cover

Friedrich Dönhoff

Savoy Blues

Ein Fall für
Sebastian Fink

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2008
im Diogenes Verlag

Umschlagfoto:
Copyright © H. & D. Zielske/Bilderberg

 

 

Das erzählte Geschehen ist frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit real existierenden Personen,

lebenden wie toten, ist rein zufällig.

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23747 4 (5. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60083 4

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Als er zum Himmel blickte, traf ihn ein Tropfen mitten ins Auge. Über der Stadt hing das Sommergewitter, und wenn er nicht pitschnass ankommen wollte, würde er sich beeilen müssen. Er klemmte die schwarze Tasche mit den Utensilien fest unter den Arm und lief los. Zwei, drei Straßen musste er bis zu seinem Ziel durchqueren, und er schien Glück zu haben, denn unterwegs begegnete er keinem einzigen Menschen. Es donnerte einmal gewaltig, der Wind schüttelte die Bäume in der Lindenallee. Gerade war er unter dem Vordach von Haus Nummer 78 angekommen, als hinter ihm der Regen in die Baumkronen rauschte. Er wartete eine Weile, bis er wieder zu Atem gekommen war, zupfte seine weiße Pflegerjacke zurecht und schaute auf die Klingelschilder. Karl Perkenson wohnte im zweiten Stock, das hatte er in Erfahrung gebracht, der Knopf befand sich im unteren Viertel der Leiste. Nachdem er sich kurz umgesehen hatte, klingelte er. Er bemerkte das Zittern in seinen Fingern, und das lag sicherlich nicht an irgendeiner äußeren Kälte. Im Gegenteil, vom Laufen war ihm warm, und die kalten Regenspritzer, die in sein Gesicht geweht waren, hatte er als wohltuend empfunden. Aber so nervös wie heute war er lange nicht mehr gewesen, vermutlich kam es ihm auch deshalb so vor, als wartete er schon ewig auf Einlass. [6] Perkenson war offensichtlich nicht mehr so gut auf den Beinen. Als der Summer dann endlich ertönte, schob er die Haustür mit Schwung auf. Aus dem Treppenhaus schlug ihm ein modriger Geruch entgegen. Dunkel war es hier. Und schmal. Das ist ein Treppenhaus, in dem man sich sofort unwohl fühlt, dachte er und wunderte sich zugleich, dass er solchen Gedanken Platz einräumte, wo seine ganze Konzentration doch der bevorstehenden Aufgabe gelten sollte. In den letzten Tagen war er sich vorgekommen wie ein Skispringer hoch oben auf der Startrampe. Hatte der sich einmal in Bewegung gesetzt, konnte er nicht wieder zurück. Es gab nur noch den Weg nach vorn, den Blick in die Weite und das Risiko, ob man unten lebend ankäme. Lange hatte er überlegt, ob er seinen feingesponnenen Plan wirklich durchziehen sollte, ob er das könnte, hatte sich nächtelang gewälzt, hatte gezögert, überlegt und wieder gezögert. Bis zu dem Moment, irgendwann tief in einer Nacht, in dem er sich zum Handeln entschieden hatte und sich schwor, nicht mehr umzukehren. Der Skispringer hatte sich abgestoßen, das Tempo erhöhte sich, er raste auf der Rampe bergab und musste alle Kraft und Konzentration aufbringen, um sich auf den Beinen zu halten. Und dann war er in der Luft, über ihm nur der Himmel, unter ihm nichts.

Als er die Stufen im schmalen Treppenhaus erklomm, spürte er seine weichen Knie. Kurz bevor er den zweiten Stock erreicht hatte, sah er dort oben in der Türöffnung einen Fuß in einem braunen, grobgestrickten Strumpf.

»Sozialstation«, sagte er zu Karl Perkenson.

Der Mann, der ihm gegenüberstand, war größer, als er ihn sich vorgestellt hatte, vielleicht eins fünfundachtzig, also ein [7] wenig größer noch als er selbst. Die ungekämmten grauen Haare waren ein merkwürdiger Kontrast zum gebügelten Hemd. Seine Augen wirkten müde.

»So früh?«, fragte Perkenson. Die Stimme klang blechern, aber nicht schwach.

»Ich bin die Aushilfe, wir mussten umdisponieren.«

Der alte Mann zuckte leicht die Schultern, murmelte was von »ist mir egal« und ließ ihn in die Wohnung. Er schien keinen Verdacht zu schöpfen.

Das Erste, was ihm beim Eintreten in Perkensons Wohnung auffiel, war die Dunkelheit. Im Treppenhaus dunkel, hier dunkel – er hasste Dunkelheit. Hatte Perkenson die Vorhänge zugezogen, oder war es draußen inzwischen so grau, dass man drinnen das Licht anschalten musste? Donnergroll erklang dumpf und unüberhörbar. Perkenson ging darauf nicht ein. Konnte gut sein, dass er schlecht hörte, schließlich war er über achtzig Jahre alt. »Komm, wir gehen in die Küche«, meinte der Alte und bewegte sich mit schweren Schritten, unter denen die Holzdielen knarrten, durch den engen Flur. Während er Karl Perkenson folgte, bemerkte er den Geruch von ungelüfteten Klamotten, der schwer in der Luft hing. In der kleinen, sauber aufgeräumten Küche ließ Perkenson sich seufzend am Holztisch nieder. Fahles Licht fiel durch das Fenster, das im Gewitterwind vibrierte. Draußen prasselten Regentropfen auf das Fensterbrett.

»Meine Tochter ist eben erst gegangen«, meinte Perkenson. »Ihr Mann hat sie abgeholt.« Und in seltsam vertraulichem Ton: »Ich mag den Mann nicht. Hab den nie gemocht.«

»Besuch kann anstrengend sein«, antwortete er. Ihm war [8] nichts anderes eingefallen, er wollte nur das Gespräch in Gang halten, Stille hätte ihn noch nervöser werden lassen. Vorsichtig zog er die präparierten Utensilien aus der Tasche. »Die Spritze wird Ihnen gut tun«, sagte er. Für einen Moment hatte er überlegt, sie in die Luft zu halten, dem alten Mann zu zeigen, Arglosigkeit zu demonstrieren, aber irgendetwas hatte ihn zurückgehalten.

»Welche Spritze meinst du?«, fragte Perkenson plötzlich.

Er stutzte. »Na, die Vitamine…«

»Die was?«

Von einem Moment zum anderen schien sein Mund ausgetrocknet, und er hatte Mühe, das Wort herauszubringen: »VI-TA-MI-NE

Die Unsicherheit in seiner Stimme war nicht zu überhören gewesen. Hatte er sich womöglich geirrt? In der Akte Perkenson hatte er gelesen, dass einmal am Tag ein Pfleger beim pensionierten Postboten vorbeischauen müsse und eine Vitaminspritze zu geben sei. Perkenson sah ihn wieder stumm an, und er empfand ein leichtes Schwindelgefühl. Auf einmal hellten sich Perkensons Gesichtszüge auf, seine Augen bekamen einen freundlichen Ausdruck: »Ist in Ordnung. Ich bin kein Freund von Spritzen, hatte gehofft, du wüsstest vielleicht nicht Bescheid, dass ich Vitamine bekomme. Muss es heute denn sein?«

Er nickte. Spritzen zu setzen mochte er zwar überhaupt nicht, er hatte geradezu eine Aversion dagegen und hatte die auch nach jahrelanger Erfahrung nie ablegen können, aber heute Nachmittag musste es sein. Widerwillig und umständlich krempelte der alte Mann seinen Ärmel hoch und streckte den nackten Arm aus.

[9] Als er die Nadel ansetzte, wurde ihm für einen Moment wieder schwindelig. Dann presste er sie unter die Haut. Er musste einmal heftig schlucken, um die aufkommende Übelkeit zu verdrängen.

Noch während er den Kolben drückte, nahm er plötzlich wahr, dass Perkenson ihn musterte. »Das dauert sonst aber nicht so lange…«, meinte der.

Er antwortete darauf nicht, schaute konzentriert auf die Flüssigkeit, die langsam, aber unaufhörlich aus der Spritze verschwand. Als der Zylinder endlich leer war, zog er die Nadel erleichtert aus dem Arm, platzierte die Utensilien sorgfältig in die Tasche und setzte sich Perkenson gegenüber. Dessen Gesichtszüge hatten sich entspannt, er lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

Eine Weile saßen sie einfach nur stumm da.

Er beobachtete Perkenson genau, und ihm kam das Bild eines Jägers in den Sinn, der auf einen Löwen im hohen, trockenen Gras geschossen hat. Bevor er sein Opfer nicht von nahem begutachtet hat, kann der Jäger jedoch nicht mit Sicherheit wissen, ob das Tier tot ist. Er muss nachsehen und begibt sich dabei in Lebensgefahr.

Mit unbewegter Miene sah Perkenson aus dem Fenster in den aufgewühlten Himmel. Sein Blick folgte einem Vogel, der mühsam gegen den Wind anruderte. »Eine Möwe«, murmelte er. Dann wanderte sein Blick wieder zurück in die Küche, verharrte einen Moment auf dem vergilbten Kühlschrank, glitt über die leergeräumte Anrichte, auf der getrocknete Spuren eines Lappens sichtbar waren, und richtete sich schließlich auf ihn.

Wieder kam ihm der Jäger in den Sinn, der nach dem [10] Schuss in der feierlichen Stille mit vorsichtigen Schritten durch das hohe Gras schleicht, auf der Suche nach dem Löwen. Die Stille kann trügerisch sein und der Jäger im nächsten Moment von dem verletzten, aber noch mächtigen Tier angefallen und zerrissen werden.

Die Stille in der Küche wurde gerade drückend und unangenehm, als Perkensons knöchrige Finger auf den Tisch zu klopfen begannen. Es dauerte eine Weile, bis ein Rhythmus erkennbar wurde.

»Na, was ist das?«, fragte der alte Mann.

Er antwortete mit einem schwachen Schulterzucken. Der Rhythmus kam ihm irgendwie bekannt vor, mehr nicht.

»Das ist Swing«, sagte Perkenson und lächelte. Dann begann er mit brüchiger Stimme und etwas schief eine Melodie zu summen, die sich durch die Stille schlängelte.

Während er zuhörte, spürte er Schweiß auf der Stirn. Er fühlte sich zunehmend unwohl, die Situation drohte außer Kontrolle zu geraten. Er musste bald aus der Wohnung verschwinden, er durfte hier nicht gesehen werden, aber solange Perkenson noch so gut drauf war, war das nicht möglich. Er ging in Gedanken die letzten Minuten durch; war ihm irgendein Fehler unterlaufen?

Perkensons Darbietung endete mit einer Textzeile, die er mit einer tiefen und überraschend festen Stimme auf Englisch vortrug: »…it don’t mean a thing, if it ain’t got that swing!«

Er sah den alten Mann irritiert an, dessen Finger weiterhin auf den Tisch klopften. Aber etwas hatte sich verändert. Der Rhythmus war durcheinandergeraten. Die Finger klopften unkoordiniert herum, sie wurden langsamer. [11] Schließlich zuckten sie nur noch schwach. Die Hand lag matt auf dem Tisch. Als Perkenson langsam in seinen Stuhl zurücksackte, rutschte seine Hand schwer über das Holz.

»Sie werden jetzt sterben«, sagte er zu Karl Perkenson. Die Leichtigkeit, mit der ihm diese Worte über die Lippen gekommen waren, überraschte ihn selbst.

»Was?…« Perkenson sah ihn verständnislos an.

Dann weiteten sich auf einmal seine Augen. Er schien begriffen zu haben, dass es ernst war. Hatte der Alte diesen Besucher vielleicht doch erwartet?

»Sie haben eine Überdosis Insulin im Blut«, erklärte er mit einer Beiläufigkeit, als hätte das keinerlei Folgen. Perkensons Lippen bewegten sich, aber die Wörter kamen ohne Ton heraus, die Wirkung des Insulins hatte offenbar eingesetzt. Perkenson schloss die Augen, presste sie geradewegs zu, und als er sie wieder öffnete, schien es, als habe er alles begriffen. »Wer sind Sie?«, fragte er. Jedes Wort hatte ihm sichtbar Mühe bereitet, und er konnte sie nur noch krächzend hervorbringen.

»Wissen Sie das nicht?«

Sicher hätte Perkenson nicht so schnell eingelenkt, wenn ihm nicht bewusst gewesen wäre, dass seine Zeit ablief. »Ich habe geahnt, dass du kommen würdest. Die beiden haben mich verraten«, krächzte er. »Nicht wahr?!« Er stützte sich auf dem Tisch ab, versuchte aufzustehen, kam aber nicht auf die Beine. Seine Augen rollten, Tränen liefen über das Gesicht und verloren sich in tiefen Falten. Perkenson versuchte noch etwas zu sagen, doch die Worte gingen in einem Gurgeln unter. Dann fiel er krachend vom Stuhl und blieb reglos auf dem schwarzen Linoleumboden liegen.

[12] Noch atmete er. Ein paar Minuten könnte es dauern, bis der Tod eintreten würde. Vorher wollte er die Wohnung nicht verlassen. Es war kurios, jetzt, da der erste Teil seines Plans glatt aufzugehen schien, fühlte er plötzlich, wie sich die Angst in seinen Körper schlich wie eine giftige Schlange, unsichtbar, still und schnell. Und da war auch schon der Husten wieder. Dieser nervöse Husten, der immer dann einsetzte, wenn er sich stark aufregte. Seine Hand glitt in die Hosentasche und zog eine kleine Packung Hustenbonbons hervor. Er lutschte gleich zwei Stück, und die beruhigende Wirkung trat schnell ein.

Minuten später atmete Perkenson immer noch, schwach, aber gleichmäßig. Es kam ihm vor, als säße er schon Stunden neben dem Sterbenden. Hätte er ein paar Einheiten mehr spritzen sollen? Beim nächsten Mal würde er die Dosis erhöhen.

Plötzlich fuhr er erschrocken zusammen; aus dem Treppenhaus waren Geräusche zu hören. Stufen knarrten. Irgendjemand kam herauf. Schnell schlich er zur Wohnungstür und horchte. Schritte näherten sich. Es raschelte. Etwas Hartes stieß gegen den Türrahmen, und er zuckte innerlich zusammen, als hätte ihn ein Peitschenhieb getroffen. Auf der anderen Seite der Wohnungstür verharrte eine Person. Er konnte ihren Atem hören. War das Perkensons Tochter? War sie noch mal zurückgekehrt? Er bewegte sich vorsichtig zur Seite, so dass er hinter der Tür stehen würde, wenn sie aufging. In seinen Ohren rauschte das Blut, während er auf das Geräusch des Schlüssels im Schloss wartete. Warum hatte er kein Messer aus der Küche mitgenommen? Sollte er schnell rüberlaufen? Nein, es war zu spät. Besser hinter der [13] Tür warten, die Tochter würde er auch so überwältigen können. Wenn es wirklich die Frau war… Wieder Schritte. Es klang, als stiegen sie die Treppe in das obere Stockwerk hinauf. Er lehnte sich erschöpft an die Wand und wartete. Als er sich etwas beruhigt hatte, schlich er zurück in die Küche. Der Körper des alten Mannes war wie erstarrt. Perkenson atmete nicht mehr. Jetzt erst fiel ihm auf, dass er zuvor noch nie einen Toten gesehen hatte, und er bemerkte das starke Pochen seines eigenen Herzens. Dann ertönten wieder Schritte aus dem Treppenhaus – diesmal gingen sie hinunter. Kurz darauf war es still. Mit dem weißen Stoff seiner Jacke wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Wenig später verließ er leise die Wohnung.

Der Regen hatte aufgehört, die Luft war feucht, der Asphalt glänzte noch nass. Mit schnellen Schritten ging er die Straße hoch. Als er ihr Ende erreicht hatte, fuhr ein kaltes Gefühl in ihn, und er zog die Schultern abrupt hoch: Jemand schien ihn zu beobachten. Er spürte es deutlich. Ob das doch nur von der Aufregung herrührte und der Angst oder ob seine Intuition richtig war, hätte er später nicht mehr sagen können.

[14] 2

Als er auf dem für ihn reservierten Platz geparkt hatte, warf Sebastian Fink einen Blick auf seine Armbanduhr. 8 Uhr 35. Noch fünfundzwanzig Minuten bis zum Termin bei der Polizeipräsidentin. Er war von zu Hause überpünktlich losgefahren, hatte diverse Staus mit eingeplant, die aber nicht vorhanden gewesen waren, und nun war er viel zu früh. Er betrachtete sich im Autospiegel. Er war sorgfältig rasiert, seine blonden Haare erst vor ein paar Tagen frisch geschnitten. Die hellbraunen Augen wirkten wach, Augenringe waren kaum zu sehen. Er konnte zufrieden sein. Vorsichtig entstieg er seinem Fiat Uno. Das blauweißgestreifte Hemd und die graue Stoffhose sollten möglichst den ganzen Tag so frisch gebügelt aussehen wie jetzt. Er zog das dunkle Jackett und die Krawatte zurecht, musterte die blankpolierten Schuhe. Für einen Polizeibeamten im Dienst alles etwas fein und unpraktisch. Aber als Zeichen des Respekts vor dem neuen Amt würde es von den Kollegen wohl richtig verstanden werden. Ab morgen würde er in seinem persönlichen Stil erscheinen: sportlich und unauffällig.

Um die Zeit bis zum Begrüßungstermin zu überbrücken, spazierte er über das Gelände des Präsidiums, vorbei an sauber gemähten Rasenflächen und dezenten Blumenbeeten, [15] und sah sich das sternförmige Gebäude an. Fünf Stockwerke, viel Stahl und Glas. Er fragte sich, hinter welchem der vielen Hundert verspiegelten Fenster sich sein Büro wohl befände. Die Nummer an seiner Tür kannte er schon: 410.

Am Rande des Geländes stand eine Holzbank unter zwei hohen Pappeln. Er setzte sich. Über ihm fuhr ein sanfter Wind in die Bäume. Sebastian gestand sich ein, dass er ziemlich nervös war. Er fragte sich, welches wohl sein erster Fall werden würde. Er sog die warme Sommerluft tief ein. Na, jedenfalls war es ein schöner Tag für einen Neubeginn. Als er noch einmal auf die Uhr sah, war es kurz vor neun – sein erster Arbeitstag hatte begonnen.

Dr. Eva Weiß: Ende fünfzig, hat schmale, rot bemalte Lippen, kleine Augen, hohe Stirn, ein puppenhaftes Gesicht. Sie wirkt etwas heruntergehungert. Ein Mensch mit höchster Disziplin. So war Sebastian die Chefin beschrieben worden. Als er in das geräumige Büro der Polizeipräsidentin eintrat, saß sie gebeugt über dem Schreibtisch aus Glas und notierte etwas. Auffallend war der feingezogene Scheitel, der das silberblonde Haar in der Mitte perfekt teilte. Mit einem spitzen Zeigefinger hielt sie die Ecke einer Mappe fest.

»Sie dürfen gerne etwas näher treten«, sagte sie. Ihre Stimme hatte einen resoluten Ton.

Als er vor ihrem Schreibtisch stand, sah Eva Weiß abwechselnd vom Foto in der Mappe zu ihm und wieder zurück. »Von wann ist das Bild?«, fragte sie, ohne erst zu grüßen.

Es erstaunte Sebastian, dass die Frau bemerkt hatte, dass [16] das Bild schon von 2005 und nicht ganz aktuell war. »Zwei Jahre alt. Ich dachte, das würde reichen; seitdem habe ich mich wohl nicht verändert«, antwortete er.

Ihre kleinen Augen musterten ihn mit intensivem Blick. »Ich glaube schon, dass Sie sich verändert haben. Auf dem Foto wirken Sie ein wenig verbissen. Den Mann auf dem Bild würde ich so beschreiben: Ihn treibt irgendetwas, er will etwas erreichen, unbedingt. Diese Eigenschaft hat ihm vermutlich auch die steile Karriere verschafft. Mit Ihren vierunddreißig Jahren sind Sie unser jüngster Hauptkommissar…« Sie nickte anerkennend.

Sebastian zeigte keine Regung. In seiner Brust spürte er zugleich Stolz und Versagensangst, und beides wollte er seiner neuen Chefin gegenüber keinesfalls offenbaren.

Frau Weiß schaute noch einmal auf das Foto: »Aber sagen Sie… warum eigentlich der traurige Blick?«

Sebastian hob kurz die Schultern: »Trauriger Blick? Das weiß ich nicht«, log er. In Wahrheit war er in seinem Leben schon manches Mal darauf angesprochen worden, und er ahnte auch warum.

Die Polizeipräsidentin sah ihn abwartend an.

»Nun gut«, meinte sie dann. »Jedenfalls wirken Sie in natura etwas entspannter, was ja gut ist.«

»Ich hatte mir vorgenommen, diesen Job nicht ganz so verbissen anzugehen wie meine letzten…«

»Am ersten Tag, im ersten Gespräch mit der Vorgesetzten ist das ein ungewöhnlicher Kommentar, Herr Fink, finden Sie nicht?«

»Ich habe festgestellt, dass es für die Arbeit bei der Polizei langfristig besser ist. So war das gemeint…«

[17] »Das habe ich mir schon gedacht. In Ihrem Fall könnte das die richtige Einstellung sein. Eine schnelle Karriere ist schön. Aber sie sollte nicht die Gesundheit belasten. Nun, es wird sich in Ihrem Fall zeigen.«

Die Polizeipräsidentin stand auf, strich sich einmal über das Jackett ihres Hosenanzugs und kam um den Schreibtisch herum. Trotz ihrer hochhackigen Schuhe wirkte sie im Stehen deutlich kleiner, als Sebastian sie sitzend eingeschätzt hatte. Eine Sitzriesin.

»Es freut mich, dass Sie für uns arbeiten, Herr Fink. Ich begrüße Sie hiermit offiziell bei der Hamburger Polizei.« Frau Weiß zeigte ein mädchenhaftes Lächeln, mit dem sie tatsächlich was von einer Puppe hatte. Als Sebastian in ihre Hand einschlug, schaukelte eine silberne Kette an ihrem dünnen Handgelenk.

»Ich freue mich sehr auf die Arbeit«, sagte Sebastian. Er meinte es aufrichtig.

»Und ich wünsche Ihnen Erfolg«, antwortete Eva Weiß. »Den werden Sie brauchen.« Mit dem letzten Satz war das mädchenhafte Lächeln wieder verschwunden, und Frau Weiß hatte eine undurchschaubare Miene aufgesetzt. »Dann schauen Sie sich jetzt mal Ihr Büro an, wir sehen uns später in der Besprechung.« Die Polizeipräsidentin nickte noch einmal und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch.

Kurz darauf stand Sebastian Fink allein im eher kargen und länglich geschnittenen Raum 410. Obwohl durch das Fenster genug Tageslicht hereinfiel, war das Neonlicht eingeschaltet. Entlang der Wand befanden sich leere Regale, auf dem Fensterbrett eine hellgrüne Zimmerpflanze, die aus [18] Plastik zu sein schien. Sebastian berührte ihre Blätter und stellte überrascht fest, dass die Pflanze doch echt war. In der Mitte des Raumes stand ein alter Schreibtisch aus hellem Buchenfurnier, davor ein abgewetzter Bürostuhl. Sebastian lockerte seine Krawatte, hängte das Jackett über die Stuhllehne und setzte sich. Eine Weile lang saß er reglos da. Die Stille, die in dem Raum herrschte, war auffällig. Nichts davon zu merken, dass im selben Gebäude Hunderte Menschen arbeiteten. Nur das leise Rauschen der hohen Pappeln vor dem Gebäude drang mit kühler Luft durch das gekippte Fenster.

Dies ist also das Büro, in dem ich die nächste Zeit, vielleicht Jahre arbeiten werde, dachte Sebastian. Ein verantwortlicher Posten bei der Polizei – das war sein Ziel gewesen. Sebastians Gedanken hangelten sich an den vergangenen Monaten und Jahren zurück, an dem Weg, der ihn hierhergeführt hatte. Und plötzlich zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen. Unweigerlich waren sie wieder da, die Erinnerungen an einen Tag im August vor inzwischen siebenundzwanzig Jahren. Seine Eltern, seine Schwester und er lebten in Tellenhorst, einem kleinen Dorf nahe Lübeck. Ein Leben auf dem Lande. Die wogenden Weizenfelder und saftig grünen Sommerwiesen, der Tellenhorster Wald, durch den er oft streifte und wo er sich Verstecke baute, waren ihm vertraut wie sein Kinderzimmer. Unbeschwerte Jahre waren es gewesen. Bis zu jenem sommerlichen Spätnachmittag 1980. Sebastian war damals sieben Jahre alt, als er sich im Wald versteckte, stundenlang, und damit eine Katastrophe auslöste, die das Leben seiner Eltern und seins verdüsterte und deren Folgen sein Leben bis heute bestimmten. Das war [19] wohl die Zeit, in der sich sein überbordender Ehrgeiz zu entwickeln begann. Alles perfekt machen. Nur nicht den Eltern zur Last fallen. Im Gegenteil, sie erfreuen. Durch gute Noten in der Schule, durch gutes Benehmen zu Hause. Auch der Gemeinschaft einen Dienst erweisen. Sich um andere Menschen kümmern. Für Gerechtigkeit eintreten. Für die Opfer einsetzen. Täter einer gerechten Strafe zuführen. Sebastian hatte die Polizeiausbildung schnell und mit Auszeichnung absolviert. Im Dienst hatte er gut gearbeitet. Aber er war bislang nicht verantwortlich gewesen, musste Anweisungen nur geflissentlich ausführen. Und nun? Nun würde sich zeigen, ob er wirklich etwas Größeres zu leisten imstande war. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare – seit früher Kindheit hatte er die Angewohnheit, dies bei Nervosität zu tun, und konnte es immer noch nicht lassen.

Sebastian stutzte. Er glaubte, jemand sei im Nachbarbüro aus Versehen mit dem Stuhl an die Wand gerollt. Das zweite Klopfen aber kam dann doch deutlich von der Tür. Er öffnete und stand einem älteren, aber kräftigen Mann mit wachen Augen gegenüber. »Sie sind der Neue?«, fragte der mit einer rauchigen Stimme.

Sebastian nickte: »Fink. Guten Tag.«

»Lenz. Darf ich reinkommen?«

»Herr Lenz! Natürlich. Kommen Sie.«

Sebastian schüttelte dem Mann die Hand. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ich hatte gar nicht erwartet, Sie hier zu treffen…« Den letzten Satz hatte Sebastian schon bereut, als er ihn begonnen hatte.

»Man hat Sie offenbar falsch informiert«, erwiderte Lenz mit einem Augenzwinkern. »Das kommt in diesem Haus [20] leider vor, obgleich es hier nun gerade nicht passieren sollte. Man würde es jedenfalls nicht erwarten, was?«

»Nein«, stimmte Sebastian zu.

Lenz stemmte seine kräftigen Arme auf das Fensterbrett und sah hinaus. »Ich habe noch fünf Tage bis zur Pension. Aber keinen Fall mehr zu bearbeiten. Darum hatte ich gebeten, um mich hier langsam verabschieden zu können, vierzig Jahre Dienst sind eine lange Zeit.«

Lenz sah schweigend aus dem Fenster. Vielleicht rauschten ihm in diesem Moment Szenen seiner langen beruflichen Karriere vor dem inneren Auge vorbei.

»Tja, tja…«, machte er mit einem leisen Seufzen. Dann drehte er sich um und sah Sebastian musternd an. »Ich freue mich, meinen Nachfolger kennenlernen zu dürfen. Ich habe damit kein Problem. Das ist der Lauf der Dinge: Alles hat seinen Anfang und sein Ende, beides ist gleich gut oder schlecht, je nachdem, wie man es sieht.«

Mit dem letzten Wort begann im Raum plötzlich das Licht zu flimmern. Die beiden Männer sahen hinauf zur Decke, wo das Neonlicht flackerte.

»Das hört gleich von allein wieder auf«, meinte Lenz. »Das passiert manchmal, man gewöhnt sich dran. Aber ich wollte Ihnen noch etwas sagen, Herr Fink.« Lenz’ Stimme war unvermittelt in einen ernsten Ton umgeschlagen, und Sebastian irritierte das Flimmern auf dessen von vielen Falten durchzogenem Gesicht. »Sie werden heute Ihren ersten Fall bekommen. Man hatte zunächst mich gebeten, ihn zu übernehmen, weil in der Dienststelle die Einschätzung herrscht, es handele sich um eine einfache Sache, die ich in den verbleibenden Tagen lösen könnte.« Die Milde in Lenz’ [21] Augen war einer scharfen Präsenz gewichen. »Es geht um einen alten Mann, der in seiner Wohnung in der Lindenallee tot aufgefunden wurde. Seine Tochter glaubt an einen Unfall – der Krankenpfleger, der täglich vorbeischaut, habe aus Versehen Insulin gespritzt. Die Leiche wird gerade obduziert. Der Gerichtsmediziner Professor Szepek wird sich nachher bei Ihnen melden. Ich habe es abgelehnt, diesen Fall anzunehmen, und will Ihnen ehrlich sagen, warum.« Lenz sah Sebastian eindringlich an. »In den vielen Jahren in diesem Job entwickelt man ein Gespür für die großen Geschichten. Ich will Sie nicht unnötig beunruhigen, aber ich habe das Gefühl, dass hier eine komplizierte Sache auf Sie zurollen könnte. Wenn das stimmt, würden meine letzten fünf Arbeitstage wahrscheinlich nicht reichen, um den Fall zu lösen. Aber ich biete Ihnen an, dass Sie mich jederzeit aufsuchen können, ich stehe Ihnen mit meinem Rat gerne zur Verfügung.«

Nachdem er Sebastian die Hand gereicht und seinen Abschied mit einem Nicken bekräftigt hatte, verließ der Mann das Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen. Sebastian starrte eine Weile auf die geschlossene Tür. Er hoffte, dass der Kollege sich irrte. Er hatte nichts gegen einen komplizierten Fall. Im Gegenteil. Aber es musste nicht gleich der erste sein.

Kurz vor elf Uhr tönten aus der grauen Telefonanlage zum ersten Mal Klingellaute. Es war Professor Szepek von der Gerichtsmedizin. Mit schneidiger Stimme beglückwünschte er Sebastian zu der neuen Stelle und kam dann schnell zur Sache. »Ich wollte Sie darüber informieren, dass die zweite [22] Untersuchung das Ergebnis der ersten bestätigt: Im Blut von Karl Perkenson wurden fünfzig Einheiten Insulin festgestellt. Das ist ja wohl eine Überdosis.«

»Ist es?« Sebastian kannte sich mit Insulin nicht aus.

»Aber hallo! Für einen Diabetiker wäre das schon zu viel. Aber Perkenson war ja keiner, für ihn war diese Dosis tödlich.«

»Herr Szepek, ich danke für die Information«, sagte Sebastian. »Von nun an werden wir wohl öfter voneinander hören.«

Nachdem sie sich noch einen guten Tag gewünscht hatten, zog Sebastian seinen Notizblock aus der Tasche. Die Ermittlungen konnten losgehen.

Die wahrscheinlichste Variante eines Tathergangs war natürlich ein Unfall. Der Pfleger hatte das Falsche gespritzt und wollte das kaschieren. Sebastian würde sich den Tatort ansehen, mit dem Pfleger sprechen und auch mit der Tochter des Toten, die den Pfleger verdächtigte. Wenn dem Pfleger ein Versehen unterlaufen sein sollte, würde Sebastian ihn zu einem Geständnis bewegen, damit wäre die Sache schon erledigt. Dagegen sprach nur die Vermutung von Herrn Lenz. Nun gut. Es würde sich schnell herausstellen, ob er mit seinem Gespür für die großen Geschichten richtig lag.

Sebastian atmete einmal tief durch. Er zog seine Krawatte aus, öffnete den obersten Knopf seines Hemdes und krempelte die Ärmel hoch. Dann ließ er sich von der Zentrale mit Brigitte Mehldorn, der Tochter des Toten, verbinden. Sie wollte sich gerade auf den Weg in die Lindenallee machen, und die beiden verabredeten sich dort. So könnte sich Sebastian gleich einen ersten Eindruck verschaffen, und [23] vielleicht würden bis dahin auch schon erste Erkenntnisse der Spurensicherung vorliegen.

Er wollte gerade zur Tür hinaus, als sie von außen aufgerissen wurde: »Überfall!«, rief ein Mann in schwarzer Lederkluft und einem Motorradhelm auf dem Kopf.

Für einen Moment stand Sebastian unter Schock. Dann zog der Mann seinen Helm aus.

»Du Schwein«, sagte Sebastian – erst jetzt hatte er seinen Kollegen Jens Santer von der Polizeischule in Bremen wiedererkannt.

»Ist ja raspelkurz wie früher«, sagte Sebastian und fuhr Jens mit der Hand über die Haare. »Und, wie geht’s dir hier so?«

»Ist ganz okay in diesem Laden, bin seit drei Monaten hier, und mir geht’s gut. Aber…« Jens musterte Sebastian demonstrativ von unten nach oben: »Oho! Sehr fein hat sich der Herr gemacht«, meinte er. »Von Bremen kenne ich dich eigentlich nur in Jeans und Polohemd.«

»Ab morgen bin ich wieder der Alte.«

Sebastian hatte zuvor schon erfahren, dass es sich bei einem seiner Teammitarbeiter um Jens handelte, mit dem er sich vor einigen Jahren während der Ausbildung angefreundet hatte. Er war froh darüber, wenigstens einen Menschen an seinem neuen Arbeitsplatz zu kennen.

»Halt! Deine Jacke kannst du anbehalten, wir müssen gleich los«, sagte Sebastian.

Jens machte ein überraschtes Gesicht.

»Ich hätte dich ohnehin gleich angerufen; wir müssen zu einem Tatort in der Lindenallee. Ich erzähl dir unterwegs, worum es geht«, sagte Sebastian und nickte Richtung Tür.

[24] Kurz darauf standen sie in Karl Perkensons Wohnung. Türgriffe und einzelne andere Stellen waren mit schwarzem Puder bestäubt. Die Spurensucher waren also schon tätig geworden. In der Küche arbeitete der Leiter der Gruppe, Paul Pinkwart, ein hagerer Mann mit trockener, etwas unrasierter Haut und tiefsitzenden, kleinen Augen. Das noch dichte, aber stark angegraute Haar war mit Pomade säuberlich nach hinten gekämmt. Sein Name erinnerte Sebastian an eine Comicfigur und stand in starkem Kontrast zum Aussehen und zur strengen Stimme des Mannes: »Wir haben noch nichts gefunden, Sie sind ja ziemlich schnell hier erschienen«, sagte der erfahrene Ermittler mürrisch. Sebastian hatte von Jens schon gehört, dass Pinkwart ein launischer Mensch war und sich ungern das Arbeitstempo von anderen vorgeben ließ.

»Ist okay. Ich wollte mir mal die Wohnung ansehen«, antwortete Sebastian. »Haben Sie DNA-Taugliches gefunden?«

»DNA-tauglich ist hier vieles«, meinte Pinkwart. »Fragt sich nur, ob es uns weiterbringt.«

»Wie lange brauchen Sie für die Laboruntersuchungen?«

Pinkwart sah ihn genervt an. »Am Nachmittag ruf ich Sie an. Dann haben wir erste Ergebnisse.«

Unangenehmer Typ, dachte Sebastian. Vielleicht war der so patzig, weil Sebastian als deutlich jüngerer in einer höheren Position war? Oder weil sich im Team unter Lenz eine Hackordnung eingespielt hatte, die einige Beteiligte nicht ohne weiteres aufgeben wollten? Es half nichts, Sebastian würde sich schnell an die Zusammenarbeit mit dem Spezialisten gewöhnen müssen.

Jens und er sahen sich in der Dreizimmerwohnung des [25] pensionierten Postboten um. Es roch nach altem Zigarettenrauch. Und muffig. Es war nicht gut gelüftet worden, vermutlich schon seit Jahren nicht. Im Schlafzimmer war das Bett ordentlich gemacht. Auf dem Nachttisch stand ein Aschenbecher voller Kippen. Im Wohnzimmer, auf dem zerschlissenen Sofa, lag das Fernsehprogramm, die Seiten mit dem Datum von Perkensons Tod waren aufgeschlagen. An der Wand hingen drei Fotos. In einem kleinen Holzrahmen war das Doppelporträt eines Paars zu sehen. »Vermutlich Perkensons Eltern«, sagte Sebastian zu Jens, denn die Aufnahme schien uralt zu sein. Daneben hing das Foto einer Frau mit einem blonden Mädchen. Seine vor einigen Jahren verstorbene Ehefrau und die Tochter? Das dritte Foto zeigte einen lachenden jungen Perkenson in einer Uniform mit einer Gitarre oder einem Bass. Anscheinend hatte er in irgendeinem Orchester gespielt.

»Postorchester?«, fragte Jens.

Sebastian wusste nicht, ob es so was überhaupt gab.

Auf den ersten Blick fiel den beiden an der Wohnung des alten Mannes nichts Besonderes auf. Und trotzdem hatte Sebastian das Gefühl, dass irgendetwas, das er hätte bemerken müssen, nicht ins Bild passte. Wenn er tatsächlich etwas übersehen haben sollte, würde er noch darauf kommen, das wusste er. Manche Dinge brauchten ihre Zeit.

Sebastian stand gerade in der offenen Wohnungstür, als aus dem dunklen und engen Treppenhaus lautes Keuchen zu vernehmen war. Kurz darauf erschien eine etwa fünfzigjährige Frau in einem riesigen braunen Mantel aus dünnem Stoff, mit Hilfe dessen sie offenbar ihren übergewichtigen Körper zu verbergen versuchte.

[26] »Ich möchte in die Wohnung!«, verlangte sie in forschem Ton. Sebastian reichte ihr die Hand: »Sebastian Fink. Sie sind Frau Mehldorn?«

Die Frau nickte erschöpft.

»Solange die Spurensicherung arbeitet, können Sie nicht in die Wohnung. Aber wir können uns in mein Auto setzen, ich habe ein paar Fragen.«

Nachdem sie missmutig den Kopf hin und her gewiegt hatte, drehte Frau Mehldorn sich um und stieg schimpfend wieder die Treppe hinab.

Das ist also der erste Mensch, den ich als Kriminalhauptkommissar vernehmen werde, dachte Sebastian. Die werde ich wahrscheinlich nie vergessen… Sebastian hatte von vielen Kollegen gehört, dass jedes Mal, wenn man eine neue Arbeitsstelle antritt, es die erste zu vernehmende Person sei, die einem für immer im Gedächtnis haftenbliebe.

»Ich bin froh, dass endlich etwas passiert«, begann Brigitte Mehldorn. Sie saß zusammengesunken auf dem Beifahrersitz, ihre Hände tappten nervös auf der weinroten Handtasche auf ihrem Schoß. »Ich kann es nicht fassen, dass mein Vater so plötzlich gestorben ist. Der Pfleger, dieser Idiot – entschuldigen Sie bitte –, der ist für den Tod verantwortlich.« Sie kramte ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Tasche und zündete eine an.

»Könnten Sie bitte das Fenster öffnen?«, forderte Sebastian.

Widerwillig öffnete die Frau das Fenster einen Spalt. Den Rauch aber blies sie ins Auto.

Die werde ich wirklich nie vergessen, dachte Sebastian. Dass sie mir den Rauch nicht gleich direkt ins Gesicht [27] bläst… Frau Mehldorn noch einmal auf das Fenster hinzuweisen kam ihm in dieser für die Frau schwierigen Situation unsinnig vor.

»Wieso sind Sie sich so sicher, dass der Pfleger etwas damit zu tun hat?«, fragte er.

»Weil er ihm das Falsche gespritzt hat. Die sind total überlastet auf der Station, das habe ich schon öfter bemerkt.«

»Woher wissen Sie eigentlich, dass Ihrem Vater das Falsche gespritzt worden ist?«

»Na, das konnte man ja leicht annehmen…«

»Warum?«

»Der Pfleger, Herr Sonowski, hatte mich doch angerufen, nachdem er meinen Vater – wie er sagte – tot auf dem Küchenboden gefunden hatte. Um kurz nach 19 Uhr ist das gewesen. Der Pfleger kommt immer um diese Zeit. Ich bin gleich losgefahren, der Notarzt war noch da, und während wir alle in der Küche standen, fand ich die Gummikappe der Spritze. Der Pfleger hat sofort gesagt, dass es seine ist. Und dann stellte sich heraus, dass es nicht die Kappe einer Vitaminspritze war, wie sie mein Vater oft bekam, sondern die einer Insulinspritze. Da habe ich gleich vermutet, dass der Pfleger meinem Vater das Falsche gespritzt hat. Deshalb hab ich dann die Polizei verständigt.« Brigitte Mehldorn legte eine längere Pause ein, in der sie heftig an der Zigarette zog.

Sebastians Blick fiel auf ihre dicken Finger, in die mehrere Ringe einschnitten.

»Ich habe eben erfahren, dass im Blut Ihres Vaters tatsächlich eine hohe Menge Insulin gefunden wurde«, sagte er.

»Ich sag’s doch. Mein Vater brauchte kein Insulin.« Frau [28] Mehldorn nickte bestätigend, und Sebastian bemerkte, dass sie den roten Lippenstift deutlich über den Rand ihrer Lippen hinaus gezogen hatte. »Ich meine, er hat es natürlich nicht absichtlich getan. Aber er… er hat einfach nicht aufgepasst!«

Frau Mehldorns Theorie war plausibel. Vermutlich war das schon die Lösung. Der Pfleger hatte angegeben, er habe Karl Perkenson tot aufgefunden. Sollte die Gerichtsmedizin die Todeszeit auf ca. 19 Uhr festlegen, wäre die Sache klar.

Aber was, wenn die Gerichtsmedizin überraschend einen früheren Zeitpunkt feststellte und der Pfleger ein Alibi vorweisen könnte? Obwohl beides unwahrscheinlich war, ertappte sich Sebastian dabei, dass sein Kopf schon eine andere Variante durchspielte. Es gab eine hohe Dunkelziffer bei einer an sich schon häufigen Art von Verbrechen: den Verbrechen innerhalb der Familie. Alte Menschen wurden von ihren Angehörigen umgebracht. Entweder erledigten diese das gleich selbst, oder sie beauftragten jemanden. Meistens ging es ums Geld, manchmal geschah es aber auch aus Hilflosigkeit, wenn dem alten Verwandten die nötige Pflege nicht mehr angebracht werden konnte. Aber Perkenson? Er war gut versorgt. Hatte er Geld? Von der Pension eines Postboten und der Einrichtung der Wohnung zu schließen, hatte er nicht viel. Gab es einen anderen Grund, ihn zu beseitigen?

Sebastian wandte sich der Tochter zu: »Frau Mehldorn, Sie haben Ihren Vater besucht, kurz bevor…«

»Ja!«, unterbrach sie. »Ich war von 14 Uhr bis 16 Uhr bei ihm, da ging es ihm gut. Deshalb habe ich auch keine Ruhe gegeben. Sonst würden wir jetzt nicht hier sitzen.« Sie zog [29] noch mal intensiv an der Zigarette und fuhr laut fort: »Der würde einfach weiter frei rumlaufen und noch ein paar andere aus Versehen totspritzen, bis es mal irgendwer merkt. Wer weiß denn, ob es das erste Mal war?«

»Frau Mehldorn, ich habe Verständnis für Ihre Gefühle, aber auch für Herrn Sonowski gilt erst einmal die Unschuldsvermutung, bis man ihm eine Schuld nachweisen kann.«

»Was heißt denn das?« Brigitte Mehldorn schien dieser Gedanke nicht zu gefallen. Sie kurbelte das Fenster ein Stück weiter runter und warf ihre Zigarette hinaus.

»Das heißt, dass wir herausfinden müssen, ob nicht jemand anderes Ihrem Vater das Insulin gespritzt haben könnte.«

Frau Mehldorn sah Sebastian entgeistert an. »Wer sollte das gewesen sein? Und wann? Ich war ja kurz vorher bei ihm, da war alles in Ordnung. Mein Mann hat mich abgeholt, der kann das bezeugen.«

Ihr Ehemann. Es würde leicht herauszufinden sein, ob dem Ehepaar durch den Tod von Karl Perkenson irgendein nennenswerter Vorteil entstünde.

Frau Mehldorn suchte derweil in ihren Erinnerungen: »Nein, alles war wie immer. Ich habe mich von meinem Vater verabschiedet und gesagt: Bis zum nächsten Wochenende, und dann…« Brigitte Mehldorn hielt die Luft an. Sie suchte hektisch in ihrer Handtasche, zog ein Taschentuch hervor und brach in Tränen aus. »Mein Vater und ich waren uns sehr nah…«, schluchzte sie.

Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, fragte Sebastian: »Kann ich Sie irgendwohin fahren?« Ein wenig hatte es ihn [30] verunsichert, diese scheinbar herrische Person plötzlich so aufgelöst zu erleben.

Frau Mehldorn schüttelte den Kopf »Nein, danke. Das ist nicht nötig. Ich bin selbst mit dem Auto hier.«

»Manchmal fällt einem später etwas ein, was zunächst unwichtig erscheint. Sie können mich jederzeit anrufen«, sagte Sebastian und reichte ihr seine Karte. »Ich werde mich meinerseits demnächst bei Ihnen melden. Sie bleiben in der Stadt?«

»Ja, ja. Hab ja dann wohl einiges zu organisieren hier.«

Sie steckte die Karte in ihre Handtasche. »Wann darf ich in die Wohnung?«, fragte sie.

»Ich werde Sie verständigen«, antwortete Sebastian.

Nachdem sie ausgestiegen waren, stand Brigitte Mehldorn eine Weile starr vor dem Haus und sah hinauf zu den Fenstern ihres Vaters, wo ein Kollege der Spurensicherung gerade das Fensterbrett untersuchte. Sebastian empfand Mitgefühl, als er sah, wie verloren die Frau in diesem Moment wirkte.

Während Jens sich noch in der Wohnung und im Haus von Perkenson umsehen wollte, stand für Sebastian die Vernehmung des Pflegers Norbert Sonowski an. Er war schon ins Präsidium bestellt.

Auf dem Rückweg ins Büro wurde Sebastian in seinem Auto geblitzt. Ärgerlich schlug er mit der Hand aufs Lenkrad. In den letzten Monaten, nachdem klargeworden war, dass er als Kriminalkommissar in Hamburg arbeiten würde, hatte er versucht, die Geschwindigkeitsbegrenzungen einzuhalten. Ihm war die Vorstellung unangenehm gewesen, [31] dass die Kollegen von der Verkehrspolizei ihn schon von den Fotos kennen würden, wenn er seinen Dienst antrat. Es war ihm tatsächlich gelungen, in den Monaten vor Arbeitsbeginn kein einziges Mal geblitzt zu werden. Dass ausgerechnet sein erster Fall mit einem solchen Schnappschuss beginnen musste…

Auf seinem Schreibtisch lag die Mappe mit Informationen über den Pfleger Norbert Sonowski. Sebastian sah sich das Foto an: ein bulliges Gesicht mit gutmütigen, grünen Augen. Der Mann wirkte älter als seine zweiunddreißig Jahre. Das lag wohl an den wenigen Haaren, die seinen Kopf umkränzten. In den Unterlagen war nichts Auffälliges zu erkennen, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Auch im polizeilichen Führungszeugnis gab es keinen Eintrag. Nur von der Verkehrspolizei lag ein Blitzerbild vor.

Sebastian war gespannt, was der Mann zu sagen hatte. Vorher wollte er aber noch schnell etwas erledigen. Er schloss die Mappe und tippte die Nummer der Verkehrsabteilung. Er informierte die Frau am anderen Ende der Leitung, dass er vor einer Stunde geblitzt worden sei, und bot an, die Strafe sofort zu zahlen, sie bräuchten das Bild gar nicht erst zu entwickeln. »Ist schon in Ordnung«, sagte eine rauchige Frauenstimme. »Diesmal kommen Sie ungeschoren davon, Sie sind ja noch neu hier, wenn mich nicht alles täuscht.«

»Das ist richtig«, antwortete Sebastian überrascht. Woher wusste die Frau das?

»Sagen Sie mal«, meinte die Stimme, »sind Sie nicht der jüngste Hauptkommissar hier?«

[32] Bevor Sebastian darauf etwas erwidern konnte, sprach die Stimme weiter: »Es gab eine Rundmail. Sie werden auch solche zu sehen bekommen. Wenn uns jemand aus den höheren Positionen verlässt oder jemand dazukommt, wird das bekanntgegeben. Ist seit ein paar Monaten so. Hat die Polizeipräsidentin eingeführt. Aber nun kommt das Beste…« Sie fuhr im Flüsterton fort: »Ich bin hier die Älteste. Darauf sollten wir bei Gelegenheit zusammen einen Kaffee in der Cafeteria trinken.«

»…also, das können wir gern mal machen«, antwortete Sebastian. Auf die Schnelle war ihm keine andere Antwort eingefallen. Und warum hätte er den Vorschlag auch ablehnen sollen?

»Börnemann heiße ich. Zimmer 214. Wir hören voneinander. Sollte Ihr Blitzerfoto doch auf meinem Tisch landen, lasse ich es verschwinden. Versprochen.«

Zumindest dafür hätte es sich schon gelohnt, dachte Sebastian und eilte los zum Gespräch mit dem Pfleger Norbert Sonowski.

Im hell erleuchteten Verhörraum im ersten Stock surrte das Licht. Auf der anderen Seite des länglichen weißen Tisches saß der Krankenpfleger, sein spärliches Haar war zerzaust, sein Blick leer.

»Seit wann kannten Sie Karl Perkenson?«, begann Sebastian die Befragung, nachdem er den Mann begrüßt hatte.

»Was heißt kennen? Ich wurde das erste Mal vor ein paar Monaten bei ihm eingesetzt…« Die Stimme von Norbert Sonowski war klar und fest. Ein wenig nasal klang sie. Jetzt fiel Sebastian auch die große Nase des Mannes auf.

[33] »Ich war immer nur kurz bei dem Patienten. Ab und zu hab ich Blutdruck gemessen. Wir haben ein bisschen geschnackt, und dann hab ich ihm manchmal die Spritze gegeben. Mehr nicht.«

»Worüber haben Perkenson und Sie gesprochen?«

»Nichts Weltbewegendes. Worüber man halt so redet: Wetter, Mittagessen – was weiß ich.«

Während Sonowski sprach, wickelte er seine silberne Halskette um den Zeigefinger.

»Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches an Karl Perkenson aufgefallen in den letzten Tagen vor seinem Tod?«, fragte Sebastian.

»Nee. War alles wie immer.«

»Und wie erklären Sie sich, dass der Gummiverschluss einer Insulinspritze in Perkensons Küche lag, obgleich bei ihm nur Vitaminspritzen verwendet wurden?«

Der Pfleger zuckte die Achseln. »Kann sein, dass mir die rausgefallen ist. Ich hab viele Patienten, und nicht wenige von denen bekommen Insulin.«