Gunter Pirntke (Herausgeber)

Alexander Dumas

Das Halsband der Königin

Impressum:

Covergestaltung: Alexandra Paul

Digitalisierung: Gunter Pirntke


2012 andersseitig.de

ISBN: 9783955010997



andersseitig Verlag

Dresden

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Zwei unbekannte Damen

Der Winter 1784 war hart und lang. Für den Reichen sind Eisblumen am Fenster ein Luxus der Natur, der den Luxus seiner Räumlichkeiten erhöht. Für ihn hat der Winter seine Diamanten, seine Damastweiße, sein silbernes Spitzenwerk. Jedes Unwetter betrachtet er vom behaglichen Kaminfeuer her als willkommenen Dekorwechsel, den der ewige Maschinist, den man Gott nennt, für ihn veranstaltet. Wem die Düfte eines köstlichen Diners in die Nase steigen, der erfrischt den Geist von Zeit zu Zeit gern durchs halboffene Fenster an der eisigen Schneeluft draußen, um unter den Gästen an schimmernder Tafel mit desto mehr Witz zu brillieren, falls er welchen hat.

Aber wer hungert und friert hat keinen Sinn für die Pracht der Natur. Er flieht den Himmel ohne Sonne und also ohne Lächeln für den Unglücklichen. In jenem Jahr strömten die Armen aus den Dörfern in die Städte, wie der Winter die Wölfe in die Dörfer treibt. Von Januar bis Mitte April litten und starben an Kälte und Hunger von reichlich fünfhunderttausend Einwohnern dreihunderttausend Menschen allein in Paris, wo unter der Ausrede, dass keine Stadt mehr Reiche berge als diese, für die Elenden nicht die mindeste Vorsorge getroffen worden war. Kein Brot mehr, kein Holz mehr, um Brot zu backen.

Die Stadt hatte ihre Wintervorräte binnen Monatsfrist verschlungen. Kluger Voraussicht unfähig, zeigte sich der Vorsteher der Kaufmannschaft außerstande, verfügbare zweihunderttausend Klafter Holz aus dem Umkreis in die Hauptstadt befördern zu lassen. Seine Entschuldigung, wenn es fror: die Pferde kämen auf dem Glatteis nicht von der Stelle; wenn es taute: Karren und Tiere blieben im Schlamm stecken. Das Holz wurde mehr und mehr rationiert. Vor den Holzhandlungen sah man ebenso lange Schlangen wie bald darauf vor den Bäckerläden.

König Ludwig XVI. gab alles Geld seiner Privatschatulle für Almosen aus, Königin Marie-Antoinette spendete fünfhundert Louisdor zur Linderung des Elends, eine Summe, die freilich in keinem Vergleich stand zu den Millionen, die Angehörige des Hofes in jener Zeit der permanenten Finanzkatastrophen für nichts verschlangen.

Weiterhin wurden durch zusätzliche Steuern drei Millionen zur Erleichterung der allgemeinen Not aufgebracht. Klöster, Hospitäler, öffentliche Bauten und Denkmäler hatten den Obdachlosen Asyl zu bieten, und nach dem Vorbild der königlichen Schlösser wurden die Torwege der Palais den Armen geöffnet und auf den Ehrenhöfen Platz um ein großes Feuer gewährt.

So hoffte man, das Frühjahr zu erreichen. Aber setzte auch hin und wieder schon Tauwetter ein, so dass Menschen, Tiere und Fahrzeuge im Wasser ertranken, da die Pariser Straßen nicht über Gossen und Abflüsse verfügten und der geschmolzene Schnee in Massen der Seine zuströmte, so verwandelte scharfer Nachtfrost alles wieder in einen diamantenen Spiegel. Paris war übersät mit gestürzten Menschen, Pferden und Wagen.

Lebensgefährlich waren die schweren Kutschen und flinken Kabrioletts für die Fußgänger in den schmalen Straßen und Gassen der Innenstadt. Tag für Tag häuften Tausende von Arbeitern Schnee und Eis längs der Häuser auf. Da die Karren nicht ausreichten, diese Wälle abzutransportieren, verschwanden die kleinen Läden bald dahinter. Wer aber in den nun noch verengten

Straßen ein Gefährt nicht rechtzeitig hörte, wurde erbarmungslos gegen die Eismauern geschleudert und zerquetscht.

Die Herrschaft der Aristokratie hatte unterschiedliche aristokratische Arten, einen Wagen zu fahren, hervorgebracht. Ein Prinz von Geblüt jagte daher, ohne auch nur einen Warnungslaut zu geben; ein Herzog, ein Edelmann, eine Operndame fuhren gestreckten Galopp; ein hoher Beamter oder ein Finanzier Galopp; der Stutzer lenkte eigenhändig sein Kabriolett wie auf der Jagd, und der Jockei auf dem Rücktritt schrie erst: »Vorsicht!«, wenn der Herr einen Unglücklichen schon niedergerissen hatte. Da raffe sich auf, wer noch kann.

Die Polizei sah sich endlich veranlasst, diejenigen, die Hunger, Kälte und Überschwemmungen entronnen waren, vor den Rädern der Noblen zu schützen. Man forderte ihnen Geldbußen ab, wenn sie arme Fußgänger verletzten.

Nie war das Elend so groß wie Ende März, Anfang April, denn noch einmal war unerbittliche Kälte eingefallen. Paris erklärte sich besiegt und ließ den Winter gewähren. Seinem Charakter getreu, sang es Spottlieder auf den Tod durch Kälte und Hunger. Auf der mehrere Fuß tief gefrorenen Seine tummelten sich die Eisläufer. Müßige erbauten aus Schnee kühn aufragende Obelisken, wahre Kunstwerke der Vergänglichkeit, und mancher brotlose Literat versah sie mit schmeichlerischen Versen auf die Mildtätigkeit des Königs.

An einem klaren Frosttag fuhren über den Cours-la-Reine und die äußeren Boulevards, wo der Schnee seine jungfräuliche Weiße bewahrt hatte, vier elegante Schlitten mit geschmückten Gespannen der Porte Saint-Denis zu. So mancher sah sie voll Bewunderung vorüberfliegen, die eigene Not vielleicht für Sekunden vergessend.

Von der Kirche Sainte-Croix-d’Antin schlug es eben fünf Uhr, als die Gefährte hielten. Auf das Zeichen einer der beiden Damen, die in dem zweiten Schlitten saßen, entfernten sich die übrigen Schlitten durch die Rue Saint-Denis, während der zweite in Richtung des Boulevard de Ménilmontant weiterfuhr.

Dass jene Personen Damen waren, ließ sich einzig an den hohen Aufbauten ihrer reich gezierten Frisuren erkennen, auf denen ein kleiner Federhut wippte, so dicht waren sie in kostbare Pelze vermummt. Die eine der beiden, die größere, hoheitsvollere, die auch das Zeichen gegeben, hielt den Kopf stolz im scharfen Fahrtwind und presste ein feines Batisttuch vor den Mund, denn mit der beginnenden Dämmerung hatte auch die Kälte wieder zugenommen.

Die Kreuzung, an der man schließlich hielt, war menschenleer. In dieses entlegene Viertel wagte sich um die Abendzeit kein Bürger mehr ohne Stocklaterne und Begleitung: der Winter hatte die Zähne von drei- bis viertausend Hungerleidern verwegen geschärft.

»Weber«, redete die größere Dame den Kutscher an, indem sie ihn auf die Schulter tippte, »wie lange brauchen Sie, das Kabriolett an den Ort zu bringen, den ich Ihnen nannte?«

»Madame nimmt das Kabriolett?« fragte der Kutscher mit unverkennbarem deutschem Akzent.

»Ja, ich möchte durch die Innenstadt zurück, um die Feuer in den Höfen zu sehen. Und in den Straßen wäre man mit dem Schlitten übel dran. Zudem ist mir ein wenig kalt geworden, Ihnen nicht auch, Kleine?« fragte sie ihre Begleiterin, was diese bejahte.

»Nun, Madame, eine halbe Stunde werde ich wohl brauchen«, sagte Weber.

»Gut, um Viertel vor sieben stehen Sie bereit, Weber«, entschied die Dame, sprang leichtfüßig aus dem Schlitten und reichte ihrer Freundin die Hand. Als beide den Boulevard überquerten, knirschten ihre feinen Absätze im festen Schnee, dann ver-

loren sie sich in einer dunklen Straße, während der Kutscher hörbar auf deutsch jammerte: »So ein Leichtsinn, mein Gott, so ein Leichtsinn!«

Ein Interieur

Trauen wir dem Gedächtnis des Lesers zu sehr, wenn wir hoffen, er werde sich noch der Rue Saint-Claude erinnern? Jener einsamen, wenig reinlichen, wenig bebauten, aber ehrbaren Straße im Marais-Viertel, wo der große Physiker Joseph Balsamo mit seiner Lorenza und seinem Meister Althotas gewohnt hatte und wo noch so manche Person dieser Erzählung anzutreffen sein wird?

Freilich, Balsamo war unterdes spurlos verschwunden. Sein Haus, das die kleine Straße einst durch seine hohen Fenster mit nahezu aristokratischem Lichterglanz erfüllt hatte, stand jetzt schwarz und verödet. Blickte ein Neugieriger durch das Schlüsselloch im Torweg, sah er nur mehr ringsum brandgeschwärzte Mauern, und vielleicht strich, ihrer unumstrittenen Herrschaft sicher, eine fette Ratte gemächlich über den verwahrlosten Innenhof.

Doch überlassen wir vorerst dieses Gebäude seinem Verfall und wenden wir uns einem schmalen weißgetünchten Nachbarhaus zu, wo wir in der fünften Etage zu tun haben. Durch ein finsteres Stiegenhaus und zum Schluss sogar über eine schlichte, an die Mauer gelehnte Holzleiter gelangen wir in den obersten Stock. An der Tür hängt ein Rehfuß zum Läuten. Durch einen kahlen Vorraum gelangen wir in ein Zimmer, dessen Ausstattung unsere Aufmerksamkeit verdient.

Steinfliesen statt eines warmen Holzfußbodens, grob angepinselte Türen, zerschlissene, ausgemergelte Polstermöbel. Indes lenken eine Kerze und eine Lampe auf dem Kaminbord unseren Blick auf zwei Porträts, die an den Wänden hängen. Das erste, das unter einem Barett ein längliches, fahles Gesicht mit matten Augen und einem Spitzbart über einer Halskrause zeigt, erkennen wir leicht: es ist Heinrich III., König von Frankreich und Polen. Auf dem unteren Rand des abgeblätterten Goldrahmens steht zu lesen: Henri de Valois.

Das zweite Bildnis, jüngst vergoldet und ebenso frisch wie das andere verstaubt, stellt eine junge Frau mit intelligenten, dunklen Augen, einer feinen, geraden Nase, energischen Bakkenknochen und einem Mund dar, der Gefühle klug zu beherrschen weiß. Ihr Haupt ziert ein Gebäude aus Haaren und Seidenbändern, das im Vergleich zu dem flachen Barett des Königs wie eine Pyramide neben einem Maulwurfshügel erscheint. Unter diesem Porträt liest man in schwarzen Lettern: Jeanne de Valois.

Zwischen Kerze und Lampe, möglichst weit den Fenstern, durch die der eisige Wind pfiff, saß an einem schäbigen Eichentischchen eine junge Frau, mehr als schlicht gekleidet, den Kopf in der aufgestützten Linken, und kontrollierte die Adressen mehrerer versiegelter Briefe. Blicken wir sie genau an: diese Frau ist das Original des soeben beschriebenen Porträts.

Jeanne de Valois, haben wir gelesen. Sie war also aus königlichem Geschlecht? Jenem Geschlecht, das der große Henri Quatre vom Thron gefegt hatte? Wie aber war sie in dieses Elend geraten, während der übrige Hochadel des Landes am Hof zu Versailles das annehmlichste Wohlleben genoss?

Offenbar war der jungen Frau dieser Widerspruch selbst unerträglich, denn ihren gemurmelten Worten ließ sich entnehmen, dass all die Briefe, die sie in den feinen klammen Händen bewegte, hart gesagt, Bettelbriefe um Geld an verschiedene Persönlichkeiten des Versailler Hofes waren, dass sie seufzend im

voraus summierte, wie wenig diese Bittgesuche ihr eintragen mochten, und dass sie von dem wenigen erhofften Geld noch ein Erkleckliches an Droschkenfahrten zu persönlichen Vorsprachen zu wenden gedachte.

Plötzlich aufhorchend, unterbrach sie ihre Rechnereien.

»Frau Clothilde«, wandte sie sich an eine alte Dienerin, die vor

dem erloschenen Kamin sich die Hände rieb, »es läutet.«

»I wo, Madam«, war die Antwort. Diener armer Leute sind wenig diensteifrig.

»Es läutet, gehen Sie nachsehen«, beharrte die Dame. Widerwillig schlurfte die Alte hinaus.

Jeanne raffte hastig die Briefschaften zusammen und ließ sie in einer Schublade verschwinden.

»Wohnt hier die Gräfin de La Motte?« hörte sie draußen eine vornehm klingende weibliche Stimme fragen.

»Die Frau Gräfin de La Motte-Valois, ja«, bestätigte Frau Clothilde, »sie ist zu leidend, um auszugehen.«

»Sie können heraufkommen, Madame, wir sind hier richtig«, ließ sich dieselbe Stimme vernehmen.

Rasch setzte sich Jeanne in einen Lehnstuhl, um den Besucherinnen den Ehrenplatz auf dem armseligen Sofa anzubieten. »Wen darf ich melden?« fragte Frau Clothilde.

»Eine Dame der Versailler Wohlfahrtsstiftung«, antwortete eine andere Stimme. Wir haben sie bereits gehört, als sie dem Kutscher Weber ihre Befehle gab.

Jeanne de La Motte-Valois

Jeannes erste Sorge, als sie Schicklicherweise aufblicken durfte, war die, ihre Besucherinnen mit flinken Augen prüfend zu betrachten.

Die Ältere mochte etwa dreißig, zweiunddreißig Jahre zählen. Sie war von beachtlicher Schönheit, wiewohl der hochmütige Ausdruck ihrer Züge sie um einen Teil ihres Liebreizes beraubte. Im Übrigen hatte sie den Pelzkragen hochgeschlagen und ihren Platz so gewählt, dass ihr Antlitz von der Lampe beschienen wurde.

Die Jüngere, von bezaubernder Anmut und Schönheit, zeigte sich weniger scheu.

»Madame«, eröffnete sie das Gespräch, – »ich sage Madame, denn ich glaube, Sie sind vermählt?«

»Ich habe die Ehre, die Gattin des Grafen de La Motte zu sein, eines ausgezeichneten Edelmannes.«

»Nun denn, Madame, man hat uns, Ihre Situation betreffend, Dinge mitgeteilt, die unsere Teilnahme erregten, und wir sind gekommen, Genaueres darüber und über Sie selbst zu erfahren.«

»Meine Damen«, begann nach wohlgesetzter Pause die Angeredete, »Sie sehen hier das Bildnis Heinrichs III. Er war der Bruder meines Ahnherrn. Ich bin in der Tat, wie man Ihnen mitgeteilt haben dürfte, vom Blut der Valois.«

Mit stolzer Bescheidenheit erwartete sie weitere Fragen.

»Ist es wahr, dass Ihre Frau Mutter ursprünglich Concierge eines Hauses in Bar-sur-Seine war?« fragte die ältere Dame. Jeanne errötete, erwiderte aber sofort: »Das ist wahr, Madame. Meine Mutter, Marie Jossei, war überaus schön; mein Vater, ein direkter Abkomme der Valois, verliebte sich so sehr in sie, dass er sie heiratete. Aber – es ist beschämend, das sagen zu müssen, Madame – meine Mutter hat dem erlauchten Namen, den sie derweise gewann, keine Ehre gemacht, vielmehr hat sie meinen Vater ruiniert, bis er schließlich im Spital der Ärmsten der Armen, im Hôtel-Dieu hier zu Paris, verstarb.«

Beide Damen stießen vor Überraschung einen leisen Schrei aus, während Jeanne gefasst, mit gesenktem Blick, sitzen blieb. Die Ältere musterte sie eindringlich, und da sie aus Jeannes schlichter Haltung auf keinerlei Hochstapelei oder Unlauterkeit schließen konnte, fuhr sie fort:

»Nach allem, was Sie uns da sagen, Madame, müssen Sie großes Unglück erlitten haben, zumal Ihr Herr Vater …«

»Oh, wenn ich Ihnen mein Leben erzählen wollte, Madame, würden Sie wohl finden, dass der Tod meines Vaters nicht das grausamste Unglück war, das mich getroffen hat, dass ich vielmehr seinen Tod als eine Erlösung aus allem Leid unserer Familie betrachte, und ich sage dies als liebende, pietätvolle Tochter«, setzte sie hinzu, als sie das missbilligende Stirnrunzeln der älteren Dame gewahrte.

»Wäre es indiskret, Sie um weitere Einzelheiten zu bitten?« fragte mit leisem Schauder die Jüngere.

Jeanne schlug die Augen nieder und fuhr nach einem Seufzer fort:

»Meine Mutter, wie ich bereits sagte, hat meinen Vater ruiniert, indem sie ihn veranlasste, seinen Landbesitz zu verkaufen und mit der Familie nach Paris überzusiedeln, um hier seine Rechte geltend zu machen. Meine ältere Schwester wurde am Vorabend unserer Übersiedlung vor der Tür ihres Paten, eines Pachtbauern, ausgesetzt. Die Reise und die erste Zeit unseres Aufenthalts in Paris verschlangen unsere letzten Barmittel. Mein Vater erschöpfte sich in demütigenden Bittgängen, die alle vergeblich waren, und erkrankte. Meine Mutter hielt mir täglich vor, ich sei eine unnütze Esserin, und bald hatte sie mir unter Schlägen einen Satz eingebläut, mit dem sie mich auf die Straßen betteln schickte: Haben Sie Mitleid mit einer armen Waise, die in direkter Linie von Henri de Valois abstammt. Aber dieser Satz trug mir kaum etwas Gutes ein. Manche Leute erbarmten sich meiner, ja, aber andere wurden zornig oder drohten, mich anzuzeigen. Ich kannte jedoch keine größere Gefahr, als mit leeren Händen vor meine Mutter zu treten. Sie schlug mich dann bis aufs Blut. Als mein Vater wegen unserer Armut ins Hôtel-Dieu kam und dort starb, ging meine Mutter mit einem Soldaten, ihrem Liebhaber, auf und davon.«

»Da waren Sie ganz verwaist.«

»O nein, Madame, Waise war ich bei meiner Mutter. Jetzt nahm sich die öffentliche Mildtätigkeit meiner an. Eines Tages hatte ich das Glück, einer schönen jungen Dame zu begegnen, die an mir Gefallen fand. Sie brachte mich in einer Weißnäherei unter, und ich war dem Hunger entronnen.«

»War diese Dame nicht Madame de Boulainvilliers

»So ist es, Madame; nur starb sie leider zu früh, und ihrem Gatten verdanke ich das Unglück meiner Jugend, wie ich meiner Mutter meine unglückselige Kindheit verdanke. Als er die Quittung für die Wohltaten seiner Frau kassieren wollte und ich mich dem versagte, stieß er mich ins Elend zurück. Ich heiratete Herrn de La Motte, einen einfachen, aber tapferen Soldaten. Doch da ich getrennt von ihm leben muss, weil er in Bar-sur-Aube kaserniert ist, sehe ich mich abermals der Not preisgegeben. – Dies, meine Damen, ist meine Geschichte; ich habe sie verkürzt, denn das Unglück hat Seiten, die man glücklicheren Zuhörern besser erspart.«

Langes Schweigen folgte Jeannes Bericht. Schließlich verlangten die Damen Dokumente zu sehen, die das Gesagte bestätigen konnten. Jeanne entnahm einer Geheimlade ein altes, mit dem Wappen der Familie Valois versehenes Portefeuille. Die Damen fanden die Papiere in der Ordnung, dann griff die Ältere – Jeanne mit scharfem Auge ließ sich keine ihrer Bewegungen entgehen – in eine Tasche und zog eine kleine Rolle von drei bis vier Zoll Länge hervor.

»Die Wohlfahrtsstiftung autorisiert mich, Ihnen vorerst diese Kleinigkeit anzubieten«, sagte die Dame und legte die Rolle auf eine Kommode.

Jeannes Blick streifte das Geschenk. Es sind Taler, dachte sie; mindestens fünfzig Taler, wenn nicht hundert. Aber für fünfzig ist die Rolle zu lang, für hundert zu kurz.

Frau Clothilde leuchtete den Damen hinaus, nachdem sie kurzen Abschied genommen.

»Wann dürfte ich mir die Ehre nehmen, Ihnen zu danken, meine Damen?« fragte Jeanne den Davoneilenden nach.

»Man wird Ihnen Nachricht geben«, rief die Ältere.

Jeanne hastete zu der Kommode. Dabei stieß ihr Fuß an einen Gegenstand. Augenblicks hob sie ihn auf und betrachtete ihn unter der Lampe. Es war ein flaches goldenes Döschen, das Schokoladenpastillen enthielt. Aber das wache Auge der Finderin erkannte, dass da ein doppelter Boden war. Endlich entdeckte sie die Geheimfeder, und sichtbar wurde das Porträt einer Frau: strenge, fast männlich-majestätische Züge, eine hohe Frisur nach deutscher Art. Den Deckel der Dose zierte ein Monogramm, in dem ein M und ein T verschlungen waren und das ein Lorbeerkranz umrahmte. Die Ähnlichkeit der älteren Besucherin mit der abgebildeten Frau war unverkennbar. Jeanne wollte den Damen nachlaufen, aber zu spät. Das Haustor fiel ins Schloss. Durch die Rue Saint-Claude enteilte ein Kabriolett.

Jeanne verwahrte die Dose, dann öffnete sie, am ganzen Leibe bebend, den zweiten Gegenstand ihrer Neugier.

»Fünfzig Doppellouisdor! Hundert Louisdor! Oh, so reiche Damen werde ich wiederzufinden wissen!«

Belus

»Madame«, empfing Weber die Damen an dem Kabriolett, »ich hatte Scipio bestellt, weil er sanft und leicht zu lenken ist, aber Scipio hat sich gestern eine Sehne gezerrt, so blieb nur der schwierige Belus

»Tut nichts, Weber«, sagte die Ältere, »ich habe eine feste Hand. Aufgesessen!«

Damit bestiegen die Damen das Kabriolett, und Weber nahm den Rücktritt ein. Schnell wie der Blitz jagte Belus mit dem Wagen davon.

»Nun, Andrée«, begann die Ältere, »was halten Sie von dieser Gräfin de La Motte-Valois?«

»Ich halte sie für arm und unglücklich.«

»Doch wohlerzogen, nicht wahr?«

»Offen gesagt, Madame, sie hat etwas in den Augen, was mir missfällt, so etwas Verschlagenes.«

»Wie misstrauisch Sie sind, Andrée. Wer Ihnen gefallen soll, muss ganz untadelig sein. Ich fand diese Frau interessant, eindrucksvoll in ihrem Stolz wie in ihrer Demut.«

»Welches Glück für sie, dass sie Ihnen gefallen konnte.«

»Vorsicht!« rief die Dame und zerrte das Pferd zur Seite, das beinahe einen Lastträger niedergerissen hätte.

Man hörte die Flüche des Mannes, der den Rädern mit knapper Not entronnen war, und aus der Rue Saint-Antoine ertönte aus manchem Mund ein böses murrendes Echo.

Doch wider Erwarten passierte man das populäre Viertel ohne weiteren Zwischenfall. Das Gefährt führte eine brennende Laterne mit – eine Vorsichtsmaßregel, die damals noch nicht durch polizeiliche Vorschrift allgemeine Pflicht war, und so feurig Belus ausholte, so sensibel reagierte er auf die geübte Hand der Lenkerin. In den vornehmeren Vierteln jedoch, in die man jetzt gelangte, bemerkte Weber von seinem Rücktritt aus entschieden erbitterte Passanten, die dem Gefährt nachzueilen drohten. Die Menge murrte nicht mehr, sie schrie. Die Dame, die die Zügel hielt, kümmerte sich wenig um die offene Feindseligkeit. Sie schnalzte mit der Zunge, und Belus ging vom gemäßigten zum gestreckten Galopp über. Die Passanten spritzten nur so zur Seite.

Das Kabriolett erreichte das Palais-Royal. Hier konnte Belus zunächst nur mehr Schritt gehen, denn im Hof des Palais wärmte sich eine Armee von Bettlern an großen Feuern und nahm von den Lakaien des Hauses aus irdenen Töpfen Suppe entgegen: doch weit zahlreicher als die Esser waren die Zuschauer draußen vor dem Palais. Was immer in Paris öffentlich vorgeführt werden mag, es findet massenhaft Gaffer. Sie brachten das Gefährt schließlich ganz zum Stehen. Zuerst wurden verworrene Rufe laut, dann schwollen sie immer wütender an und forderten: »Nieder mit dem Kabriolett!«

Schon griff man dem Pferd in die Zügel. Belus, solche Behandlung nicht gewöhnt, stampfte und schäumte vor Unmut.

»Zum Kommissar! Zum Kommissar mit den sauberen Püppchen!« tobte die Menge.

Die tätlichen Angriffe und das anzügliche Geschrei von allen Seiten wurden so bedrohlich, dass die Ältere Weber auf deutsch zurief: »Wir steigen aus, Weber!«

Kaum hatten die Damen das Kabriolett verlassen, als die Masse sich darauf stürzte und es zu zertrümmern begann.

»Weber, um Himmels willen, verstehen Sie, was man uns vorwirft?« fragte die Dame den Kutscher, der sich der Angreifer wacker zu erwehren suchte.

In dem Augenblick antwortete eine fremde Stimme: »Man wirft Ihnen vor, Madame, eine Polizeivorschrift zu verletzen, die seit heute morgen in Kraft ist und die bis zum Frühling Kabrioletts in der Innenstadt verbietet, da sie für die Fußgänger die größte Gefahr bedeuten.«

Die Dame erkannte in dem Sprecher einen jungen Offizier, der offenbar nicht ohne Mühe sich herangedrängt hatte, um den gefährdeten Frauen beizustehen.

»Mein Gott, davon hatte ich keine Ahnung; aber was nun? Man zerschlägt meinen Wagen.«

»Lassen Sie ihn zerschlagen und machen Sie sich aus dem Staub, wenn ich Ihnen raten darf. Das Pariser Volk ist aufgebracht gegen die Reichen, die angesichts seines Elends ihren Luxus spazieren führen. Wenn Sie nicht zum Kommissar geschleppt werden wollen, benutzen Sie den Weg, den ich Ihnen bahnen will, und verschwinden Sie.«

Diese Worte wurden so leichthin gesprochen, dass die beiden Damen sich nicht darüber täuschen konnten, auch von diesem Offizier für reiche Mätressen gehalten zu werden.

»Reichen Sie mir Ihren Arm, mein Herr«, sagte herrisch die Ältere, »und führen Sie uns zu einer Droschke. Weber, du bleibst! Rette mir Belus – und dich selbst, wenn du kannst.«

Die Fahrt nach Versailles

Der Droschkenkutscher, den der Offizier ansprach, war auf seinem Sitz mehr erfroren als eingeschlafen.

»Holla!« schrie ihm der junge Mann ins Ohr und rüttelte ihn. »Diese Damen wollen nach Versailles.«

»Viereinhalb Meilen bei dem Glatteis?« entgegnete der Kutscher. »Unmöglich! Da gehen mir die Pferde kaputt. Und wenn man heil hinkommt, muss man auch noch zurück.«

»Bieten Sie ihm einen Louisdor«, sagte die Jüngere leise zu dem jungen Mann.

Der Offizier machte dem Kutscher das Angebot.

»Also gut«, knurrte er, »aber ich will mein Geld im voraus, das ist mein Recht.«

Die Ältere begann in ihren Taschen zu suchen.

»Mein Gott, Andrée, ich habe kein Geld bei mir. Haben Sie welches?«

Die Angeredete fand ebenso wenig Geld in ihren Taschen. Der junge Offizier bemerkte die Verlegenheit der Frauen. Gelassen zog er einen Louisdor aus seiner Börse und reichte ihn dem Mann. Dieser wog das Geldstück erst prüfend in der Hand, dann steckte er es ein.

»Und nun, Kerl, fahre die Damen, und zwar anständig!«

»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen, Herr«, erwiderte barsch der Kutscher.

Unterdessen flüsterte die Jüngere der Älteren bittend zu: »Lassen Sie den Herrn nicht fort, Madame.«

»Wieso?« sagte die Ältere. »Wir fragen den Offizier nach Namen und Adresse und schicken ihm morgen sein Geld zurück.« »Aber wenn der Kutscher unterwegs Schwierigkeiten macht?«

»Wir haben seine Droschkennummer.«

»Das würde uns wenig nützen, wenn wir heute nacht nicht in Versailles wären.«

Nach kurzer Überlegung billigte die Ältere Andrées Bedenken. Sie erklärte dem jungen Mann in bestimmten Worten, dass sie seiner Begleitung bedürften, und der Offizier stieg gehorsam mit den Damen in den Fiaker.

Tiefe Stille herrschte in dem Gefährt. Anscheinend sind es doch Damen, dachte der junge Mann. Vielleicht haben sie sich bei einem Rendezvous verspätet und kehren jetzt beschämt und geängstigt nach Versailles zurück. Aber wenn sie von Rang sein sollten, warum fahren sie dann ein Kabriolett und kutschieren selbst, und warum haben sie dann kein Geld bei sich? Vielleicht hatte der Lakai ihre Börse? Immerhin war das Kabriolett von makelloser Eleganz, und das Pferd – das war mindestens seine hundertfünfzig Louisdor wert. Nur sehr reiche Frauen können ein solches Gespann klaglos der Zerstörung überlassen. Abenteuerinnen würden auch kein so vollendetes Französisch sprechen.

Kurz, die Gedanken des jungen Mannes wurden seinen Reisegefährtinnen immer günstiger. Der Duft erlesenen Parfüms berauschte seine Sinne. Er verglich beide Frauen miteinander, soweit das Halbdunkel in der Kutsche dies zulassen wollte, und empfand immer lebhaftere Neugier, die ihn selbst verwunderte, für die ältere, während er die aufmerksamen Blicke, die die jüngere dann und wann nach ihm sandte, kaum vermerkte. Als schließlich eine Unterhaltung sich entspann, die seitens der Damen mit so viel vornehmer Zurückhaltung als sicherer Weitläufigkeit wie fühlbarer Sympathie für ihn geführt wurde, bedauerte der Offizier ganz und gar nicht mehr, seinen Abend den schönen Fremden geopfert zu haben. Vielmehr empfand er ein nie gekanntes Glück und das Verlangen, dass diese Fahrt nicht enden möge, und er beklagte insgeheim, wie schnell die lange Zeit verflogen war, als der Kutscher meldete, dass man in Versailles sei, und fragte, wo die Damen auszusteigen wünschten.

»Auf der Place d’Armes«, entschied die Ältere, und an den Offizier gewandt, setzte sie huldvoll hinzu: »Wir haben Ihnen viel Mühe bereitet. Wir danken Ihnen für Ihre liebenswürdige Hilfe. Bitte, nennen Sie uns Ihren Namen und Ihre Adresse.«

Nach einigem höflichen Zögern gab der junge Mann der Bitte statt: »Ich bin Graf Georges de Charny, diene in der königlichen Marine und wohne Hôtel de Prince, Rue de Richelieu.«

Als er jedoch Anstalt machte, den Damen aus dem Fiaker zu helfen, erklärte die Ältere: »Nein, Herr de Charny, bleiben Sie der artige Kavalier, der Sie bislang waren. Geben Sie mir sogar Ihr Ehrenwort, dass Sie den Wagenschlag jetzt schließen, ohne sich weiter nach uns umzusehen.«

Der Befehl

Der Fiaker rollte davon. Scharfer Frostwind wehte die Glockenschläge von Saint-Louis über den leeren Platz. Es war Viertel vor zwölf.

»Mein Gott!« klagte Andrée. »Jetzt ist das Tor verschlossen.« »Sei unbesorgt, Kleine«, sagte die Ältere, »wir hätten ohnehin

die kleine Seitenpforte benutzt. Laurent ist unterrichtet, er wird

uns einlassen.«

Andrée klopfte an jene Pforte, aber zum Entsetzen der Frauen antwortete aus dem Innern nicht die Stimme des vertrauten Dieners Laurent, sondern die grobe Soldatenstimme eines Schweizers:

»Wer da?«

»Öffnen Sie!« rief Andrée.

»Ich öffne nicht, ich habe meinen Befehl.«

»Wer sind Sie?«

»Sagen Sie lieber, wer Sie sind«, war die schroffe Antwort. »Wir sind Damen aus dem Gefolge Ihrer Majestät, wir wohnen im Schloss.«

»Und ich bin ein Schweizer von der Garde und werde Sie lassen, wo Sie sind.«

Weder flehentliche Bitten noch Versprechungen auf Beförderung konnten den Soldaten bewegen, seinen Befehl zu verletzen. War diese Pforte verschlossen, so waren es alle übrigen auch.

»Den Streich hat uns der König gespielt, ich bin sicher«, sagte die Ältere bitter, fast verächtlich.

»Mein Gott, nach Mitternacht kommen die Patrouillen vorbei. Wenn man uns nun aufgreift, Madame?«

Die eisige Kälte machte die Situation der Damen nicht angenehmer.

In dem Augenblick näherte sich in einem weiten Pelzüberrock ein junger Mann, der sorglos eine Melodie vor sich hin pfiff.

»Mein Schwager!« rief die Ältere leise aus. »Er wird uns retten.«

Der Graf d’Artois, erstaunt zunächst, in den ausgeschlossenen Frauen seine Schwägerin, die Königin Marie-Antoinette, und ihre engste Freundin, Mademoiselle Andrée de Taverney, zu erkennen, versuchte nun seinerseits, mit dem Schweizer zu gütlicher Einigung zu gelangen. Doch als auch seine Bemühungen an dem königlichen Befehl scheiterten, lud er die Damen ein, ihm in ein nahegelegenes kleines Haus zu folgen, das ihm gehörte.

Die Königin runzelte die Stirn, denn sie wusste wohl, dass dies eines der luxuriös ausgestatteten kleinen Lusthäuser war, wie sie derzeit jeder vornehme Herr besaß, um seine jeweiligen Favoritinnen sich dort zu halten. Aber Not bricht Eisen. Auch versicherte sie der Graf, sie werde dort von keiner Menschenseele gesehen werden, da alle Dienstleistungen so diskret vollzogen würden, dass die Damen sein Angebot vertrauensvoll annehmen könnten.

Unterwegs tauschten sich Schwägerin und Schwager über den vermutlichen Anlass der königlichen Maßnahme aus. Der Graf d’Artois meinte, seine Gemahlin könnte diese Strenge gegen ihren leichtlebigen Ehemann erwirkt haben. Die Königin dagegen glaubte eher, ihr geschworener Feind, Monsieur de Provence, der zweite Bruder des Königs, habe dessen Eifersucht erregt, indem er ihm Madames heimlichen Ausflug nach Paris gemeldet hatte.

Derweilen war das Haus erreicht. Die Frauen staunten nicht wenig, als in der Tat kein dienstbarer Geist sichtbar wurde und dennoch Türen sich öffneten, ein köstliches Nachtmahl bereitstand, das Schlafgemach gerichtet war, und all das mittels unterschiedlicher Knopfdrücke, Klingelzeichen und geheimer Mechanismen.

»Jetzt begreife ich die eifersüchtige Unruhe Ihrer Gemahlin, Schwager«, sagte lächelnd die Königin, als der Graf mit guten Wünschen für die Nacht und der Versicherung sich beurlaubte, dass ihm noch drei weitere Häuser dieser Art zur Auswahl stünden.

»Bei Tagesanbruch wird der Befehl aufgehoben sein, dann kehren Sie unbehelligt ins Schloss zurück«, riet er den Damen zum Abschied, »wenn Sie aus jenem Schrank dort sich einen der Mäntel wählen, der Sie vollkommen verkleiden wird.«

Der Alkoven der Königin

Am Morgen klopfte Ludwig XVI. in seinem veilchenblauen Schlafrock, ungepudert, ohne Perücke, so wie er aus dem Bett gestiegen war, an die Tür zum Vorzimmer der Königin.

Die diensthabende Zofe öffnete.

»Sire …!« stammelte sie erstaunt.

»Die Königin!« knurrte Ludwig.

»Ihre Majestät schläft, Sire.«

»Treten Sie beiseite!«

Die Frau gab nach. An der Tür zum Schlafzimmer traf der König auf Madame de Miséry, die oberste Kammerfrau der Majestät. Sie verneigte sich tief vor dem dicken Mann.

»Sire«, sagte sie leise, »Ihre Majestät hat noch nicht gerufen. Es ist erst halb sieben. Die Königin pflegt vor sieben Uhr nicht zu erwachen.«

»Sind Sie sicher, dass die Königin schläft?« fragte er spöttisch. Damit griff er nach der Klinke. Der Schlafraum war dunkel, die Läden waren geschlossen, Vorhänge und Stores herabgelassen.

Der König eilte zum Bett.

»Ah, Madame de Miséry, was soll der Lärm?« murmelte schlaftrunken die Königin.

»Guten Morgen, Madame«, sagte der König mit sauersüßer Miene, während er forschende Blicke um sich warf.

»Sie sind es, Sire? Was führt Sie zu so früher Stunde hierher? – Madame de Miséry, öffnen Sie die Fenster.«

»Warum haben Sie gestern nicht empfangen, Madame?« fragte der König.

»Wen? Monsieur de Provence?« fragte die Königin geistesgegenwärtig, dem Verdacht ihres Gatten vorgreifend.

»Richtig. Er hatte sich angemeldet, Ihnen seine Aufwartung zu machen. Man entgegnete ihm, Sie wären abwesend.«

»Madame de Miséry, hat man Herrn de Provence gestern gesagt, ich sei nicht im Schloss?«

Madame de Miséry, die der Königin ein Tablett mit Briefen ans Bett brachte, wobei ihr Finger auf einem Schreiben lag, dessen Handschrift Marie-Antoinette sofort erkannte, gab zur Antwort: »Sire, man hat Monseigneur lediglich gesagt, dass Madame nicht empfange.«

Unterdes hatte die Königin das Schreiben gelesen: Sie sind gestern Abend um acht Uhr aus Paris zurückgekehrt. Laurent wird es bezeugen.

»Nun, Sire«, sagte die Königin, indem sie die übrigen Briefe entsiegelte, »steht es mir nicht frei, Ihren Herrn Bruder zu empfangen oder nicht zu empfangen? Sie wissen, sein Esprit langweilt mich. Ich bin lieber zu Bett gegangen.«

»Ah, und ich meinte, Sie wären in Paris gewesen.«

»Gewiss war ich in Paris, aber man kommt doch von dort zurück?«

»Fragt sich nur, wann, Madame.«

»Madame de Miséry, wann bin ich gestern aus Paris gekommen?«

»Etwa um acht Uhr, Majestät.«

»Mir scheint, Sie täuschen sich, Madame de Miséry«, entgegnete der König.

»Madame Duval«, wurde eine der Zofen gefragt, die im Vorzimmer warteten, »wann kam Ihre Majestät gestern aus Paris?«

»Es mag gegen acht Uhr gewesen sein«, war die Antwort.

»Laurent!« rief Madame de Miséry durchs Fenster hinunter, »wann war Ihre Majestät gestern Abend aus Paris zurück?«

»Um acht Uhr«, rief der Pförtner von der Terrasse herauf.

Auf einen Wink der Königin verschwanden die diensthabenden Damen.

»Verzeihen Sie mir, Madame«, sagte Ludwig beschämt, »ich weiß nicht, was mir in den Sinn gekommen war.«

»Sire«, und Marie-Antoinette zog ihre Hand zurück, die der König zum Zeichen der Versöhnung küssen wollte, »eine Königin von Frankreich lügt nicht. Ich habe das Schloss erst heute Morgen um sechs Uhr betreten. Ohne den Beistand des Grafen d’Artois hätte ich wie eine Bettlerin vor verschlossenen Toren genächtigt.«

Ludwig blickte betroffen.

»Sie sehen, Ihre Leute waren auf dem Posten, aber auch ich habe meine Hilfskräfte. Wünschen Sie, dass wir in dem Stil fortfahren, dann bedenken Sie, welche Auswirkungen Ihr grober Scherz auf die Würde des Königtums und die Ehre der Königin von Frankreich haben könnte.«

»Madame, ich hatte also recht, Ihnen eine Lektion erteilen zu wollen. Mir war gemeldet worden, dass Sie mit Ihren Kavalieren im Schlitten nach der Stadt gefahren sind. Diese leichtlebigen jungen Herren kompromittieren Sie vor dem Volk von Paris. Sie vergessen, in welcher kritischen Situation wir uns befinden. Halten Sie es für verantwortlich, die Stadt gegen uns zu erbittern und skandalös spät in der Nacht zurückzukehren?«

»In meiner Begleitung befand sich nur Fräulein von Taverney, deren Ruf ja wohl über jeden Zweifel erhaben ist. Und in Paris war ich einzig, um mich persönlich zu überzeugen, wie die Enkelin eines großen Fürsten, eine Valois, in diesem Lande dem Elend preisgegeben ist.«

Der König brach in Lachen aus.

»Ah, ich weiß, ich weiß, Sie meinen diese kleine Intrigantin. Sie überschüttet meine Minister, bedrängt meine Tanten, überhäuft mich selbst mit Bittgesuchen.«

»Wenn sie, wie ich anhand ihrer Beweisstücke feststellen konnte, eine Valois ist, sollte sie eine Pension und ihr Gatte ein Regiment erhalten, wie es sich für die Abkömmlinge eines Königshauses geziemt.«

»Vorsicht, Madame, übereilen Sie nichts. Diese kleine Valois wird mir noch genug Federn ausrupfen. Sie hat einen scharfen Schnabel.«

»Ich habe ihr vorerst hundert Louisdor gegeben.«

»Hundert Louisdor, Madame, in diesen Zeiten! Wissen Sie, wie es um die Staatsfinanzen aussieht? – Nun gut, das mag der Frau zunächst reichen. Nur keine Pension, nichts Festes. Ihr gutes Herz ist da in eine Falle gegangen, glauben Sie mir. Nun denn, ich bitte Sie für meinen Scherz, wie Sie es nannten, um Ihres guten Herzens willen um Vergebung.«

Damit führte Ludwig ihre Hand an seine Lippen.

»Nein, Sire«, sagte die Königin, »Sie sind nicht gut zu mir.«

»Was geben Sie mir«, entgegnete lachend der König, »wenn ich Ihnen beweise, dass ich nicht einmal richtig böse war, als ich zu Ihnen kam?« Und lächelnd griff der König in seine Tasche, aber so langsam, wie jemand, der die Geduld eines Kindes auf die Probe stellt, dem er ein Spielzeug schenken will.

Neugierig setzte sich die Königin auf. Endlich zog er ein goldgeziertes Etui aus rotem Maroquinleder hervor. Er bot es ihr dar, und sie öffnete es hastig.

»Oh, ist das schön! Mein Gott, ist das schön!« rief sie, starr vor Entzücken.

Und sie ergriff mit beiden Händen ein Halsgeschmeide von so wunderbarem Feuer, dass in ihren schlanken Fingern eine Flut von Phosphor und Flammen zu funkeln schien.

Die Königin betrachtete die Diamanten, groß wie Haselnüsse und von vollkommenster Reinheit, mit atemlosem Staunen.

»Oh, ist das herrlich, Sire!« rief sie endlich. »Wie kunstvoll die Steine nach der Größe geordnet sind! Der Juwelier, der dieses Kollier gefertigt hat, ist ein Künstler. Ich vermute, die Herren Boehmer & Bossange

»Sie haben es erraten, Madame. Nur, hüten Sie sich, meine Liebe, hüten Sie sich vor Ihrer Begeisterung, dieses Halsband würden Sie hoch bezahlen.«

»Oh, Sire!« rief die Königin, und ihr strahlendes Antlitz verdunkelte sich. »Ist es wirklich so teuer?«

»Allerdings«, sagte Ludwig, »aber lassen Sie mir die Freude, es an Ihrem Hals zu sehen. Erst dort erhält es seinen wahren Wert.«

Hiermit griff der König nach den beiden Enden des Kolliers und wollte es seiner Gemahlin um den Hals legen.

»Nein«, sagte die Königin bestimmt, »keine Kindereien! Dieser Schmuck ist vermutlich seine eineinhalb Millionen wert. Und die Schatzkammern des Königs sind leer. Ich hörte, so viel koste ein Linienschiff. Der König von Frankreich braucht ein Linienschiff dringender als die Königin ein Kollier.«

»Ihr Verzicht ist erhaben, Antoinette. Frankreich wird Sie dafür segnen.«

Die Königin seufzte auf.