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Kai Meyer

Der Rattenzauber

Heile heile Segen!
Drei Tage Regen,
vier Tage Schnee,
tut dem Kindlein nichts mehr weh
.

Kinderreim

VORBEMERKUNG

Am 26. Juni des Jahres 1284 verschwanden aus der Stadt Hameln am Weserufer hundertdreißig Kinder. Historiker streiten über die Gründe: Manche sprechen von Krieg oder Krankheit, andere von einem Unglück oder der Umsiedlung nach Schlesien. Keiner kennt die Wahrheit.

Der Volksmund hat seine eigene Deutung: Der Rattenfänger habe die Kinder geholt. Eine Legende, sagen die meisten. Eine Erklärung, so gut wie jede andere.

Das Rätsel bleibt weiterhin ungelöst.

Niemand weiß, was mit den Hamelner Kindern geschah.

K. M.

PROLOG

Und plötzlich fragte die Fremde:

»Kennt ihr die Geschichte von König Herodes und den Kindern Bethlehems?«

Ihre Stimme klang warm wie die Flammen der heimischen Feuer, süß wie das Backwerk der Händler aus dem Süden, und die Kinder Hamelns rückten in der Dunkelheit näher an die Frau heran, betörend und schön, wie sie dastand, den weiten Mantel zurückgeworfen, den Wanderstecken griffbereit zu ihren Füßen, wie ein Zauberstab, dessen sie in diesem Augenblick nicht bedurfte. Denn die Magie, die sie wirkte, war anderer Natur; ihre Worte woben ein Netz aus Geschichten, ein machtvolles Gespinst, unsichtbar und doch stärker als das Tuch der Weberinnen im Genitium am Fluss.

Einige der Kinder, die sich zu später Stunde am Fuß des östlichen Stadttors eingefunden hatten, murmelten Worte der Zustimmung, andere murrten gar: Sie waren nicht gekommen, um dieselben Geschichten zu hören, die der Priester allwöchentlich von der Kanzel predigte. Ein kleiner Junge hob die Hand. »Die Weisen aus dem Morgenland kamen zum Hof des Königs Herodes und fragten ›Wo ist der neugeborene König der Juden?‹ Herodes erschrak und befragte seine Schriftgelehrten. ›Zu Bethlehem‹, sprachen diese. Der König fürchtete um sein Reich und sandte Krieger in die Stadt und ihre Umgebung, die alle Kinder hinschlachteten, die jünger waren als zwei Lenze. Nur Jesus entging diesem Schicksal, denn Gott war seinen Eltern im Traum erschienen und hatte sie nach Ägypten befohlen.«

Die Frau lächelte und fragte: »Ist es das, was euch der Pfaffe lehrt?«

Die Kinder murmelten, nickten. Vom wilden Hügelland im Osten wehte ein kühler Nachtwind heran, flüsternd, klagend, säuselnd in den Scharten der Stadtmauer. Sie hatten kein Feuer entzündet, als sie sich hier versammelten, und so herrschte tiefe Dunkelheit; die große Frau war kaum mehr als ein schwarzer Umriss vor den Sternen.

Wie aber konnten sie da heimlich ihre Schönheit preisen, wo doch niemand sie sah? Wie sich ihrer Warmherzigkeit erfreuen, wenn keiner sie kannte?

Die Fremde schien zu spüren, dass ihr Bann an Wirkung verlor. Mit einem gütigen Seufzen hob sie den Stab aus dem Gras, wandte seine knorpelige Spitze gen Süden und sagte: »Ich will euch berichten, was wirklich geschah, damals, im fernen Judenland, doch es ist keine schöne Geschichte.«

Niemand hatte Einwände. Die Kinder – es mochten mehrere Dutzend sein, die sich im Dunkeln aus den Häusern ihrer Familien gestohlen und durch schlammige Gassen herbeigeschlichen waren – gaben sich mit jedem Garn zufrieden, so es nur neu und voller Wunder war. Ihre Augen erglühten, ihre kleinen Hände zogen die Säume von Decken und Überwürfe enger, und sogleich herrschte atemlose Stille.

»Tatsächlich begab es sich«, sprach die Frau, »dass König Herodes, Herrscher über das Land der Juden, von der Geburt eines Kindes erfuhr, auf dass ihm angst und bange wurde. Ob es in der Tat die drei Weisen des Matthäus waren, die ihm die Kunde brachten, oder aber Späher, welche die Gerüchte und Legenden des einfachen Volkes auskundschafteten, das weiß ich nicht.«

»Wie kannst du eine Geschichte erzählen und doch nicht alles über sie wissen?«, fragte einer der älteren Jungen.

»Dies ist keine erfundene Geschichte«, wies ihn die Frau zurecht, und obgleich er ihre Antwort nicht verstand, fuhr sie fort:

»Herodes fühlte sich in seiner Macht bedroht, denn einen zweiten König, gleich ob neugeboren oder nicht, wollte er keinesfalls dulden. Nach Beratungen mit seinen Priestern und Hofgelehrten traf er jene Entscheidung, von der auch das Evangelium berichtet: Das Kind, welches vom Volk als neuer König verehrt wurde, musste sterben.«

»Du erzählst uns nichts Neues«, beschwerte sich ein Mädchen, doch sogleich brachten andere es mit Gesten und Knuffen zum Schweigen; sie ahnten sehr wohl, dass der eigentliche Kern der Geschichte noch folgen würde. Sie spürten seinen Atem, das Echo seiner Schritte, fühlten ihn nahen wie ein Unwetter am Horizont.

Die schwarze Frau rammte die Spitze ihres Wanderstabes in den Boden, als wollte sie damit die Welt in zwei Hälften spalten. Doch falls dies ein Zeichen ihres Zorns über die neuerliche Unterbrechung war, so vermochte man ihrer Stimme dergleichen nicht anzuhören. Sanft klangen ihre Worte, als sie weitersprach, weich und voller Wehmut.

»Die Kinder Bethlehems ahnten nicht, wie ihnen geschah, als eines Tages ein Fremder ihre Stadt betrat. Und doch sollte sich durch ihn ihr Schicksal erfüllen. Denn nicht Soldaten hatte Herodes gesandt, keine Krieger, wie es die Kirche predigt, nein, nur diesen einen Mann. Er kam in bunter, lustig anzuschauender Kleidung, ein Geck und Possenreißer mit herzlichem Lachen und allerlei schöner Gaukelei. Doch tief in seinen Augen, im Dämmerschatten seiner fröhlichen Mütze, loderte ein schwarzes Feuer. Vielleicht hätten es die Alten bemerkt, wären sie ihm nahe gekommen. Der Fremde aber spielte und scherzte nur mit den Kindern, sang und reimte mit ihnen. Er schlich sich nicht in ihre Herzen, o nein, er stürmte mit Fanfaren geradewegs in sie hinein, und er tat es nicht im Geheimen, sondern vor den Augen aller. Um den Hals des Fremden hing an einem Lederband eine hölzerne Flöte, und immer wieder baten und flehten die Kinder, er möge darauf spielen, doch immer wieder verwehrte er ihnen diesen Gefallen, so harmlos, so brav er auch scheinen mochte. Schließlich aber, nach einigen Tagen, tat er es doch, und er tat es bei Nacht, als die Erwachsenen schliefen, und seine Musik schlich sich in den schutzlosen Schlaf der Kleinen, fraß sich in ihren Geist und zwang ihnen den Willen des Fremden auf, seinen dunklen, bösen Willen. Unbemerkt folgten sie ihm aus der Stadt – und es waren wahrlich nicht nur jene, die zwei Jahre und jünger waren, sondern auch ältere, ganz so, wie ihr selbst es seid. Unbemerkt zogen sie fort aus Bethlehem und verschwanden aus der Welt, und niemand sah sie jemals wieder.«

Die Kinder Hamelns schauderten bei diesen Worten, einige der Jüngeren brachen in Tränen aus. Dies war eine hässliche Geschichte, und manch einer bereute bereits, hierher gekommen zu sein. Hände wurden ergriffen, Gesichter tiefer in die Wärme weiter Kapuzen gezogen.

»Und wirklich niemand kehrte heim?«, fragte ein Junge mit kahlem Schädel.

»Keiner kehrte zurück«, bestätigte die Frau. »Und doch entgingen zwei Kinder dem furchtbaren Auszug.«

»Wie das?«, fragte ein Stimmchen aus der Kindermenge.

Die Frau atmete tief durch und stützte sich auf ihren Stab. »Ein kleiner Junge zog mit seinen Eltern nur wenige Stunden zuvor fort aus Bethlehem. Ihr kennt ihn als Jesus von Nazareth.« Sie lächelte rätselhaft. »Noch ein zweites Kind blieb in der Stadt, ein kleines Mädchen mit lahmem Bein, das den anderen nicht schnell genug folgen konnte und so dem Bann des Flötenspielers entging.«

»Was geschah mit Herodes?«

»Er starb Jahre später, und seine Seele fuhr hinab in die tiefste aller Höllen, wo sie gemartert wird bis hin zum Jüngsten Tag.«

Nach diesen Worten schwieg die Fremde für eine Weile, sodass einige Kinder sich bereit zum Aufbruch machten, denn sie glaubten, die finstere Erzählung sei endlich beendet. Schon erhoben sich die ersten, als die Frau sagte:

»Eines habe ich euch noch verschwiegen, doch ihr sollt auch diesen Rest erfahren, wenn ihr mir einen Wunsch erfüllt.«

»Erzähle!«, rief ein Kind, doch ein anderes blieb misstrauisch und fragte: »Welchen Wunsch?«

Die Fremde schüttelte den Kopf. »Wollt ihr hören, was ich zu sagen habe, oder nicht?«

Die meisten der Kleinen bejahten.

»Nun«, sagte die Fremde und überwand den letzten Abstand zu den Kindern mit wenigen Schritten. Da bemerkten sie, dass die Frau hinkte; sie zog das linke Bein nach wie ein Ochse den Pflug. »Ich war einst das lahme Mädchen, das den anderen Kindern Bethlehems nicht folgen konnte.«

Ein paar der kleinen Zuhörer kicherten ungläubig, anderen aber stockte der Atem. »Unmöglich«, sagte ein Mädchen mit großem Ernst, »dann müsstest du Hunderte von Jahren alt sein. Und nur der Heiland ist unsterblich.«

Die Mundwinkel der Frau zuckten in den Schatten, doch sie gab keine Antwort.

Ein anderes Kind sagte zum ersten: »Jesus starb am Kreuz, er war nicht unsterblich.«

Ein Junge musterte die Fremde mit verkniffenem Blick.

»Wenn Christus nicht unsterblich war, dann kann er nicht der Heiland gewesen sein, oder?«

»Aber er erhob sich von den Toten«, warf ein anderer ein.

»Tot ist tot. Niemand kann von den Toten auferstehen.«

»Aber wenn er doch der Heiland –«

»Hast du denn nicht zugehört?«, fuhr einer der Ältesten dazwischen. »Er starb, also war er keiner.«

Die Frau hatte all dem schweigend und mit schmunzelnder Belustigung zugehört. Jetzt aber, während die Kinder weiter darüber stritten, wer von ihnen im Recht sei und die Lügen des Evangeliums durchschaut habe, wandte sie sich wortlos um und humpelte stadtauswärts davon, hinaus ins schwarze Hügelland.

Sie hatte bereits ein erhebliches Stück mit beschwerlichen Schritten zurückgelegt, da verstummte der Streit in ihrem Rücken, und ein Mädchen rief ihr hinterher:

»Dein Wunsch! Du hast deinen Wunsch vergessen!«

Die unheimliche Fremde drehte sich nicht um, ging einfach weiter und verschwand in der Nacht. Und doch war keines unter den Kindern, das ihre letzten Worte nicht vernahm, als wispere sie leise in jedes Ohr:

»Wenn ihr ihn trefft, dann tauft Herodes.«

ERSTER TEIL

Das Rattennest

1. KAPITEL

Manche sagen, Eltern träumen die Sünden ihrer Kinder. Doch wessen Sünden träume dann ich?

Damals, in der letzten Nacht vor meiner Ankunft in Hameln, erwachte ich nass von Schweiß, frierend in einem harten, fremden Bett voll von knisterndem, wimmelndem Leben. Ich träumte oft in jenen Jahren, doch nicht so häufig wie heute, und mochten damals die nächtlichen Bilder Vorboten der kommenden Ereignisse sein, hämische Krähen des Schlafs, so sind es heute die Erinnerungen, die mich martern, mich zurückzerren in die Vergangenheit, zurück an jenen Ort, in den Schlamm und in die Nässe. Zurück zu den Kindern.

Der letzte Tag meiner Reise begann früh, denn ich fand keinen Schlaf mehr, nachdem mich die Albdrücke zurück ins Wachsein entließen. Ich schnürte mein Bündel, stieg hinab in den finsteren Schankraum des Gasthofs und legte dem Wirt einige Münzen vor die Küchentür. Draußen traf ich den Stallknecht, der gleichfalls früh auf den Beinen war. Auch ihn entlohnte ich reichlich, sodass er eilte, mir mein Pferd zu satteln. Die Nacht lag noch schwarz und schwer auf dem Land, als ich das Gasthaus hinter mir ließ und entlang eines schmalen Hohlwegs gen Hameln ritt. Die Luft war kühl und atemlos, die Erinnerung an den steten Regen der vergangenen Tage wogte als herber Duft zwischen den Fichten. Kein Stern stand am Himmel, noch immer mussten die schweren, satten Wolken über den Septemberwäldern schweben, und der Weg vor mir schien wie ein seltsamer Gang durch leblose Finsternis. Kein Luftzug wehte, kein Zweig rieb sich am Holz anderer Äste, allein ein dürres Rinnsal rauschte in der Tiefe eines Talgrundes. Ihm folgte ich eine Weile, geführt allein vom Instinkt des Pferdes, denn meine müden Augen waren nutzlos im dräuenden Nachtdunkel. Es war, als schwebte ich auf dem Rücken des Tieres durch ein geheimnisvolles Nichts, und doch machte mir die scheinbare Leere, die Lautlosigkeit der Hügel und Täler keine Angst. Ich war froh, mich im Sattel einem dumpfen Halbschlaf hingeben zu können, ungestört von allem, was außerhalb meiner Gedanken geschah.

So ritt ich träumend dahin, wohl einige Stunden lang, mal in, mal außerhalb der Wälder, bis der Morgen graute – und das tat er ganz wortwörtlich, denn nichts als ein fahles Grau war es, das sich träge um die Herbstgerippe der Eichen auf öden Hügelkuppen legte. Tatsächlich sollte das knochenfarbene Zwielicht auch den Tag über nicht weichen, und ganz wie ich es vorhergesehen hatte, stellte sich bald von neuem der Regen ein und ließ die Hufe meines Rappen tief in schwarzem Schlamm versinken. Ich traf nicht eine Menschenseele während der letzten Stunden meines Ritts, nicht, bis meine trüben Augen gegen Mittag auf die Weserauen blickten und die Stadt aus dem Dämmerlicht kroch wie ein todgeweihtes Tier.

Aus der Ferne schien mir Hameln stumm und schweigend, ein merkwürdiger, kauernder Ort unter einem Himmel wie aus Blei gegossen. Hinter den Dächern zog sich das farblose Band des Flusses von Norden nach Süden, und mir, der ich von Osten kam, schien es zur Rechten wie zur Linken in weiter Biegung hinter den Hügelflanken zu verschwinden. Regen trieb in wogenden Schüben über das Land, ließ mal mehr, mal weniger von der Stadt erkennen. Kurz waren die Giebel in all ihrer kantigen Klarheit zu sehen, dann wieder verschwanden sie hinter Wolken aus eisiger Nässe.

Mein Weg führte entlang einer alten Handelsstraße zwischen zwei aufstrebenden Hängen einher, jener links nicht allzu hoch und nur mit starrem Gras bewachsen, der rechte von schwarzem, dichtem Wald bedeckt. Schnurgerade verlief die Straße zur Stadt hinunter, und als ich meinen Blick noch einmal auf den Berg zur Rechten wandte, erkannte ich in einiger Entfernung an seiner Flanke einen Richtplatz, ein kahler Erdhügel, auf dessen Kuppe sich ein Holzgerüst erhob wie ein hoher Tisch. Keine Menschenseele war zu sehen.

Weiter ritt ich, die Stadt kam näher, und schon verloren ihre Häuser und Stadtmauern die Winzigkeit des ersten Anblicks. Weite Wiesen legten sich im wilden Treiben des Regens hier in diese, dort in jene Richtung; sie waren alles, was die Ortschaft umgab bis hin zum Fuß der Hügelflanken. Hinter der Stadt, auf der anderen Seite des Flusses, erkannte ich hohe Felsen, gekrönt von mehr und noch mehr Wald, drohend und düster über den Dächern.

Während ich dem Ort nun näher kam, hob sich aus dem Dunkel der Stadtmauer etwas hervor, das ich mit blinzelnden Augen als hohe, mächtige Esche erkannte, der einzige Baum entlang der Flussaue, dafür umso kräftiger gewachsen und weit gefächert. An seinem Fuß hatte sich eine kleine Menschengruppe versammelt, zehn oder fünfzehn Gestalten. Etwas schien sie in große Aufregung zu versetzen, denn sie alle hatten die Blicke hinaufgewandt zu den knorrigen Ästen. Ab und an drang ein zorniger Ruf durch die wirbelnden Regenschwaden bis an mein Ohr.

Da plötzlich wandelte sich das Dämmerlicht, der tintige Regenhimmel wurde hoch über der Stadt zerrissen, und ein feuerroter Schein brach durch die Wolkentürme. Wie ein gleißendes Auge hing die Öffnung inmitten des Unwetters. Feueröfen schienen sich aufzutun, Wiesen und Hügelflanken wurden für einen kurzen Moment in entsetzliche Glut getaucht, der Wind brüllte wie ein zorniges Biest hinab aus den Wäldern, und ganz kurz schien es, als rase ein Dämonenheer mit glühender Wucht über die Mauern und Dächer. Flammenteufel schienen auf den Giebeln zu tanzen, als die Sonnenstrahlen ein letztes Mal über die Häuser sengten. Dann schloss sich das lodernde Maul am Himmel, und Zwielicht löschte die fauchenden Lohen. Alles war wieder wie zuvor, von Brand und Feuer keine Spur, nur Regen und Wind und wässriges Grau.

Mir war, als erwachte ich aus einem neuerlichen Traum; ganz unwohl und zittrig waren meine Glieder. Doch nun war ich den Menschen am Fuß der Esche nahe genug, um einen einzigen, brausenden Ruf zu vernehmen:

»Ein Zeichen!«, schrie eine Stimme aus dem Gewimmel. »Gott will, dass er brennt.«

»Ja, brennen soll er!«, rief auch ein anderer. Im ersten Augenblick dachte ich, man meine den Baum, doch während meine Verwirrung sich mehrte, erkannte ich, dass ein Mann hoch oben in den Ästen saß, und ich begriff, dass allein er es war, dem man die Flammen zugedachte.

Ich erwog, den Rappen zu schnellerem Schritt voranzutreiben, doch dann beließ ich es bei sanftem Trab. Es schien mir nicht ratsam, gleich bei meiner Ankunft in die Obliegenheiten der hiesigen Bürger einzugreifen; zudem erkannte ich unter den Männern am Fuß der Esche einige in Lederpanzern mit dem Wappen des Bischofs von Minden.

Als mich nur noch eine kurze Entfernung von dem Auflauf trennte, sah ich, dass der Mann im Baum keineswegs aus freien Stücken dort kauerte. Tatsächlich war er mit groben Stricken ins Geäst gefesselt, an Füßen wie an Händen, in höchst misslicher Stellung. Mich wunderte daher umso mehr das wilde Brüllen und Drohen der Menschen, er möge umgehend herunterkommen. Sahen sie denn nicht, dass er nicht freiwillig dort oben festsaß?

Der Mann im Baum war ein grober, schmutziger Kerl mit wirrem Haar und vollem, dunklem Bart. Seine Kleidung war befleckt, der Stoff an manchen Stellen aufgerissen, das vermochte ich selbst durch Regen und Zweige zu erkennen. Barfuß war er wie ein Bettler. Sein Blick zuckte irre von einem zum anderen, und während seine Lage immer leidiger zu werden drohte, begegnete er der Wut der Bürger allein mit leerem Grinsen. War er vom Teufel besessen? Wollte man deshalb seinen Tod?

Einer der Schergen des Bischofs legte jetzt seinen Knüppel ab und schob sich einen Dolch zwischen die Zähne. Unter dem Jubel der Umstehenden machte er sich daran, die Esche zu besteigen. Der schmutzige Kerl in der Baumkrone spuckte vor ihm aus und lachte.

»Das wird dir noch vergehen«, brüllte ein anderer der Kirchendiener voller Abscheu hinauf. »Dein Scheiterhaufen steht bereit.«

Der Zerlumpte antwortete mit neuerlichem Spucken, diesmal in die Richtung des Sprechers.

»Sagt, was geht hier vor?«, fragte ich den Bischöflichen, der zuletzt gerufen hatte.

Er wandte sich erstaunt zu mir um, auch einige andere Köpfe drehten sich. Der Mann musterte mich einen Augenblick, dann bemerkte er das Wappen des Herzogs an meinem Sattel. Trotzdem fragte er dreist: »Wer will das wissen?«

Ich schenkte ihm einen eisigen Blick. »Mein Name ist Robert von Thalstein, Ritter im Auftrag des Herzogs Heinrich von Braunschweig. Und nun«, sagte ich, wobei ich meiner Stimme einen schärferen Ton verlieh, »gib mir gefälligst Antwort, Knecht.«

Das letzte Wort ließ ihn zusammenfahren, und seine Augen verengten sich vor Wut. Wiewohl, zu seinem eigenen Besten blieb er ruhig und entgegnete gehorsam: »Der Mann dort oben ist ein Ketzer, ein Jünger des heidnischen Wodan. Der Vogt gab Befehl, ihn zum Marktplatz zu bringen. Dort soll er brennen, wie es ihm und den Seinen gebührt.«

Ich sah erneut hinauf in den Baum, wo der Scherge den Mann fast erreicht hatte.

»Wer hat ihn dort oben gefesselt?«, fragte ich.

»Er selbst war es, der die Schlingen anlegte«, erwiderte der Bischöfliche, ohne mich dabei anzusehen, denn das Geschehen im Baum schien ihm wichtiger als meine Anwesenheit.

Ich schluckte die Zurechtweisung, die mir auf der Zunge lag, und fragte stattdessen: »Weshalb sollte er das getan haben?«

»Bin ich ein Ketzer? Wie soll ich das wissen?«

»Wenn Ihr es nicht wisst, wie könnt Ihr dann so sicher sein?«

Ungeduldig fuhr der Mann erneut herum. »Was mischt Ihr Euch in diese Angelegenheit, Ritter? Dies ist eine Sache des Vogts und unseres Herrn, des Bischofs. Reitet weiter oder tut, was Euch beliebt, aber lasst uns unsere Arbeit verrichten.«

Fast hätte ich ihn mein Schwert spüren lassen – nichts lieber als das! –, doch gelang es mir im letzten Moment, mich zu zügeln. Erstmals besah ich mir den bischöflichen Schergen genauer. Ein raues Gesicht, umrahmt von einem blonden Bart. Eine Narbe quer über der Stirn.

»Nennt mir Euren Namen«, verlangte ich gefasst.

»Einhard«, erwiderte der Mann beinahe gleichgültig. »Und falls Ihr gedenkt, Euch beim Vogt oder Dechant über mich zu beschweren, so tut das, wenn Ihr wünscht. Aber bedenkt: Euer Wort wiegt in dieser Stadt nicht mehr als das meine.«

Das also war es, wovor man mich gewarnt hatte. Hameln unterstand dem Bischof von Minden ebenso wie meinem Herrn, dem Herzog von Braunschweig. Ein erbärmlicher Vertrag, entstanden aufgrund von missratenem, politischem Kalkül, hatte vor fast zwei Jahrzehnten für diese missliche Lage gesorgt, und da Braunschweig fern, die Macht des Bischofs aber allgegenwärtig war, schien mein Stand in dieser Sache nicht der beste.

»Wir werden sehen«, war daher das Einzige, was mir als Erwiderung einfiel, und es klang selbst in meinen eigenen Ohren wie das Eingeständnis einer Niederlage. Trotzdem gedachte ich keinesfalls, die Sache damit auf sich beruhen zu lassen.

Ein lautes Schreien und tosender Beifall der Menge befreite mich vorerst von meinen Sorgen. Ich sah eben noch, wie der Scherge des Bischofs den letzten Strick am Handgelenk des strampelnden Ketzers durchschnitt, dann stürzte der Unglückliche wie ein gefallener Engel in die Tiefe. Mit einem weiteren Aufschrei schlug er auf, Schlamm bespritzte die Umstehenden. Alles Weitere ging unter im Gröhlen der Menge, die sich sogleich auf den Mann stürzte und ihn gewaltsam auf die Füße riss. Im Hintergrund sprang der Kirchenknecht sicher zu Boden.

Der schmutzige Kerl lachte nicht mehr, doch er protestierte auch nicht, als zwei Bischöfliche ihn grob an den Armen fassten. Einhard, offenbar der Ranghöchste unter den Männern, beachtete mich nicht weiter, ging auf den Gefangenen zu und versetzte ihm einen grausamen Hieb in den Magen. Ein zweiter Schlag traf die Nase des Ketzers. Krachend barst der Knochen. Blut schoss über das verschmutzte Gesicht. Wieder johlten die Zuschauer, einige verlangten nach mehr.

Einhard gab seinen Männern einen Wink, auf dass sie den Verletzten in Richtung des Stadttors abführten. Der Ketzer ließ es ohne Gegenwehr geschehen, ja, er ging erhobenen Hauptes voran, als führe er die Gruppe der Soldaten und Bürger an wie ein Priester seine Lämmer. An das Blut, das ihm vom Kinn auf die Kleidung tropfte, wie auch an den Schmerz schien er keinen Gedanken zu verschwenden. Ich kam nicht umhin, ihm Achtung zu zollen, obgleich ich ihn für seinen Götzendienst verdammte. Ich zweifelte nicht, dass er den Feuertod verdiente.

Ich verharrte einen Augenblick, beobachtete mit Gleichmut, wie einer der Schergen zurückblieb und das Gras am Fuß des Baumes nach irgendetwas absuchte, dann trieb ich mein Pferd voran und folgte der aufgebrachten Gruppe in einigem Abstand durch den peitschenden Regen zur Stadt.

Die Wehrmauer, die Hameln umgab, war nicht allzu mächtig, vielleicht drei Mannslängen hoch; einem Sturm entschlossener Gegner würde sie kaum etwas entgegenzusetzen haben. Die Planer der Stadt hatten wenig für ihre Verteidigung aufgewandt, und als ich durch das Osttor ritt, begriff ich sogleich den Grund.

Nachdem sich eine weitaus größere Menge Schaulustiger, die den Soldaten und ihrem Gefangenen am Tor entgegengefiebert hatten, der kleineren Gruppe angeschlossen hatte und unter allerlei Geschrei und Gefluche mit ihr weiter gen Markt gezogen war, bot sich mir ein merkwürdiger Anblick. Erst glaubte ich, die Stadt liege in Ruinen, dann erst wurde mir klar, dass Hameln alles andere als eine vollendete Siedlung war. Im Süden gab es einen sichelförmigen, innen an die Stadtmauer geschmiegten Bereich bewohnter Häuser, und auch weiter oben im Norden entdeckte ich alte, gebückte Gebäude; das mussten die Dächer und Giebel gewesen sein, die ich aus der Ferne gesehen hatte – Häuser, an die ich mich aus meiner Kindheit erinnerte. Zwischen den beiden Ansiedlungen im Norden und im Süden aber befand sich wüstes, totes Bauland. Vor mir erstreckte sich ein gewaltiges Labyrinth aus Gruben, halbfertigen Mauern, Holzgerüsten und einigen ungedeckten Dachstühlen. Regentropfen wühlten den dünnflüssigen, schwarzen Schlamm auf, der den wenigen Tagelöhnern, die ich sah, bis zu den Waden reichte. In der Mitte dieser unwirtlichen Ödnis ragte ein bereits vollendeter Kirchturm in den grauen Himmel (im südlichen Bezirk gab es einen zweiten, kleineren), daneben stand ein gleichfalls fertig gestelltes Gebäude von beachtlicher Größe, zweifellos das Rathaus. Die Menschenmenge zog entlang einer Straße zum Kirchturm, an dessen Fuß sich der Marktplatz befand.

Hameln war meine Heimat gewesen, doch während der langen Jahre meiner Abwesenheit hatte sich vieles, ja beinahe alles verändert. Das mir vertraute Hameln war ein armseliges Dorf am Flussufer gewesen, ohne Stadtmauer, ohne die Wohnhäuser der Reichen im Süden und ganz sicher ohne jene Wüstenei aus Mauern und Pfählen, die wie dunkle Zahnstümpfe aus dem kohlenschwarzen Erdreich ragten. Das Dorf, in dem einst meine Familie lebte, existierte noch, denn nichts anderes waren die kauernden Hütten und Häuser im Norden, doch die Stadtplaner des Herzogs und des Bischofs hatten es durch ihr Vorhaben, den Ort auf einen Schlag um ein Vielfaches zu erweitern, gnadenlos in die Enge getrieben.

Doch klingen meine Worte, als trauerte ich um das Hameln meiner Erinnerung? Das sollen sie nicht, keinesfalls. Ich ging fort, als ich gerade acht Lenze zählte, und nun, bei meiner Rückkehr, war ich zweiundzwanzig (und, nebenbei bemerkt, einer der jüngsten Ritter am Hofe des Herzogs). Meine Verbindung zu diesem entlegenen Ort war beendet, wäre es auf immer geblieben, hätte mich mein Herr nicht in persönlichem Auftrag entsandt. Aber ich schweife ab.

Noch einmal besah ich mir das halbfertige Häusergewirr mit seinem Wald aus Pfählen, Steinhaufen und unvollendeten Mauerkronen. Das schneidende Klirren einer Schmiede drang von irgendwo aus dem Ruinenfeld – denn so will ich es wohl nennen, mochte hier auch geschaffen statt vernichtet werden. Die Arbeiten schienen nur schwerlich voranzugehen, was zu einem guten Teil am nimmer endenden Regen der vergangenen Wochen liegen mochte. Außer der Hauptstraße gab es in dem Grubengelände keine sichtbaren Wege, wohl aber erkannte ich ein weitläufiges Netz aus Balken und Bohlen, die man in dem vergeblichen Ansinnen über den Schlamm geworfen hatte, trockenen Fußes von einem Ort zum anderen zu gelangen. Ich sah einen Ochsenkarren, der am Rand der Straße stand und von zwei Tagelöhnern, über und über mit schwarzem Dreck beschmutzt, entladen wurde. Sie mussten die schwere Steinfracht an die hundert Schritt weit tragen, da der Karren im Gelände unweigerlich eingesunken wäre. Wen konnte es da wundern, dass die Bauarbeiten hier die doppelte Zeit in Anspruch nahmen als anderswo.

Die Arbeiter sahen der aufgebrachten Menschenmenge missmutig nach, als diese mit dem Ketzer und den Schergen des Bischofs an der Spitze vorüberzog. Zweifellos wären auch sie gerne Zeugen des bevorstehenden Schauspiels geworden. Hinrichtungen auf dem Scheiterhaufen waren in jenen Zeiten noch nicht so verbreitet, wie sie es heute sind, nur wenige Jahrzehnte später. Sowohl den freien Bürgern der Städte als auch den Leibeigenen in den Dörfern galten sie stets als großes Spektakulum, das niemand gerne missen mochte.

Auch ich lenkte mein Pferd im Schatten der Menge entlang der Hauptstraße, geradewegs durch das hässliche Ödland. Und während ich so mit einigem Abscheu in den Pfuhl der Baugruben blickte, der rechts und links vorüberzog, bemerkte ich erstmals die gewaltigen Ratten. Pechschwarze, glänzende Kreaturen mit tückischen Augen, manche lang und schwer wie kleine Hunde, die in Rudeln durch das kniehohe Wasser am Grunde der Gruben schnellten. Nicht einige wenige sah ich, nicht Dutzende, sondern – ja, ich schwöre es bei Gott – Hunderte von ihnen. Und je länger ich in den Schlick starrte, desto mehr Tiere hoben sich vom dunklen Boden ab. Ratten über Ratten, so weit das Auge reichte. Ich schauderte vor abgrundtiefem Ekel.

Die Menschenmenge ergoss sich vor mir auf den Marktplatz wie wildes Wasser durch rissige Mauern. Der Platz selbst war wie eine steinerne Insel inmitten schwarzen Sumpfes. Die schlanke Spitze der Marktkirche ragte hoch über den Platz und das zweistöckige Rathaus hinaus. Beide waren zweifellos als erste Wahrzeichen der Stadthoheit errichtet worden, doch wirkten sie in dieser Umgebung eher wie Mast und Aufbauten eines sinkenden Schiffes. In Gedanken sah ich beides bereits vom Schlamm verschluckt.

Mein Blick fiel auf zwei weitere markante Merkmale dieser ungemütlichen Örtlichkeit. Zum einen war da der Scheiterhaufen, den einige Männer soeben mit brennbarer Flüssigkeit begossen, damit er trotz des Regens Feuer fangen möge; man hatte das Holz rund um einen aufrechten Pfahl angehäuft, an dem man den Ketzer nun mit Hilfe eiserner Schellen verkettete.

Das Zweite aber, was meine Aufmerksamkeit erregte, war in der Tat der auffälligste aller Anblicke. Eine enorme Bühne nahm die Westseite des Marktplatzes ein, aufgestellt in einem leichten Halbrund, sodass bei einer Aufführung die Zuschauer in vorderer Reihe beinahe von dem Geschehen umgeben waren. Hinzu kam, dass diese Bühne, gezimmert aus mächtigen Balken, drei übereinander liegende Stockwerke besaß und damit gar das Rathaus an Höhe überragte. Nie zuvor hatte ich eine so gigantische Konstruktion zum Zwecke eines Schauspiels gesehen, wenngleich ich gehört hatte, dass es dergleichen in Frankreich geben sollte. Daher erkannte ich auch sogleich den Zweck des ungeheuren Aufwands: Die Hamelner Bürger befanden sich inmitten der Vorbereitungen eines großen Mysterienspiels. Unter Einsatz aller Bewohner wurden Passagen aus der Heiligen Schrift nachgespielt, zumeist der Leidensweg des Heilands. Dabei standen die drei Stockwerke der Bühne für die drei Schichten unserer Welt – oben der Himmel, unten die Hölle, dazwischen die Länder der Menschen. Auf diese Weise vermochte man ein jedes Kapitel der Bibel, ganz gleich, an welchem Ort es sich begab, nachzustellen. Derlei Aufführungen nahmen meist Tage, oft gar viele Wochen in Anspruch, während derer mit Unterbrechungen gespielt wurde.

Während ich noch beeindruckt auf die Mysterienbühne blickte, hatte mich mein Pferd in einem weiten Bogen bis ganz in die Nähe des Scheiterhaufens getragen. Ohne meine Absicht stand ich plötzlich erneut neben Einhard, dem Obersten der bischöflichen Schergen. Er schenkte mir ein spöttisches Grinsen, das mich von neuem gegen ihn aufbrachte, dann sah er hinauf zu einem Fenster des Rathauses. Ich folgte seinem Blick und erkannte dort mehrere Männer und Frauen, die hinab zur Menge lächelten. Zweifellos handelte es sich dabei um den Bürgermeister, den Stiftsvogt und andere Würdenträger mit ihren Weibern. Einer von ihnen machte Einhard ein Zeichen; jener wiederum gab zwei Männern am Fuß des Scheiterhaufens Befehl, mit ihren lodernen Fackeln Feuer ans Holz zu legen.

Der Ketzer schwieg weiter und blickte aufrecht, fast hämisch mitten in die Menschenmenge, als wolle er sie selbst in seinen letzten Augenblicken verhöhnen. Viele Gesichter waren zu zornigen Grimassen verzerrt, Fäuste wurden geschwungen und Flüche gebrüllt. Der Mann auf dem Scheiterhaufen nahm all das mit einem überlegenen Lächeln zur Kenntnis, voller Stolz und Würde.

Die ersten Flammen züngelten über das getränkte Holz, und bald schon umgab den Ketzer ein Ring aus prasselndem Feuer. Dunkler Rauch und Gluthitze wehten mit dem Regen in unsere Gesichter.

Einhard wandte sich zu mir um und wollte wohl etwas sagen, als hinter uns plötzlich ein Ruf ertönte. Wir fuhren gleichzeitig herum und sahen einen von Einhards Männern, der aufgeregt auf seinen Anführer zueilte und einen kleinen Lederbeutel schwenkte. Er hatte Mühe, sich durch die fiebernde Menge zu drängen, die sich durch nichts von der feurigen Hinrichtung ablenken ließ. Ich erkannte den Mann; es war jener, der am Baum vor der Stadt zurückgeblieben war und im Gras nach etwas gesucht hatte.

Schließlich gelang es ihm, sich zu uns durchzuschieben. »Seht, Meister Einhard, was am Fuß der Esche lag«, stieß er atemlos hervor.

Der Scheiterhaufen brannte nun stärker, einige Zuschauer drängten ein, zwei Schritte zurück, um den Hitzewogen zu entgehen. Der Unglückliche an seinem Pfahl verzog nun gequält das Gesicht, doch löste sich kein Laut aus seiner Kehle. Der Schmerz musste kaum noch zu ertragen sein, wenngleich seine Kleidung noch kein Feuer fing und selbst sein Haar bislang unversehrt geblieben war. Man hatte das Holz so aufgeschichtet, dass Pfahl und Opfer zuletzt verbrannten.

Einhard nahm den Lederbeutel mit gerunzelter Stirn entgegen. Der Beutel war kaum größer als seine Hand und schien der schlaffen Form nach leer zu sein. Einhard drehte ihn um und schüttelte den vermeintlichen Inhalt auf seine Handfläche. Zwei helle Kugeln rollten hervor, kaum größer als Kirschen. Er nahm eine zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte sie leicht. Sie ließ sich ohne weiteres verformen.

»Was ist das?«, fragte er seinen Helfershelfer.

Der Mann hob die Schultern.

»Verzeiht«, sagte ich, nicht ganz sicher, ob das Wort so hämisch klang, wie ich es meinte, »doch wenn Ihr mir einen Blick erlaubt, vermag ich Euch vielleicht eine Antwort zu geben.« Mir war mit einem Mal eine üble Ahnung gekommen, eine diffuse Erinnerung an etwas, das ich während meiner Zeit an der Klosterschule gehört hatte. Plötzlich spürte ich den unbestimmten Drang, mein Pferd herumzureißen und so weit wie möglich zu fliehen. Stattdessen aber sprang ich aus dem Sattel und machte einen Schritt auf Einhard zu.

Vor uns fingen Bart und Haar des Ketzers Feuer. Er schüttelte sich wie in einem irren Tanz zu Ehren seiner Götzen. Sein Gesicht verschwand hinter einer gleißenden Wolke aus Glut.

Kein Schrei, nicht ein einziger.

Nur die Menge brüllte vor Begeisterung.

Einhard zögerte einen Augenblick, dann reichte er mir mit zweifelndem Blick eine der beiden Kugeln. Möglicherweise hatte ihn meine Unruhe angesteckt; vielleicht aber hoffte er auch nur auf mein Scheitern.

Die Kugel bestand aus Wachs oder Talg. In ihrem Inneren schien es einen dunklen Kern zu geben. Mit einem Fingernagel ritzte ich die weiche Masse, bis ein paar Körner eines grauen Pulvers aus der Öffnung rieselten. Ich roch daran, wagte aber nicht, es mit der Zungenspitze zu berühren, aus Angst, es sei ein Gift.

»Nun?«, fragte Einhard und grinste überheblich.

Ich zögerte mit einer Antwort, dann sagte ich: »Ich bin nicht sicher ...«

Einhard schüttelte den Kopf, dann schleuderte er den leeren Beutel und die zweite Kugel achtlos in den knisternden Scheiterhaufen.

Nur einen Moment später zerriss ein gleißender Blitz an jener Stelle das Zwielicht, wo die Kugel ins Feuer gefallen war. Ein Donnern übertönte die jubelnde Menge, Funken stoben wild in alle Richtungen, und Flammen griffen wie höllische Arme nach den Umstehenden.

»Lauft!«, schrie ich so laut ich konnte, sprang selbst auf den Rücken meines Pferdes und hatte alle Mühe, das aufgebrachte Tier zu bändigen.

Ungläubiges Entsetzen war Einhard ins Gesicht geschrieben. Er stand da wie versteinert und starrte ins Feuer, während die Erregung der Menschen um uns herum mit einem Mal in Angst umschlug. Sie begriffen nicht, was geschehen war. Einige dachten wohl an ein Zeichen des Herren, andere fürchteten die Strafe der Hölle. Sie alle jedoch ahnten, dass ihnen eine Gefahr drohte, wenn sie noch länger hier stehen blieben. Panik brach aus, als sich die vorderen Reihen nach hinten wälzten.

Da, endlich, begann der brennende Ketzer zu schreien. Einhards Männer schlossen sich den Flüchtenden an, die nun in alle Richtungen davonstürzten. Allein er selbst blieb stehen und blickte fassungslos auf den lodernden Mann, der hohe, schrille Töne ausstieß wie ein Kalb, wenn es geschlachtet wird. Der Körper des Ketzers war eine einzige, zuckende Fackel, und noch immer lebte er.

»Er hat sie geschluckt!«, schrie ich Einhard über den tosenden Lärm hinweg zu. »Er hat die verfluchten Kugeln geschluckt, wer weiß, wie viele.«

Der Oberste der bischöflichen Schergen drehte sich zu mir um, und plötzlich schien neue Klarheit in sein Denken zu fließen. Er geriet in Bewegung und rannte los. Ich selbst stieß dem Pferd meine Fersen in die Flanken. Aufgescheucht sprengte es vorwärts.

Hinter uns übertönte ein Krachen die Schreie der Menschen, ein Donnern und Grollen wie beim Fall der Mauern zu Jericho. Ein Schwall glühender Hitze hieb in meinen Rücken, und sogleich schossen scharfe Holzsplitter an mir vorüber wie Pfeilhagel einer feindlichen Armee. Ein spitzes Etwas streifte meinen Nacken und hinterließ eine Spur glühender Pein. Ich wagte nicht, mich umzuschauen, legte mich nur enger an den Hals des Pferdes, schloss die Augen und ließ mich von dem braven Tier in Sicherheit tragen. Überall um mich her waren Schreie, ein Ozean von Schmerz und Verzweiflung, als Zuschauer, die nicht schnell genug fortgekommen waren, von brennenden Trümmern des Scheiterhaufens zu Boden gerissen wurden. Das Schreien des Ketzers war verstummt, kurz bevor die Explosion seinen Körper zerriss, doch das Brüllen der Männer und Frauen schien es noch lange über seinen Tod hinaus fortzusetzen.

Mein Pferd galoppierte über den Marktplatz hinaus in den Schlamm, schwarze Fontänen spritzten gleich teuflischen Geysiren auf, und hier endlich brachte ich das panische Tier zum Stehen. Unter einigem Wiehern und leichtem Aufbäumen gab es schließlich Ruhe. Ich ließ es umdrehen und blickte nun direkt in das Inferno, das den östlichen Teil des Marktplatzes überzogen hatte wie der Glutregen eines Feuer speienden Berges. Vom Scheiterhaufen und dem Ketzer war nichts übrig geblieben. Überall lagen brennende Holzteile, durch die verstörte Bürger in rauchender Kleidung irrten, auf der Suche nach Freunden und Verwandten oder einfach nur nach einem Ausweg. Hier und da lagen Menschen am Boden, doch soweit ich sehen konnten, regten sich alle; keiner schien tödlich verletzt.

Mit einer Ausnahme. Einhard war es nicht gelungen, rechtzeitig vom Scheiterhaufen fortzukommen. Er war der Letzte gewesen, der sich von dem sterbenden Ketzer abgewandt hatte, und die feurige Eruption hatte ihn mit aller Macht erfasst. Sein Körper lag verdreht wie ein altes Laken inmitten des Flammensees, Glut zuckte über seine verkohlte Kleidung, und fingerlange Holzspäne ragten ihm aus Gesicht und Oberkörper.

Zwei seiner Männer eilten auf ihn zu und beugten sich über ihn, doch war ihrem Mienenspiel zu entnehmen, dass kein Leben mehr im Körper ihres Anführers war. Vorsichtig hoben sie ihn auf und trugen ihn hinüber zum Eingang des Rathauses, wo sich einige der Stadtoberen nun zögernd ins Freie wagten.

Wie durch ein Wunder (und zweifellos würde man es später als solches bezeichnen) war die hölzerne Mysterienbühne von den Flammen unversehrt geblieben. Der Bereich, in dem die verstreuten Reste des Scheiterhaufens lagen, endete wenige Schritte vor dem gewaltigen Bauwerk. Auch bestand keine Gefahr, dass das Feuer auf andere Teile Hamelns übergreifen konnte, denn um den Platz herum war schließlich nichts als sumpfiges Ödland. Kirche und Rathaus hatte man aus massivem Stein errichtet, lediglich zwei Fenster waren von fliegenden Trümmern zerschmettert worden. In den leeren Rahmen steckten noch Splitter des dicken, gelben Glases wie faulige Fangzähne.

Ich wusste, dass ich niemandem helfen konnte, und verspürte auch keinerlei Drang dazu. Ich hatte von ähnlichen Begebenheiten aus anderen Städten munkeln hören, Menschen, die selbst in den Flammen ihrer Scheiterhaufen nicht aufgaben und ihre Henker mit in die Hölle rissen. Das graue Pulver aus dem Inneren der Wachskugeln war eine neue Errungenschaft, und niemand, den ich kannte, hatte es zuvor mit eigenen Augen gesehen oder gar seine furchtbare Wirkung studiert. Sicher, Gerüchte kursierten an den Höfen, doch taten sie das über allerlei Zauberzeug, und keiner wusste, was wahr und was erlogen war. Das Feuerpulver jedenfalls schien höchst wirklich zu sein, und viel mehr als das Leid des dummen Pöbels beschäftigte mich die Frage, wie ein zerlumpter Ketzer gerade hier, an diesem Außenposten höfischer Macht, in seinen Besitz gelangen konnte.

Während ich über die Hauptstraße zurück zum Osttor und von dort aus entlang der Stadtmauer zu den Häusern der Reichen im Süden ritt, kam mir ein Gedanke, der mir zuvor gänzlich entgangen war.

Zwar hatten sich zahlreiche Zuschauer zur Hinrichtung des Ketzers versammelt, doch etwas hatte an dem Bild nicht gestimmt, das sich mir bei meiner Ankunft auf dem Marktplatz bot. Dies war nicht der erste Feuertod eines Unglücklichen, dem ich beigewohnt hatte, doch bei allen Übrigen hatten vor allem die Kinder Begeisterung für das erregende Schauspiel gezeigt.

Nicht so in Hameln. Kein einziges Kind war um die Flammen gesprungen, keine Jungen und Mädchen hatten sich zum Reigen am Feuer getroffen.

Und so erwies sich ein zweites Gerücht vom Hofe Heinrichs als seltsame Wahrheit: Es gab keine Kinder in Hameln.

Sie waren alle verschwunden.

Eine schmale Marktstraße führte in weitem Schwung an der südöstlichen Stadtmauer entlang. Rechts und links standen Fachwerkbauten aus Holz, vor deren Türen und Fenstern Händler ihre Stände aufgeschlagen hatten. Hatte man den neuen Marktplatz in der Stadtmitte zweifellos eher als Versammlungsort geplant, war diese Straße der Ort, wo Handwerk und Gewerbe ihren Sitz hatten. Hameln mochte abgelegen sein, fern der großen Siedlungen, doch war die Stadt im Besitz der einzigen Weserbrücke weit und breit, sodass es eine Vielzahl fahrender Kaufleute gab, die hier Rast machten und für einige Tage ihre Ware feilboten. Das Angebot an Stoffen und Gebäck, an Weinen, Waffen und tönernen Gefäßen war reichhaltig, hinzu kamen allerlei Utensilien für den Gebrauch in Küche, Werkstatt und Wohnraum, von Kisten über Felle bis hin zu Gewürzen aus dem Orient – zumindest bestanden die Verkäufer auf derlei exotischer Herkunft. Die enge Gasse war voll von Menschen, die aufgeregt aus ihren Häusern geeilt waren. Die Kunde vom Unglück auf dem Marktplatz verbreitete sich schneller als der Wind, der den Odem von Feuer und verkohltem Fleisch über die Stadt wehte. Der Donner musste weit über Hameln hinaus zu hören gewesen sein, und nun machten sich die Männer und Frauen auf, um herauszufinden, was geschehen war. Der Regen presste den schwarzen Qualm des Feuers als graue Dunstwolke auf die Gassen nieder, so war es unmöglich, weiter als zehn, fünfzehn Schritte zu sehen. Alles redete aufgebracht durcheinander, und manch einer deutete auf mich und meine rußbefleckte Kleidung.

»Was ist geschehen?«, sprach mich eine Vettel an.

Ich blickte vom Pferd auf sie herab und erwog für einen Augenblick, zu antworten. Schließlich aber schien mir dies zu Zeit raubend. Ich wollte nicht länger als nötig in der Stadt bleiben und hoffte, dass mir der Statthalter des Herzogs all meine Fragen beantworten konnte. Vielleicht würde es nicht einmal nötig sein, ein Nachtquartier zu suchen. So also ließ ich die Alte unbeachtet stehen und trieb mein Pferd zur Eile an.

Schließlich hatte ich das Menschenvolk hinter mir gelassen. Die Gasse machte einen Knick nach rechts von der Stadtmauer fort, ich aber ritt weiter entlang des Befestigungswalls.

Das Haus des Statthalters Graf Albert von Schwalenberg war nicht zu übersehen, so man einmal der engen Gasse bis zu ihrem Ende gefolgt war. Linkerhand wuchs hinter einem schmalen Streifen versumpfter Wiese die dunkelbraune Stadtmauer in die Höhe, rechts beugten sich schmale Fachwerkhäuser unter der Last des ewigen Regens. Der Boden war aus gelbem Lehm, zweifellos einst festgestampft, nun aber wie alles andere von schwerer Feuchtigkeit durchtränkt. Die Hufe des Pferdes sanken einige Fingerbreit ein, und jedem Schritt folgte ein widerlich schmatzender Laut.

Der Sitz des Grafen war eines der wenigen fertig gestellten Steinhäuser in der Stadt. Es besaß zwei Stockwerke, wobei sich das obere einen halben Schritt über das Erdgeschoss hinausschob. Obenauf saß ein hohes Dach, aus dem dort, wo die Außenwand an die Stadtmauer stieß, ein kleiner Turm mit Zinnenkrone ragte wie ein zu groß geratener Kamin. Die Fassade war mit farbigen Malereien bedeckt, fantastischen Darstellungen alter Sagen und Legenden, denen eines gemeinsam war: Stets ging es um den Traum vom Fliegen. Ich erkannte den König des Zweistromlandes auf dem Rücken seines Riesenadlers, den er zuvor aus einer Schlangengrube befreit hatte; da war der orientalische Herrscher, der über seinem Thron ein hohes Gerüst voll mit Fleischstücken errichten ließ und hungrige Adler über seinem Kopf fesselte, sodass sie beim verzweifelten Bemühen, zum Fleische aufzusteigen, den Thron mit in die Lüfte hoben; auch der große Alexander schwebte mit einem Greifengespann über die Fassade des Hauses, gleichfalls Herzog Ernst, dem Ähnliches im vorigen Jahrhundert gelungen sein sollte; selbst Ikarus raste aufwärts zur Sonne. Mich erschütterte, dass auch unser Herr Jesus seinen Platz auf der Mauer gefunden hatte – seine Himmelfahrt war in prallen, hässlichen Farben gleich über dem Eingang festgehalten. In solch schaurigem Sammelsurium erschien mir dies nur wie die schamlose Spitze aller Blasphemie. Welch ein Mensch konnte hinter solchen Wänden wohnen, durchsetzt vom Kampf gegen Gottes Gesetz?

Ich stieg vom Pferd und band es an einem Gestänge vor dem Haus an. Dann trat ich zur Tür und pochte laut. Nichts regte sich. Konnte es sein, dass der Graf mit den übrigen Stadtoberen im Rathaus weilte, um den Tod des Ketzers zu verfolgen? Plötzlich schien mir dies ganz selbstverständlich, und ich fluchte auf meine eigene Dummheit.

Im selben Augenblick aber erklang von oben die Stimme eines Mannes. »Was wollt Ihr?«, fragte er grob.

Ich trat einige Schritte zurück, stürzte fast, als ich knöcheltief im Dreck versank, und blickte hinauf zum Dach. Auf dem Turm war eine Gestalt erschienen, deren Züge ich durch Regen und Rauch nicht erkennen konnte. Ich hoffte inständig, dass es sich bei dem unflätigen Kerl um einen Diener handeln mochte, wenngleich mir die grässliche Ahnung kam, dass es durchaus der Graf höchstpersönlich war, der dort oben finster vorm Himmelgrau dräute.

»Seid gegrüßt«, rief ich mit gebührender Höflichkeit. Es fiel mir schwer, länger hinaufzublicken. Der Regen brannte in meinen Augen.

»Wer seid Ihr?«, fragte der Mann, bevor ich mich erklären konnte.

»Robert von Thalstein, Ritter des Herzogs Heinrich und von ihm entsandt. Ist dies das Haus des Grafen von Schwalenberg?«

»In der Tat«, entgegnete der Mann. Rauchschwaden schoben sich für einen Augenblick um den Turm und umhüllten seine Spitze wie ein schwarzer Blütenkelch. Ein raues Husten drang hinab auf die Gasse. Ich konnte nicht umhin, eine gewisse Genugtuung zu verspüren.

»Warum seid Ihr hier?«, fragte der andere schließlich. Ärger über so viel Misstrauen lag in meiner Stimme, als ich antwortete: »Ich bin nicht befugt, meine Order durch ganz Hameln zu schreien. Ich bitte daher höflichst, mich einzulassen. Als treuer Diener des Herzogs droht Euch von mir keine Gefahr.«

»Keine Gefahr?« Dies schien den Mann zu belustigen. Als mein Blick erneut dem Regen trotzte, war die Gestalt vom Turm verschwunden. Kurz darauf hörte ich, wie die Haustür von innen entriegelt wurde. Graue, eingefallene Züge erschienen im Türspalt. Statt mich endlich hereinzubitten, sagte der Mann: »Und Ihr seid ein Ritter des Herzogs?«

»Das erwähnte ich schon.« Dann erst wurde mir klar, dass mein Gegenüber sich offenbar lustig machte. Sein Blick glitt über meine triefende Kleidung und das arme Pferd, von dem das Wasser in glitzernden Rinnsalen strömte. Mein Bündel, obgleich mit Leder umschlungen, war zweifellos ebenso durchdrungen von der scheußlichen Nässe wie alles andere in dieser elenden Gegend.

»So tretet denn ein«, bat der Mann und fügte hinzu: »Ich bin Graf Albert von Schwalenberg, Statthalter des Herzogs zu Braunschweig und Ritter seiner Majestät König Rudolfs – wenn das noch etwas bedeutet, in diesen Tagen.«

Er machte einen Schritt zur Seite, und ich betrat einen schmalen Gang, von dem nach beiden Seiten Türen in weitere Kammern führten. An seinem Ende öffnete er sich zu einem Kaminzimmer. Heiße Flammen züngelten in der Feuerstelle, und sogleich umfing mich behagliche Wärme.

»Habt Dank«, sagte ich, als mir der Graf ein Tuch reichte.

Er musste meinen zweifelnden Blick bemerkt haben, denn er sagte: »Ihr wundert Euch sicher, dass keiner meiner Diener für Euer Wohlergehen sorgt und ich selbst Euch empfange.«

»Nun, ich –«

»Streitet es nicht ab, Ritter«, fiel er mir ins Wort. »Ich kann Unehrlichkeit nicht ertragen. Deshalb will ich Euch auch gleich die Wahrheit sagen: Es gibt keine Diener mehr in diesem Haus, nicht mal einen Knecht im Stall. Man weigert sich, in meine Dienste zu treten. Die Macht des Bischofs ist groß in Hameln.«

Ich legte das Tuch beiseite, nachdem ich es notdürftig auf meine nasse Kleidung gepresst hatte. Zumindest tropfte ich nicht mehr wie ein Wassergeist. »Wollt Ihr damit sagen, der Bischof verbietet den Bürgern, für Euch zu arbeiten?«, fragte ich zweifelnd.