Carry Brachvogel


Die große Gauklerin



Ein Roman aus Venedig

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-176-3


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Fünfzehntes Kapitel



Als Elisabeth die Augen zum erstenmal wieder aufschlug, sah sie die weiße Haube einer Krankenpflegerin und das Gesicht ihres Vaters, der neben ihrem Bette saß. Sie begriff nicht recht, wieso er und die weiße Haube hierherkamen, und warum sie selbst im Bett lag, aber sie war viel zu müde, um zu fragen oder nachzudenken, schloß die Augen gleich wieder und lag in dämmerndem Halbbewußtsein noch durch viele Stunden und manchen Tag hindurch. Wohl spürte sie starke Schmerzen im Hinterkopf und am Nacken, wußte auch, daß der Arzt täglich kam, um diese Wunde zu untersuchen und neu zu verbinden, aber alles, was mit ihr und um sie her geschah, erschien ihr so lautlos, so puppenhaft, daß sie nicht unterscheiden konnte, ob sie es wirklich erlebte oder nur träumte. Der Arzt war zuerst ein wenig erschrocken über diese langdauernde Teilnahmlosigkeit, denn er vermutete, daß sie durch den starken Fall oder durch den Schlag über den Kopf am Ende einen dauernden Schaden im Gehirn davongetragen haben könnte. Bald aber merkte er, daß Elisabeth geistig ganz klar war, nur in den Nerven so verbraucht und zerrieben, daß diese letzte Katastrophe eben den völligen Zusammenbruch herbeigeführt hatte. Da wurde sie denn gefüttert und gepflegt und gehätschelt wie ein Kind, und als wäre sie ein Kind, ließ sie alles mit sich geschehen, fragte nichts, sagte nichts, blieb in ihre Apathie verkrochen, bis die Natur ihr wieder half und sie sanft hindrängte zu der Brücke, die von der Bewußtlosigkeit hinüberführt zum Leben.

Nach einer Nacht voll erquickenden Schlafes schlug sie dann einmal die Augen ganz groß und klar auf, so daß die Pflegerin ihr freudig zunickte und das graue, überwachte Gesicht ihres Vaters seltsam zuckte von Rührung und Glück. Sie griff nach seiner Hand, nahm sie in die ihren, die ganz mager und durchsichtig geworden waren, und sagte leise, mit einem Blick auf die Pflegerin.

"Nachher, wenn sie draußen zu tun hat, mußt Du mir erzählen!"

Der Oberst wußte wohl, was sie meinte, aber er fragte doch:

"Was soll ich Dir denn erzählen, Kind? Du sollst Dich noch gar nicht aufregen ..."

Sie sah ihn mit ihren großen, ernsten Augen an:

"Ich rege mich gar nicht auf. Ich möchte nur wissen, wie das alles gekommen ist ... Ich erinnere mich an alles wohl, aber so undeutlich, so verschwommen. Es regt mich viel mehr auf, wenn ich mich besinne und mir alles erst im Kopf zusammensuchen muß."

Da erzählte der Oberst kurz und vorsichtig, was er wußte. In jener verhängnisvollen Nacht war ein Diener, der heimlich ausgestiegen, just um die Zeit nach Hause zurückgekehrt, als Elisabeth nach der Galerie lief. Gleich als er das Hinterpförtchen hinter sich geschlossen hatte, war's ihm vorgekommen, als ob in der Galerie etwas Verdächtiges vorginge, und er hatte einige Minuten ganz still gelauscht, ob es wirklich so sei, oder ob er sich täusche. Dann hatte er Stimmen gehört, Streitworte, die immer lauter und heftiger wurden, so daß er ins oberste Geschoß rannte, um die übrige Dienerschaft zu wecken, weil er sich's doch nicht zutraute, ganz allein mit mehreren Übeltätern fertig zu werden. Wie sie dann zu dreien oder vieren zurückkamen, hörten sie einen dumpfen Fall, und als sie in die Galerie eindrangen, sahen sie die Gräfin blutüberströmt daliegen und den Grafen mit fahlem, verstörtem Gesicht um sie bemüht. Im Hauptsaal aber, da, wo die 'Dogaressa' hing, riss eben ein verdächtig aussehendes Individuum Vorhänge und Fensterladen zurück und stieß das Fenster auf, mit dem Blick messend, ob es wohl gelingen könnte, das aufgerollte Bild geschickt hinunterzuwerfen, so daß es auf die Randsteine und nicht ins Wasser fiel, und ihm dann nachzuspringen. Es gelang den Dienern wohl, ihm das Bild zu entreißen, er selbst aber entwand sich mit fast unbegreiflicher Geschicklichkeit ihren Händen, stieg aufs Fenstersims, sprang so zielsicher hinaus, daß er wirklich die Calle vermied, im Eilschritt die kleine Brücke gewann und in ein paar Atemzügen um die nächste Ecke verschwunden war.

Elisabeth hörte gespannt zu. Was der Vater da erzählte, schloß sich mit ihrer eigenen Erinnerung zu einem Bilde zusammen. Sie blieb eine Weile stumm, fragte dann:

"Hängt nun das Bild, das echte Bild, wieder an seinem alten Platz?"

"Aber natürlich, ich sagte Dir ja, daß man es dem Kerl wieder abgejagt hat. Es ist nur schade, daß er selber entwischt ist!"

Elisabeth blieb still. Sie fragte nicht nach Ettore, den sie niemals in ihrem Krankenzimmer gesehen hatte. Nur die alte Gräfin war zu Anfang etliche Male gekommen, verweint und ängstlich, als fühle sie, daß die Priuli nicht in dies Zimmer gehörten. Elisabeth war damals noch ohne Bewußtsein gewesen, und der Oberst hatte die alte Frau so kalt empfangen, daß sie nicht wieder aus ihrer Wohnung heraufstieg.

Solange Elisabeth krank lag, hatte sich die Fürstin Tassini täglich nach ihrem Befinden erkundigen lassen und die prächtigsten Blumen für das Krankenzimmer geschickt. Nun aber, da Elisabeth wieder einzelne Besuche empfangen durfte, nun blieb jede Botschaft aus dem Palazzo Tassini aus, und Elisabeth erwartete vergebens die Frau, mit der sie doch seit langer Zeit jede Woche beim Tee gesessen war. Als sie sich dann telephonisch erkundigen ließ, ob die Fürstin etwa krank sei, erhielt sie den Bescheid, daß die Fürstin in der Abreise begriffen sei, aber jedenfalls der Frau Gräfin noch persönlich Lebewohl sagen werde. Die Fürstin kam aber nicht, denn auch bei den Tassinis hatte es eine Katastrophe gegeben, wenn auch in anderer Art als im Hause Priuli.

Der älteste Sohn, Luigi, der dank seinem väterlichen Namen und seinem mütterlichen Reichtum in der englischen Hocharistokratie fast wie ein eingeborner Lord betrachtet wurde, war mit etlichen anderen jungen Männern der vornehmsten Kreise in eine häßliche Weibergeschichte verwickelt worden, die zu einem gesellschaftlichen Skandal zu werden drohte. Die jungen Engländer, die wohl wußten, daß alles erlaubt war, sofern kein Mensch es beweisen konnte, beherrschten alsbald die peinliche Situation, füllten alle Erpresserhände, alle schmutzigen Mäuler, die mit Enthüllungen drohten, mit Gold, so daß sie mit heiler Haut davonkamen und mit blanker Stirn wieder im Klub und in den Salons der Ladies erschienen. In Luigi Tassini aber wachte der Italiener auf, der in seiner primitiven Offenheit von den Verzwicktheiten englischer Sitten nichts begriff und den das schöne Geld reute, das er an all die dunklen Existenzen wegwerfen sollte. Er begann zu feilschen, zu knickern, drohte mit den Gerichten, wollte mächtige Freunde anrufen, die ihn vor der Ausbeutung durch all diese verrufenen, verlorenen Existenzen sichern sollten. Er erreichte natürlich nur, daß der ganze Skandal einzig und allein an seinem Namen hängen blieb und daß sich die Türen aller Salons vor ihm schlossen, und selbst die jungen Männer, die zwar nicht besser, aber gewitzter gewesen als er, sahen über ihn weg, wenn sie ihn beim Morgenritt in Rotten Row trafen. Es blieb ihm nichts übrig, als ziemlich unvermittelt heimzureisen, und wenige Tage später trafen auch die jüngeren Brüder ein, denn auch in Eton war kein Platz für einen Namen, auf den die Schmutztropfen eines gesellschaftlichen Skandals gespritzt waren.

Die Fürstin war empört, als sie vernahm, was sich der Älteste hatte zuschulden kommen lassen, und ihre Empörung wuchs, als sie merkte, daß die drei Söhne durchaus nicht zerknirscht waren, sondern sich schnell und gern in das elegante Nichtstuerleben ihrer Kreise einlebten. Mit verständnislosem Schrecken sah sie, daß es ihr nicht gelungen war, das schlechte Blut der Tassinis neu zu bilden, sah, daß die Söhne ihr nur äußerlich glichen, in ihrem Innern aber trotz alles englischen Firnisses die echten Söhne ihres Vaters geworden waren. Seit der englische Cant Luigi aus London vertrieben hatte, war ihre demütige Bewunderung für das englische Wesen dahin und der unbändige Hochmut ihrer alten Rasse wachte wieder in ihnen auf, so daß sie ihrer Mutter gerne auseinandersetzten, daß der Name Tassini schon zu einer Zeit im goldenen Buch gestanden habe, als die Vorfahren sämtlicher Lords noch nichts anderes gewesen seien als Fischer oder Seeräuber. Wenn sie unter sich allein waren, betonten sie nicht ungern, daß die bürgerliche Engländerin ihnen den ganzen Stammbaum verdorben hätte, und all ihre Liebe ging zum Fürsten hin, der von ihrer Art war und von ihrer Mutter unterdrückt wurde. So hatte sich das Kräfteverhältnis im Hause Tassini scheinbar völlig verschoben. Auf der einen Seite stand die Fürstin völlig allein, auf der anderen der Fürst mit den jungen Söhnen, die nichts anderes begehrten, als dem Vater zu gleichen und ihn zu stützen. Aber ach! der Reichtum des Hauses ruhte ja ausschließlich in den Händen der Frau, und darum mußte aller Hochmut, alles Rassenbewußtsein schweigen, sobald einer der fürstlichen Herren Geld brauchte ...

Die Fürstin blieb nach außen hin unbeweglich und steifnackig, wie sie es immer gewesen, aber ihr Herz war von einem Streich getroffen, von dem es sich nie mehr erholen sollte. Sie sah jetzt, daß ihre ganze Lebensrechnung falsch gewesen war, daß diese drei Söhne niemals, wie sie es seit Jahrzehnten geträumt hatte, Werkzeuge der Rache sein würden. Sie waren und blieben Tassinis, würden Lakaien der Mutter sein, wie der Fürst stets der Lakai seiner Frau gewesen war, nichts weiter. Gemeinsam mit ihrem Vater würden sie versuchen, das Geld zu vertun, das der englische Großvater aufgehäuft hatte, und wenn sie später einmal heirateten, würden ihre Ehen nicht anders sein als die ihres Vaters geworden war ...

Wie die Fürstin dies alles überdachte, überkam sie ein grenzenloser Ekel. Sie ließ ihre Koffer packen, wollte nach ihrer Heimat reisen, besann sich aber noch zur rechten Zeit mit bitterem Lächeln, daß nach der Katastrophe mit Luigi der Name Tassini zunächst in London besser nicht mehr genannt wurde. So fuhr sie für unbestimmte Zeit an die Riviera, zerfallen mit sich und der Welt, und wußte nicht, ob sie jemals nach Venedig zurückkehren oder schließlich doch wieder in England landen würde. Niemand weinte ihr nach, am wenigsten die Söhne, die sie zwar respektvoll auf das Schiff geleitet hatten, sich aber wie von einem Alb befreit dünkten, als sie das hochmütige, wie von Leid zersägte Gesicht der Mutter nicht mehr sahen. Nun waren sie allein mit ihrem fröhlichen Vater, nun konnten sie leben, wie es ihnen allen gefiel und wie es dem Hause Tassini zukam!

Auf Umwegen erfuhr Elisabeth die äußeren Geschehnisse im Hause Tassini, und was die Fürstin empfand und litt, konnte sie sich leicht ausdenken. Deutlich stand der erste Nachmittag wieder vor ihr, an dem sie in den Palazzo Tassini gekommen war, und mancher folgende, an denen sie und die Fürstin durch Symbole, die nur ihnen beiden verständlich gewesen, von ihren Schmerzen und ihren Enttäuschungen gesprochen hatten. Es fiel ihr wieder ein, wie klein sie sich neben der Fürstin vorgekommen war, weil sie, statt über die Jahre hinweg zu hassen, immer noch auf eine Stimme der Liebe gewartet hatte. Wie sich ihr dann für flüchtige Augenblicke an Carlos Seite Venedigs drittes Gesicht entschleiert hatte, an das die Fürstin nicht glauben wollte ... Eine leise Trauer befiel Elisabeth, als sie dieser Frau gedachte, die sich ihr stets gleichmäßig freundlich, wenn auch gleichmäßig kühl erwiesen hatte, und sie wußte, daß sie der Nachmittage im Palazzo Tassini noch lange gedenken würde. In die leise Trauer mischte sich die bange Frage, ob nicht Elisabeth Priuli wie als Frau, so auch als Mutter dereinst das Schicksal der Fürstin Tassini teilen mußte?!

Als Elisabeth zum erstenmal wieder in einem Lehnstuhl am Fenster sitzen konnte, ließ sie sich die Post bringen, die während ihrer Krankheit für sie eingelaufen war. Unter allerlei Briefen, Kreuzbandsendungen und Geschäftsanzeigen fand sie auch mehrere Briefe, die Ettores Handschrift zeigten, und von denen die älteren den Poststempel Roma, die neueren Pisa zeigten. Elisabeth legte sie uneröffnet beiseite. Sie wollte sich die Stille ihres Rekonvaleszentenglücks nicht durch Widerwärtigkeiten verscheuchen lassen.

Carlo Priuli kam und war bewegt, obwohl er sich's nicht merken lassen wollte.

"Lisa, Du törichte Frau, was machst Du für phantastische Geschichten? War's das Bild wirklich wert, daß Du Dein Leben daransetzen wolltest?"

Elisabeth lächelte ein wenig.

"Ist ein Menschenleben wirklich gar so viel wert?"

"Doch jedenfalls mehr als eine bemalte Leinwand!"

Elisabeth schüttelte langsam den Kopf.

"Dieses Bild ist mehr als bloß eine bemalte Leinwand! Denk' doch, es ist der Glanz der Priuli, eines der größten Kleinodien Venedigs! Und für mich ist es noch mehr als alles das ... Mein ganzes Leben hier hat ja eigentlich mit diesem Bilde begonnen. Für mich ist es so etwas wie ein Gedanke, dem ich gehören mußte bis zuletzt ... Und dann, siehst Du, ich konnte doch nicht dulden, daß Ettore uns auch das noch antut, daß er sich noch gegen das Gesetz vergeht."

Carlo nickte.

"Wenn Du nur endlich von dem loskommen könntest, was das Bild für Dich bedeutet hat! Wenn Du Dich endlich von den Gespenstern befreien könntest, die es darstellt! Wenn Du Dich endlich entschließen könntest, nicht mehr zurückzusehen, sondern voran."

Da sagte ihm Elisabeth, was sie schon die ganze Zeit über in sich fühlte, und was sie selbst mit Staunen erfüllte.

"Denk' Dir, alles, was war, liegt so weit hinter mir, als wäre es eine ganz entfernte Landschaft, in der ich Einzelheiten kaum mehr unterscheiden kann. Es ist mir oft, als wäre ich gar nicht mehr ich, als wären zwei Elisabeths da, die eine bis zu der schrecklichen Nacht, und die andere, die mit alledem nichts zu tun hat, und die jetzt ganz still und wunschlos erst zu leben anfängt. Und darum glaube ich, daß ich gar keine solche Heldin bin, wie Du in mir sehen willst. Denn wär' ich eine Heldin, dann müßte mir die Sache, für die ich geblutet habe, doppelt wert sein. So aber ist mir's, als trenne mich gerade mein Blut und meine Krankheit von früher ab ..."

"Gott sei Dank, wenn es so ist, und wenn es so bleibt! Das wäre ein Glück für Dich, und auch ein Glück ..."

Er brach ab, begann ziemlich unvermittelt von etwas anderem zu sprechen. Als er ging, hatte auch Elisabeth mit keiner Silbe nach Ettore gefragt.

Ettore Priuli war nach Rom abgereist. Zwei Tage lang hatte er versucht, in Venedig den Unbefangenen zu spielen, hatte auch den Freunden gegenüber die Fabel behaupten wollen, die er rasch erfand, als die Diener in die Galerie eindrangen: ein Bilderdieb, zweifellos derselbe, der schon vor einiger Zeit zwei Gemälde beschädigt, hatte versucht, die 'Dogaressa' zu stehlen, war von der armen Gräfin überrascht worden, hatte sie zu Boden geschlagen und dann eilig die Flucht ergriffen. Er erzählte diese Geschichte ganz überzeugend mit der Miene des bekümmerten Gatten, aber länger als zwei Tage ließ sie sich nicht halten, weil dann in den Zeitungen, im Klub, überall wo er hinkam, die Wahrheit durchzusickern begann. Da hielt er es für besser, dem Gerede aus dem Weg zu gehen, und da er im Hotel Danieli erfuhr, daß die Herzogin von Bressières Venedig plötzlich verlassen habe und nach Rom gegangen sei, schien es ihm gut und unterhaltend, ihr zu folgen. Er war froh, als er Venedig im Rücken hatte, und freute sich auf die römischen Tage. Bis er zurückkehrte, war Elisabeth jedenfalls wiederhergestellt, die peinliche Geschichte schon halb vergessen, und was weiter werden sollte, kümmerte ihn im Augenblick nicht. L'Italia farà da sè!

Elegant und heiter, mit seinem scharmanten Lächeln schlenderte er ins Hotel Quirinal, wo Maud sich schon behaglich eingerichtet hatte, und ließ sich bei ihr melden. Sie empfing ihn sehr ungnädig, denn sie war wütend auf ihn, weil sie nun nicht zu dem Bilde kam und obendrein noch wegen des Zeitungsklatsches Venedig plötzlich hatte verlassen müssen. Er trat ihr mit lebhafter Freude entgegen, wollte ihr die Hand küssen, sie verschränkte aber die Arme unter der Brust und sagte von oben herab:

"Nun, Conte Priuli, Sie haben mich in eine hübsche Situation gebracht!"

"Ich bin untröstlich, teure Maud, das dürfen Sie mir glauben! Aber was kann ich machen, wenn meine Frau wie eine Rasende dazwischenfährt und mir alles verdirbt? Alles war so tadellos bis aufs letzte Tüpfelchen berechnet."

"Jawohl, und alles hat bis aufs letzte Tüpfelchen falliert!" sagte sie ironisch. Und mit einer jäh aufspringenden Brutalität, in der sich das wahre Wesen dieser Frau offenbarte: "Kommen Sie mir nicht mit Ihren albernen Redensarten! Ihre Frau hat mit der Sache gar nichts zu tun; einzig und allein Ihre Ungeschicklichkeit ist an allem schuld. Wissen Sie, einem klugen Geschäftsmann falliert eine solche Sache nicht, selbst wenn zehn rasende Frauen dazwischenkämen! Sie sind aber gar kein Geschäftsmann, sondern bloß ein italienischer Aristokrat, der Geld haben will."

"Maud, hüten Sie Ihre Zunge, oder ich weiß nicht, was geschieht!"

Sie sah ihn herausfordernd und böse an.

"Wollen Sie mich vielleicht auch niederschlagen wie Ihre Frau? Sie haben ja offenbar Übung in solchen Liebenswürdigkeiten! Ich glaube, es ist besser, wenn ich mich entferne."

Sie ließ ihn stehen und verschwand im Nebenzimmer.

Ettore blieb noch etliche Tage planlos in Rom, spielte im Klub mit Glück, glaubte immer noch, daß Maud von Reue erfaßt werden und ihn zurückrufen würde, gab aber die Hoffnung auf, als er sie bei dem Korso auf dem Pincio schon im eifrigen Flirt mit zwei Fürsten aus ebenso alten wie verschuldeten römischen Häusern sah. So verließ er denn die Hauptstadt und fuhr nach Pisa, wo er Eleonore verweint und verzweifelt fand, weil sie jeden Tag die Einberufung ihres Liebsten nach Tripolis fürchtete. In Pisa fand dann der Graf Ettore Priuli ein gewaltsames und unrühmliches Ende. Ein Wortwechsel mit dem Ausbeuter seiner Schwester ging in ein wüstes Handgemenge über, in dem der Leutnant unversehens ein Stilett hervorzog und es dem Gegner mit solcher Geschicklichkeit in die rechte Lunge bohrte, daß alle Gewebe zerrissen wurden und der Tod eintrat, noch ehe ein Arzt erschienen war.

Mit gesenkter Stirn und verschlossenem Mund vernahm Elisabeth die Kunde, die aus Pisa kam. Ernst und schweigsam ging sie durch die Bitternisse hin, die ihr die Tage brachten, spielte aber weder sich noch andern eine Komödie des Schmerzes vor. Still und fest blickte sie auch auf die Schmutzwoge, die über den Sarg ihres Mannes her in ihr Haus schlug, auf all die zweifelhaften Kavaliere, auf die Wucherer, die geschminkten Mädchen, die Kupplerinnen, denen allen der Graf Priuli in irgendeiner Weise verschuldet war, und die nun von der Witwe die Begleichung ihrer Forderungen begehrten. Elisabeth gab, so viel sie konnte, und fragte nicht danach, ob der Rest ihres Vermögens schnell kläglich zusammenschmolz. Wenn der Oberst ihr wehren wollte und warnte:

"Wenn das so weitergeht, hast Du bald selbst nichts mehr!" entgegnete sie ruhig:

"Das macht nichts, wenn es nicht mehr reicht, dann vermieten wir den Palast und verkaufen die Galerie an die Stadt oder an den Staat!"

"Das sagst Du wohl, das brächtest Du aber nie übers Herz! Du warst doch immer so stolz auf Dein Haus und auf Deine Bilder und warst es mit Recht!"

"Ja, früher! Da habe ich wohl gern in der Vergangenheit gelebt und gemeint, es gäbe nichts Schöneres als sie! Jetzt aber kann ich das nicht mehr. Jetzt muß ich an der Gegenwart und an der Zukunft hängen, um der Kinder willen!"

"Ja, die Kinder, das ist ein Glück, daß Du die wenigstens hast! Wenn man Kinder hat, kann man alles ertragen!"

Elisabeth nickte. Sie wollte dem Vater, der schon so viel mit ihr gelitten hatte, nicht sagen, daß sie immer wieder Angst um die Zukunft der Kinder anfiel, daß sich ihr immer wieder qualvoll die Frage aufdrängte, ob nicht auch in ihren Söhnen einst das Blut des Vaters mächtiger sein könnte als das der Mutter.

Der Oberst sagte:

"Was später wird, können wir heute noch nicht beschließen! Vorerst aber geht Ihr mit mir nach Deutschland zurück. Du mußt einmal für längere Zeit fort von hier, von diesem verfluchten Nest, wo Du so viel durchgemacht hast!"

Um Elisabeths Lippen zitterte ein bitteres Lächeln.

"Papa, hättest Du je geglaubt, daß Du Venedig einmal 'das verfluchte Nest' nennen würdest?"

"Habe ich etwa kein Recht dazu? Hat dieses verfluchte Nest uns nicht schmählich enttäuscht?"

Elisabeth schwieg eine Weile, ehe sie antwortete:

"Ja, es hat uns enttäuscht, weil wir uns selber täuschten und täuschen wollten. Weil wir immerfort nur auf das gehört haben, was die Maler und die Dichter und die Steine von dieser Stadt erzählen, und niemals ihre Menschen kennen lernen, wie sie wirklich sind. Ich habe die Wirklichkeit mißachtet, das war der große Rechenfehler meines Lebens, für den ich büßen muß!"

Der Oberst schwieg. Er konnte seiner Tochter nicht ganz unrecht geben, wollte aber nicht weiter bei dem Gespräch verharren und meinte:

"Was geschehen ist, können wir nicht mehr ungeschehen machen. Jetzt gehst Du zunächst zur Erholung mit mir heim und später ... Ja, vielleicht wickeln wir später doch alles ab, was Dich hier noch bindet, und leben wieder friedlich miteinander weiter wie in alten Tagen?!"

Da brach aus Elisabeth die aufgespeicherte Sehnsucht vieler Jahre hervor, daß sie mit schluchzender Stimme leidenschaftlich rief:

"Ja, heim! Nur endlich heimkommen, nichts anderes will ich mehr und nie wieder von daheim fortgehen. Daheim kann ich vielleicht manches vergessen und aus den Kindern doch noch ordentliche Menschen machen!"

Im Molo lag der "Wurmbrand", der sie nach Triest bringen sollte. Wie Elisabeth den deutschen Namen in der Sonne leuchten sah, wurde sie froh, als ob sie einen Gruß der Heimat empfangen hätte. Mit einem leisen Glücksgefühl, wie sie es lange nicht mehr gekannt, schritt sie über die Zugbrücke. Der Oberst wachte genau, daß alles Gepäck pünktlich verladen wurde, die beiden Knaben in ihren blauen Matrosenanzügen mit dem kleinen Trauerflor am Arm konnten sich nicht sattsehen an den ungefügen Stahlgliedern der Schiffsmaschine. Elisabeth setzte sich auf dem Verdeck nieder und sah voll Sehnsucht über die Lagune hin, in der Richtung, wo nach wenigen Stunden schon Triest aus dem Meer aufsteigen würde. Carlo Priuli kam, um ihr Lebewohl zu sagen, brachte den Kindern ein paar Süßigkeiten und sprach die abgerissenen und gleichgültigen Worte, die man bei jedem Abschied auf der Eisenbahn oder im Hafen spricht. Seine Blicke ruhten auf ihr mit zärtlicher Güte und seine Stimme klang ein wenig ängstlich, als er fragte:

"Lisa, gehst Du für immer von hier fort oder sehen wir uns wieder?"

Sie wollte aufschreien: "Nie mehr sehen wir uns wieder! Nie mehr kehre ich in diese schreckliche Stadt zurück!" Da zog ihr aber die Erinnerung an jenen Nachmittag in den Giardini publici durch den Sinn, und wie ein Erlöser von geheimer Angst überkam sie der Gedanke, daß auch dieser Tüchtige ein Priuli war Zum erstenmal seit Ettores Tod huschte ein hellerer Schimmer über ihr verhärmtes Gesicht, und das harte Wort, das sie sprechen wollte, blieb ungesagt.

Die Schiffsschrauben begannen langsam zu schnauben, von der Schiffsbrücke her riefen die Matrosen, daß es für die Zurückbleibenden höchste Zeit sei, das Schiff zu verlassen. Carlo streckte Elisabeth die Hand zum Abschied hin, und da sie bislang ihm nicht geantwortet hatte, fragte er noch einmal, angstvoller als vorhin:

"Sehen wir uns wieder?"

Sie legte ihre Hand in die seine und sagte:

"Vielleicht!"

Inhalt




Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel  

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel  

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel  

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

 

Erstes Kapitel



Wie der Graf Ettore Priuli die Treppen des Hotel Danieli herunterging, kam er sich gedemütigt und lächerlich vor. Er mußte sich Gewalt antun, um die sorglose Haltung, die scharmante Liebenswürdigkeit des Gesichtsausdruckes zu wahren, die ganz Venedig an dem schönen Priuli kannte. Trotz aller Anstrengung blieb aber sein Lächeln gezerrt, und seine Augen funkelten in trübem Dunkel, wie von verhaltenem Zorn. Er ging ganz langsam, Stufe für Stufe, als wolle er so lange wie möglich den Augenblick verzögern, der ihn aus der dämmerigen Kühle, aus der verantwortungslosen Untätigkeit des scheidenden Besuchers hinausführte auf die Riva degli Schiavoni. Er verzögerte sich geflissentlich, blieb einmal stehen, um von seinem weißen Sommeranzug ein paar Stäubchen wegzublasen, die gar nicht vorhanden waren, betrachtete dann wieder aufmerksam, mit leicht gerunzelter Stirn seine hellen Schuhe, als ob er an ihnen einen Mangel entdeckte, obschon sie so tadellos waren, als hätte der Schuster sie erst vor einer Stunde abgeliefert. Als die Treppe dann endlich doch hinter ihm lag, wechselte er noch, scheinbar interessiert, mit dem ergebend dienernden Portier ein paar Redensarten über das schöne Weiter und das gute Trinkwasser, das man, dem Himmel sei Dank! in Venedig hatte, wenn es sich auch freilich nicht mit dem Wasser von Rom vergleichen ließe. Nun war aber auch die letzte Möglichkeit geschwunden, noch länger herumzutrödeln, und er stand draußen auf der Riva, die heiß und hell im Glanz eines Junitages dalag.

Ettore Priuli zog einen kleinen, bunten Papierfächer aus der Brusttasche seines weißen Jacketts und begann sich zu fächeln, obgleich er die Hitze gar nicht stark empfand. Er fächelte sich nur gewohnheitsmäßig und weil es ihm angenehm war, den nervösen Ärger, den diese letzte Stunde ihm bereitet hatte, durch eine regelmäßige, wenn auch geringfügige Bewegung zu entladen. Er stand da, fächelte sich, biß ein paarmal die Unterlippe und fluchte in seinem Innern alle Flüche, deren die italienische Sprache fähig ist. Er stand, blickte unschlüssig bald vor sich hin, bald auf die Lagune, ob seine Gondel nicht käme. Zuckte ärgerlich mit den Achseln und hätte am liebsten über sich selbst gelacht; denn wie konnte er jetzt, da es just vier Uhr war, die Gondel erwarten, die er doch mit Vorbedacht erst für fünf Uhr bestellt hatte! Nun, dieser Nachmittag oder vielmehr diese eben abgelaufene halbe Stunde in dem eleganten Ecksalon des Hotel Danieli hatte ihn schwerer geschädigt als nur mit der Wartezeit auf eine Spazierfahrt, hatte ihm alles eingerissen, was schon so sicher aufgebaut schien, alle Zukunftshoffnungen vernichtet, deren Glanz ihn schon entzückt hatte, warf ihn, der sich bereits am Ziel glaubte, wieder ins Ungewisse zur Jagd nach dem Glück zurück, deren er doch schon recht müde war ...

Die Lagune lag starr und grau wie ein rätselvolles Ungeheuer aus östlicher Sage. Auf seinem durchsichtigen Rücken trug es als lichtes Mirakel Venedig, die Schöne, mit ihren weißen und orangefarbenen Palästen, ihren gewaltigen Kuppeln, ihren erzenen Helden, ihren marmornen Loggien und Sinnbildern und dem schwermütigen Flimmern ihrer Goldmosaiken, die gleich einem vom verschollenen Byzanz vergessenen Diadem ihr die Stirne umkränzen. Priuli sah abwesenden Blickes über die Lagune hin, sah in der Ferne den Canal Grande leuchten und den gigantischen, steinernen Leib von Santa Maria della Salute. Da überkam ihn ein plötzlicher Haß auf diese Stadt, auf seine Vaterstadt, die er sonst doch anbetete, wie jeder Venezianer sie anbetet. Sie erschien ihm klein, eng, schmutzig, übelriechend, ein Hemmnis aller Bewegungsfreiheit und aller Glücksmöglichkeiten. Wahrhaftig, anderswo, zum Beispiel in Rom, wäre ihm die letzte halbe Stunde nicht begegnet! Rom hatte eben seinen Hof, sein rauschendes Leben der Aristokratie, gleichviel ob sie sich zur schwarzen oder zur weißen bekannte, die Söhne römischer Adelsfamilien legten für den Snobismus ausländischer Millionen nicht bloß einen Titel, sondern auch eine weithin sichtbare Wirkung des Titels in die Wagschale, während die Venezianer nichts zu bieten hatten als das abgeschlossene Kastenleben der Provinzstadt. Wie sollte man hier je zu Geld und Wohlleben gelangen, da die reichen Mädchen sich hier immer nur auf der Durchreise befanden, um schließlich den adeligen Sohn irgendeiner europäischen Großstadt oder Weltstadt zu heiraten. Sein Vetter Carlo Priuli meinte freilich, es gäbe noch andere Dinge zum ersehnten Reichtum als die glänzende Heirat, aber Carlo war ja ein aus der Art geschlagener Priuli, der aus Deutschland und England seltsame, für Ettore ganz unverständliche Ideen mit heimgebracht hatte. Carlo war ja wahr und wahrhaftig Schiffsingenieur, wurde von der Regierung, die ihn schätzte, bald auf diese, bald auf jene Rheede geschickt, so daß er einmal in Spezia, einmal in Tarent, dann wieder in Venedig arbeitete, hatte auch schon einmal irgendeine Schraubenverbesserung erfunden, von der Ettore nichts verstand, und trug obendrein im Kopf Pläne und Anschauungen, für die Ettore sich nur insofern interessierte, als er sie belächelte. Nein, nein, Venedig war und blieb im Hintertreffen, und wer hier saß und sitzen mußte, konnte sich darauf gefaßt machen, noch öfters Worte zu hören, wie Miss Beaufort sie eben gesprochen hatte.

Es fiel ihm jetzt ein, daß er doch nicht länger auf der Riva stehen konnte und sich fächeln. Er schlenderte also langsam, sich in den geizigen Schattenstreif drückend, den die Häuser warfen, nach der Piazetta und landete schließlich in einem der Cafés auf dem Markusplatz. Er bestellte sich ein Granito und fand mit Recht, daß der Markusplatz um diese Stunde sehr langweilig war. Als sich nun gar neben seinem Tisch drei Damen niederließen, die alsbald auf englisch rekapitulierten, was sie seit drei Tagen in Venedig gesehen hatten, stand er auf und ging angeekelt davon. Er konnte jetzt unmöglich Englisch hören ... Er schlenderte wieder ziellos umher, erst durch die Frezzeria, dann durch die Merceria, stand unversehens vor der grauen, gebieterischen Kirche, in der sein Ahnherr, der große Priuli, den letzten Schlummer schlief. Es war lange, fast ein Jahrtausend her, daß der große Priuli unter den Lebenden gewandelt war, aber der Krieges- und Siegesruhm seiner Taten (wegen seiner Eroberung Kretas für die Republik Venedig hieß er "der Kretenser"!) hatte den Tod und die Jahrhunderte überdauert, und immer noch standen die Fremden ehrfürchtig vor dem Denkmal des Dogen Priuli, während sie die Grabsteine der anderen Dogen, die hier bestattet lagen, nur im Vorübergehen musterten.

Ettore trat in die Kirche ein. Der Gegensatz zwischen der flimmernden Helle draußen und dem Halbdunkel hier war so groß, daß er eine Minute lang geblendet dastand und erst allmählich das Innere der Kirche, ihre Altäre, Säulen und Denkmäler unterscheiden konnte. Er ging auf seinen großen Ahnherrn zu, ließ sich auf einen kleinen, zerrissenen Strohsessel nieder, der da stand, und betrachtete das Denkmal aufmerksam, als sähe er's heute zum erstenmal. Es war ganz in der Art der übrigen Dogendenkmäler gehalten: ein hoher, länglicher Stein, auf dem, von einem Giebelfelde überragt, die ruhende Gestalt des Dogen sichtbar wurde. Eine fast verlöschte Inschrift verkündete auf lateinisch, daß die dankbare Republik ihrem großen Sohne dies Denkmal gestiftet habe zum ewigen Gedenken seiner Heldentaten und seines Ruhmes. Während Ettore dasaß, kamen etliche Fremde, ließen sich vom Kirchendiener die Geschichte des großen Priuli erzählen und die künstlerischen Schönheiten des alten Bildwerks preisen, und Ettore gab sich Mühe, bei diesem Vorgang den edlen Hochmut zu empfinden, den die Erinnerung an die Größe des eigenen Blutes wachruft. Er stellte sich vor, was die Fremden wohl sagen würden, wenn sie erführen, daß sie mit ihrem Ärmel einen Nachkommen des großen Dogen streiften, wollte sich einreden, daß Blut von diesem Blut mehr wert sei als alle Millionen der Miss Beaufort, und daß er also darum über das amerikanische Fräulein nur verächtlich die Achseln zucken könne. Wie sehr er sich aber auch mühte, einen Zusammenhang zwischen sich und dem Ahnherrn herzustellen, es gelang ihm nicht. Er fand keine Beziehung, die sie miteinander verband, denn schließlich hatte ihn auch aller Heldenmut und aller Ruhm des großen Dogen nicht vor der Niederlage bei der Amerikanerin schützen können. Er stand auf und ging wieder hinaus auf die Straße. Als ein Priuli fühlte er sich zwar immer noch erhaben über ganz Venedig, aber warum er sich so erhaben vorkam, wußte er im Augenblick nicht.

Er ging wieder zurück zur Riva und wartete noch ein paar Augenblicke auf seine Gondel. Da fiel ihm ein, daß er ja auch eine Mietgondel nehmen könnte, und dieser Gedanke war ihm so angenehm, daß sein Ärger fast völlig geschwunden war, als er mit einem fremden Gondoliere über die Fahrt nach dem Lido verhandelte. O, das tat gut, jetzt geraume Weile mit sich allein, nicht beobachtet von Domestikengesichtern, auf den Wellen dahinzugleiten und Ordnung in die wirren Gedanken zu bringen. Er merkte jetzt mit Staunen, daß es vor allem der Gedanke an das neugierige, forschende Gesicht des eigenen Gondoliere gewesen war, der ihm diese letzte Stunde so peinlich gemacht hatte. Nun sprang er behend in die Mietgondel, deren Kissen freilich nicht so weich waren wie die der Priulischen Barke, deren schwarze Tuchverkleidung etwas fettig und deren Gondoliere sehr banal aussah, die ihm aber ein ungestörtes, von keinem Dienerauge begucktes Nachdenken gewährte, dessen er so dringend bedurfte, ehe er mit den Freunden oder besser gesagt mit seiner Gesellschaft auf der Kurhausterrasse des Lido zusammentraf. Um keinen Preis wollte er vor sie mit der blanken Wahrheit hintreten. Er mußte irgendeine Form finden, die zwar nicht gerade eine Lüge umschloß, aber doch die Szene im Hotel Danieli merklich zu seinen Gunsten verschob. Er wollte sie erst langsam darauf vorbereiten, daß er Miss Beaufort nicht heiraten würde, weil ja, den angeblichen Grund dieses Entschlusses wollte er ausfindig machen, während er dem Lido entgegenfuhr. Er war ja nicht dumm, in allen gesellschaftlichen Dingen und Listen wohlerfahren; es konnte ihm also nicht schwer werden, seine Niederlage so zu verhüllen, daß sie wie ein freiwilliger Rückzug aussah.

Solange sie noch umringt von Barken und Vaporetti waren, gelang es Ettore nicht, seine Gedanken zu sammeln, aber als das bunte und lärmende Treiben der Lagune immer weiter hinter ihm zurückblieb, versank er ganz in sich und in die Einsamkeit, die sich immer blauender um ihn her dehnte, und in der er mit seinen abgewandten Sinnen auch seinen Gondoliere kaum mehr sah, die Ruderschläge kaum mehr hörte. In der weicheren Nachmittagsbeleuchtung, die jetzt anhub, sah die entfernte Stadt rosenfarben aus, aber Ettore, der sie vorhin gehaßt hatte, warf nun keinen Blick nach ihr zurück. Er durchlebte wieder die Szene im Hotel Danieli und alles, was ihr vorangegangen war.

Vor einigen Wochen war Miss Beaufort mit ihrer Mutter in Venedig eingetroffen, umstrahlt vom Glanz ihrer Millionen, von denen die ganze vornehme Jugend Venedigs alsbald wußte. All diese jungen, adeligen Venezianer, diese Fabrianis, Tassinis, Orseolos und wie sie sonst noch heißen mochten, kannten ja, genau so wie Priuli, nur das eine, große Lebensziel, die reiche Partie. Sie verfolgten es ganz naiv, ganz selbstverständlich, denn man hatte sie zu nichts anderem erzogen, sie von Jugend auf gelehrt, daß der Klang ihrer alten Namen dazu da sei, um ihnen eine Millionenbraut oder wenigstens ein sehr reiches Mädchen anzulocken. Man hatte sie alle so erzogen, wie die romanischen Aristokraten ihre Söhne zu erziehen pflegen, hatte sie mit wenig Wissen, sehr gefälligen Manieren und einer Portion selbstbewußten, lächelnden Leichtsinns ausgerüstet, daß sie, obgleich sie inmitten eines demokratischen Volkes aufwuchsen, in ihren Anschauungen und in ihren Bestrebungen immer noch Herren des Ancien régimedarstellten. Keiner von ihnen hatte gelernt, ernsthaft zu arbeiten, denn jeder von ihnen lebte "del suo", das freilich mitunter gar nicht "das Seinige" war, sondern eine Rente, die man mühselig einem geizigen Onkel oder einer verbissenen Tante abjagte, wenn nicht gar Mutter und Schwestern darbten und Gläubiger schwer geschädigt wurden, nur damit der junge, vornehme Herr immerfort tadellos gekleidet war, bei allen Veranstaltungen seiner Standesgenossen erschien und seine wohlgepflegten Hände nie durch Arbeit entehrte. Sie dachten sich bei dieser Art zu leben gar nichts Böses, sie bemitleideten aufrichtig die Frauen ihrer Familie, die sich für sie opferten, sie wären selber sehr froh gewesen, wenn sie ihre Schulden hätten bezahlen können, und waren darum um so eifriger auf das einzige Rettungsmittel bedacht, das man ihnen gezeigt hatte, und das sie selbst erkannten. Die wenigsten von ihnen hatten freilich so Gewichtiges in die Wagschale zu legen wie Ettore, der als einer der schönsten Männer Venedigs galt und obendrein einen, im Innern allerdings ganz verlotterten und verfallenen Palast besaß, dessen Schiffspilonen jedoch mit den kleinen, goldenen Dogenmützen geziert waren, dem Vorrecht der Geschlechter, die einst als Herren über die Republik geherrscht hatten. Gerade aber weil er mehr besaß als die anderen, vielleicht auch weil er seine Freiheit sehr liebte, war er im allgemeinen lässiger als sie bei der Heiratsjagd, erfuhr immer erst später als sie von den Goldfischen, die aus Amerika, England und Deutschland in die Lagune geschwommen kamen. So hatte er auch erst durch den jungen Fürsten Gaulo, der mit verschiedenen Hotelportiers in indirekten Beziehungen stand, durch die ihm die Ankunft reicher Mädchen oder Witwen gemeldet wurde, von Miss Beaufort erfahren, und es war ihm nicht schwer geworden, die Bekanntschaft der beiden Amerikanerinnen zu machen, die sich natürlich von den Huldigungen eines Conte geschmeichelt fühlten. Ihm wiederum gefiel das Mädchen nicht übel, denn sie war frisch und elegant und innerlich ganz unkompliziert, ganz auf das Leben und die fröhliche Stunde gestellt, so ungefähr wie Priuli selbst. Wochenlang hatte er nun Miss Maud den Hof gemacht und war seines Erfolges so sicher gewesen, daß er heute als Freier mit seinem Antrag hatte hervortreten wollen. Als er sich aber dem Salon der Damen näherte, fiel ihm auf, daß die Jungfer geschäftig Kleider und Hüte auf den Armen trug, als ob sie einpacken wollte, und daß Bedienstete des Hotels die mächtigen Rohrplattenkoffer mit dem aufgemalten Sternenbanner und den Buchstaben M. B. herbeischleppten. Schlimmer Ahnungen voll trat er ein und fand Mrs. Beaufort allein (Maud war im Nebenzimmer mit der Verwahrung ihres Schmuckes beschäftigt), die ihm ein bißchen weinerlich, aber doch geschwellt von Stolz erzählte, daß sie sich plötzlich entschlossen hätten, zur season nach London zu fahren. Eine Freundin Mauds war in London an einen Earl verheiratet, einen Earl, der Peer von England war und also nebst seiner Lady bei der Königskrönung in Westminster-Abtei mit dem Krönchen auf dem Haupte und dem hermelinverbrämten, roten Samtmantel erscheinen durfte und vom neugekrönten König geküßt wurde! Nie zuvor in seinem Leben war Ettore sich so albern vorgekommen wie jetzt, da er mit seinem wertlos gewordenen Antrag der alten Amerikanerin gegenübersaß (denn es war ja sicher, daß die Freundin auch für Maud schon einen Peer ausfindig gemacht hatte!) und das Loblied auf den Earl mit anhören mußte. Aber zornig, wirklich zornig war er erst geworden, als Maud eintrat, ihm ganz wie sonst die Hand reichte, ganz wie sonst lächelte, daß die großen Raffzähne im Oberkiefer allzusehr sichtbar wurden, und ganz unbefangen sagte: "Ja, dear Conte, wir haben nun genug von Venedig; es ist ja quite interesting, aber schließlich kann man sein Leben hier nicht verbringen!"

Das war deutlich, so deutlich, daß es kein Mißverständnis und keinen Antrag mehr gab. Priuli mußte sich darein finden, daß Maud ihn wochenlang am Narrenseil geführt hatte und ihn aufgab, als sich ihr die Aussicht auf einen Empfang im englischen Königsschloß eröffnete. Die Konkurrenz mit Buckinghampalast konnte er nicht aufnehmen, ebensowenig wie man diesen albernen Weibern (wie er sie jetzt im stillen nannte!) hätte klarmachen können, was ein Priuli war und in Venedig bedeutete. War doch neulich (er mußte lachen, wenn er daran dachte) die alte Beaufort sehr enttäuscht gewesen, als sie hörte, daß der Colleoni nicht identisch sei mit dem großen Dogen Priuli, was sie sich, Gott weiß wieso, eingebildet hatte.

Nun, die Sache Beaufort war mißlungen, damit mußte man sich nun abfinden. Ettore empfand schmerzliches Bedauern, wenn er bedachte, was er alles von dieser Heirat gehofft hatte. All seine Schulden wollte er bezahlen, den verlotterten Palast von der Steintreppe an bis zum Speicher gründlich renovieren, nicht immer nur die Dogenmützen frisch vergolden lassen, wie er es jetzt tat. Die Mutter sollte behaglich, ohne die ekelhaften Geldsorgen ihren Lebensabend verdämmern, die schöne Schwester, die junge Eleonore, mit der Mitgift, die er ihr aufsetzte, einen Mann finden, daß sie nicht ins Kloster zu gehen brauchte, wie seine älteren Schwestern. Das alles wäre so einfach, so schön gewesen, und nun war alles zu Ende, bloß weil in weiter Ferne ein Earl einem von Snobismus verzehrten Mädchen winkte!

Gewaltsam riss er sich aus seinem Bedauern empor. Der Lido wurde schon deutlich sichtbar, und immer noch wußte Ettore nicht, mit welchem Gesicht er vor seine Freunde treten sollte. Die Wahrheit sagen und sich von ihnen bemitleiden oder ausspotten lassen, das einfachste wäre es gewesen, aber eine begreifliche Eitelkeit bäumte sich dagegen auf. Sagen, daß er es war, der die Partie aufgegeben hatte? Sie würden ihm nicht glauben. Andeuten, daß der Reichtum der Beauforts überschätzt worden oder daß er, Ettore Priuli, einem andern Goldfisch auf die Spur gekommen war? Das sah nicht sehr wahrscheinlich aus, mochte aber immerhin gehen, wenn man die Geschichte ein wenig schlau anfaßte und wenn man gleich einen anderen Namen oder eine andere Erscheinung gegen die Beaufort ausspielen konnte. Woher aber in der Eile ein anderes Mädchen, eine andere Partie ausfindig machen, die es begreiflich erscheinen ließen, daß man sich um ihretwillen von Maud abwandte?! Das war natürlich nicht leicht, und dennoch hatte Ettore plötzlich ein angenehmes Gefühl, so als ob hier eine Möglichkeit läge, über die er sich noch nicht ganz klar war, die aber unversehens Fernsichten erschließen konnte, von denen er jetzt noch nichts ahnte. Sein Unmut war während der langen Fahrt schon völlig geschwunden, nur eine große Müdigkeit war ihm geblieben und der Wunsch, die ersten Fragen und Anspielungen der Freunde hinter sich zu haben. Er war daher froh, als der Lido endlich zum Greifen nahe lag, und trieb seinen Gondoliere zur Eile an, damit sie noch vor dem Vaporetto, der sich eben dem Strand näherte, ans Land kamen und nicht durch die Wellen des Dampfers eine Verzögerung hatten.