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KNUD KOHR

IN CUXHAVEN


Ein paar Jahrzehnte später

»So, nun hab ich keine Lust mehr!«

Der Schaffner mit dem dünnen grauen Haarkranz blieb mitten im Waggon stehen. Steckte die Entwerterzange in die Brusttasche und schaute sich provozierend um. Als keiner der Reisenden auch nur den Kopf hob, verzog er sich hinter die nächste Glastür und starrte raus in die Landschaft. Schlechtes Publikum heute. Er verfolgte das Bild eines Klärwerks, das in der Sonne vor sich hin reflektierte, mit den Augen. Es war bald außer Sichtweite. Dann setzten die Bremsgeräusche ein.

Ich hatte auch nicht auf den Schaffner reagiert. Trotzdem imponierte mir seine Beständigkeit. Vor 23 Jahren war ich zum letzten Mal mit diesem Zug zur Schule gefahren. Jetzt war ich 42, und der Mann machte noch immer denselben Witz.

Draußen eilten ein paar Klinkerhäuschen vorbei, als schämten sie sich wegen ihrer Lage direkt an den Gleisen. Oder wegen ihrer ungepflegten Gärten. Dann, langsamer, kamen die Hafenanlagen ins Bild. Mächtige Hallen, die mit hochgezogenen Schultern stoisch ihren beißenden Fischgeruch verströmten. Ein Verladekran drehte sich dem Zug entgegen und starrte misstrauisch. Zum Schluss das Bahnhofsgebäude. Die Lok ächzte und kam zum Stehen.

Cuxhaven Hauptbahnhof. Als ob diese Stadt jemals einen zweiten Bahnhof gehabt hätte.

Die letzte Stufe vom Waggon zum Bahnsteig war ziemlich hoch. Zumindest für jemanden, der auf dem Rücken einen kleinen Rucksack, in der linken Hand einen Rollkoffer und in der rechten Hand einen Stock trägt. Es klappte, ohne Sturz, nur mit ein bisschen Wackeln. Und einem ungelenken Ausfallschritt. Zwei Leute am Bahnsteig schauten mich besorgt an, doch das war ich mittlerweile gewöhnt.

Der Bahnhof hatte sich kaum geändert in den letzten zwei Jahrzehnten. Immer noch der alte, aus dunkelroten Klinkern gebaute Sackbahnhof. Ein- und Ausfahrt in dieselbe Richtung. Einen Kilometer hinter der Vordertür wartete die Nordsee.

Ich wuchtete meinen Rollkoffer bis zum Hintereingang der kleinen Halle. Weil ich Hunger hatte, ließ ich mir am Crobag-Stand ein frisch aufgeblasenes Croissant mit Ziegenkäse und einen Espresso Macchiato geben. Soweit, dass man sich nicht mehr mit belegten Brötchen und Filterkaffee sättigen musste, war man in Cuxhaven auch schon. Die Verkäuferin hinter dem Tresen sah aus wie ein Männertraum nach DIN-Norm. Anfang Zwanzig, blond, blauäugig. Anscheinend von ihrem Job genervt. Nachdem sie mir das Croissant gegeben hatte, verschränkte sie die Arme, so dass ihre Brüste entspannt darauf ruhen konnten. Als in mir die Frage aufkam, wie ihre Beine wohl aussahen, rief ich mich zur Ordnung. Vor sechs Stunden war ich zu Hause aufgebrochen, sexueller Notstand konnte beim besten Willen noch nicht herrschen. Wahrscheinlich versuchte ich einfach, meine Nervosität vor mir zu verstecken.

Der Zeitungskiosk hieß jetzt »Presseshop«, und aus der chrom- und glasglänzenden Bezahltoilette daneben, die das alte Bahnhofsklo ersetzt hatte, roch es abstoßend frisch nach Fichtennadelspray.

Da ich meiner Familie am Telefon nur vage erzählt hatte, dass ich irgendwann mal vorbei schauen würde, holte mich niemand ab. Mein Vater war ohnehin gerade wieder im Ausland, meine Schwester lebte mit Mann und Kindern einige Städtchen von hier entfernt. Außerdem hatte sie vor einigen Monaten wieder zu arbeiten begonnen, so dass sie jetzt …

»Das kann doch nicht wahr sein!« Ein verhaltener Schrei riss mich aus meinen Überlegungen. Am Schalter stand ein ungefähr 30-jähriger Mann mit Rucksack und schäumte vor Wut. »Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, von hier nach Hasenfleth zu kommen. Das sind doch nicht mal 40 Kilometer!«

Höflich schaute der Beamte noch einmal in seinen Computer. Klar, nach Hasenfleth war es nicht weit. Aber drei Dutzend Kilometer durch die Norddeutsche Tiefebene können ohne Auto leicht zu einer Tagesreise werden. Bevor der Mann weiter schimpfen konnte, schmiss ich den Rest des Croissants in den Mülleimer und ging über die kleine Treppe auf den Bahnhofsvorplatz. Ein Blick genügte, um ein Taxi anzulocken. »Taxi?«, fragte der Fahrer durchs offene Fenster. Er öffnete mir gleich die Vordertür und sprang aus dem Wagen, um mir das Gepäck abzunehmen. Auch daran hatte ich mich mittlerweile gewöhnt.

»Hotel Stadt Cuxhaven«, sagte ich, als ich mich im Innenraum verstaut hatte. Das war nur wenige hundert Meter entfernt, ich hätte die Strecke auch laufen können.

Aber ich wollte jetzt nicht durch Zufall irgendeinen alten Schulfreund treffen, an dessen Namen ich mich nicht erinnern konnte. Und ich wollte mich nicht vor jedem zweiten Gebäude von Erinnerungen überwältigen lassen. Ich brauchte ein Bett, auf dem ich in Ruhe die Ent­krampfungs­creme in mein rechtes Bein einmassieren konnte.

In meinem Rucksack lag eine Karte für das nächste Heimspiel von Werder Bremen. Das Zimmer hatte ich für einige Nächte gebucht. Es gab also genug Zeit zum Überlegen, wann ich den Besuch machen würde, für den ich hier war.

Natürlich kamen die Erinnerungen. Als das Taxi um den Bahnhofsplatz kurvte, musste ich plötzlich an Carsten Marquardt denken. Das war erstaunlich, da ich im Zug noch nicht hätte sagen können, dass Carsten Marquardt Carsten Marquardt hieß und bis Mitte der Achtziger in eine Parallelklasse meines Gymnasiums gegangen war. Doch nun, als der Wagen durch die Bahnhofsstraße fuhr, fiel ich in ein Zeitloch. Der Billigmarkt auf der linken Seite war vor einem Vierteljahrhundert eine Disco gewesen.

Carsten Marquardt steht plötzlich vor mir. Weiße Hose, gelbes Hemd, rote Strickkrawatte. Gottseidank kann ich mich nicht erinnern, was ich gerade am Leib trage. »Wenn die Bedienung fragt, was ich trinken will, sage ich einfach, dass ich Diabetiker bin. So spare ich jede Menge Geld!« Carsten bemüht sich um einen coolen Gesichtsausdruck. Dass dieser blöde Trick niemals klappt, weiß auch er.

Genervt schüttelte ich meinen Kopf nach rechts.

Da steht ein Baum, und darunter stehe ich. Vielleicht vier Jahre alt. Es regnet in Strömen, aber unter den Blättern ist es trocken, und ich singe etwas. Ein Mädchen kommt zu mir. »Hast du kein Zuhause?«, fragt es besorgt. Ich renne weg.

Auch jetzt versuchte ich wegzurennen. Vor dem Imbisswagen am Schleusenpriel, wo die kleinste Portion Pommes Frites nur 90 Pfennig kostet. Vor der Eisdiele, an der ich zum ersten Mal merke, dass etwas mit Anja und mir nicht mehr stimmt, seit sie nach Göttingen gezogen ist und ich nach Berlin. Und am schnellsten rannte ich vor den endlosen Deichspaziergängen am Sonntagnachmittag weg. Mit den beiden Menschen, die nun Renate und Dieter heißen, und damals noch Mama und Papa.

Das Taxi hielt. Als der Fahrer mein Gepäck aus dem Kofferraum wuchtete, stieß er fast mit einem ungepflegten Mann mit fettigen schwarzen Haaren zusammen, der den Bürgersteig entlang hastete. »Moin, Ludger!«, murmelte der, anstatt sich zu beschweren. »Moin, Tjark!«, grinste Ludger. »Auch schon aufgestanden?«

»Na, zum ersten Mal hier?«, fragte der Portier, als er mir meinen Koffer ins Zimmer stellte. Er schaute mir forschend ins Gesicht.

»Ja, ja, zum ersten Mal in Ihrem Hotel«, sagte ich eilig. Das war nicht gelogen. Er kam mir bekannt vor. Er schien mich auch zu kennen. Da ich keine Lust hatte, mit ihm eine Viertelstunde darüber zu reden, wann wir mal zusammen auf dem Schulhof oder auf der Discotoilette oder auf dem Sportplatz gestanden hatten, schob ich ihm ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tür.

Das Zimmer sah aus wie Zimmer in Hotels, die Hotel Stadt Cuxhaven heißen. Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, Minibar, Fenster zur Straße. Ich stand am Fenster. Gerade ging die Sonne unter, und die Leuchtreklamen an den Geschäften begannen zu strahlen. Wenn ich das Fenster öffnete und mich ein Stück nach vorn beugte, konnte ich die Kammer-Lichtspiele sehen. Welche Filme hatte ich in dieser schäbigen, ewigen Nummer Drei unter den drei Kinos der Stadt eigentlich gesehen? Irgendwas mit Bud Spencer? Nein. Die hatte ich eigentlich immer im Bali am Bahnhof gesehen. »Apocalypse now«? Könnte sein.

Mit der flachen Hand schlug ich mir gegen den Kopf. Schon wieder Erinnerungen. Deswegen war ich nicht in die Stadt gekommen. Andererseits: über den wahren Grund mochte ich gerade auch nicht nachdenken. Und wenn die Erinnerungen durch den Kopf toben wollten …

Lass sie spielen, dachte ich mir. Ich zog eine Cola Light aus der Minibar, ließ mich aufs Bett fallen und sah dem Himmel beim Dunkelwerden zu.

Ein Kind liegt im Bett und weint vor Angst. Weil das Bett so groß ist. Weil das Zimmer so kalt ist. Weil durch das Fenster so komisches Licht kommt.

Da ist ein großer Schrank vor dem Bett, und darin knackt es manchmal. Wenn es knackt, dann weint das Kind ganz laut. Weil da gleich etwas herauskommt. Was, das weiß das Kind nicht. Nur, dass das da drin schlimm ist und böse.

Das Kind ist ein kleiner Junge. Sein Vater ist ganz weit weg. Irgendwo. Seine Mutter ist auch ganz weit weg. Im Zimmer hinter der Wand neben dem Bett. Da sitzt sie mit Oma und dem Großonkel und lacht.

Das Kind weiß, dass die Mutter nicht zu ihm kommen wird, egal wie laut es weint. Das Kind weiß nicht, dass die Mutter einen Aufsatz in einer Zeitschrift gelesen hat, in dem stand, dass man sein Kind sich müde schreien lassen soll, damit es lernt, nicht jede Nacht zu schreien. Vielleicht klingt das Lachen der Mutter deshalb ganz anders als das Lachen von Oma und vom Großonkel. Doch der Aufsatz stand in einer großen Zeitung. Geschrieben von einem Doktor. Und die Mutter will nichts falsch machen in der Erziehung.

Also liegt das Kind im Bett und weint. Weil es erst drei Jahre alt ist, steigt es nicht unter der schweren Decke hervor und aus dem großen Bett hinaus. Irgendwann hat es sich müde geweint und schläft ein. Nebenan ist die Mutter froh. Der Aufsatzautor hatte recht.

1974 war ich König für einen Sommer. Im Januar hatte ich meinen achten Geburtstag gefeiert, und im Juni bekam ich als erstes Kind aus der Nachbarschaft ein Dreigang-Bonanzarad.

Ich glaube, ich bekam es deshalb, weil mein Großonkel zwischen Januar und Juni gestorben war. Der Bruder von meiner Oma. Mit dem hatte ich viel Zeit verbracht. Wir hatten zusammen eingekauft, waren auf den Fleckenmarkt gegangen oder hatten die Kanarienvögel in seinem Keller gefüttert. Eigentlich war mein Großonkel mein bester Freund gewesen, trotz des erheblichen Altersunterschieds. 57 Jahre, neun Monate und neun Tage, um genau zu sein. Als er starb war er ungefähr acht Mal so alt wie ich. Er hatte keinen besseren Freund als mich. Er hatte gar keinen Freund. Manchmal stand er vor seinem Haus an der Straße und redete mit Leuten. Doch die nahmen ihn nicht ernst. Ich nahm ihn ernst. Obwohl er ziemlich dumm war. So riss er etwa den rechten Arm zur Begrüßung nach oben, genau so wie Adolf Hitler. Obwohl er immer SPD wählte. Seine Witze waren meistens besser als seine Gesten. Wenn wir durch die Stadt gingen, dann wusste er immer, was früher in den Häusern los war, vor zehn oder zwanzig Jahren oder als Adolf Hitler noch gelebt hat. Das fand ich toll. Wenn wir unterwegs waren, dann winkte mein Großonkel manchmal Leuten zu, die er kannte. Stehen blieben wir jedoch nie. Mein Großonkel plauderte mit niemandem. Mir war das recht. Mir waren die alten Leute, die meinen Großonkel seit zehn oder zwanzig Jahren oder seit Adolf Hitler kannten, immer unangenehm. Ich glaube, meinem Großonkel auch.

Als er tot war, saß ich vor allem in meinem Zimmer und las. Ab und zu kam meine Mutter herein – ohne anzuklopfen. Riss das Fenster auf und sagte, dass ich endlich raus an die Luft sollte. Und aufhören, in meiner Höhle zu hocken. Mein Großonkel wäre nun mal tot, den könne man nicht wieder hergrübeln.

Ich wusste nicht, was sie meinte. Gegrübelt hatte ich schon immer gern. Nicht zu Unrecht galt ich in unserer Cuxhavener Einfamilienhaus-Siedlung als der größte Intellektuelle in meiner Altersklasse. Ich konnte Schach spielen, mit allen Großmeistertricks – wie Rochade oder den Bauern beim ersten Zug zwei Felder vorstellen. Ich konnte das große Einmaleins. Ab und zu bauten sich die Kumpels provozierend vor mir auf, und einer von ihnen fragte: »Wie viel ist siebzehn mal siebzehn?« »Zweihundertneunundachtzig«, sagte ich dann, ohne mit der Wimper zu zucken, und sie schwiegen beeindruckt. Manchmal wusste ich die Antwort nicht. Dann sagte ich trotzdem »Zweihundertneunundachtzig«, ohne mit der Wimper zu zucken. Und sie schwiegen beeindruckt, weil sie es nicht nachrechnen konnten.

Meine Mutter brachte mich manchmal zur Bücherei. Sie hatte ihre sämtlichen Kinderbücher vom Dachboden geholt und in mein Zimmer gestellt. Darum besaß ich achtundzwanzig Bände Karl May. Ich konnte Hadschi Halef Omar ben Hadschi Abul Abbas ibn Hadschi Dawud al Gossarah auswendig sagen. Und ich kannte die feministischen Klassiker: Hanni und Nanni. Hilde die Wilde. Pippi Langstrumpf. Nesthäkchen kann brauchen, was es gelernt hat.

Eigentlich gab es bei mir nur eine einzige Schwachstelle: den Sport. Ich konnte lange Zeit weder Fahrradfahren noch Schlittschuhlaufen. Meine Beine waren ziemlich lang für mein Alter, und bevor ich sie beim Fangen oder Fußballspielen richtig in Bewegung kriegte, hatten mich die Kumpels schon längst umgetreten. Noch schlimmer war es, wenn ich über Gräben hüpfen oder über Zäune steigen sollte. Die Kumpels sprangen einfach drüber und sahen mir prustend zu, wie ich mir am Stacheldraht die Hose zerriss und mit dem Gesicht zuerst in den Uferschlamm klatschte. Wenn sie mich wirklich demütigen wollten, kletterten sie auf einen Baum. Ich hing immer am untersten Ast. Die Kumpels hockten oben im Wipfel und warfen mit Eicheln, Kastanien oder Bucheckern nach mir. Manchmal riefen sie dazu höhnisch »Zweihundertneunundachtzig!«

Kein Wunder, dass ich mich bald wissenschaftlichen Studien zuwandte. Während die anderen Jungs marodierend durch die Siedlung zogen, um Fußball zu spielen oder kreischenden Mädchen die Zahnklammerdosen vom Hals zu reißen, zog ich mich in den Garten unseres Hauses zurück. Ich untersuchte, welche Beine man einem Schmetterling ausreißen musste, damit er nicht mehr vom Boden hochkam. Ich testete, wie viele Ameisen man mit dem bloßen Finger zerdrücken konnte, bis das Volk sich eine neue Straße suchte. Oder ich studierte die Verhaltensänderungen bei Grashüpfern unter den Bedingungen der Einzelhaft, indem ich sie in kleine Löcher neben dem Zaun sperrte und einen Kieselstein auf die Öffnung legte. Einmal vergaß ich einen, bevor ich mit meinen Eltern für zwei Wochen nach Österreich fuhr. Als wir zurück waren und ich ihn befreite, kam der Grashüpfer mit jedem Sprung nur noch drei Zentimeter weit. Außerdem knallte er mehrfach gegen einen Zaunpfahl. Wahrscheinlich hatte er sich noch nicht wieder an das Licht gewöhnt. Da kann man mal sehen, was Einzelhaft bei einem Lebewesen anrichtet.

Trotz meiner wissenschaftlichen Erfolge überkam mich jedes Mal ein seltsames Gefühl der Leere, wenn ich die Rufe meiner Altersgenossen von der Straße hörte. Oder wenn sie im Winter mit dem Schlitten am Haus vorbeizogen, während ich gerade ein Tipp-Kick-Turnier linke Hand gegen rechte Hand austrug.

Das machte ich ziemlich oft. Immer, wenn die Tage zu kalt für wissenschaftliche Experimente wurden, beschloss ich, ein gewaltiges Fußball-Turnier auszutragen. Keine armselige Veranstaltung wie offizielle Weltmeisterschaften, bei denen damals ja nur sechzehn Mannschaften teilnehmen durften. Da mir meine Mutter eine alte Reiseschreibmaschine geschenkt hatte, als ich viereinhalb war, konnte ich zunächst einen akribischen Turnierplan aufstellen. Aus dem Schulatlas suchte ich die Namen von einhundertachtundzwanzig Ländern, die sich dann in sechs K.O.-Runden bis zum Finale durchkämpfen sollten. Ich loste die Ansetzungen aus, tippte sie auf mehrere Blätter Luftpost-Papier und malte die Flaggen dahinter. Damals war ich wahrscheinlich der einzige Grundschüler Deutschlands, der die Flaggen von Malawi, Französisch Guayana oder der Mongolischen Volksrepublik auswendig kannte. Beim Losen schummelte ich, was das Zeug hielt. Ich sorgte dafür, dass meine Lieblingsmannschaften immer zuerst gezogen wurden. Das hieß, dass sie mit der rechten Hand spielen durften und deshalb einen großen Vorteil hatten. Schließlich war ich Rechtshänder. Leider kam ich nicht besonders weit mit meinen Turnieren. Weil ich das große Einmaleins beherrschte, hätte ich mir ausrechnen können, dass sich ein nach K.O.-Modus gespieltes Turnier bei einhundertachtundzwanzig Mannschaften auf einhundertsiebenundzwanzig Partien auswächst, was bei zwei Halbzeiten zu je sieben Minuten pro Partie eine Gesamtspielzeit von eintausendsiebenhundertachtundneunzig Minuten, also ein Turnier von mindestens sechs Tagen bedeutete, wenn ich fünf Stunden am Tag mit der einen Hand gegen die andere antrat. Doch so viel schlechtes Wetter hintereinander gibt es nicht einmal in Cuxhaven. Dennoch versuchte ich immer wieder, meinen Weltmeister zu ermitteln.

Alles änderte sich an einem Tag in den Osterferien 1974. Mein Schulfreund Jan Wendt besuchte mich. Jan lebte weit weg, wie man in Cuxhaven sagt, er lebte weiter weg als die Schule, sogar noch weiter weg als die Bücherei. Er lebte in einem anderen Teil des Universums, in dem auch Österreich und Taka-Tuka-Land lagen, oder die Mongolische Volksrepublik. Wenn ich ihn besuchte, so nur unter Begleitschutz meiner Mutter, die mich mit dem Auto bis an seine Haustür brachte. Aber Jan Wendt war ein harter Hund, wahrhaft unerschrocken wie Hadschi Halef Omar ben Hadschi Abul Abbas ibn Hadschi Dawud al Gossarah oder vielleicht noch Pippi Langstrumpf. Er fuhr die ganze Strecke allein mit seinem Kinderfahrrad. Nicht einmal Stützräder brauchte dieser Draufgänger.

Als Jan nachmittags wieder zurückgefahren war, bekam meine Mutter einen Wutanfall. »Der kommt den ganzen Weg mit seinem Rad hierher«, schimpfte sie. »Und du kannst dich noch nicht mal draufsetzen.« Sie holte ein altes Kinderfahrrad aus der Garage. Sie setzte mich auf den Sattel und begann, mich auf dem Schotterweg vor unserem Haus hin und her zu schieben. Irgendwann ließ sie los. Ich fiel hin und schlug mir ein Knie blutig. Meine Mutter hob mich sofort wieder aufs Rad und schob an. Wieder fiel ich, diesmal auf das andere Knie. Ich weiß nicht, wie oft ich an diesem Nachmittag aus dem Sattel gestürzt bin. Ich rutschte aufs Pflaster, rollte in Hecken, schlidderte in den Straßengraben und knallte gegen Zaunpfähle wie ein Grashüpfer nach gerade überstandener Einzelhaft. Als mir klar wurde, dass von meiner Mutter weder Trost noch Erbarmen zu erhoffen war, biss ich die Zähne zusammen. Ich glaube, das war der Moment, in dem ich selbst ein ganz schön harter Hund wurde. Als die Sonne beim Untergehen so rot wurde wie meine Knie und ich gerade mit dem Leben abschließen wollte, fiel ich nicht mehr.

Zwei Tage später kam mein Vater von Montage zurück. Als ich ihm auf dem Fahrrad etwas vorgefahren hatte, guckte er ganz stolz und schüttelte mich an den Schultern, wie es nur ein ziemlich harter Hund bei einem anderen ziemlich harten Hund tut. Ab sofort brauchte ich ihm an Samstagnachmittagen nicht mehr zu helfen, wenn er mit seinem quäkenden Transistorradio aus dem Haus kam, um während der Bundesligareportagen vor der Garage den Wagen zu waschen und Unkraut zu jäten. Ich fuhr einfach den Schotterweg am Haus hinauf und hinunter. Immer, wenn ich an ihm vorbeikam, guckte er stolz und sagte: »Hallo, Sir!« Oder er rief mir zu, wie es gerade bei Werder Bremen im Weserstadion stand. Werder verlor damals meistens. Mein Held war Torwart Dieter Burdenski, der oft genug von seiner unfähigen Abwehr im Stich gelassen wurde und sich auf seinen ziemlich langen Beinen den gegnerischen Stürmern allein entgegen werfen musste. Das imponierte mir. Außerdem gibt es vom Schiedsrichter die Rote Karte, wenn man dem Torwart die Beine wegtritt.

Irgendwann begannen die Sommerferien. Als ich vom letzten Schultag nach Hause kam, ließen sich meine Eltern das Zeugnis zeigen. Viele Einser und Zweier standen drauf. Sogar in Sport hatte ich eine Zwei. Das lag aber daran, dass meine Sportlehrerin auch meine Mathelehrerin war. Sie schaute bei den Leistungstests in der Turnhalle nicht so genau hin. Oder sie warf am Anfang der Stunde einen Basketball in die Mitte und ging zum Einkaufen. Dann durfte ich an der Seite stehen und die Punkte zählen. Meistens zog ich dem Team von Jan Wendt heimlich ein paar Punkte ab. Das ging ganz leicht, weil man im Basketball bei verschiedenen Würfen verschiedene Punktwertungen bekommt. Und wer will schon streiten mit einem, der erstens das große Einmaleins kann und zweitens von der Sportlehrerin an die Seite gestellt worden ist?

Jedenfalls guckten meine Eltern sich das Zeugnis lange an, und als sie damit fertig waren, gingen sie mit mir in die Garage. Meine Mutter versuchte geheimnisvoll zu tun. Doch mein Vater schüttelte mich auf dem Weg ganz doll an den Schultern und fragte stolz: »Na, Sir, darf ich dich jetzt noch ›Sir‹ nennen? Oder muss ich jetzt ›Professor‹ sagen?« Da wusste ich, dass es ein ganz großes Geschenk geben würde.

Es stand an der hinteren Wand. Ein Bonanzarad. Und zwar keines von diesen billigen orangefarbenen Dingern, die man bei Quelle bestellen oder bei Karstadt aus der Sportabteilung mitnehmen konnte. Sondern ein knallgelbes Luxusmodell aus dem Fachhandel, komplett mit Hirschgeweih-Lenker, Bananensattel und extra hohem Sitzbügel. Sogar eine Dreigang-Schaltung besaß es. Meine Eltern hatten sich in Unkosten gestürzt. Ich konnte nichts sagen. Es war ein Traum.

»Na, Sir, gefällt’s dir?«, fragte mein Vater. »Oma hat auch was dazugegeben.« Ich überlegte, wie ich ihm eine Freude machen konnte.

Immer wenn mein Vater etwas besonders toll fand, also wenn zum Beispiel kein Unkraut mehr im Beet war oder Dieter Burdenski im Weserstadion einen Elfmeter gehalten hatte, sagte er »Besser als Ficken«. Ich wusste noch gar nicht genau, was Ficken überhaupt war. Nur, dass es mit den nackten Frauen auf den Titelseiten der »Neuen Revue« zusammenhing, die mein Vater immer unter dem Bett im Schlafzimmer versteckte, damit meine Mutter sie nicht sah.

Da ich ihm eine Freude machen wollte, sagte ich also: »Besser als Ficken.« Meine Mutter wurde rot und hätte mir das Bonanzarad beinahe wieder weggenommen. Aber mein Vater lachte nur und schüttelte mich derart an den Schultern, dass selbst so ein ziemlich harter Hund wie ich sich nur schwer auf den Beinen halten konnte.

Lang sind sie, die Nächte in Kreuzberg. Das meinten auch Sie, und haben sie deshalb auf Platz vier Ihrer Jahresschlagerparade gesetzt. Auf Platz drei haben wir nun einen ganz besonderen Gast. Einen Hund nämlich, der sich eine kleine Miezekatze wünscht! Bühne frei für …

Tscha. Wers mach, der machs wohl mögen … Schalt mal um. Watt soll das denn sein? Hüpfen die denn heute überall so komisch rum? Schalt noch mal um.

… zum Abschluss ihrer zweitägigen Konsultationen stellten sich die Ministerpräsidenten der Länder gemeinsam der Presse. Dabei betonte …

Wenn du da ne Bombe reinschmeißt, triffst du immer den Richtigen.

Ist das dahinten der Adenauer?

Ach watt, Klara! Der is doch schon pensioniert.

Graf Kurt muss das ja wissen.

Brause is alle.

Nimm dir auch mal nen Schluck. So wie du heute wieder hustest!

Zu Befehl, junge Frau!

Und gib mal was von die Schokolade.

Hmmm. Dat schmeckedidi. Wenn ich mein Bruder nich hätte. Und die großen Kartoffeln. Denn müsst ich lauter kleine essen.

Ou, kuck mal. Der Chef ist in Fernsehen!

Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger …

Mach den mal wech! Jetzt schwingt Willy Brandt große Reden. Und morgen kürzt er mir die Rente.

Bis du schon unten gewesen bei deine Vögel? Gleich geht doch der Krach los.

Ja, da hab ich Decken drübergelegt. Die schlafen jetzt alle.

Wolln wir den Lütten noch anrufen?

Der kommt doch bestimmt die nächsten paar Tage mal vorbei.

Jou, hast eigentlich Recht.

Nu krieg dich mal wieder ein mit dein Gehuste …

Ich glaub, ich geh nachn Bett.

Ich kuck noch büschn.

Jou denn: Prost Neujahr, Herr Graf!

Prost Neujahr, junge Frau!

… ein Blick auf die Uhr: 22 Uhr 14. Wir schalten wieder rüber auf den Römer nach Frankfurt, wo die Stimmung allmählich …

Ach! Halt die Klappe, blöder Kasten!

Jemand im Nebenzimmer hatte sein Radio eingeschaltet, und es war voll aufgedreht. Obwohl er seinen Fehler sofort korrigierte, war ich wach und sah auf dem Wecker, dass es 22 Uhr 14 war. Hatte ich geschlafen? Vermutlich war ich nahe dran gewesen. Kurz vor dem Einschlafen hörte ich oft Musik, die nur in meinem Kopf spielte. Oder ich sah Dinge, die mir irgendwann mal jemand erzählt hatte, vor mir. So wie gerade eben. Manchmal passierte das auch, wenn ich wach war. Und endete in der Regel damit, dass jemand neben mir sagte: »Träumst du?« Oder: »Es interessiert dich ja wohl einen Scheißdreck, was ich erzähle.«

Na gut, nun war ich wach. Hunger? Ja, Hunger war vorhanden. Doch sich in Cuxhaven um halb elf anzuziehen, um draußen nach etwas Essbarem zu suchen, lohnte nicht. Eine Odyssee an eine Frittenbude für Schichtarbeiter am Hafen wäre das Ergebnis gewesen. In der Seitenklappe des Gepäcks steckte noch ein Schokoriegel. Den nahm ich und bildete mir danach ein satt zu sein. Zähneputzen, Kleider ausziehen, unter die Bettdecke. Die Zimmerdecke reflektierte das Scheinwerferlicht der wenigen vorbeifahrenden Autos. Ich war zu faul, um noch die Vorhänge zu schließen. Zu wach um einzuschlafen.

Jahrzehntelang hatte ich an ein Bild aus Cuxhaven gedacht, das nicht aus meinem Kopf weichen wollte. Und jetzt war ich wieder hier. Wegen eines anderen Bildes, das ich zehn Jahre später zum ersten Mal gesehen hatte. Langsam nervte mich der Andrang der Erinnerungen. Vor allem, weil ich dauernd grübelte, was eigentlich auf dem Bild zu sehen war, für das ich jetzt nach Cuxhaven gefahren war. Ein junger Mann mit militärischem Haarschnitt, das war klar. Aber sonst? Wie er schaute? Was er tat? Keine Ahnung mehr.

Also beschloss ich, mir selbst eine Gutenachtgeschichte zu erfinden. Mit der Crobag-Verkäuferin in der Hauptrolle? Warum nicht. Aber eine Sexgeschichte musste es nicht unbedingt sein, jedenfalls nicht sofort. Allerdings brauchte ich noch einige Nebendarsteller. Eine junge Frau allein ergibt noch keine gute Gutenachtgeschichte. Ein LKW fuhr am Hotel vorbei. Als sein Scheinwerferlicht über die Decke flimmerte, erschien es beinahe wie ein Sonnenuntergang im schnellen Vorlauf.

Als die Sonne sank, gingen sie Hand in Hand. Oder Hand in Tarsus, um genauer zu sein. Den ganzen Tag waren sie herumspaziert, hatten Kaffee getrunken, gegessen, am Strand den Wellen zugesehen und sich unglaublich wichtige Dinge mit den Augen erzählt. Schon lange störte es Nina nicht mehr, dass alle Passanten sie entgeistert anschauten, weil sie eine zwei Meter zwanzig große Kakerlake als Begleiter hatte. Und seitdem sie gleichzeitig ein Bein auf ihrer Schulter und eines um ihre Hüfte spürte, fühlte sie sich so geborgen wie … Sie überlegte. Ja, wie noch nie in ihrem Leben.

Als die Sonne sank, saßen sie zusammen am alten Hafen. Gerade war die Barkasse von der Spätfahrt zu den Robbenbänken eingelaufen, und ein paar Touristen balancierten über die Gangway auf den Anleger. Nina blies lange den Atem durch die Nase aus. Noch nie waren die alten, verrottenden Hafenmauern von Cuxhaven so schön gewesen.

»Was für ein wunderschöner Tag das war«, seufzte sie.

»Der erste schöne Frühlingstag«, stimmte die Kakerlake zu.

Als die Sonne sank, küssten sie sich.

Sechs Uhr dreizehn. Jetzt waren es keine Scheinwerfer mehr, die an meiner Zimmerdecke Sonne spielten. Diesmal war es die echte Sonne. Zu Hause in Berlin würde ich mich umdrehen und warten, bis der Schlaf mich noch einmal besuchen kommt. Aber zu Hause in Berlin lag ich auch nie bei Sonnenuntergang auf dem Bett oder schlief vor elf Uhr abends ein.