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Helga Glaesener

Die Safranhändlerin

Roman

List Taschenbuch

Das Buch

Trier, im Jahr 1327: Die junge und schöne Marcella Bonifaz handelt mit Buchfarben, Salben und Parfüm. Ihre große Chance kommt, als man ihr toskanischen Safran zu einem sensationellen Preis anbietet. Doch der Handelszug mit der kostbaren Ware wird überfallen und ausgeraubt. Und als man den Tuchhändler Damian Tristand, der dafür verantwortlich sein soll, gefangennimmt, beginnt Marcella ein waghalsiges Unternehmen, um ihren Safran zurückzuerobern. Gemeinsam mit dem vermeintlichen Raubmörder und ihrer Freundin Elsa macht sie sich auf die Suche.

Die Mönche des Klosters Himmerod scheinen von dem Überfall zu wissen, hüllen sich aber in rätselhaftes Schweigen. Marcellas Weg führt auf die Burg der liebenswerten Gräfin von Sponheim, die mit dem Erzbischof von Trier in Fehde liegt. Die Entführung des Würdenträgers verkompliziert die Lage, zumal die Geisel bald das Opfer merkwürdiger Anschläge wird, die – unbegreiflicherweise – alle mit der Safranhändlerin zu tun zu haben scheinen. Dazu kommen eine geheimnisvoll geöffnete Falltür, eine unheimliche Begegnung auf einem einsamen Bergpfad und hartnäckige Fragen des jungen Damian, der sich so brennend für Marcellas Kindheit interessiert. Doch sie weiß nur, daß es gefährlich wäre, sich zu erinnern, denn es hinge mit verbranntem Fleisch zusammen …

 

Die Autorin

Helga Glaesener, 1955 geboren, hat Mathematik studiert, ist Mutter von fünf Kindern und lebt heute in Aurich, Ostfriesland. Ihre bisherigen Romane wie Der indische Baum oder Die Rechenkünstlerin fanden ein begeistertes Publikum und wurden große Erfolge.

Von Helga Glaesener sind in unserem Hause bereits erschienen:

Du süße sanfte Mörderin
Das Findelhaus
Im Kreis des Mael Duin
Der indische Baum
Die Rechenkünstlerin
Safran für Venedig
Der singende Stein
Der Stein des Luzifer
Der Weihnachtswolf
Wer Asche hütet
Wespensommer
Wölfe im Olivenhain

PROLOG

Genua, im Oktober 1327

Mißtrauen trieb Benedetto Marzini in die Lagerhalle im Erdgeschoß seines Genueser Palazzo. Mißtrauen gegen seinen Sohn. Lorenzo war ein Schwachkopf.

Der alte Mann tappte mit einer trüben Öllampe in der Hand zwischen Kisten, Säcken und Stoffballen und bemühte sich, in der dunklen, von Säulen getragenen Halle einen Weg zu erkennen. Lorenzo hatte kein System. Die Waren für die Alpenpässe lagen in buntem Durcheinander mit den Seegütern. Trennen mußte man so was. Ordnung halten. Er hatte Lorenzo hundertmal erklärt, wie man eine Halle bepackte. Aber mittlerweile schrieb man das Jahr 1327, Lorenzo hatte graue Haare bekommen, und sein Vater war für ihn ein nörgelnder Greis geworden, der die Welt nicht mehr verstand.

Benedetto stieß mit dem Pantoffel an einen Sack. Er beugte sich vor und hielt die Öllampe über die Warenaufschrift: Alaun aus Phokäa. Sein zerknittertes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Der Junge führte den Alaunhandel also weiter. Zumindest das hatte er gelernt. Alaun würden die Leute kaufen, solange sie buntgefärbte Stoffe trugen. Wer eine Hand im Alaungeschäft hatte, konnte mit der anderen etwas riskieren.

Aber wo steckte der Safran?

Der alte Mann hielt die Lampe hoch und sah sich um. Die Lagerhalle hatte zwei Ausgänge. Ein großes, gewölbtes Tor zum Hafen, wo die beiden familieneigenen Galeeren beladen wurden, und eine kleinere mit Fresken geschmückte Tür, die zum Arkadengang an der Straße führte. Die Waren für Koblenz sollten auf dem Landweg transportiert werden, über Mailand den Sankt Gotthard hinauf und dann weiter nach Basel. Wenn Lorenzo also ein Fünkchen Verstand besaß, hatte er den Safran in der Nähe des Arkadentores verstaut.

Benedetto durchquerte die Halle. Er schämte sich, daß er durch sein eigenes Haus schleichen mußte wie ein Dieb. Aber er wußte, daß sein Sohn sich über den Vertrag mit der hübschen Gewürzhändlerin geärgert hatte, und er traute ihm zu, den Safran einfach »vergessen« zu haben. Das würde er aber nicht dulden.

Direkt neben dem Arkadentor hatte man, etwas getrennt von den anderen Sachen, Kisten gestapelt. Benedetto las die Aufschriften. Mit Gold versponnene Seide für einen Kölner Tuchhändler. Scharlachfarbe für denselben Mann. Alaun, gelbes Sandelholz, Indigo aus Bagdad, das ging nach Straßburg. Seide aus … aus Lucca? – Nein, davon hielt Benedetto nichts. Die Luccesen spannen ihre Seide auf merkwürdigen mechanischen Konstruktionen. Das hatte keine Qualität. Aber hier …

Auf der Spitze des Warenberges fand er eine kleine, besonders stabil gezimmerte Holzkiste. Toskanischer Safran, Marcella Bonifaz, Trier. Sein grimmiges Gesicht begann zu strahlen. Also hielt Lorenzo das Wort seines Vaters doch noch in Ehren!

Er stellte seine Lampe beiseite und stemmte die Kiste zu Boden. Das Öffnen gestaltete sich mühsam, denn er mußte stramm sitzende Eisenriegel verschieben, und seine Finger waren steif von der Gicht. Schließlich schlug er den Deckel zurück und fand zwei in Stroh gebettete Holzkrüge, jeder so groß wie ein Schweinskopf.

Er drehte die Holzpfropfen heraus, fuhr mit der Hand in die mürben, roten Safranfäden, zerrieb sie und hielt sie gegen das Licht der Öllampe. Schnüffelnd drückte er ein paar Krümel an seine Nase, dann leckte er daran. Er grunzte zufrieden. Der Safran war rein, keine Beimischungen von Färbersaflor. Die hübsche Frau Bonifaz würde erstklassige Ware bekommen. Und das sollte auch so sein.

Sein zahnloser Mund verschob sich vor Vergnügen, als er an die Trierer Händlerin dachte, die in Koblenz an seinen Stand gekommen war. Marcella Bonifaz. Er hatte sie beobachtet, als sie über die Wendeltreppe in das Obergeschoß des Kaufhauses gestiegen war. Sie hatte einen saphirblauen, sternenbestickten Surcot getragen, darüber einen pelzgefütterten Mantel mit weit fallenden Ärmeln und – ach, was Weiber eben so anziehen. Nur daß bei ihr alles zuammengepaßt hatte, Kleid, Unterkleid, Gürtel, Spitzen, als hätte der Herrgott selbst mit seiner Lust an Formen und Farben sie gekleidet. Aber eingefangen hatte sie ihn mit ihren Haaren. Dunkelbraun, von der Farbe nasser Walderde, gekringelt in winzige und winzigste Löckchen, die um ihr schmales Gesichtchen spritzten wie Wassertropfen. Übermütig und selbstbewußt. Ihr Mund war für seinen Geschmack zu groß geraten. Auch ihre Nase ragte ihm zu kampfeslustig in die Welt. Aber, Allmächtiger, dafür hatte sie ein Lachen! Einmal tief und halb verschluckt, wie das Glucksen einer Quelle, dann wieder strahlend und von umwerfender Heiterkeit. Oh, Marcella Bonifaz liebte den Handel! Sie liebte es zu feilschen und zu rechnen und Preise zu überschlagen und um Prozente zu schachern.

Sie hatte Safran kaufen wollen, und wegen ihrer Haare und ihres Lachens hatte er ihr seinen Safran angeboten. Toskanischen Safran, den besten des Marktes. Zum Einkaufspreis. Mochte Lorenzo darüber schäumen.

Sie hatte gezögert, als er ihr die Menge genannt hatte, die zu liefern er bereit war. Fünfhundert Lot. Das Zögern verriet ihm, was sie lieber für sich behalten hätte: Daß sie mit diesem Einkauf an die Grenzen ihrer Mittel stieß. Er hatte ihr angeboten, die Hälfte des Zolls zu übernehmen. Und da hatte sie zugeschlagen. Mit sechshundert Lot! Was für ein Weib! Was für ein Wagemut! Und gewiß würde sie ihn nicht bereuen, denn Benedetto Marzinis Saumtierkarawanen waren die bestbewachten Warenzüge, die über die Alpen gingen. Wenn das Wetter sich hielt, würde sie ihren Safran in drei, spätestens vier Wochen in Koblenz in Empfang nehmen können. Und wenn – was der heilige Michael verhüten mochte – der Winter früher als erwartet hereinbrach, wenn der Zug also in Airolo oder Schwyz überwintern mußte, dann würde sie auch im Frühjahr noch ein glänzendes Geschäft machen.

Benedetto war dabei, den Holzkrug wieder zu verschließen, als ihm etwas einfiel. Mit einem stillen Lächeln enthakte er die kleine, silberne Rose, die seinen Hausmantel zusammenhielt, küßte sie und warf sie zwischen den Safran.

I

Du bist erledigt, meine Liebe.«

Jacob Wolff sagte es freundlich, und Marcella fand keinen Grund, ihm deswegen zu grollen. Außerdem war es möglich, daß er recht hatte.

Sie saß in ihrem Kontor, einem winzigen Raum hinter der Krämerei mit niedriger, verrußter Balkendecke, in dem sich Regale und Tongefäße an den Wänden drängten und mit einem zierlichen Scrittoio um die Luft zum Atmen stritten. Jacob lehnte ihr gegenüber an der Tür, die Arme über der mächtigen Brust gekreuzt, als wäre er ein Cherub, dazu abgestellt, das Tor zum Paradies zu bewachen. Er trug einen kostbaren Seidensurcot in blaurotem Schachbrettmuster, der ihn mit Unmengen von Stoff umwallte, dazu einen ebenfalls blauen, mit Perlen bestickten Hut und natürlich die unvermeidlichen Schellenschuhe, die jede seiner Bewegungen mit fröhlichem Gebimmel untermalten.

Marcella seufzte. Ihr Zimmer lag im Trüben. Richtig hell wurde es hier sowieso nie, aber draußen regnete es, und was an Licht zu dem kleinen Fensterchen hineinfiel, reichte gerade, um den Bottich mit den Wurstgaffelspitzen zu erhellen.

Voller Abneigung musterte sie die Gaffelspitzen. Abscheuliche Bastarde eines Pfannenschmiedes waren das, hastig aus schlechtem Eisen zusammengehämmert, ungeliebt und mit keiner anderen Daseinsberechtigung, als daß sie nützlich waren. »Wurstgaffeln werden von Leuten gekauft, die in der Küche schwitzen«, hatte Elsa gesagt. »Und denen ist es egal, wie die Dinger aussehen, wenn sie sie nur bezahlen können.« Damit hatte sie recht, und Marcella hatte zweihundert Gaffelspitzen gekauft, den halben Pfennig das Stück. Und jetzt lagen die häßlichen Dinger im einzigen Lichtfleck des Kontors und beleidigten ihr Auge und kränkten ihren Sinn für Ästhetik.

»Zweiundfünfzig Pfund Heller!« Jacob kratzte sich stöhnend den fetten Nacken. »Mädchen, ich hab’ keine Ahnung, was du an dem Kram hier verdienst. Schön, es muß einiges sein, sonst könntest du den Zins für den Laden nicht zahlen. Aber jetzt, durch diesen verfluchten Überfall, sind dir zweiundfünfzig Pfund verloren, und niemand, nicht einmal der Judenhund Muskin, würde dir noch Kredit geben. Brauchst mich nicht so anzusehen, ich sag nur, wie es ist.«

Er zwängte die Hand unter den Gürtel und massierte seinen Wanst. Marcella betrachtete ihn voll Mitgefühl. Jacob hatte es mit dem Magen. Jeder Ärger, den er litt, schuf an seinen Schleimhäuten ein Geschwür oder nährte ein vorhandenes, und da er sich immer über irgend etwas aufregte, war ihm das Magenweh ein ständiger Begleiter.

»Verdammter Pfau!« ächzte Jacob. »Kann gar nicht verstehen, was die Leute dran finden. Ist zäh und liegt einem für Stunden … Kannst du nicht mal das Messer in Ruhe lassen? Du schneidest dir noch die Finger wund.«

Gehorsam hängte Marcella das Federmesserchen in seinen silbernen Ständer zurück. Der Ständer war auch eins von diesen Nutzdingern. Er barg das Tintenhörnchen mit der Rußtinte und die Schreibfedern und das Messerchen zum Spitzen der Federn und wurde täglich gebraucht. Aber im Gegensatz zu den Gaffelspitzen war der Ständer ein Wunder an Schönheit. Gerundete Silberstäbe bogen sich in symmetrischer Form gegeneinander, eine ovale, gelochte Platte deckte sie ab, und alles war mit feinster Ätzung durch ein Rankenmuster zum Funkeln gebracht worden. Ribaldo di Sauro hatte ihr den Ständer geschenkt. In einem Augenblick der Sentimentalität, die ihn übermannt haben mußte, als er in seinem Bett den wundgeschlagenen Rücken auskuriert hatte. Marcella liebkoste das kalte Silber. Der Genuese war ein durchs Ohr gebrannter Spitzbube, von dessen Geschäften man besser nichts wußte, und wahrscheinlich hätte sie von ihm gar nichts annehmen dürfen, aber wenigstens verstieg er sich nicht zu Häßlichkeit.

Jacob ließ sich auf dem Stuhl auf der anderen Seite des Scrittoio nieder. »Hilft überhaupt nichts, wenn du die Augen davor verschließt«, brummelte er und stopfte die Daumen hinter den Gürtel. »Du bist erledigt, und du weißt es auch.«

»Ich bin erledigt, mein lieber Jacob«, erwiderte Marcella freundlich, »wenn vorn im Laden keine Pfennige mehr über den Tisch geschoben werden.«

Jacob befreite die Daumen wieder, langte nach einem ledernen Büchlein, das neben dem Silberständer lag, und hielt es hoch, als wäre es Beweisstück einer Anklage. »Du hast für zweiundfünfzig Pfund Heller Auripigment gekauft, Marcella. Der Teufel mag wissen, wie du das Geld zusammengekratzt hast. Vielleicht war’s sogar eine gescheite Idee. Aber nun ist der alte Scholer überfallen worden, und mit ihm und seinen Wagen ist dein Auripigment zum Teufel. Und damit bist du erledigt!«

Das war deutlich gesprochen, wie es sich für einen Kaufmann und Freund gehörte.

Marcella nahm Jacob das Handelsbuch ab, blätterte darin und tat, als ob sie läse. Nötig war das nicht, denn sie hatte die Zahlen im Kopf, und außerdem … Tja, aber das war auch etwas, was sie Jacob lieber nicht auf die Nase binden wollte. Ihr Handelsbuch war nämlich genaugenommen gar kein Handelsbuch, sondern ein Sortiment hübscher, kleiner Lügen, das in Form von Rußtintenzahlen Geschichtchen für Onkel Bonifaz erzählte.

Sie bezweifelte, daß Jacob – auch wenn er ein gescheiter Mann war und nicht halb so borniert wie der Rest des Schöffenrates – jemals die Notwendigkeit dieser Lügengeschichten würde begreifen können. Natürlich wußte er von Onkel Bonifaz’ Ängstlichkeit – schließlich führte er mit ihm zusammen den Weinhandel am St. Katharinenkloster. Was er aber nicht wußte und auch nicht wissen sollte war, daß der Onkel Nacht für Nacht in seinem zerschlissenen Hemd durch das Kontor im Erdgeschoß des Wohnturmes geisterte und im Licht einer billigen Kerze Rechnungen überprüfte, die schon Wochen zuvor abgelegt worden waren, und Weinfässer zählte, deren Anzahl er im Traum hätte hersagen können, und hundertmal an denselben Fenstergittern rüttelte und allerlei anderen Unfug trieb, der aus Ängsten geboren wurde, von denen ein Mann wie Jacob nichts verstand und für die er allein Abscheu empfinden würde.

Aber Marcella kannte sich aus mit Furcht, und deshalb hatte sie das Lügengeschichtenbuch geschrieben. Denn mußte es den Onkel nicht aufregen, wenn er erfuhr, daß seine Nichte sich bei den lombardischen Wechslern Geld borgte? Und Geschäfte mit Männern tätigte, die er nicht einmal dem Namen nach kannte? Und dabei so viel Geld verdiente, daß allein der Gedanke, sie könnte es durch weibliche Kurzsicht wieder verlieren, ihm Herzrasen bescheren würde? Also führte sie ein Handelsbuch, das in reinlicher Schrift Kunde vom Kauf und Verkauf einiger Ellen Spitze gab und alles verschwieg, was dem Onkel den Frieden rauben konnte.

Marcella strich sachte mit dem Finger über die letzte Zahl.

Den Kauf des Auripigments für zweiundfünfzig Pfund Heller hatte sie auch erst nach dem Überfall eingetragen, als Scholers Warenliste dem Schöffenrat vorgelegt worden war und sowieso jeder wußte, daß auf seinen Frachtwagen Güter für Marcella Bonifaz transportiert worden waren. Was das Buch aber noch immer verschwieg und was sie auch weiterhin für sich behalten wollte war, daß sich außer dem Auripigment auch noch Safran auf dem Wagen befunden hatte. Echter, ungemischter Safran, zehnmal so teuer wie Pfeffer, aus den Blütennarben der besten toskanischen Krokusse. Und nicht etwa fünfzig oder hundert Lot. Nein, wenn Marcella Bonifaz sich ruinieren wollte, dann tat sie es gründlich! Sie hatte ihr gesamtes Geld – etwa achtmal so viel, wie Jacob vermutete – zusammengekratzt, um dem alten Marzini seinen Safran abzukaufen. Das Lot achtundsechzig Heller billiger als auf dem Baseler Markt. Sie hatte insgesamt sechshundert Lot gekauft. Und somit waren nicht zweiundfünfzig, sondern, wenn man ihren Anteil des Zolles dazurechnete, dreihundertachtzig Pfund Heller zum Teufel.

»Mädchen«, Jacob hüstelte in seine Faust, mit einer Geste, so zart und verlegen, daß Marcella überrascht die Augenbrauen hob. »Mir scheint, ich muß jetzt mal was sagen, was mir schon lange auf der Zunge liegt. Du bist inzwischen dreiundzwanzig … nein? … vierundzwanzig Jahre also alt. Und die Hälfte der Zeit kennen wir uns schon. Und solange ich zurückdenken kann, hast du eigentlich immer nur eines im Kopf gehabt – nämlich Krämerin zu werden. Das hast du auch geschafft, und ich will gar nicht tun, als ob mir das mißfiele. Im Gegenteil. Ich hab’ Respekt davor. Du hast ein Köpfchen für Zahlen und Qualität und kannst Leute einschätzen und weißt, was du willst und …« Seine Gesichtshaut bekam plötzlich bis in die Speckfalten hinein eine zartrosa Färbung, was ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Ferkelchen verlieh. »Ich wäre jedenfalls nicht der Mann«, schnaufte Jacob, »der ein Weib wie dich – ich meine, wenn er eines hätte – aus seinem Kontor jagen würde …«

»Das ist anständig von dir, Jacob, und wundert mich auch nicht, denn es beweist, daß du einen guten Geschäftssinn hast, wovon ich immer überzeugt gewesen bin. Kann es sein, daß Elsa da eben gerufen hat?«

Elsa hatte ein lautes Organ. Man hörte ihre Stimme bis ins Kontor, wenn sie sich mit den Kunden unterhielt. Im Augenblick schien es keine Kunden zu geben.

»Was ich mit all dem sagen will, liebe Marcella …«

»… gereicht dir zweifellos zur Ehre. Ob Elsa zur Gasse hinaus …«

»Verflucht, ich will …«

»Jacob – nein.« Marcella stand auf, stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte den bulligen Mann sacht auf die Stirn. Armer Jacob. Da stand er vor ihr, einer der reichsten Trierer Weinhändler, Mitglied des Schöffenrates, anständig, großzügig, rücksichtsvoll. Und geriet mit seinem Heiratsantrag ausgerechnet an jemanden wie sie, die darüber nichts als einen üblen Druck im Magen verspürte. Sie legte ihm die Handflächen auf die Brust. »Du bist ein Ehrenmann, Jacob, glaub mir, ich weiß deine Fürsorge zu schätzen. Aber es wäre nicht das Richtige. Außerdem will ich diese Krämerei behalten. Darin steckt … mein Leben. Ich will sie behalten – und das schaff ich auch.«

Der Entschluß war mutig. Jacob mißbilligte ihn, aber Elsa, Marcellas Freundin und Beistand gegen säumige Lieferanten, keifende Kunden und die Willkür des Marktbeschauers – Elsa stemmte die Hände in die Hüften und forderte das Schicksal auf, sich ihnen zu stellen.

Das Schicksal nahm die Herausforderung auch an. Nur agierte es mit enttäuschender Hinterlist. Zuerst ließ Ernst Frosche, der Marcella die heimischen Pflanzen für ihre Salben, Parfüms und Farben lieferte, sie wissen, daß er Schwierigkeiten mit seinen Sammelweibern bekommen hatte. Er bedauerte zutiefst. Aber sicher gab es für das werte Fräulein andere Möglichkeiten …

»Bla, bla, bla … Zur Hölle mit dem Hundsfott«, fluchte Elsa.

Der nächste, der sie aufsitzen ließ, war der Apotheker, der offen sagte, er fürchte um die Qualität der von ihnen gelieferten Salben und Tinkturen. Wo kein Geld ist, wird gepanscht, und die Kunden begannen bereits zu reden.

Bis zu den Klöstern hatte sich ihr Mißgeschick noch nicht herumgesprochen, aber man fragte nach dem Auripigment und dem Safran, und aus Himmerod, wo die Cistercienser ein Evangeliar für Johann von Böhmen illustrierten, kam ein ungeduldiger Brief.

»Es gibt Auripigment. Auf dem Koblenzer Markt. Ein Händler aus Speyer bietet ihn feil«, sagte Marcella, nachdem sie abends die Tür hinter dem letzten Kunden geschlossen hatte und mit Elsa allein war. »Aber leider nicht gegen Kredit.«

Sie ging zum Tisch und öffnete mit dem Schlüsselchen, das sie um den Hals trug, das zierliche Schloß der Geldkassette.

»Wir haben noch …« Ihre Finger fuhren über die Münzen. »… fünf Florins, sechzehn Turnosen, zweiundzwanzig Heller aus Kupfer, drei aus Silber und …« Mit gerunzelter Stirn zählte sie das letzte Häuflein Münzen auf dem Scrittoio. »… siebenundachtzig Pfennige, wobei ich von diesen hier fürchte, daß sie bereits verrufen sind.«

Fast drei Wochen waren seit ihrem heroischen Entschluß vergangen, ihr Guthaben war inzwischen zusammengeschrumpft, das Lager hatte sich geleert.

»Warum leihen dir die Mistkerle in den Wechselstuben kein Geld mehr? Du hast doch bewiesen, daß du’s vermehren kannst.« Elsa sah mit aufgestützten Ellbogen zu, wie Marcella die Münzen mit der Hand zusammenschob und sie in das Metallkästchen zurückfüllte. Jemand wie Elsa war nicht leicht zu schrecken. Sie hatte die Kindheit im Dienst eines zudringlichen Lakenkrämers verbracht, einen unangenehmen und einen sanften, aber leidenden Mann überlebt, den Verlust ihrer Korbflechterei verwunden und die Dummheiten ihres Sohnes, der sie um ihre Ersparnisse gebracht hatte. Wenn Elsa den Kopf hängen ließ, war die Lage ernst.

»Männer denken mit dem Hintern, wenn sie es mit Frauen zu tun kriegen«, grollte sie. »Furzkerle!« Sie beugte sich über den Tisch und versenkte ihren Mund im Schaum eines Kruges mit Honigbier. Nachdem sie die Tropfen am Ärmel abgewischt hatte, faltete sie die Hände. Und mit einem Mal sah sie feierlich und gewichtig drein.

»Du kennst mich, Marcellakind. Und du weißt, aufgeben ist nicht mein Fall. Hab’ ich mein Lebtag nicht getan, nicht mal damals, als mein Junge aus der Lehre ist, und ich die Schulden … ach was. Zähne zusammen und durch, das steht auf meiner Fahne. Aber nun …«

»Ja?« fragte Marcella.

Und dann hörte sie zu, wie Elsa mit all ihrem Zartgefühl auf Jacob zu sprechen kam. Jacob, der so ganz anders war als andere Männer. Seinen beiden ersten Weibern hatte er die Sahne ins Maul gestopft, das wußte jeder in Trier. Kaum, daß er sie mal verprügelt hatte. Im Gegenteil – er fand’s gut, wenn Frauen ihren eigenen Kopf hatten, und ließ ihnen ihre Freiheit. Durfte man das verachten? Gewiß, es gab schönere Männer. Jacob hatte Fett angesetzt, und niemand konnte bestreiten, daß seinen Augen ein gewisses Froschglotzen anhaftete. Nur, wie der Volksmund so schön sagt: Kornblumen sind hübsch, aber Ähren sind besser. Und die Jungen haben Flausen im Kopf, sind herrisch und eifersüchtig, da weiß man nie, woran man ist …

Marcella hörte aufmerksam zu, das Kinn auf die Hände gestützt, ohne ein einziges Mal zu unterbrechen. Als der Lampendocht niedergebrannt war und Elsa den Qualitäten des Jacob Wolff und der Unerbittlichkeit des Schicksals rein gar nichts mehr hinzuzufügen wußte, sagte sie:

»Morgen früh gehe ich zu Ribaldo di Sauro.«

II

Marcella verließ ihr Haus mit dem Glockengeläut, das die Öffnung der Stadttore ankündete. Sie ging nicht durch die Obstgärten, sondern nahm den Weg an der Moselmauer entlang, und als sie die Römerbrücke erreichte, trat sie nach kurzem Zögern vor das Tor hinaus, um die Lastkähne zu beobachten, die über die Dreharme des hölzernen Ladekranes mit Salzfässern bepackt wurden.

Sie hatte Zeit. Elsa mußte noch Lorbeeröl in die Metzgergasse tragen. Die Metzger brauchten das Öl zwar erst im Sommer, wenn die Fliegen ihnen wieder zu schaffen machten, aber wegen des günstigen Preises waren sie bereit, auch jetzt schon zu kaufen. Das Ganze war ein schlechtes Geschäft. Alles war ein schlechtes Geschäft, wenn man unter dem Druck stand, verkaufen zu müssen.

Vielleicht, dachte Marcella, hätte ich den Safran mit dem Schiff hierher transportieren lassen sollen. Aber der Weg über Land hatte als sicher gegolten. Und Scholer war ihn mit seinen Frachtwagen schon so oft gefahren. Als er ihr angeboten hatte, die Kisten aus Koblenz mit nach Trier zu bringen … Wie hätte sie ahnen können …

Ach, Blödsinn! Sie war leichtsinnig gewesen. Und nun mußte sie zu Ribaldo gehen und versuchen, ihm einen Kredit abzuschmeicheln.

Ein völlig verdreckter, bis auf die Hose nackter Junge trieb eine Schar Ziegen auf die Brücke zu. Marcella flüchtete zum Torturm und kehrte in die Stadt zurück.

Elsa wartete vor dem Laden. Sie hatte ihre blonden Zöpfe streng nach hinten geflochten und bis auf das letzte Härchen unter der Haube verschwinden lassen. Die Kette mit dem Vogel aus Bergkristall, die Marcella ihr zum Osterfest geschenkt hatte, war durch ein eisernes Kreuz ersetzt worden, das schwer über ihrem Wolltuch baumelte.

»Es schickt sich nicht, und du hast es nicht nötig«, sagte sie zur Begrüßung.

Marcella gab ihr einen Kuß, hakte sich bei ihr unter und zog sie mit sich.

Der Weg zur Rahnengasse, wo Ribaldo di Sauro wohnte, war kurz, kaum mehr als ein Spaziergang, aber die Gasse bildete den Zugang zu einem der ärmeren Viertel, und als Marcella sie betrat, kam sie sich vor wie in eine andere Welt versetzt. Es roch nach faulendem Fleisch, nach saurer Suppe, nach Vieh und Exkrementen. Als stünde man inmitten einer Abfallgrube. Der Grund war offensichtlich: In den engen Spalten zwischen den Häusern türmte sich, was die Bewohner an Unrat aus den Fenstern kippten, und offenbar gab es niemanden, der sich zuständig fühlte, ihn abzutransportieren. Die Häuser selbst waren verfallen. Mit Lehm verbackener Mist stopfte notdürftig die Löcher in den Dächern und Wänden.

Ein Mädchen mit einer wäßrigen Wunde am Bein kauerte im Gossendreck und lutschte versunken an einem Knochenstück, während sie auf eine Schar kleiner Jungen achtete. Mit angewiderter Miene fragte Elsa sie nach der Wohnung des Genuesen.

Di Sauros Haus befand sich am Ende der Gasse, in einem Winkel, wo es ein wenig sauberer war. Seine Zimmer lagen über einer Taverne, und die Holzläden vor den Fenstern waren noch geschlossen.

Marcella blickte an sich herab und betrachtete den Saum ihres Kleides. Es war ein Fehler gewesen, so früh zu kommen, aber vor allen Dingen war es ein Fehler gewesen, auf die Sänfte zu verzichten. Der Regen der vergangenen Tage hatte eine Menge Schmutz in die Mitte der Straße gespült, der nun am Blumenstoff ihres Kleides klebte. Nur, wenn sie die Sänftenträger bestellt hätte, dann hätte – der Himmel verhüte – womöglich Onkel Bonifaz von ihrem Ausflug erfahren, und der Onkel durfte auf keinen Fall beunruhigt werden. Gerade jetzt nicht. In den letzten Tagen schlich er durchs Haus wie ein Gespenst.

»Laß es bleiben«, sagte Elsa und wiederholte, was sie Marcella bereits am Abend zuvor gepredigt hatte. »Jeder weiß, daß der Italiener ein Spitzbube ist. Ein Gauner, dem sie vergessen haben, das Ohr zu schlitzen! Außerdem ist es unwürdig!«

Und zum hundertsten Mal hielt Marcella ihr eigenes Argument dagegen: »Di Sauro ist mit mir bekannt, und er hat das Geld, das uns helfen könnte.«

Es war ein schwaches Argument. Ribaldo di Sauro gehörte zu den Menschen, die nicht einmal das Schwarze unter dem Fingernagel verschenkten. Und ihre Bekanntschaft beruhte auf einem häßlichen Erlebnis, das er womöglich längst aus seiner Erinnerung verbannt hatte. Angesichts der von Rissen durchzogenen Hausfront und der schiefen Tür mit der abgeblätterten, grünen Farbe schien es sogar fraglich, ob er überhaupt genügend Geld besaß, um ihnen etwas borgen zu können.

Aber wissen werde ich das erst, wenn ich drinnen gewesen bin, sagte sich Marcella und pochte energisch mit dem Klöppel gegen den schwarz angelaufenen Metallring.

»Am besten, du wartest hier«, beschied sie Elsa, als nach einer Ewigkeit der Riegel über das Türholz schrammte.

Di Sauro hockte in einem mit Armstützen versehenen, lederbezogenen Stuhl, der seinem Sinn für Schönheit entsprach, sein häßliches Äußeres aber nur noch schärfer kontrastierte. Das eckige Gesicht war von Fältchen durchzogen, scharfen Einschnitten im mageren Fleisch, die ihm besonders zwischen den Augen das Aussehen eines mißtrauischen und habgierigen Äffchens verliehen.

»Ihr wollt Geld, und ich werde Euch keins geben«, sagte er zur Begrüßung.

Marcella ließ sich auf dem Schemel nieder, den di Sauros Bursche ihr gewiesen hatte, und wartete, bis die Tür hinter ihr ins Schloß gefallen war. Sie lächelte. »Wie schön, Euch wiederzusehen, Ribaldo, und wie schön, daß Ihr Euch nicht verändert habt. Es gibt so wenig Beständiges auf der Welt.«

»Amen!« Di Sauro lehnte sich zurück und krallte die Finger um die Armlehnen. »Selbst wenn ich genug Bares hätte, Euch einen Kredit anzubieten, würde ich es nicht tun. Ihr neigt zu Unvernünftigkeiten. Geschäfte werden mit dem Kopf gemacht. Und in Eurem Kopf geht alles durcheinander. Ich wünschte, ich hätte Euch nie getroffen.«

»Das glaube ich gern, denn dann wäret Ihr nicht nur meiner Gegenwart enthoben, sondern hättet vermutlich auch sonst keine Sorgen mehr. Wenigstens nicht in dieser Welt.«

Der Genuese verzog das Gesicht, als hätte er auf Saures gebissen. »Wir hatten ein gemeinsames unangenehmes Erlebnis, Gnädigste. Das ist alles. Versucht bitte nicht, darauf herumzureiten.«

»Ich brauche zehn Pfund Heller, um Auripigment und Safran zu kaufen. Ihr würdet es zu zwölf Prozent Zins zurückbekommen.«

»Ich habe keine zehn Pfund Heller, und wenn ich sie hätte, dann würde ich sie Euch nicht geben, und wenn ich sie Euch gäbe, dann würdet Ihr davon keinen Safran kaufen können, weil der Markt Safran im Moment nicht liefert.«

»Aber er liefert Auripigment.«

»Ich …«

»Und in Koblenz wird noch vor dem Johannistag ein Schiff aus Basel eintreffen, das Safran mit sich führt. Zwölf Prozent, Ribaldo.«

Der Genuese starrte sie an. »Himmelkreuz … Als der Schöpfer den Starrsinn erschuf, da stattete er ihn mit quellendem Busen und breitem Hintern aus!«

Marcella mußte lachen. »Ich komme, um zu bitten, nicht um zu zanken, Ribaldo. Euer Geld und auch der Zins wären bei dem Geschäft sicher. Ich habe Kunden für das Auripigment, die bei Anlieferung zahlen. Könntet Ihr risikoloser verdienen?«

»Es heißt, verehrte Schwätzerin, Ihr habt bei dem Überfall auf Scholer fünfzig Pfund Heller verloren. Aber Eure Krämerei ist wesentlich mehr wert. Oder war es wenigstens bis vor einigen Monaten. Wie kommt es, daß Euch der Verlust in solche Schwierigkeiten bringt, daß Ihr bei mir anklopfen müßt? Habt Ihr schlecht gewirtschaftet?«

Er war so höflich, es als Frage zu kleiden. In Wahrheit traf er eine Feststellung.

»Wer versieht Euch mit so genauen Zahlen, lieber Herr?«

»Die Vöglein singen in jedem Garten. Man muß ihnen nur zuhören.« Der Genuese lächelte breit und kompromißlos.

»Ich habe nicht fünfzig, sondern … fast vierhundert Pfund verloren.«

»Vier …« Di Sauro pfiff durch die Zähne, zum ersten Mal mischte sich etwas wie Mitgefühl in seine Äffchenmimik. Er mußte wirklich gut unterrichtet sein, denn er glaubte ihr aufs Wort.

»Aber das wird mich nicht ruinieren«, sagte Marcella, »denn ich habe feste Kunden. Schön, mir sind nicht alle geblieben, aber die wichtigsten warten noch ab. Und wenn ich bis Johanni liefern kann, ist alles gut. Ich brauche nicht mehr als zehn Pfund Heller.«

»Hat Tristand Euch nicht entschädigt?«

Marcella haßte es, wenn man sie unwissend fand. Und gerade jetzt hatte sie das Gefühl, daß der Genuese ihr diesen Tritt absichtlich gegen das Schienbein gelenkt hatte.

»Wieso Tristand?«

Di Sauro lächelte schadenfroh. »Mir scheint, Ihr solltet Euch ebenfalls gelegentlich in den Garten setzen, Herrin. Dann hätten Euch die Vögel vielleicht geflüstert, was ganz Trier schon weiß und was Ihr eigentlich mit den ersten hättet erfahren sollen.«

»Was hat Tristand mit meinem Geld zu tun?«

»Er hat es gestohlen.«

Marcella begann zu lachen. »Arnold Tristand? Kann es sein, daß Eure Vögel miauen oder bellen?«

»Im Gegenteil. Sie zwitschern, daß einem der Kopf summt. Tristand hat einen von Scholers gestohlenen Frachtwagen in seinem Heuschober zu verstecken versucht, das ist belegt.«

»Unsinn. Der Mann ist reich durch seinen Wein. Er ist … Mitglied im Schöffenrat. Und außerdem viel zu alt für solche Dummheiten. Und …«

Und er ist ein Ehrenmann, hatte sie sagen wollen. Ein gütiger alter Herr, der sein Gesinde sauber kleidet und Kindstaufen ausrichtet und sie zu Feiertagen mit einem Heller extra belohnt. Aber Männern, und besonders Kaufleuten wie di Sauro, bedeuteten diese Dinge nichts. Ein Ehrenmann ist ein Lump, den sie noch nicht erwischt haben, war Jacobs Redensart.

»Euer Onkel selbst hat ihn ertappt«, fuhr der Genuese fort. »Es wundert mich, daß er Euch nichts davon erzählt hat. Er und Jacob Wolff und noch ein paar andere vom Schöffenrat. Sie sind hinausgeritten auf Tristands Landgut, um mit ihm über die Sache mit dem Sestergeld zu beraten. Und da haben sie ihn erwischt, wie er den Frachtwagen unter Heuballen zu verstecken versucht hat.«

Marcellas Augen weiteten sich ungläubig. »Arnold Tristand soll den alten Scholer umgebracht haben?«

»Den Wagen versteckt, sagte ich. Für den Mord scheint man seinen Sproß im Verdacht zu haben.«

»Martin?« Das klang noch dümmer. Martin war … ein Ausbund an langweiliger, phantasieloser Rechtschaffenheit. Gescheit, aber so umständlich, daß es einem auf der Haut kribbelte, wenn man mit ihm sprach. Er schneuzte nicht einmal die Nase, ohne das Für und Wider auf der Schiefertafel zu erwägen.

»Wenn Ihr den Vögeln im Garten schon nicht lauschen mögt«, sagte der Genuese vorwurfsvoll«, dann solltet Ihr wenigstens auf die Spatzen in der Gasse hören. Dort heißt es nämlich, daß Martin noch einen jüngeren Bruder hat. Einen Taugenichts, der sich mit Judenwucherern rumtrieb und vor zehn Jahren nach Italien verschwand. Damian Tristand. Dem geben sie die Schuld.«

»Ich wußte gar nicht, daß Arnold zwei Söhne …«

»Ein guter Kaufmann ist mit den Vögeln auf du und du.«

»Schlimm für den alten Mann.«

»Aber Glück für Euch. Martin Tristand, heißt es, ersetzt jeden Schaden, den sein Bruder angerichtet hat.« Di Sauros schlauer Vogelblick geriet plötzlich ins Nachdenkliche. »Beschenkt Euch das nun eigentlich … mit fünfzig oder mit knapp vierhundert Pfund Heller, meine Liebe?«

Marcella beugte sich weit über den Schreibtisch. Sie begann zu lächeln. »Ich bin sicher, das werden Euch die Spatzen pfeifen.«

»Gewiß, gewiß.« Di Sauro griff nach ihren Händen. »Habt Ihr Euch eigentlich schon einmal mit Alaun befaßt?«

»Ich handle nicht mit Tuchfärbern, sondern mit Skriptorien.«

»Ihr bräuchtet auch nicht zu handeln, sondern nur einen Teil Eures Geldes …«

»Ich handle gern, und im Moment mit Safran und Auripigment.«

»Wie unendlich schade.« Di Sauro stand auf und geleitete sie zur Tür. Sein mageres Gesicht blickte jetzt, da es ihm nicht mehr an den Geldbeutel gehen sollte, durchaus wohlwollend. »Möchtet Ihr nicht doch ein paar Pfund …? Nein? Auch gut. Aber falls Ihr Eure Meinung ändern und mich doch noch mit Eurer Aufmerksamkeit zu beglücken wünschen solltet …« Er küßte ihr galant die Hand. »… würdet Ihr dann vielleicht so aufmerksam sein zu bedenken, daß die Vögel auch über dieses Haus hier schwatzen? Für liebe Freunde …« Es war nicht ganz klar, ob er mit dem letzten Wort spottete oder seine Gefühle den rasanten Gesinnungswandel seines Hirns bereits nachvollzogen hatten. »… bin ich alle Fest- und Feiertage auf meinem kleinen Landgut zu sprechen. Zur Musilpforte hinaus und dann immer östlich der Straße nach, zwei Meilen weit. Ein roter Wohnturm aus Sandstein mit einigen Stallungen. Etwas älter schon. Ihr könnt es gar nicht verfehlen …« Mit einer Verbeugung hielt er ihr die Tür auf. »Und solltet Ihr eventuell doch …«

»Im Leben nicht«, sagte Marcella und warf ihm einen strahlenden Blick zu.

III

Die Arme unterm Nacken verschränkt lag Marcella auf ihrem Bett und starrte den durchhängenden Betthimmel an. Motten hatten sich über den roten Stoff hergemacht und Löcher hineingefressen. Als Marcella das Zimmer bezogen hatte, hatte sie die Motten mit Lavendelbüscheln verscheucht und die Löcher mit Blumen aus gelbem und dunkelblauem Seidenstoff zugenäht. Damals mußte sie … ja, knapp acht Jahre alt gewesen sein. Sie wußte nichts mehr aus dieser Zeit, außer daß in ihrem neuen Zuhause alles sehr staubig gewesen war, und am staubigsten Onkel Bonifaz, der sie am Ende der Treppe zur Halle begrüßt hatte. Sie mußte Nadeln in ihrem Gepäck gehabt haben, denn noch in der ersten Nacht hatte sie die Löcher im Betthimmel zugenäht. Mit Blumen, die sie aus ihrem Seidenmantel geschnitten hatte. Himmel, Onkel Bonifaz hatte fast der Schlag getroffen, als man ihm von dem zerschnittenen Mantel berichtete. Es hatte ihr auch leid getan. Nicht wegen des Mantels, den hatte sie gehaßt. Aber wegen der Blumen, die sie seitdem immer an den Mantel erinnerten.

Marcella schloß die Augen und lauschte den Geräuschen unten im Hof. Onkel Bonifaz ließ die alten Weinfässer reinigen. Holz rollte über das Pflaster, gelegentlich knallte ein Deckel zu Boden, Wasser platschte, und die Männer riefen sich ihre ordinären Späße zu. Lange würde der Lärm nicht mehr anhalten, denn es ging auf den Abend zu …

Die Krämerei war verloren.

Und was das Schlimmste daran war: Es hätte gar nicht sein müssen.

Martin Tristand hatte ihre Forderung anerkannt, das Auripigment im Wert von zweiundfünfzig Pfund Heller hatte auf der Frachtliste gestanden. Aber dann hatte der Schöffenrat sich eingemischt. Es gab eine Menge Leute, die Ansprüche zu stellen hatten. Allen voran Scholers Witwe, die ihren Mann verloren hatte und deren Schaden noch gar nicht abzuschätzen war. Dann die Witwen der ermordeten Frachtbegleiter. Außerdem mußte man die Waren, die auf Tristands Hof gefunden worden waren, ihren Besitzern zuführen und sie von der Schadenssumme wieder abziehen. All das erforderte Zeit. Das Tristandsche Vermögen war groß, aber ob es ausreichen würde, alle Geschädigten zu befriedigen, stand in den Sternen, und da wollte man eben nichts überstürzen.

Marcella sah das ein. Helfen tat es ihr nicht.

Drei der fünf Skriptorien – die aus den städtischen Klöstern – hatten ihr bereits die Kundschaft aufgekündigt. Zinnober, Waid, Folium und Bleiweiß waren leicht von anderen Händlern zu bekommen. Und wenn man ihnen kein Auripigment lieferte, dann benutzten sie eben Grünspan mit Schwertelsaft oder Kohl.

Marcella dachte an Jacob. Er hatte ihr die Hand geboten und – jedenfalls hatte sie es so aufgefaßt – die Mitarbeit in seinem Weinhandel. Wahrscheinlich hätte er auch nichts dagegen, wenn sie ihre Krämerei weiterführen wollte. Jacob war ein großzügiger Mann.

Einen Moment lang versuchte sie sich vorzustellen, wie es wäre, unter dem Baldachin von Jacobs düsterem, mit steifen Kissen ausgelegten Bett zu liegen. Ihre Phantasie reichte hin, sich seine Beine mit den mächtigen Schenkeln vorzustellen, die Wülste um seine Hüften, den vorgewölbten Bauch, der sich über sie beugen würde, und natürlich auch die behaarten Arme, die sich wie Krakententakel um sie schlingen und sie auf die muffige Matratze drücken würden.

Bei dieser letzten Vorstellung begann es in ihrem Magen zu schwimmen. Ein ungemütliches Gefühl war das – als würde sie aus großer Höhe hinunterfallen. Nicht, daß ihr so etwas je passiert wäre. Sie war einmal vom Trittbrett eines Reisewagens gestolpert, aber das war so schnell gegangen, daß mit einem kleinen Schreck alles vorüber gewesen war. Wenn sie an Jacobs Schenkel dachte, dann fiel sie von der Spitze eines Berges, und der Inhalt ihres Magens löste sich und flatterte hinauf zur Kehle.

Das kommt, weil Jacob so häßlich ist, dachte Marcella und versuchte, die fette Gestalt durch ein wohlgeformtes männliches Neutrum zu ersetzen, ähnlich den gemeißelten Apollostatuen bei den Kaiserthermen. Aber das flattrige Gefühl blieb. Und je störrischer sie sich zwang, die imaginäre Mannsgestalt in ihrer Nacktheit zu betrachten und angenehm zu finden, um so schlimmer wurde es.

Sie drehte sich auf den Bauch und preßte die Handballen gegen die Augäpfel. Rote Kringel begannen die Apollogestalt zu umschwimmen. Marcella drückte stärker, um die Kringel zu vertreiben. Aber sie leuchteten nur noch intensiver, und schließlich verwandelten sie sich in Blitze, bis der ganze Apolloleib von blutigen Flammen umzuckt wurde. Apollo brannte. Und sein Rauch stank nach Bergamotte und wurde vom Rübenacker zum Haus hinüber getrieben …

Marcella begann zu würgen. Sie preßte die Hände vor den Mund und lief zu dem Waschzuber, der neben der Fensternische stand. Sie brauchte sich nicht zu übergeben. Das Wasser, das sie aus der Schale direkt in ihr Gesicht spritzte, vertrieb die Übelkeit und schaffte ihr wieder Luft. Schwer atmend hielt sie sich an dem Schüsselgestell fest und krallte die Hände darum. Das Wasser rann in ihren Ausschnitt.

Es … verdammt … es war also so … verkehrt.

Sie fuhr sich mit der Hand über den Mund. Irgendwo, fiel ihr ein, mußte noch eine Schüssel mit Zimtschnecken stehen. Sie tastete sich um das Bett herum, fand das Gebäck auf der Kleidertruhe und begann, es sich in den Mund zu stopfen. Essen beruhigte den Magen. Süßes am meisten. Schon der Geschmack des Honigs im Mund ließ sie ruhiger werden. Sie schluckte, so schnell sie das Zeug hinunterbekam, und warf sich dann mit Tränen in den Augen auf ihr Bett.

Sie mußte geschlafen haben, denn als sie das nächste Mal horchte, hatte der Lärm im Freien eine andere Färbung bekommen. Das Poltern der Fässer war leiser geworden, und die Stimmen lauter. Wahrscheinlich war sie davon erwacht. Ein Fremder mußte in den Hof gekommen sein, denn sie hörte die Hunde in dem Zwinger neben dem Tor bellen und die barsche Stimme des Wachknechtes, der sie zur Ordnung rief.

Marcella wischte sich die Krümel vom Mund und trat zum Fenster. Die Sonne stand tief, rotes Licht bedeckte die stockbewehrten Weinberge im Hinterland der Stadt. Der Innenhof des Bonifazschen Besitzes, umgeben von einer zwei Klafter hohen Mauer, war bereits zur Hälfte von Abendschatten verdunkelt. Vor dem Ziehbrunnen, genau abgegrenzt wie mit dem Lineal gezogen, begann der hellere Teil, in dem die umgestülpten Weinfässer zum Trocknen abgestellt worden waren.

Gerade auf der Linie zwischen Licht und Schatten tänzelte ein graugefleckter Schimmel – das Pferd des Stadtzenders. Hoch aufgerichtet, steif von der Würde, die sein mächtiges Amt ihm verlieh, thronte der Mann im Sattel. Der Schatten, den die Mauer warf, verdunkelte sein Gesicht, aber sein Rücken mit dem blutroten Mantel glänzte in der Abendsonne, und das, und vielleicht auch der Ruf der Grausamkeit, der ihm vorauseilte, betonte das Unheimliche seiner Erscheinung. Der Zender hatte Gefangene abzuliefern. Zwei Männer, die an Stricken gebunden hinter seinem Pferd standen. Offenbar fand der rote Mann, daß die Bonifazschen Knechte den beiden zu dicht aufs Fell gerückt waren, denn er brüllte einen Befehl, und seine Gehilfen, die die gefesselten Männer eskortierten, hoben ihre Knüppel. Murrend wichen die Knechte zurück.

Marcella konnte nun die Köpfe der Gefangenen erkennen, einer war lockig und gelb, wie Weizen in der Augustsonne, der andere schwarz mit silbergrauen Strähnen, kürzer als es Mode war und von rauher Behandlung zerzaust. Der Schwarzhaarige sagte etwas. Was, konnte Marcella nicht verstehen, denn er sprach leise, und ihr Fenster lag hoch. Aber sie hörte das unwillige Antwortgemurmel der Knechte. Der Schwarze hob noch einmal die Stimme, diesmal deutlicher und spürbar erbost.

Wie dumm von ihm, sagte Marcella halblaut. Und richtig, die Knechte ballten die Fäuste. Der Zender war der Zender und sollte sein Amt tun, aber niemand hatte das Recht, freie Bürger zu beleidigen, schon gar nicht, wenn er in Fesseln stand und zur Armsünderbank geführt werden sollte.

Marcella fand ein Kuchenrestchen in der Beuge ihres Ellbogens und schnipste es gedankenverloren vom Stoff. Zieh den Kopf ein und übe dich in Demut, dachte sie. Sonst beziehst du Prügel, bevor der Schöffenrat einen Blick auf dich werfen kann. Und mit zerschlagenem Gesicht werden sie dich nicht milder beurteilen.

Den Fremden schien das nicht zu kümmern. Er suchte weder Schutz beim Pferd des Zenders noch wich er zurück. Er hob nicht einmal die Hände, um sich vor den Püffen zu schützen. Trotzig schaute er in die Gesichter der Knechte. Marcella wandte sich ab. Sie verabscheute Gewalt. Und Dummheit machte sie ungeduldig. Mochte man sich prügeln.

Wahrscheinlich wäre es auch so gekommen, wenn der Zender nicht mit einem scharfen, alles übertönenden Satz zwischen die Knechte gefahren wäre. Einem Satz, der ihr wütendes Gebrumm auf der Stelle verstummen und ihren Zorn innehalten ließ. Wieder waren nur Silbenbruchstücke an Marcellas Fenster gedrungen, aber das eine, das entscheidende Wort hatte auch sie verstanden:

Tristand.

Der Schöffenrat tagte non coram publico. Niemand hatte bei ihrer Sitzung etwas zu suchen, schon gar nicht eine Frau. Daß Marcella sich trotzdem zu den Männern schleichen konnte, lag daran, daß es in Trier noch kein Rathaus gab und die Sitzungen notgedrungen im Haus des Schöffenmeisters stattfinden mußten. Und was lag da näher, als daß die Nichte des Schöffenmeisters – in Ermangelung einer Hausfrau – sich um den Durst der Gäste kümmerte. Sie hatte das schon früher getan. Einige Schöffen hatten sich darüber mokiert, den meisten war es egal gewesen. Mochte sie ihnen zuhören. Der Handel mit Buchfarben und Spezereien hatte unter den Trierer Fernhändlern keine Konkurrenz. Aber dieses Mal hätte Marcella den Weinkrug auch in der Küche stehenlassen können. Niemand achtete auf sie, als sie durch die kleine Tür vom Gesindetrakt in den Beratungssaal schlüpfte.

Der Raum, den der Schöffenmeister für die Ratssitzungen bestimmt hatte, war groß, kalt und düster. Auf Dornen gespießte Wachslichter standen auf dem Tisch, und unter der Eichenbalkendecke baumelte ein eiserner Radleuchter mit tropfenden, gelben Kerzen. Aber Onkel Bonifaz war ein sparsamer Mann, und die wenigen Lichter, die er für die Sitzung zu opfern bereit war, brachten nicht mehr als ein Zwielicht hervor, das die Augen anstrengte und die Nerven reizte. Nur durch die Bogenfenster an der Breitseite des Raumes fiel noch Helligkeit in den Raum, eine Parade von Lichtrhomboiden auf dem Dielenboden, die aber zusehends zusammenschmolzen, um der Nacht das Feld zu überlassen.

Behutsam schloß Marcella mit dem Ellbogen die Tür.

Die Schöffen, vierzehn Mann, verteilt um einen langen Tisch mit grauleinenem Tischtuch, verhielten sich schweigsam. Flammenschatten tanzten auf ihren Gesichtern. Ihre Blicke hingen an den Zinnkrügen und wanderten gelegentlich zur Eichenbohlentür, hinter der eine Treppe in den Hof hinabführte. Der Zender schien sie über seine Gefangenen bereits informiert zu haben. Einige blickten verstohlen zu Martin Tristand.

Marcella bedachte Martin mit einem mitfühlenden Blick. Der Arme war seit anderthalb Jahren Schöffe und einer der jüngsten hier im Kreis. Es hatte Stimmen gegeben, die seinen Ausschluß vom Schöffenrat gefordert hatten, als die Sache mit den gestohlenen Frachtwagen bekannt geworden war. Aber die Bedachtsamen, die meinten, man solle den gerechten Bruder nicht für die Untaten des mißratenen büßen lassen, hatten sich durchgesetzt. Besonders weil Friedrich Scholer, der Neffe des ermordeten Kaufmanns, sich ebenfalls für Martins Verbleib im Schöffenrat ausgesprochen hatte. Arnold Tristand mochte sich dem Rat gegenüber der Treulosigkeit schuldig gemacht haben, sein Sohn nicht.

Tatsächlich hatte Martin noch am Tag der Verhaftung seines Vaters Boten losgeschickt, um nach dem Bruder zu forschen, und ihm verdankte man die Nachricht, daß Damian Tristand wirklich in Koblenz im Haus der Tuchhändler gesichtet worden war. Wenig später erfuhren die Schöffen, daß er dort mit dem alten Scholer in Kontakt getreten war. Der Mann, von dem Martin das hatte, glaubte sich sogar zu erinnern, daß Damian sich Scholers Wagenzug angeschlossen hatte. In jedem Fall aber hatte er Koblenz zeitgleich mit Scholer verlassen und war seitdem nicht mehr dort aufgetaucht. Martin hatte all das getreulich an den Schöffenrat weitergegeben und mit geradezu selbstquälerischer Genauigkeit nach weiteren belastenden Details geforscht.

Aber was gab es noch herauszufinden? Die Frachtwagen, die dem ermordeten Scholer gehört hatten, waren gestohlen worden, und einer von ihnen war auf dem Landgut der Tristands wieder aufgetaucht. Erstaunen konnte nur die Dreistigkeit des Diebes und die Torheit seines Vaters. Aber – wie Jacob Marcella an einem stillen Abend im Hinterstübchen der Krämerei auseinandergesetzt hatte – Arnold, der Schwachkopf, besaß eben keinen Mumm. Sein Lebtag hatte er hinter seinem Jüngsten hergewinselt, sogar dann noch, als der Strolch in das Wuchergeschäft dieses vermaledeiten Brügger Juden eingestiegen war. Wo die Peitsche vonnöten gewesen wäre, hatte Arnold gebettelt und gefleht. Und so bekam er in gewisser Weise, was er verdiente. Oder nicht?

Vielleicht, dachte Marcella, setzte ihren Krug auf einer Truhe ab und zog einen Schemel heran, auf dem sie sich niederließ.