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Lukas Hartmann

Die Seuche

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 1992
beim Verlag Nagel & Kimche AG,
Zürich/Frauenfeld

Umschlagillustration: Hieronymus Bosch,
›Die Kreuztragung‹
(Ausschnitt Veronika),
um 1500

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23913 3 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60018 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Our past still lies ahead of us

Lewis Mumford

[7] Wer bist du, Hanna? Noch kenne ich dich kaum, ich sehe dich am frühen Morgen aus dem Haus treten. Den Morgenhimmel liebst du, das weiß ich, fröstelnd stehst du in der Kälte, an den Schattenhängen liegt noch Schnee, aber das Grün der Wiesen wird jetzt satter von Tag zu Tag. Auf dem Weg zum Brunnen siehst du blühenden Huflattich; du wirst ihn sammeln und trocknen, die Großmutter macht einen Hustentrank daraus. Schafe blöken in ihren Pferchen, das überhörst du wie das ungeduldige Gackern der Hühner, denn die Klosterglocke beginnt zu läuten, und du schaust hinunter zum Kloster, das am Rand des Plateaus steht, hoch über dem Tal und viel zu groß fürs Dorf, eine dunkle Masse vor der aufgehenden Sonne. Dort betet er jetzt, dein Bruder, er betet wie einer der Mönche, obgleich er keiner ist, er betet in der Kirche mit dem gedrungenen Turm. Nein, du gehst nicht mehr hin, du kannst es nicht mit ansehen, wie er daliegt mit ausgebreiteten Armen, wie er mit der Stirn auf die Fliesen schlägt. Bete zu Gott, dass das [8] Übel uns verschone, hat Mathis gesagt, bete zum heiligen Sebastian und zum heiligen Martin; du hättest beten sollen, Hanna, gleich nach dem Aufstehn. Das Übel kommt näher von Tag zu Tag, durch die Luft kommt es, sagt Mathis, es ist der Hauch des Bösen, wie willst du dich dagegen wehren ohne die Macht des Kreuzes?

Und Sam Ssenyonja habe einen Hektar Land besessen, mit Kaffeesträuchern und Bananen bepflanzt, er habe in einem Steinhaus gewohnt, mit Ziegeln bedeckt, mit hölzernen Läden vor Türen und Fenstern

Die andern am Brunnen sind ernster als sonst, schweigend füllen sie ihre Eimer. Gestern sind Pilger angekommen, erschöpft und zerlumpt, auf der Rückkehr vom Jakobsgrab, sie haben in der Klosterherberge genächtigt; eine lange Reise muss es sein mit den gesegneten Muscheln im Gepäck, über Berge, durch Schluchten, durchs ganze Frankenreich. Einer der Pilger sei krank gewesen, so krank, dass die Männer die vier verjagen wollten, aber Bruder Peter habe ihn aufgenommen und aufs Stroh gebettet. Vom Kloster hörst du den Gesang, doch die Mauern der Herberge sind dick und mit Blicken nicht zu durchdringen, dahinter liegt der Kranke, [9] und du hoffst, Hanna, nicht das Übel, von dem alle reden, habe ihn befallen, sondern ein gewöhnliches Fieber. Mathis hat gesagt, ganze Landstriche und Städte gebe es, die das Übel verwüstet habe, leere Häuser, das Korn verfaule, die Tiere irrten herum.

Als sie sich zum Gehen wendet, kommen drei Pilger den Klosterweg herauf, zu Fuß, es sind keine Herren, sie tragen verdreckte Überwürfe und haben ihre Reisebündel geschultert, einer geht hinter dem andern, schweigend durchqueren sie das Dorf, ihre langen, dünnen Morgenschatten wandern vor ihnen her.

Sam Ssenyonja besaß einen Hektar Land, er wohnte in einem Steinhaus, er wurde fünfunddreißig Jahre alt, er starb im August letzten Jahres, in der Zimmerhöhle neben dem Vordereingang

Die Schafe tränkst du gerne, Hanna, wie dicht fühlt sich die Winterwolle an; deine Füße sinken ein im Morast, bei einer Pfütze brechen sie durch dünnes Eis. Leere Häuser, verfaulendes Korn. Und dieser Traum, der sich Nacht für Nacht wiederholt, der Traum von den Masken und von der Nadel. Der Rabe krächzt, zerrt an der Kette. Lass ihn frei, hat Mathis gesagt; aber solange er seinen lahmen [10] Flügel hat, bleibt er angekettet, er schützt das Haus vor Dieben. Der Kornsack für die Hühner ist fast leer, zwei, drei Handvoll klaubt Hanna heraus, um sie ihnen hinzustreuen. Geht, geht und scharrt, der Boden ist nicht mehr gefroren.

Drinnen kauert Hedwig vor dem Herd, die Decke um sich gewickelt. Hanna legt ein paar Äste nach, gießt Wasser in den Kessel, hängt ihn an den Haken über dem Feuer. Das Summen des Wassers magst du auch, Hanna, du siehst zu, wie der Haferbrei dick wird beim Rühren und die Kelle Furchen zieht, die sich gleich wieder glätten.

Du bist lange weggeblieben, Hanna.

Ich habe wieder geträumt, Großmutter. Ich liege da, und die Männer stehen um mich herum, ihre Gesichter sind verhüllt bis zu den Augen.

Bist du nackt? Berühren sie dich?

Ich weiß es nicht.

Wie viele Männer waren es?

Ich weiß es nicht.

Achte darauf beim nächsten Mal.

Der Name: Sam Ssenyonja; er hatte ein Steinhaus in der Kleinstadt Kyotera

Am Abend kam Mathis zu ihnen herauf. Er brachte unter der Kutte einen Krug Milch mit; niemand im [11] Kloster durfte es wissen, Speistag für die Bedürftigen war der Donnerstag, da gehörte denen, die vor dem Portal standen, die ganze Schüssel; nur den Rahm hatte der Kämmerer für die sieben Mönche abgeschöpft.

Zwei Knechte für sieben Mönche, darüber schüttelte Hedwig den Kopf: Und du, Mathis, willst einer von ihnen werden? Mathis lernte Latein, lesen und schreiben, im Frühjahr sollte er wie alle, die dem Orden beitraten, fürs Noviziat nach Cluny reisen, wo die größte Kirche der Christenheit stand, unvorstellbar der Säulenwald, der Lichterglanz, das Knie beugt sich von selbst; in Cluny gab es mehr Mönche als Schafe im Dorf.

Von Cluny sprachen sie heute nicht. Sie saßen nahe am Feuer auf ihren Schemeln, und Hanna fragte nach dem Kranken.

Er ist tot, sagte Mathis nach einer Pause, wir haben ihn schon begraben.

Begraben, sagte Hedwig mit plötzlicher Schärfe. Verscharrt wohl, wenn ihr’s so eilig hattet. Wo liegt er?

Das darf ich nicht sagen.

Hast du gesehen, wie er starb?

Mathis schüttelte den Kopf; der Kranke sei Tuchhändler gewesen, aus der Reichsstadt Köln gekommen, mehr wisse er nicht.

[12] Hatte er Krämpfe, bevor er starb?, fragte Hedwig. Hatte er Beulen in den Achselhöhlen?

Ich weiß es nicht. Blut soll er gebrochen haben, Blut und Galle, aber sie haben mich nicht zu ihm gelassen. Die Nacht im Stall, das Schreien nebenan, die Mette mit den Mönchen; die ganze Nacht hatten sie gebetet für den Kranken. Mathis kniete neben Hedwigs Schemel, versteckte mit einem Schluchzen, das fast unhörbar blieb, sein Gesicht an ihrer Schulter, vertraut roch’s da, nach Kräutern und Rauch, ihre Schatten an der Wand wuchsen zusammen.

Wer weiß, sagte sie, vielleicht irren wir uns.

Nein, es kann nicht das Übel sein, der Wind trägt das Übel aus giftigen Sümpfen herbei, das sagen alle Gelehrten, aber wie wollen wir uns wehren gegen den Wind? Mathis rückte ein wenig von ihr ab. Was ich erzählt habe, dürft ihr nicht weitersagen, der Bruder Prior hat’s verboten. Er gürtete seine Kutte; wortlos, ohne Licht ging er zur Tür und verschwand in der Nacht.

Die Nacht, die große Nacht, da versammeln sich die Geister der Verirrten bei den drei Eichen, von denen ich manchmal träume, es ist ein Brausen in der Luft, die Wolken fliegen über die Wipfel, im Wald liebe ich das Feuer.

[13] Und Sam Ssenyonja wurde fünfunddreißig Jahre alt, er starb im August, in der Zimmerhöhle neben dem Vordereingang, halb verhungert und qualvoll, auf einer Bastmatte unter dem Bild von Papst Paul dem Sechsten

Die Nacht war finster draußen, das Feuer brannte.

Du bist zu jung für das, was kommen wird, sagte Hedwig, ihr alle seid zu jung. Geht weg von hier, solange noch Zeit ist. Geht gegen Sonnenaufgang. Meidet die Städte.

Wir schulden dem Kloster Zins, Großmutter, wir können nicht weg.

Was gelten jetzt noch Gesetze? Hedwig verstummte; sie hatte sich auf dem Laubsack ausgestreckt, die Decke über sich gezogen. Der Glutschein an der Wand, Schattengehusch wie von fremden Wesen. Draußen schnarrte der Rabe. Lauf nicht in den Wald, Mathis, komm zu mir, wir wollen wieder Kinder sein, wir wollen uns wieder hinter den Garben verstecken. Immer noch der Geschmack der Milch auf der Zunge, die Milch verdirbt rasch, Mathis, sie löscht den Durst nicht. Mit beiden Händen schöpfte Hanna Wasser aus dem Krug, ließ es sich übers Gesicht rinnen, die Haut brannte vor Angst.

Sie trat vors Haus, strich dem Raben übers [14] Gefieder; sein blauschwarzes Schimmern im Mondlicht, das Rumoren der Schafe, leise Stimmen aus den Häusern, das Flackern der niederbrennenden Feuer. Drüben auf der andern Talseite der schwarze Hügel, die Linie, die den Wald vom Himmel trennt. Jetzt fror Hanna wieder, aber sie drückte die Fersen in die nachgiebige Erde und blieb stehen, wo sie war. Ein leichter Wind von Westen her bewegte ihr Haar, verkroch sich in den Falten ihres Rocks. Was war es, was da näherkam, was Menschen verschlang und ganze Städte?

Und Sam Ssenyonja aus der Kleinstadt Kyotera, für den seine Mutter Sarg und Priester bestellte

Die Kälte trieb Hanna zurück ins Haus. Als sie kleiner war, hatte sie geglaubt, die Großmutter schlafe nie, bleibe wach bis zur Morgendämmerung, um sie vor allen Gefahren zu behüten. Wann immer Hanna aufschreckte aus einem bösen Traum und nach ihr rief, bekam sie eine Antwort: Ich bin da, schlaf weiter. Auch diesmal war Hedwig wach; einen leichten Schlaf haben wir Alten, leg dich hin, Hanna, im Schlaf kannst du vergessen.

Wieder die Männer. Sind es Totenhemden, die sie tragen? Sie haben die Gesichter verhüllt, die Augen blicken kühl, ohne Mitleid, die Männer heben [15] Hanna, die sich nicht rühren kann, auf einen Schragen, gleißend das Licht über ihrem Kopf. Hanna schreit auf, das Haus dreht sich um sie. Ich bin da, hört sie die Großmutter sagen, schlaf weiter.

Sam Ssenyonja starb auf seiner Bastmatte unter dem Bild von Papst Paul dem Sechsten, zwei Tage nachdem seine letzte Medizin verbraucht war, eine halbe Aspirintablette

Von Tag zu Tag wurde es wärmer. Die Männer pflügten die Felder; hinter den Gespannen her gingen die Mädchen und lasen die Steine auf, die mit den umgebrochenen Schollen ans Tageslicht kamen. Zu zweit trugen sie den Kratten, der sich allmählich füllte, und wenn sie ihn kaum noch zu heben vermochten, schleppten sie ihn an den Rand des Feldes und leerten ihn aus, so dass dort ein Berg aus Steinen, vom vorigen und von diesem Jahr, emporwuchs. Wie ein ungehobener Schatz lagen die Steine in den Furchen, mit rosaroter und grünlicher Bruchstelle, mit glitzernden Adern.

Scharf hob sich das Kloster vom gegenüberliegenden Hang ab, halb eingestürzt das Kirchendach, geknickte Sparren; der letzte Überfall lag noch nicht lange zurück.

Der Aufseher stand mit gespreizten Beinen [16] neben dem Steinhaufen und starrte die Mädchen an. Die Männer lenkten das Gespann schweigend an ihm vorbei; wenn er sie anredete, antworteten sie einsilbig und mürrisch. Nur widerstrebend hatten sie am Morgen die Pferde aus dem Klosterstall geholt. Zwei Mönche, hieß es, lägen krank in ihren Zellen, die Kleider des Toten habe man ins Feuer geworfen, im Hof rieche es nach verbranntem Wacholder. Die Frauen brachten das Vesper in gedeckten Körben, Brot und Käse, mit Wasser verdünnten Klosterwein. Kauend saßen die Männer am Ackerrand, die Mädchen und Frauen ein paar Armlängen von ihnen entfernt. Den Aufseher lud niemand zum Essen ein; scheinbar gelassen schlenderte er zu seinem Pferd und ritt davon. Eine Pilgergruppe kam den Hohlweg herauf, sie trieb einen beladenen Esel vor sich her und hielt bei der Abzweigung, wo die Weiden standen, aufs Kloster zu. Die Männer begannen erregt aufeinander einzureden, ein paar Frauen, die am Bach wuschen, machten kehrt und flohen in ihre Häuser. Als die Pilger sich auf Rufweite genähert hatten, ging ihnen Burkart, Hannas Nachbar, entgegen; zaudernd folgten ihm die andern.

Verschwindet, wir wollen euch hier nicht haben!

Die Pilger blieben stehen und berieten sich. Einer von ihnen, vermutlich der Älteste, trat vor und [17] rief, sie seien die halbe Nacht unterwegs gewesen, auch in Freiburg habe man sie nicht eingelassen, man solle ihnen um der Liebe Christi willen Herberge geben, er schwöre, von ihnen sei keiner krank.

Kehrt um, wiederholte der Nachbar, nehmt den Talweg, hier kommt ihr nicht durch. Er legte die Hand an den Griff der kleinen Axt, die in seinem Gürtel steckte.

In der äußern Mauer, die das Kloster umgab, öffnete sich die Pforte; einer der Brüder trat über die Schwelle. Würde er, wie sonst, den Pilgern entgegengehen und sie willkommen heißen? Teilt wenigstens das Brot mit ihnen, rief er den Männern zu. Die Mädchen sahen einander an. Hanna stand auf; doch keine half ihr, als sie die angebrochenen Brote in den Korb zurücklegte. Sie trug den Korb übers Gras, an den Männern vorbei, und trug ihn weiter bis zum Weg hinunter, wo sie ihn stumm vor den Alten hinstellte, der die Brote sogleich an sich nahm. Einer der Pilger streckte Hanna getrocknete Wurzeln entgegen, die aussahen wie verdorrte Finger, und der, der neben ihm stand, brach in ein spöttisches Gelächter aus. Hanna ließ den Korb stehen und lief, ohne sich umzusehen, zurück; was sie so beschämte, wusste sie nicht.

Jetzt geht in Frieden, sagte Burkart.

Die Pilger bewegten mit ein paar Stockhieben [18] den Esel zur Umkehr, bedächtig folgten sie ihm nach, in einer lockern Kolonne. Doch plötzlich brach der, der vorhin gelacht hatte, aus der Reihe aus, tanzte ins Gras hinein und ahmte, dem Dorf zugewandt, mit beiden Armen den Schwung einer Sense nach. Ihr Narren, rief er, ihr Narren! Er ging, vorgebeugt und immer mit der sausenden und weit ausholenden Bewegung der Arme, auf die Männer zu. Einer von ihnen schleuderte den Stein nach ihm, den er schon lange umklammert hielt. Doch erst als auch die andern ihn mit Erdknollen bewarfen, machte er kehrt und setzte dem Pilgerzug im Tanzschritt nach.

Und Josephine (achtundsechzig) sah ihren Sohn Sam Ssenyonja (fünfunddreißig) sterben

Die Männer schauten zur Pforte hinüber, doch die Gestalt in der schwarzen Kutte war verschwunden, als ob das Kloster sie verschluckt hätte.

Josephine sah ihren Sohn sterben, sie stieg den Hügel zur Kleinstadt Kyotera empor, bestellte Sarg und Priester und begann das Grab auszuschaufeln

[19] Die Tage vergingen, Mathis kam nicht mehr zu ihnen herauf. Hanna hackte Feuerholz, molk das Schaf, sie spann, buk Brot im Ofenhaus; sie schnitt Weidenzweige und legte sie in Wasser ein, sie sammelte jungen Löwenzahn, und immer dachte sie an Mathis. Er sei wohl auch krank, sagten die Mädchen am Brunnen, nein, er gerade nicht, sie sprachen aneinander vorbei, damit sie der Atem der andern nicht streifte, und sie vermieden es, sich zu berühren. Was soll ich tun?, fragte Hanna die Großmutter. Hedwig starrte ins Feuer; schon seit Tagen rührte sie die Spindel nicht mehr an, kaum noch setzte sie die Füße vors Haus, nicht einmal bis zu den beiden Lämmern mochte sie gehen. Geh zu den Schwarzröcken, hol ihn heraus. Und dann flieht in den Wald.

Aber an der Pforte lässt man mich nicht ein.

Geh in die Kirche zur Betzeit, dort darfst du hin, du bist getauft. Wenn die Krankheit im Kloster ist, musst du Mathis sagen, dass ihm nur der richtige Abstand hilft, siebenmal siebenundsiebzig Schritte.

Und wenn er nicht mitkommen will?

Dann ist er ein Dummkopf! Sag ihm, wir brauchen die Milch. Nein, sag ihm, dass seine Großmutter immer noch mehr über Krankheiten weiß als die Mönche.

[20] Die Namen: Josephine und Sam; das Grab, das die Mutter für den Sohn ausschaufelt, liegt zwanzig Meter vom Haus entfernt

In der Dämmerung gehst du zum Kloster, Hanna, ein dunkles Tuch über den Kopf gezogen. Rasch, rasch, an den Häusern vorbei, du wirst zum Schatten, das ist gut. Die Biegung, wo sich der Weg abkürzen lässt durchs Gras. Halme streifen und stechen die Waden, dann die Gruppe der Weiden, die Haselbüsche, du hörst den Warnruf des Zaunkönigs, außer Atem stehst du vor dem Kirchenportal, Hanna, dein ängstlicher Blick gleitet über das Jüngste Gericht im steinernen Bogen, aber die Figuren verschmelzen zu einem Schattenfeld, in dem du nur noch den Weltenrichter erkennst, ein erlöschender Glanz auf dem Gesicht.

Das Grab, das Josephine ausschaufelt, liegt zwanzig Meter vom Haus entfernt, mitten in den Bananenstauden, ein Holzkreuz steckt auf dem Hügel

Die Kirche ein Steinleib mit leuchtenden Augen. Über die Schwelle treten, die Finger ins Weihwasser tauchen; gegrüßt seist du, Maria, gegrüßt seid ihr, Peter und Paul, gegrüßt seist du, Herr Jesu [21] Christ. Kerzen brannten am Altar, beleuchteten das Bild der Muttergottes, deren Miene sich im unsteten Flackern aufhellte und wieder verdüsterte. Lichtkreise tanzten über die Fliesen, wanderten hinauf zu den Fenstern; durchs Dachskelett funkelten Sterne. Auf ihren Schemeln knieten drei Frauen; vorne beim Altar stand Bruder Peter im Messgewand, neben ihm einer der ältern Brüder. Mathis hielt das Messgeschirr in beiden Händen, die andern Mönche fehlten. Wie dünn sind deine Handgelenke, Mathis. Sonst versammelten sich um diese Stunde die meisten Gläubigen aus dem Dorf, kehrten dann gemeinsam zurück in die Häuser. Das Glöcklein kündigte die Wandlung an. Hanna aß nicht vom Leib des Herrn, sie schob sich ungesehen der Wand entlang zur Nebenpforte, durch die man ins Kloster gelangte.

Dort wartete sie auf Mathis, und als er kam, trat sie ihm in den Weg. Er erschrak, blieb erst stumm, dann sagte er leise: Lass mich hier, es ist besser für euch.

Hanna schüttelte den Kopf. Die Großmutter weiß, was dir nützt. Komm heim.

Schon drei sind krank, sagte Mathis und zog Hanna zu sich heran, damit er in ihr Ohr sprechen konnte. Sie fiebern, der Prior liegt im Sterben, er hat die Beulen unter den Achseln, von denen die [22] Leute erzählen. Er schob Hanna von sich weg. Du sollst mir

Josephine, die ihren Sohn neben den Gräbern ihrer vier Schwiegertöchter beerdigte

nicht zu nahe kommen, hörst du, vielleicht bin ich schon vergiftet.

Komm mit mir, bat Hanna, die Großmutter will, dass wir uns im Wald verstecken.

Lautlos war Bruder Peter aus der Sakristei zu ihnen getreten, von hinten legte er die Hand auf Hannas Schulter. Sie fuhr herum, versuchte zu lächeln, als sie den Mönch erkannte. Er erwiderte das Lächeln nicht. Geh heim, wir brauchen Mathis hier. Gott allein kann uns schützen. Sein Gesicht war eingefallen; in den Augen spiegelte sich der Kerzenschein.

Gebt den Kranken Fenchelsamen, sagte Hanna, und dürre Pflaumen, aber ohne Steine. Das habe ich von der Großmutter gelernt.

Es gibt kein Mittel gegen diese Krankheit, sagte Bruder Peter. Gott hat sie geschickt, um uns zu züchtigen.

Will Gott denn, dass wir nichts dagegen tun?, fragte Hanna.

Ich tue, was ich kann und wozu mir in einem [23] Brief ein heilkundiger Bruder aus Peterlingen rät, wo das Übel schon seit Wochen wütet. Ich habe eine Arznei gemischt aus Aloe, Myrrhe und Safran, ich habe den Bruder Prior zur Ader gelassen und ihn geschröpft, und trotzdem gewinnt die Krankheit von Stunde zu Stunde an Boden. Ein Schauder überlief ihn, Mathis musste ihn stützen.

Die Abendkälte, sagte Bruder Peter, es ist die Abendkälte.

Die Pforte schloss sich hinter ihnen, kein Wort des Abschieds von Mathis. Vor dem Altar waren die Kerzen fast niedergebrannt, zwei oder drei schon erloschen. Sie vergeuden Kerzen aus Bienenwachs. Und wir? Wir begnügen uns mit Lichtern aus Unschlitt, die schlecht brennen und schlecht riechen. Hanna war allein in der Kirche, eine hallende Stille ringsum, die Kapitelle an den Pfeilern verwandelten sich in Fratzen. Zähle laut die Schritte bis ins Freie, verneige dich dreifach vor dem Heiland, dann geschieht dir nichts.

Die Nacht, die Geister. Lauf durch die Nacht, durch die Kälte, Hanna, deine Füße finden den Weg von selbst, ein Klagen, ein Wimmern in der Luft, Berührungen wie von Spinnfäden auf dem Gesicht, Mäuse oder Ratten huschen vorbei, tot lag eine am Weg, als es noch hell war. Weit oben der Sichelmond, den die Wolken freigeben und wieder [24] verhüllen. In den Häusern haben sie sich eingeschlossen, du allein bist noch unterwegs, wärst du endlich zu Hause.

Sams Grab liegt zwanzig Meter vom Haus entfernt, und hinter ihm wölben sich vier weitere Erdhügel, unter denen Sams Frau und seine drei Schwägerinnen liegen

Die Nachbarn mieden einander, man schloss sich ein, die Arbeit blieb liegen, nicht einmal der Klostervogt ließ sich blicken. Aber es war vergeblich, die Krankheit flog von Haus zu Haus, das Sterben begann. Auch Schafe fielen um im Pferch, Kühe legten sich mit aufgedunsenem Bauch auf die Seite, die Hunde balgten sich um die Kadaver, Aasgeruch hing über dem Dorf, die Wacholderfeuer, die überall brannten, vertrieben ihn nicht.

Wie die Gerüchte sich dennoch verbreiteten, wusste niemand genau; hastige Begegnungen in der Dämmerung, ein Deuten hierhin oder dorthin, einzelne Namen und Wörter genügten, um eine Nachricht weiterzugeben und die Angst zu schüren. Auf das Kloster war nicht mehr Verlass, keiner, der den Sterbenden die letzte Ölung brachte. Der Gesang hinter der Mauer war verstummt, nur die Glocke läutete manchmal noch. Irgendwer hatte nachts [25] neben dem Kirchhof eine Grube ausgehoben, dort hinein wurden die Toten gelegt, mit ungelöschtem Kalk bedeckt; die Angehörigen brachten sie hin, ohne Geleit. Mehr als ein Dutzend Leichen in wenigen Tagen, darunter der Prior und zwei weitere Mönche.

Tagsüber war der Himmel von tiefem Blau, der Löwenzahn blühte, in den Gärten sprossen Mangold und Rettich.

Und das Kreuz, das der Reporter fotografiert

Zu früh wächst das, viel zu früh, sagte Hedwig, die unter der Tür zum Wald hinüberblickte, zum jungen Grün der Buchen. Die Welt gerät aus den Fugen. Dennoch setzte sie sich auf den Holzstapel neben der Tür und wandte ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne zu. Die Wärme durchdrang sie, auch die Lehmwand im Rücken war warm. Halb träumend, halb wachend kehrte sie in ihre Kindheit zurück: wie sie sich das erste Mal vollaß mit Erdbeeren, wie der Habicht die Küken angriff und sie schreiend ins Haus rannte, zur Mutter, die wortlos den Schürhaken packte, wie der Herr von Rümligen mit seinem Gefolge übers Feld ritt, und sie zu sich aufs Pferd hob, auf die samtene Decke. Erst als der Schatten vom Dachvorsprung auf ihr [26] Gesicht fiel, schreckte sie auf und ging, zum ersten Mal seit Tagen, zu den grasenden Schafen und trieb sie in den Pferch zurück.

Neben Sam liegt seine Frau begraben, sie starb drei Wochen vor ihm; ihr Lachen hätte uns vielleicht gefallen