er ist ein schöner, hauptstädtisch versierter Strichjunge, der die leichten Gelegenheiten in der Rue Sainte-Anne, im Bois de Boulogne und an der Porte Dauphine auslebt. Er möchte als Tänzer berühmt werden. Schon in der Schule erschien er geschminkt wie für einen Auftritt.

Mathurin hat mehr Raffinement als Paulin, ist unverhohlener schwul; vor allem fehlt ihm dessen Gefühl der Minderwertigkeit, dessen nie ruhende Wut auf die Herkunft. Mathurin ist mit Leichtigkeit begabt. Er schläft in den Betten seiner Liebhaber aus und bindet sich abends die Kellnerfliege um. Als er Paulin kennenlernt, ist er Garçon de salle im Paradis Latin, ein behänder Gehilfe beim Diner Spectacle. Paulin gehört ebenfalls der Gehilfenriege an.

Sie verlieben und liieren sich. Anführer ihrer Zweisamkeit ist Paulin, der diesem Glück eine Kontur geben will. Dazu muss er den wetterhaften Mathurin erst beständig machen. Denn bei aller Liebe bleibt Mathurin nach schönen Zufällen süchtig.

Was macht Mathurin, wenn Paulin bei der Mutter in Nanterre ist? Paulin schafft seine üblen Vorstellungen aus der Welt und nimmt Mathurin mit nach Nanterre. Seine Tugenden als Sohn und Bruder, der in der Küche hilft und den Geschwistern kocht, verflüchtigen sich im Beisein Mathurins. Die beiden lungern vor dem Fernseher, bis es Zeit wird, den Zug nach Paris zu nehmen. Der ständige Gast macht die Mutter unduldsam. Mathurin, das eingeschleuste Luder, soll aus dem Haus. Nach drei Wochen Nanterre bezieht Paulin mit Mathurin das beste Zimmer in dem ärmlichen Hotel Laval, Rue Victor-Massé, fünf Minuten südlich von Pigalle.

Die Besonderheit der Rue Victor-Massé liegt im Musikalienhandel. Aus jedem Parterre, die Bäckereien ausgenommen, dröhnen die Verstärker. Die Häuserfronten verdoppeln den Hall der Elektrogitarren und Trommelbatterien, der in Vorführung geblasenen Trompeten und geschüttelten Rasseln. Durch diese Straße voller Rhythmen gehen, immerzu wippend und in Andeutung tanzend, Paulin und Mathurin. Vor dem hohen Gittertor der Avenue Frochot, deren elf Häuser eine Privatstraße bilden, kündigt sich das Brausen von Pigalle schon an und schluckt die Töne der Rue Victor-Massé.

Hier versieht Monsieur Feuillet seinen Dienst als Pförtner und Bewacher. Er hat die Abgeschirmtheit der Avenue zu hüten, die ihrer Schönheit wegen auch Besucher anzieht. Von morgens bis abends muss Feuillet Leuten den Einlass verwehren, ihnen sagen, dass Besitzer und Mieter nicht gestört zu werden wünschen. Dabei reichert er sein Bedauern mit aufreizenden Informationen an, als wolle er den Abgewiesenen das Versäumte noch begehrenswerter machen: Victor Hugo habe in der Nummer 5, Auguste Renoir in der Nummer 7 gelebt, Lautrec sein letztes Atelier in der Nummer 15 gehabt.

In Feuillets Pförtnerhaus, das von den Unbefugten einzusehen ist, nimmt eine gefleckte Dogge das Sofa ein. Und über dem Lob für die Schönheit seines Hundes lässt Feuillet sich zu Auskünften verleiten, die seiner Pförtnerpflicht zu Diskretion zuwiderlaufen. So sagt er, die Nummer 1 stehe zum Verkauf. Doch nicht, weil sie so schattig liege, als vielmehr, weil dort vor Jahren zwei alte Damen ermordet worden seien. Seitdem sei ihm jeder Tote recht, wenn das Schicksal ihn nur außerhalb des Gittertores treffe. Mit dieser Mitteilung vergütet Feuillet das vergebliche Bitten um Besichtigung der Avenue.