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Heinrich Federer

Umbrische Reisegeschichtlein





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Über den umbrischen Tiber

Wenn nichts mehr aus der alten Zeit des Romulus und Remus redete und die letzten Jungen jener milden Wölfin von einem der vielen Abbruzzenjäger erschossen sind, und wenn die mittelalterlichen Städtekriege und die napoleonischen Feldzüge und die Amerikaner und die Museen alle Dokumente beiseite geschafft hätten, ein unbestechlicher Zeuge aus jenen Tagen bleibt: der Tiber. Und er redet noch aus der gleichen Lunge wie vor dreitausend Jahren, und er hat noch das gleiche graubraune dunkle Auge und führt noch die gleiche Hirtensprache und atmet noch den gleichen sagenschweren Duft wie damals, als Ennius von den ersten Etruskern und Volskern ein Kapitel seiner Annalen begann.

Einmal bin ich nachts bei offenem Fenster in Orvieto hoch oben auf dem Berg erwacht... vielleicht vom Glockenschlag, der so silberig dünn hinter dem Riesendom hervor eine Stunde nach Mitternacht anschlug. Der große italienische Himmel sah durchs Fenster. Nicht so blitzend klar und zündend frisch wie unser nordischer Meer- und Gebirgshimmel, der, von grauen Wogen oder von dunkeln Tannen oder von hellem Schnee umrahmt, oft eine fast eisige Bläue und eine metallene Sternenkraft besitzt. Nein, der leise, weiche, wohlige italienische Himmel, wie Sammet mit feinen goldenen Nadelstichen darin. Dieser Himmel, der so schwärmerisch macht, der voll Liebesabenteuer ist, der das in such a night des »Kaufmanns von Venedig«, die Petrarka-Sonette und die Tasso-Schwermütigkeit auf dem Gewissen hat. Dantes Himmel liegt viel, viel nördlicher.

In such a night bin ich erwacht. Es war totenstill um mich. Aber ein um diese Zeit selten warmes Lüftchen rann leise in die Kammer und machte mir auf einmal das Bett unerträglich. Ich sprang ans Gesimse. Wie ein Märchen aus alten Zeiten sah ich die leuchtende Kathedrale, diesen schönsten Dom der Welt, mit ihren bunten Marmorgliedern gleichsam aus dem Sternenhimmel heruntersteigen und im Dunkel der breiten, schlafenden Stadtmassen versinken. Es war unsäglich feierlich und bedrückend zugleich.

Plötzlich hörte ich ein fernes, klares Rollen. Wahrhaftig, das rührt vom nächtlichen Schnellzug, der unten im Tal gen Rom braust. Jetzt, dem hohlen Gerumpel nach, ist er eben über den Tiber gefahren. Die Leute in den Wagen schlafen und träumen, den Kopf in den Polstern, vom Kolosseum und von der Peterskuppel und von Michelangelos Moses. Aber nun hören sie dieses Poltern auch und erwachen halb. Und einer sagt mit ehrfürchtiger Stimme... es ist sicher ein Geschichtsprofessor aus Bologna...: das war der Tiber!

Ja, das ist der umbrische Tiber. Über seine Brücke fuhr der Schnellzug. Unten schleicht das Wasser langsam und träge wie die Weltgeschichte dahin. Ein weltgeschichtliches Wasser ist es ja auch.

Und ein andermal habe ich wieder in einer solchen Nacht und wieder von einem so uralten hohen Stadtplatz aus das Rollen der fernen Eisenbahn über den Tiber gehört. Weiter oben, in Perugia! – Und der Gruß des modernen Fahrzeugs an den unmodernen Fluß klang noch poetischer als in Orvieto. Warum sollte er nicht. Hier ist der Tiber noch sagenumsponnenes uraltes Provinzwasser, dort unter Orvieto fängt schon der Weltstrom an.

Aber freilich, es ist schwer zu sagen, wo er schöner ist. So unendlich gewunden und gekrümmt er auch in die Campagna hinunterläuft, er hat doch nichts mehr von der Romantik oberhalb Perugia. Eine unbegreifliche epische Einfachheit ziert ihn jetzt. Er wird schlechthin klassisch. Antike Größe atmet jede Welle. Man spürt Rom. Die internationalen Hirten werden einem lebendig, die auf den sieben Hügeln Rom erbauen, um hernach die ganze Welt zu behirten. Man hört den schweren Schritt der Kohorten Scipios, die Dekrete Cäsars, die starren Perioden des alten Latein aus dem Wogenschlag heraus. Es gibt bei diesem erwachsenen Tiber keine Unarten, wie unser Rhein sie bei Schaffhausen und wie die alte Donau sie noch am Eisernen Tor verübt. Auch keine nationale Melodie singt er, wie etwa der Don und die Wolga sie bis zum Meere behalten, wenn sie selber längst wandelnde Meere geworden sind. Aber russische Meere! Und gar nicht ziert er sich von Orvieto ab mit der Behaglichkeit kleiner Uferstädte und pittoresker Kastelle. Weder die Städtemanie des Mittelrheins noch die Lebensmüdigkeit des Unterrheins sieht man da. Kurz, dieser Strom hat gar keine Romantik mehr im Leibe. Er ist Weltmensch im Sinne des S. P. Q. R.... urbi et orbi.

Wird er wie alle großen Charaktere etwa einmal melancholisch, duldet er ein Grabmal wie Trajans an seinem Wasser, so tut er es wieder mit echt antiker Größe. Das Grab wird eine Festung, das Mausoleum ein Denkzeichen römisch runder Vollkommenheit.

Und am Ende seines Lebens bei Isola sacra eilt er nicht mehr und zögert nicht mehr und läßt sich vom großen alten Ozean aufküssen ohne ein Wort der Freude oder des Bedauerns. Dieser wunderbare Tiber!

*

Aber hier oben in Umbrien ist er noch ein anderer. Gern schleicht er durch laubige und gestrüppige Orte, neben Gärten und Weinhügeln vorbei. Er ist noch starker Provinzler. Zum Weltbürger muß er erst noch erzogen werden. Ich glaube, das geschieht durch die Chiana. Das ist ein munteres Flüßchen, hat offene Gelände mit stetem Eisenbahngetöse und fabrikreichen Plätzen durchschwommen und immer so eine seltsame großartige Gebärde gehabt. Man muß sehen, wie sie mit der Paglia zusammenfließt und nun dieses erschrockene, kurzlebige, engherzige Wasser regiert und bis zur Mündung in den Tiber, gleich unter Orvieto, drangsaliert! Dann dünkt mich die Begegnung mit dem Tiber selber ein psychologisches Meisterstück. Es ist so schön, der Begrüßung zweier Flüsse beizuwohnen wie der Umarmung zweier bedeutender Menschen.

Die Chiana hat auf den ersten Blick ihrer stählernen Toskaneraugen die Bedeutung des Tiber erkannt. Man muß das sonderbare Gemurmel bei der Begrüßung abhorchen, dies Wichtigtun, dieses Drängen und Zeigen der Chiana nach dem römischen Süden und dieses Stutzen und Staunen des immer noch umbrisch verträumten Tiber. Er wollte auf dem kürzesten Weg nach Westen ins Meer fahren. Aber die Chiana überzeugt ihn. Er begreift allmählich seinen großen Beruf. Weg mit den umbrischen Sentimentalitäten, sagt er und biegt mit einer unglaublichen Wendung ins Bett der Chiana-Paglia. Das ist seine erste weltpolitische Aktion, aber auch seine erste staatsmännische Treulosigkeit.

Denn kaum eine Stunde weiter oben war ihm noch ganz romantisch zumute. Bei Perugia hört man ihn noch zwischen Schilf und Wasserlilien flüstern wie einen verliebten Kauz. Vor der umbrischen Hauptstadt selbst kugelt er sich noch behaglich zusammen wie ein Kätzchen, das gemütlich schlafen und schnurren will. Und gar erst droben in den umbrischen Bergen spielt er den reinsten Träumer. Bei San Sepolcro sieht er den ersten Dampfwagen über seinen Rücken rollen. Er staunt ihn an wie ein Kind. Er studiert aus den Abruzzensagen, was für ein Fabeltier das wohl gewesen sein könnte.

Erst als die Bahn bei Citta ein zweites und drittes Mal über ihn braust und ihm dann ein Stück weit zur Seite geht, dämmert in ihm der Gedanke von einer weiten, fernen Welt. Aber da springt von der Gubbier Klause herunter der Chiaggio in den Tiber, drückt und kost ihn mit seinem Rangengesichtlein, die Bahn verrollt in der Ferne, der Tiber ist wieder für lange allein und phantasiert und spaßt und lallt Märchen wie ein Büblein hinterm Ofen – nein, hier oben würde ihn niemand als den spätern harten Römer erkennen.

Ich bin einmal auf verdrießlich übeln Wegen bis ins Fumaiologebirge hinaufgedrungen. Hier entspringt das herrliche Wasser. Aus Schwärmerei lief ich ihm entgegen bis zu seiner Wiege. Sein erstes Lallen wollte ich hören. Auf Ehre, es war nicht zu unterscheiden vom Geplapper irgendeines Alpenlümmels, der drei, vier Stunden weit fließt und dann mit einem leichtsinnigen Sturz an einer schwäbischen Mühle oder an einem schweizerischen Wirtshaus in einen großen, unbekannten Bach fällt und stirbt.

Der Fumaiolo ist etwa vierzehnhundert Meter hoch. Nicht weit unter der Kuppe ob einem von Alter fast silbergrauen Wald, zwischen Gestein und knorrigem Wurzelboden bricht der Tiber hervor. Eine kleine, überaus klare, klingende Welle, mit den Händen fast aufzufangen. Nicht manchen Steinwurf weiter östlich müßte er entspringen, und er fiele nach schnellem, unberühmtem Gang ins Adriatische Meer, mit der Marecchia gen Rimini oder mit dem Savio nach Ravenna hinauf. Wer weiß etwas von der Marecchia oder vom Savio? Und wer wüßte dann etwas vom Tiber? Wenn aber der Tiber nicht wäre, wäre dann Rom, wäre Cäsar, wäre die Siebenhügelantike? Und wären auch wir heute so? – Wegen der paar Sprünge eines tollen, sinnlosen Bächleins weiter rechts oder links – Weltgeschichte so oder Weltgeschichte anders! Ich erbebte beim Gedanken. Ich segne mich mit deinem Wasser, Brünnlein am Monte Fumaiolo, und beuge mich tief vor dem Gotte, der dich führt. Der Gott der Geographie ist auch der Gott der Weltgeschichte.

*

Von Perugia hinunter geht es durch Mais, Wein und dünne Pfirsichbäumchen zur Tiberbrücke gegen Assisi hinüber. Rechts und links hat man die umbrischen Hügelketten. Aber rechts gegen Perugia sind es die sanften, geduldigen Hügel, die dem Charakter des Talvolkes so gut entsprechen. Links hinter Assisi und gar zurück gegen Gubbio sind es die schroffen, harten, knorrigen der Abruzzenleute. Und zwischendrein fließt der Tiber im letzten Jünglingsjahr. Man kann auf der Brücke bei Ponte San Giovanni bequem das Gesicht des schönen, wohlgebildeten Flusses studieren. Er ist ohne Zweifel durch viel Schule gegangen. Die Flegelei der Primarklassen, aber auch die freche Fröhlichkeit der ersten Grammatik liegt weit hinter ihm. Auch durch die Ungereimtheiten der Syntax hat er sich gerungen. Jetzt kommt die Rhetorik, das Pathos. Orator Romanus fit! Die Unterhaltung mit der Chiana bis Orte ist eine gute Übung aufs Forum. Liegt einmal der klassische Soracte im Rücken, dann ist der Civis Romanus, der Homo Universalis fertig.

Der Spaziergang von Perugia quer durch das Tibertal nach Assisi lohnt sich reichlich. Ab und zu lodert ein rotes Kopftuch oder eine hellblaue Schürze aus den Fruchtsträuchern. Oder es sitzen Männer am Boden und essen ihren Reis. Nie machte ich den Weg, ohne auf Buben zu stoßen, die durch die Stoppeln musizieren. Was spielen sie doch? Es ist die Holzpfeife, die Mutter der Instrumentation. Die Weise tönt sanft wie alle Hirtenweisen, idyllisch und mit der dunkeln Farbe einer leisen Melancholie durchtränkt. Diese gedehnten Melodien mit ihrer verlöschenden letzten Note passen zum langsam freundlichen Tiber hier. Sie sind seine letzte Sentimentalität. Und zu seinen letzten romantischen Träumen passen auch die Menschen hier. Alle sind so mager, knochig, von der Sonne nur leicht gebräunt, und alle mit einem milden Blick. Wer das Bolognesenauge kennt, das schwarze, stolze, oder das goldbraune unheimliche venezianische, der glaubt hier Heilige zu schauen. Man wehrt sich umsonst dagegen, der Held dieses Landes, Franz von Assisi, mit seinem heiter-ernsten Weltbettlergesicht kommt einem immer in den Sinn. Er ist hier der herrschende Typ. Solche Leute an beiden Ufern hat der Tiber natürlich nicht zu fürchten. Sie hemmen und bekämpfen ihn nicht. Sie lassen ihn fahren. Sie haben zu allen Zeiten mehr gelitten als geplagt, mehr entbehrt als genossen, mehr verzichtet als beansprucht. Etwas wie Ergebung liegt über dieser Rasse. Es ist wohl möglich, daß dies dem Tiber auffiel. Daß er sich sagte: So bringst du es gleich den Menschen da nirgends hin. So schläferst du deine Zukunft ein. Die Menschen von da unten haben kühnere Mienen, einen härteren Schritt und eine festere Sprache. – Es ist möglich, daß der Fluß da zum erstenmal aus seiner umbrischen Gleichmütigkeit erwachte und die nahe Chiana nicht mehr schwere Mühe hatte, ihn gänzlich römisch zu stimmen. Ja, er will jetzt reden, endlich einmal laut reden, so laut wie noch niemand vor ihm, wie die Cornelier und Gracchen und Cicero und Cäsar zusammen. Sicher, hier an der Brücke zwischen Assisi und Perugia faßte er schon den heimlichen Entschluß, hinfür kein Umbrier, sondern ein Römer zu sein.

In Franzens Poetenstube

Der gottvolle Tuchhändlersohn von Assisi, Bruder Franz, hat die umbrischen Berge kreuz und quer durchlaufen. Es gibt vielleicht kein Bächlein, das er nicht angeredet hat, keinen alten Baum, an dem er nicht zu den Vogelnestern emporgeklettert ist, um von diesen losen Burschen das einfachste, unbesorgteste Lied zu erlernen. Oft war er drei, vier Wochen vom Konvent weg. Aber seine Jünger beunruhigten sich nicht darüber. Das war eben Bruder Franz, der Herumschweifer und Herumstreifer des lieben Gottes, der heilige Vagabund. Wenn Schnee in den Höhen fiel, ging er hin und grüßte seinen keuschen Bruder Schnee. Und wenn er irgendwo Asche fand, so küßte er die gier- und sündenlose Schwester Asche. Vetter Specht und Base Drossel kannten ihn wohl, und er nannte nicht bloß die Banditen, sondern neben Hase und Fuchs auch den gefräßigen Wolf seinen Bruder. Er war ein Urmensch. Was die Künstlichkeit der Kultur und ihre Irrtümer an der guten alten Natur verdorben hatten, so zwar, daß wir fast allen innigen Zusammenhang mit dem Wasser und dem Licht und der Luft und dem Wind und der lieben feinen Tierseele verloren haben und so stehen, daß wir entweder tyrannisieren oder tyrannisiert werden – und ach, damit haben wir mehr verloren, als wir an der Elektrizität und der Farbenphotographie und dem Luftschiff je gewinnen können –, das besaß Franz noch alles. Er sah gar keine Scheidung, keine Fehde, er war noch eins mit dem allem. Der große Bildhauer und Tierfreund Troubetzkoy hält freilich auch heutzutage noch ungezähmte, undressierte Wölfe und Bären und sogar Luchse in seiner Stube und behauptet, er lebe in Frieden mit ihnen. Man müsse diese Bestien nur verstehen lernen und lieben. Aber doch auch Troubetzkoy hält immer Halszwingen und Maulkörbe bereit und läßt keines seiner Kinder neben einer Wildkatze schlummern. Franz jedoch konnte ohne Peitsche und Stecken durch die Wildnis gehen. Kein Tier hat ihm was Leides an; er kam mit Marder, Bär und Vetter Wolf sehr gut aus.

In den wildesten und obersten Waldtälern des Gran Sasso soll es heute Bären und jedenfalls Wölfe nicht so selten geben. Doch zu Franzens Zeit wimmelte es bis ins Vorgebirge von bösen Tieren. Besonders die Wölfe hausten furchtbar. Aber wie man etwa vernimmt, daß ein naives, braves Menschlein unter Menschenfresser geriet, doch geschwisterlich gehalten und sogar an die Spitze des Stammes gestellt wurde, weil die Insulaner die echte, unschuldige Liebe dieses Weißen als etwas ganz Gewaltiges und Unbesiegliches verspürten, so wird es auch etwa bei den Tieren sich verhalten. Auch die Tierseele merkt gleich, ob ein Mensch noch unschuldig ist.

Schon unter den Menschen heutzutage, wo immer zwei Fremde sich treffen, ist das erste Gefühl: Gegnerschaft! Rede einen wildfremden Menschen auf der Straße an, seine erste schnelle Miene zeigt Abwehr, Verteidigung. Erst die Höflichkeit deiner Worte beschwichtigt ihn. Er wird das Feindselige aufgeben, aber mit unbrüderlicher Förmlichkeit, und er wird meist recht kühl antworten. Erwiderte er dir mit Wärme, ja mit hübscher Zutunlichkeit, so würde der Städter spotten: Seht da, noch ein Rustikanus! Ein Kind vom Kartoffelland! Wenn solches unter Menschen schon geschieht, wieviel mehr bei den uns fremden Tieren, den Pflanzen, den Naturgewalten. Sie müssen wir einfangen, festlegen, ausnutzen. Das Wasser und das Licht, das Tier und der Baum müssen uns Sklave sein, nicht Freund! – Aber das gerade verstehen diese einfachen, gesunden Geschöpfe nicht. Daher Trennung, Zwiespalt, Haß zwischeneinander.

Der Mensch will niemand dienen, dem Wasser nicht und der Luft nicht und nicht dem Tier. Aber ihm soll alles dienen. Als ob er noch der Paradiesmensch wäre, dem alles unterworfen ward. Diese gewalttätige Ausnahme macht alles Nichtmenschliche zornig gegen uns, so daß das Wasser ab und zu ein Land und Volk verschwemmt, oder der Blitz eine Stadt einäschert, oder ein Heuschreckenschwarm eine ganze Provinz verheert, oder ein Hagel alle Saat vertilgt, und selbst einer Mücke ist es gegeben, mit einem feinen, leisen Stich den größten Riesen und Prahlhansen ins Grab zu strecken, sicherer und grausamer, als ein Achillesspeer es könnte.

Über das alles habe ich oft nachgedacht, wenn ich durch das umbrische Schluchtengebiet wanderte. Ein Wässerchen rieselt irgend aus einer Grube mit kleiner, silberner Melodie, und der Wind singt so fein, und alle übrige Natur ist so still, und stundenlang begegnet einem kein Mensch. Das war Franzens »Alleinsein mit der Seele«. Gibt es noch ein so schönes Wort in unserer Sprache wie dieses? Und Franzens sehr vornehmer und feiner Bruder, Bernhard von Quintavalle, der auch über die Maßen gern einsam spazierte, aber lieber auf den Kuppen und Gräten des Gebirges, der sagte dem: »Die Dinge von oben beschauen«. Auch das ist prachtvoll gesprochen. Ha, es war eine großartige Zeit! Alles wollte Ritterburgen bauen oder Marmordome errichten oder berühmte Gesänge schaffen oder mit den schlauen Genuesern und kecken Venezianern auf reichen Handel ausgehen. Man hatte gerade auf den Kreuzzügen die Seide von Brussa und die Spitzen von Ispahan kennengelernt, den wundersamen Damaszenerstahl und die Glut des Smyrnaweines erfahren. Eine internationale Vergnüglichkeit und ein internationales Handelsfieber ward jetzt zum erstenmal laut. Besitz, Besitz! Der fängt jetzt an. Schwertehre und Amtstitel nehmen vor dem Kapital den Hut ab, und Walter von der Vogelweide ist überglücklich, daß ihm der Staufer endlich ein paar Schuh eigenen Boden und ein kleines Betriebsgeld dazu gibt. Und da kommt nun dieser Franz und lacht den Besitz als überlästige und ganz unnötige Quälerei aus und läuft der Armut nach und wird ihr erster nobler Freier, ein unvergleichlicher Ritter von Habenichts.

Als Goethe in Assisi weilte, wußte er das alles nicht. Er kannte Franz zu wenig. Sonst hätte er wohl einen Zusammenhang mit der ihm so lieben Einfachheit der Antike wahrgenommen. Franz dünkte ihn bloß ein Eiferer, der Vater aller dieser oft so häßlichen geistlichen Krambuden und frommen Prellereien in den Gassen der Wallfahrtstadt; ein schwärmerischer Geist und ein Phantast, der immer in Sturm und Drang lebt, dessen Blut immer schäumt, statt sich endlich ruhig abzulagern, der nie solider Philister wird. Das mißfiel Goethe, der gerade um jene Assisizeit herum anfing, seine Philisterhaut abzutun. Sokrates war ihm die Gesundheit, Franz das Fieber. Heute würde Goethe ohne Zweifel nicht mehr so schreiben. Er wüßte jetzt, daß dieser Franz nicht bloß seiner Kirche ein Heiliger, sondern der ganzen Welt ein genialer und gewaltiger Kulturmensch geworden ist. Vielleicht würde Goethe trotzdem auch heute noch sich in seiner Steifheit weigern, das Franziskanerkloster zu betreten, auf die Gefahr hin, der Cimabue und Giotto verlustig zu gehen. Aber anerkennen würde auch der Alte von Weimar, wenn er nur ein bißchen umbrisches Land und Volk durchstreift hätte, welch ein großer Naturfreund und Naturpoet der Poverello gewesen ist.

Die Berge sind kahl, aber in den Schluchten und Klusen, wo die Quellen sich durchbrechen, da wächst ein Gebüsch und niedriger Wald. Es gibt da hunderterlei Gehölz. Und das nimmt zu, wo Feuchtigkeit und Schatten wachsen, gegen die tieferen, engeren, hinteren Täler. Und so wechseln, je tiefer man hineingeht, um so lustiger Felsen und kahle braune Halden mit belaubten Schlupfwinkeln, umwucherten, dunkelgrünen Bächen und knochigen Erdhöhlen. Weiter im Gebirge plätschert schon überall etwas Wasser, raschelt überall ein wenig Blätterwerk um uns. Der dichte, hohe, duftige deutsche Wald mit seinen Kohlenmeilern, Schneewittchen, Rotkäppchen ist hier freilich nicht zu finden. Aber es gibt doch auch hier noch kleine Dickichte und recht tiefe, dunkle Gründe und dann und wann ein Plätzchen, wo der heiße Himmel nicht bis zu Boden dringt. Manchmal stößt man doch auch noch auf einen richtigen Wald, auf Buchen und Eichen, und wie diese grünen nordischen Forste dann in die goldige Luft des Südens ihre Häupter recken, das ist jeweilen immer ein seltsames Anschauen, ist wie tiefe Nachdenklichkeit an einem lauten Fest.

Dann und wann begegnet uns ein Steinbrecher, ein Holzhacker fast nie. Aber beerensuchende Leute gibt es doch auch und Kräutersammler und etwa wilde, magere, graue Hasen. Vögel hört man kaum. Dafür den summenden Schwarm der Käfer und Schmetterlinge. Überhaupt die kleine Tierwelt regiert hier, und du triffst die wunderlichsten Mücken mit Stahl- und Glasflügeln, die Wasserjungfern surren dir gewaltig ums Ohr, Heuschrecken rennen dich mit heldenmäßigen Kniesprüngen an, die naiven, dunkelgrauen Blindschleichen, Eidechsen von aller möglichen Geschecktheit, borstige, gelbgetüpfelte Graswürmer, Schnecken mit prachtvoll geäderten Häuschen auf dem Rücken, Molche wie glänzender Teer, orangenglühende Salamander, Frösche in einer ewigen Abwechslung von Todesangst und Lebenshumor und schöne, goldstriemige Kröten mit ihren Smaragdaugen und dem steifen Glauben an ihre Unsterblichkeit, das alles wimmelt bunt durcheinander. Zuweilen hört man ein Rebhuhn oder einen Fasan krächzen. Zuweilen begegnet einem auch aus einer Bergvilla ein geschmeidiger Mensch mit neunzehnjährigem Flaum auf der Lippe und einer eleganten Flinte in der Rechten. In seinen Augen glänzt die Ermordung ganzer Tiervölker. Aber in seiner Jagdtasche liegt ein einziges, mit Schrot durchschossenes Lerchenjunges. – Er schleicht weiter. Dann wird es wieder still. Das ist das Poetenstüblein des heiligen Franz von Assisi.

Von Hunger und Kälte ist hier keine Rede. Dem Poeten reicht die Natur überreiche Almosen. Da gibt es wilde Feigen und Kirschen, süße Kastanien, ganze Plätze voll Erdbeeren, gutes Wasser, safrangelbe Wurzeln des Süßholzes, und viele eßbare Kräuter wachsen ringsum. Ein paar Tropfen Öl und Essig, und man hat einen Salat ohnegleichen. Und wie billig sind die Reis- und Maiskuchen! Wenn du sie in ein Bächlein tunkst und zu jedem Bissen eine Pfirsichscheibe issest, so glaubst du, wie Salomon zu tafeln. Auch im Dezember wird es nicht so arg kalt. Auf den hinteren Höhenzügen der Abruzzen fällt freilich Schnee. Aber bis in diese Hügel und Täler hinunter wallen nur selten die weißen Winterblüten, und am Morgen um neun Uhr ist alles wieder an der umbrischen Sonne geschmolzen. Ich muß gestehen, eine solche Einfachheit und Armut, wie Franz sie hier herum predigte, läßt sich im Norden kaum denken. Man friert dort und hungert, und der größte Aszet muß wenigstens aus einer Bäckerei ein Brötchen holen und ein paar Scheiter im Ofen haben. Und das allein, daß wir zu wenig Sonne und keine wilden Fruchtkörner zu schmarotzen haben, das allein hindert uns Nordländer schon gewaltig, so spatzeneinfach und franziskanisch zu leben. Es sind denn auch die meisten großen Armutsprediger aus dem Süden gekommen: Benedikt und Dominikus mit unserem lieben Franz. Auch Ignatius von Loyola. Und in einem Lande der Wärme hat auch Christus sein Evangelium begonnen und seine Missionare geschult. Im Norden wäre es viel schwieriger gegangen. Da hätte sich wohl jeder Apostel zu Hut und Stab noch soundso viele Scheffel Weizen und soundso viele Bengel Heizholz und soundso viele Ellen wollenen warmen Wintertuchs ausbedungen.

Nein, im Süden hat man fürwahr leichter, arm und heiliger Asket zu sein. Nur schon, weil man nicht frieren muß! Ach, wenn man friert, so hungert man auch, und so erlahmt der innere Schwung, erstickt die Energie, erlöscht die edle, heilige Flamme Begeisterung in uns. Bei zehn Grad unter Null schreibt man keine glühenden Hymnen mehr. Seuse, der liebste aller deutschen Heinriche, hat doch immer eine warme Zelle in Konstanz bekommen, und Thomas Kempis erhielt wenigstens eine warme Fastensuppe zu Mittag. Ohne das hätten wir sicher keine »Nachfolge Christi«und kein Horologium sapientiae empfangen.

Auch bei den Heiligen hat die Erde viel zu sagen. Das Leibliche ist auch ihnen eine große Sache, Last und Lust, Hilfe und Hinderung zugleich. Und so muß es sein. Ist der Marmor schon dem Bildhauer nicht gleichgültig und bestimmt mit seinem Korn und Geäder mehr von der Schöpfung mit, als man ahnt, wie sollte dann der wunderbare Lehm des Menschenleibes nichts für unsere Werke und Ideale zu bedeuten haben?

Das letzte Stündlein des Papstes Innocenz des Dritten

Der grosse Innocenz lag am Nachmittag des heissen 16. Juni 1216 im erzbischöflichen Palast von Perugia, auf erhöhten Lagern, bei offenen Fenstern in den letzten Zügen. Jäh war es über den blühenden Herrn gekommen und hatte ihn aus grossen Plänen und einem Tisch voll noch nasser, weltregierender Diktate ins Sterben geworfen. Eine Orange zur Unzeit, Fieber, verwirrter Medikus und der Tod, das ging in einen halben Tag.

Er sah vom Kissen aus das Tibertal zu den Gesimsen heraufleuchten und drüben die kleinen Stadtnestlein Assisi, Spello, Foligno und Trevi von den Gebirgshängen winken. Aber reden, schreiben, auch nur noch mit dem Finger deuten konnte der Sterbende nicht mehr. Steif und still lag er da. Unter den Fenstern auf dem Pflaster hörte er die Rosse trampeln, Wagen vorfahren, Eilboten im Galopp den Hügel hinunter nach Rom rasen. Er hörte die Ärzte arabische Phrasen gegeneinander schimpfen und dazu mit ihren langen Röcken rauschen. Und das Hofgesinde und die Prälaten hörte er flüstern: »Er ist aus reichem Haus und ein grosser Sparer gewesen. Wer kennt sein Testament? Was vermacht er uns?« – Und übel klang dazu, wie man sich schon um die Schlüssel zu dieser und jener Truhe sorgte. Aber noch viel übler war das fromme, ängstliche Durcheinander anzuhören: »Gott, was wird aus unserer heiligen Kirche? – So jung der Kaiser, so furchtbar der Muselman, so nötig unser Papst wie die Sonne am Himmel! Wer soll seinen Stuhl füllen? Die Welt fällt auseinander.« – Das und alle die tausend Geräusche, die das Abtreten eines Grossen und das Kommen des Nachfolgers begleiten, hörte er mit dem so feinen Ohr der Sterbenden. Aber er lachte in seine grosse Seele hinein. Ach, was war doch dies alles für Torheit! Drüben glänzt Assisi. Dort lebt der Mann, der für diesen Augenblick allein noch passt, Wo ist Franciscus, der Bettler? Franciscus her! Ach, wenn er ihn doch rufen könnte!

Der stand einmal vor seinem Stuhl in Rom und fragte demütig: »Herre Papst, dürfen wir arm sein?«

Der junge Papst schüttelte damals verwundert seinen lockenbraunen Kopf. Die Hofschranzen aber spotteten laut.

»Dürfen wir von der Armut leben?« wiederholte Franz.

Innocenz lächelte fein. Was war das für eine Speise, die Armut? Was für ein neuer Reichtum, das Nichtshaben?

»Herre Papst, so meine ich’s: Darf ich eine Familie gründen aus lauter Freiern? Aber nicht aus Freiern um adelige Töchter oder um Bischofsmützen oder um Baronate! Ach nein, aus Freiern um die schöne, reine, selige Frau Armut. Dürfen wir vom Almosen leben? Und daneben wie die Vögel und die Eichhörnchen im Walde hausen, die bequeme liebe Erde zu Stuhl und Tisch und Bett und Studierpult und Futterplatz nehmen? und das Summen und Brummen der Tierlein zur Musik und das Wasser zum Spiel? Und dürfen wir uns so sorgenlos der Natur und ihres Bauherrn freuen? Und weil ganz gewiss so eine Armut allein der wahre Reichtum ist: dürfen wir unser köstliches Freiertum auch andern predigen? etwa den Schwitzenden und den Belasteten? den Verdrossenen und den Geizhälsen und den Schlemmern? Damit alle einfach werden? Denn einfach sein, ist wie das Evangelium sein, ist selig sein. Dürfen wir, Herre Papst, sag, dürfen wir?«

Das sang und drang in des Heiligen Vaters Herz wie mit Vogelstimmen. Es war vor wenigen Jahren. Wie gut weiss er es noch! Und wie sieht er noch immer deutlich jenen blassen, jungen sonnigen Mönch in der staubigen Kutte mit seinen zwitschernden Gesellen vor ihm stehen und so fröhlich betteln, als hätte er den blauen Himmel im Auge und einen Engel auf der Zunge.

»Aber ihr fallet den Menschen zur Last mit euerem Betteln und leidet dann Not und haltet es nicht lange aus!«

»Lasset uns nur machen, Herre Papst, es wird schon gehen. Wenn es den unwissenden Vögeln gelingt, so einem Spatz und Gimpel sogar, warum nicht auch uns schlau-einfältigen Geschöpfen?«

Da liess Innocenz sie gewähren. Und als die Mindern Brüder mit ihrem herrlichen Wald– und Harzgeruch aus dem Marmorsaal des Lateran hinausgesprungen waren und nur noch ein leises blaues Wolkendüftlein von ihnen an der Diele hing und still verschwebte: da fühlte der Heilige Vater zum erstenmal wieder, seit er die weisse Papstseide trug, dass es noch Grösseres gibt als die grelle Glorie seiner Regierung: Einfachheit der Seele, Franzens, des heiligen Habenichts, Einfachheit.

Jetzt aus all der verschachtelten und verwinkelten Krämerwelt hinaus in die Nähe des Todes gerückt, fühlt er wie Heimweh einen Hauch dieser Einfachheit über sich kommen. Sehnsüchtig blickt er über die Bettpfosten am Fussende hinaus und hinüber nach Assisi, wo der Heilige nun schon jahrelang mit den Vögeln und Füchsen und Jüngern lebt und wirkt, der Adam einer neuen Schöpfung.

Wenn doch jetzt dieser arme Franz da wäre und zu ihm ein Wort vom Frieden der Seele reden wollte, jetzt in diesen paar so wichtigen letzten Minuten!

Die Umgebung sieht, wie der Schweiss aus der kühlen, bleichen Stirne des Papstes rinnt und wie sein Auge quälerisch etwas sucht. Was möchte er wohl?

Ob er kühles Wasser wolle oder den Erzbischof Baldi oder seinen treuen Hofkaplan?

Nein, nein, nein, nichts dergleichen. Ach, könnte er nur den einen Namen rufen!

Ob man ihm etwas vorbeten solle?

Seine schwarzen grossen Campagnaaugen sagen ja. Aber vorbeten sollte der grosse heilige Bettler. Das wäre ein Gebet wie von einem Riesen.

Man betet mit brennenden Kerzen ums Bett aus den alten gewaltigen Psalmen. Wie das dröhnt beim hundertsten Satz: »Nimm mich nicht aus der Mitte meiner Tage weg!« – Und wieder beim neunzehnten: »Die kommen mit Wagen und die mit Rossen – ich aber im Namen des Herrn!«

Oh, das alles erlöst nicht. Innocenz möchte eine mildere Sprache, er möchte das Wort Figliuolo hören, wie es Franz von Assisi so süss sagen kann, und Padre und Patria, wie er allein es so heimatlich ausspricht. Unbefriedigt irren seine Blicke umher und haften dann immer wieder an den fernen, schimmernden Mauern von Assisi.

Da fällt endlich einem Kleriker ein, dass der wunderbare Franz von dort drüben zurzeit in Perugia weile. Man hat ihn noch am Vormittag mit Bettlern auf der Piazza spielen sehen. Er ist ein Narr und ein Heiliger. Vielleicht könnte der noch helfen. Und vielleicht ist es das, was der Sterbende sucht. »Soll man den Poverello holen, Heiligkeit?«

Innocenzens Augen leuchteten vor Freude. Und ein Erzpriester von San Lorenzo rennt hinaus und sucht nach Franz durch alle Schnörkel der Stadt. Umsonst! Er läuft in alle Schenken! Torheit! Endlich findet er den Bruder hinten im Spitalhof, wie er einem Siechen Suppe schöpft und zu jeder Kelle ein prachtvolles Sprüchlein weiss.

»Saget dem Papst«, wendet sich Franz heiter gegen den Prälaten, »ich könne nicht kommen. Ich müsse der Kranken warten. – Unser grosser Papst hat hundert Diener. Aber Nazaro hier, der Blinde, hat niemand, der ihm gut und höflich servierte.«

Der Heilige Vater nickte leise mit den Augen auf diesen Bescheid und wartete geduldig. Als er dachte, Franzens blinder Krüppel sei nun wohl gut und höflich serviert, sandte er wieder hin. Und diesmal ging ein Erzbischof.

Wieder suchte man lange auf und ab. Endlich traf man den Heiligen an der alten Stadtmauer zur Porta Nella hinunter in einem Rudel Gassenkinder. Franz teilte ihnen zusammengebettelte Orangen und Feigen und Brötchen aus und erzählte, während sie mit grossen, weissen Zähnen alles appetitlich assen, Geschichtlein auf Geschichtlein von hohen und mächtigen Kindern der Bibel, also vom gewaltigen Hirtenbuben und Schleuderer David, vom übermächtigen Knaben Simson, der Löwen mit blosser Hand erwürgt; dann vom viel feineren, hübschen und unsinnig schlauen Daniel und von den hellhaarigen, grossartigen sieben Söhnen der Makkabäerin, die über Feuer und Messer wie über ein dummes Spielzeug lachten. – Und immer klatschten die kleinen Zuhörer in die schmutzigen Hände, schrien: »Bravo Davide! bravo Daniele! bravissimo piccolo figlio Maccabeo!« und flehten dann: »Noch ein Geschichtlein, nur noch eines, Bruder Franz! Es ist so schön, was du da alles weisst. Wir wollen es nachmachen, sicher! Also denn, was war’s mit dem kleinen Krausebürschlein Giovanni Battista?«

»Saget dem Papst«, unterbrach jetzt Franz seine Kinder und verneigte sich ehrsam vor dem Erzbischofe, »ich könnte wirklich nicht kommen. Ich müsse Kinder lehren. Unser Heiliger Vater ist ja weiser als alle Kinder und Greise. Er braucht keinen Lehrer. Er ist der Lehrer der Lehrer. Und wenn er sich doch einen klugen Spruch will sagen lassen, so hat er ja ein Dutzend Doktoren von Paris und Bologna um sich. – Und nun, ihr lieben losen Jungen, gebt acht, was ich euch vom kleinen Battista ... »

Schmerzlich verzog Innocenz den feinen Mund auf diese Meldung und wartete, bis Franz alle Geschichtlein von mächtigen, heiligen Kindern den Perugierschlingeln unten an der Mauer erzählt hatte. Er galt dem heiligen Bruder also weniger als Blinder im Spital oder als irgendein ungehobelter Gassenbengel! Das war sehr betrübend. Aber Innocenz demütigte sich und glaubte, Franz tue recht. Und als er meinte, die Kinder hätten nun alle schönen Geschichtlein gehört, da sandte er, fast gar schon ohne Atem und Herzschlag, noch einmal dringend hin. Franz möge jetzt doch um alles kommen! Der Papst sterbe, wenn er zögere. Es sei doch etwas Grosses, wenn ein Papst rufe. – Diesmal waren es zwei Kardinäle in langen, brennendroten Purpurschleppen.

Doch Franz befand sich schon nicht mehr bei den Kindern, sondern war durch den Garten des reichen Baglioni spaziert, als wäre der sein Gut. Und da fand man ihn mitten im Weglein zwischen den hohen Rebstangen stehen und eine Spinne trösten, der er unachtsam die silberne Hängebrücke von einem Busch zum andern zerrissen hatte. Nun flatterten die Reste traurig im Winde.

Franz zog aus seinen zerfaserten Ärmeln so lange dünne Fäden, als er nur konnte, und suchte mit Bedacht und Fleiss sie zu verschlingen und mit den Enden zu verknüpfen und der Kreuzspinne so den Weg hinüber wieder ordentlich zu flicken.

»Saget dem Papst, ich müsse doch wahrhaft dem Spinnlein den zugefügten Schaden wiedergutmachen. Der Heilige Vater hat mich nicht so nötig. Hundert Nachfolger warten auf sein Sterben, um gleich an seinem grossen Faden das Netz Petri weiter zu spinnen. Oder zu flicken, wie es ihnen gut scheint. – Aber du, zierlich gesprenkeltes Spinnlein, hast wohl Hunderte, die dein Gewebe zerstören; aber niemand, der es wieder flickt. Da muss schon der dumme Franz herhalten.«

Und er fuhr fort, sehr feine Fasern aus dem Ärmel zu zupfen und zu verknüpfen und über das Laub zu ziehen, indessen die Spinne mit ihren hundert dankbaren, schwarz funkelnden Augen dem seltsamen Gehilfen vom gezahnten Rand eines Blattes auf jeden Finger sah und sich an dieser menschlichen Plumpheit köstlich ergötzte.

Diesmal wagten die Boten nicht heimzukehren und zu sagen, Franz habe ein garstiges Ungeziefer dem heilig und dreifach Gekrönten vorgezogen. Sie warteten also, indem sie bald an der seidenen Schleppe zogen, wenn eine Schnecke darüber kriechen wollte, oder eine Fliege abwehrten, die auf ihr goldenes Brustkreuz sich geradwegs hinsetzte, weil es so funkelte in der süssen, gelben, umbrischen Vespersonne. Dann horchten sie wieder gegen San Lorenzo hinauf, ob dort vom Schalloch die Totenglocke immer noch nicht anschlage! –

Endlich war Franz mit seiner Feinweberei fertig.

Die Spinne bedankte sich durch ein munteres Gezappel der Füsse und durch ein gewaltiges Gefunkel der hundert Äuglein.

Gehen wir jetzt«, sagte Franz fröhlich, nachdem er ringsum weder einen Krüppel noch ein Kind, noch ein Tierlein oder sonst was Bedürftiges sah, dem er etwas zulieb tun könnte.

Indessen lag Innocenz hochauf in den Kissen, dem Fenster und den Bergen von Assisi zugewandt. Und es fiel gerade die Sechsuhrsonne, die tiefgelbe, umbrische, auf die päpstliche Krone zu Häupten des Bettes. Das Geschmeide flammte auf wie eine zweite Sonne und tauchte das ganze Gemach bis in die hinterste Ecke in einen seltsamen, goldig–dunkeln Dunst.

Der Papst horchte auf jeden Tritt über das Strassenpflaster unter dem Fenster. Plötzlich öffnete er die Augen weit und lächelte. Von allen andern Füssen unterschied er das leichte Holzschuhgeklapper des Bruders Habenichts. Er atmete schon den Wald– und Heideduft und das Paradieslüftchen dazu, das von Franz ausging. Seine feinen, bleichen, seidigen Lippen öffneten sich leise wie zum Grüssen.

Aber auf der Schwelle blieb Franz jählings stehen und hielt die Hände wie geblendet vor das Gesicht und sagte: »Herre Papst, da kann ich nicht hinein.«

Man rief, drängte, stiess. Was soll nun das? Warum spielte er jetzt wieder den Sonderling? Ist dies die Demut des Gottesknechtes, sich so zu gebärden? Warum, warum doch kann er nicht hinein?

»Mich blendet die Erde allhier«, antwortete der Poverello einfach.

Da hoben sie die Krone weg, und es wurde dämmerig im Saal, und Franz konnte hereinkommen. Er kniete vor den Papst auf beide Knie nieder wie ein Kind. Und Innocenz lächelte so zufrieden, wie er seit der Siegeskunde von Tolosa nie mehr gelächelt hatte. Ihm war, es knie ein Cherubim an seiner Seite. Franz aber begann: »Vielglücklicher, Heiliger Vater, nun sagt Ihr: Fahr wohl, Welt! Aber da knistert und rauscht und schmeichelt sie noch immer um Euch, so dass der Himmel nicht recht herzu kann.«

Sprach’s und zog dem Papst, der immer fröhlicher dreinsah, das seidene Schulterröcklein und die goldene Kette und sogar die breite, golddurchwirkte, schwere Stola ab. Alles sah zu und entrüstete sich und wagte doch keine Widerrede. Aber Franz warf seinen braunen, von so vielen Bettelreisen verstaubten und von so vielen Gassenbuben verunglimpften Mantel ab und legte ihn dem Papst über Brust und Schulter.

Dann blickten sich die zwei lange in die Augen und durch diese offenen Fenster in die tiefste, heimlichste Seele, der oberste Gebieter und der unterste Knecht auf Erden – und beide verstanden sich.

»Rede doch mit ihm«, gebot der Kardinalbischof von Ostia. »Deinen Trost will er haben.«

»Von der Schlacht bei Navas de Tolosa sag ihm! Hunderttausend tote Heiden! sag das!« schrie der Graf von Benevent.

»Oder vom Kreuzzug nach Byzanz!« meinte ein flämischer Baron.

Franz zog ein paar Spinnfäden mit höflichen und feinen Fingern aus seinem Bart und zog sie dem Papst über das noch immer braune, krause und jetzt vom Sterben ganz nasse Haar. So andächtig tat er das, als wären diese grauen Fäden das Köstlichste der Welt.

»Seht, Herre Papst«, sprach er dann munter, »es bleibt Euch nichts von allem Rom und Weltreich. Ja, von allem grossen Spinnen und Weben und Sorgen über Alpen und Meere hin bleibt Euch weniger als meiner Schwester Spinne drüben in den Weinlauben.«

»Nicht so musst du reden«, schalt da der ritterliche Bischof von Pisa. »Von den Bannstrahlen sag ihm lieber, die über den Gotthard in den deutschen Schnee flogen; von den getrösteten Königinnen zu Paris und Leon, und solches mehr! Das klingt fürs Leben und Sterben schön.«

»Und doch«, fuhr Franz fröhlich fort, ohne im geringsten auf den Hoftross zu achten, »ist Euch Köstliches geblieben und das Beste von allem, Herre Papst: die reine Armut! Da nehmt dieses Fetzlein Spinnfaden! So arm seid Ihr. Ein Bettler in Trastevere ist dagegen ein Krösus.«

»Basta ... vom Konzil im Lateran erzähle!« mahnt der Statthalter von Spoleto.

»Vom Krieg gegen die Ketzer!« eifert Montforts junger Vetter.

Aber Franz sah die vermehrte Freudigkeit des Heiligen Vaters wie einen hellen Sonntag über die Stirne ausgebreitet und plauderte unverdrossen weiter: »Vergesset das alles, was Eure guten Herren da fabulieren. Und kehrt lieber zurück in Euere Jugend. – Da hast du«, begann er den Papst mit einem Mal zu duzen, »ein Büchlein geschrieben, lieber Bruder, weisst du noch?«

Jetzt lag nichts Politisches und Staatsmännisches mehr im Papstgesicht. Ein junges, weiches Lächeln überzog alle Härte dieses Marmorkopfes. Wie ein Kind sah der grosse Innocenz aus.

Denn er sah sich als feurigen, frühreifen Knaben, vom Wein und von der Minnemusik im elterlichen Palast hinauslaufen in die tiefen Rebenstauden des Schlosshügels von Segni und nachdenken, was mehr sei als so ein erhobener Becher und so ein geharfnetes Liebeslied und so ein bunter und doch schwermütiger Campagnertanz. Und wieder sah er sich nachts im Bücherzimmer seines Vaters sitzen und über dem Ekklesiastes studieren, wenn der Docht schon heruntergebrannt war und seine Adelsgenossen sich zechmüde nach Hause trollten – sah sich da sitzen im Finstern und nachsinnen über das, was das Genie aller Zeiten nie Grösseres lehrte: einfach sein! Und der Sterbende besann sich gut, wie er damals voll stürmischer Begeisterung anfing, rauhe Kleider zu tragen und das Wenigste und Gewöhnlichste zu essen und zu trinken, was durchaus zum Leben gehört; und die hochlehnigen, weichen Stühle zu fliehen und ein Werklein zu schreiben: De contemptu mundi. Ah, er weiss jetzt, dass er nie so glücklich war wie damals beim heissen, herzklopfenden Niedergekritzel jener wenigen Blätter. Sie machen ihn jetzt glücklicher als die gebogenen königlichen und kaiserlichen Knie seines ruhmvollen Pontifikats. Es war schon nicht mehr irdische Heiterkeit, es war eine andere, erdfremde Sonne, die auf seinem erblassenden Antlitz leuchtete.

»Bei allen Söhnen der Armut und bei allen Töchtern der heiligen Einfachheit«, sagte Franz, »wird dein Büchlein gelten. Deine Staatspapiere lärmen sich bald aus und liegen stumm in den Archiven wie Leichen im Sarg. Aber das Büchlein bleibt, solange der Weg vom Staub zum Geist und von der Erde zum Himmel durch das heilige Tor der Armut geht!«

Innozenz lag wie in Verzückung.

»So vollende denn diesen Königsweg, Herre Papst und Herre Bettler. Geh im Frieden! Um dieses Büchleins und seiner Stille willen wird dir viel Lärm verziehen werden.«

Damit fasste Franz die schon erkaltete Hand des Papstes, so wie man den Freund, der eine weite, gar stattliche Reise unternimmt, an der Hand fasst, als sollte er uns doch um der Bruderliebe willen aus dieser winkligen Langeweile heraus mitnehmen in seine helle, tapfere, wunderbare Strasse hinaus.

Die schlanke Gestalt des Papstes tat einen leisen, feinen Ruck vom Kopf bis zu den Füssen des Bettes, dass es wie ein silbernes Leuchten durchs Zimmer ging, und öffnete den Mund und liess fröhlich das letzte Lüftchen entgleiten. Und niemand hätte seiner hellen Miene den Tod angesehen und an einen Leichnam geglaubt, wenn sich Franz nicht zu den Versammelten gewendet und beinahe lustig gesagt hätte: »Seht einmal da unsern lieben Herrn Papst! Er hat seinem Nachfolger nichts hinterlassen als dieses Lächeln auf der Stirne und diese paar Spinnfäden im Haar. Aber das ist genug.«

Und mit der gleichen Heiterkeit und den feinen, höflichen Händen, womit er vorher dem blinden Nazaro serviert, die Rangen gestreichelt und das Spinnlein bedient hatte, schloss er dem Heiligen Vater den offengebliebenen Mund und scherzte noch: »Bleib nun still! Du hast genug gelärmt!«

Verwirrung und Gewoge im Palast und in der Stadt Perugia. Über die Leiche hin geht Posaunenstossen und Rossgetrappel und das schwere, erhitzende Geschäft einer neuen Papstwahl. Und in diesem grossen Getöse merken nur ein paar leise, fromme Menschen das Flattern einer weissen unbekannten Taube, die sich zu Häupten des aufgebahrten Papstes in San Lorenzo niederlässt, wie damals, als man den Jüngling zum Papst erkor.

Als Franz spät am Abend in die Klosterstube zu Assisi trat, sagte er: »Unser lieber Bruder Innocenz ist soeben drüben in Perugia in diesem Mantel gestorben und hat den Frieden gewonnen!«

Da liefen die Brüder herzu und küssten das braune, grobe Tuch und wollten alsogleich das Requiem aeternam für den Toten anstimmen.

Aber Franz vollendete: »Betet also für die arme Seele des – neuen Papstes!«

et zu sein. Nur schon, weil man nicht frieren muß! Ach, wenn man friert, so hungert man auch, und so erlahmt der innere Schwung, erstickt die Energie, erlöscht die edle, heilige Flamme Begeisterung in uns. Bei zehn Grad unter Null schreibt man keine glühenden Hymnen mehr. Seuse, der liebste aller deutschen Heinriche, hat doch immer eine warme Zelle in Konstanz bekommen, und Thomas Kempis erhielt wenigstens eine warme Fastensuppe zu Mittag. Ohne das hätten wir sicher keine »Nachfolge Christi«und kein Horologium sapientiae empfangen.

Auch bei den Heiligen hat die Erde viel zu sagen. Das Leibliche ist auch ihnen eine große Sache, Last und Lust, Hilfe und Hinderung zugleich. Und so muß es sein. Ist der Marmor schon dem Bildhauer nicht gleichgültig und bestimmt mit seinem Korn und Geäder mehr von der Schöpfung mit, als man ahnt, wie sollte dann der wunderbare Lehm des Menschenleibes nichts für unsere Werke und Ideale zu bedeuten haben?