Gunter Pirntke (Herausgeber)

Mark Twain

Tom Sawyer und Huckleberry Finn

Impressum

Covergestaltung: Alexandra Paul

Digitalisierung: Gunter Pirntke



2012  andersseitig.de

ISBN: 978-3-95501-053-9


andersseitig Verlag

Dresden

www.andersseitig.de


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Inhalt

Impressum

TOM SAWYERS ABENTEUER

Tom ist kein Musterknabe

Strafarbeit zu verkaufen!

Selig sind die Leidtragenden

Die Schule ist eine Plage!

Tom ist verliebt

Ein unheimliches Erlebnis

Die Zeugen schweigen

Die Inselpiraten

Heimkehr aus dem Jenseits

Der Prozess

Die beiden Schatzgräber

Auf der Spur der Räuber

In der Höhle verirrt

Der Schatz wird geborgen

DIE ABENTEUER DES HUCKLEBERRY FINN

Wir gründen eine Bande

Ich werde verschleppt

Endlich kann ich fliehen

Huck Finn ist verschwunden

Räuber auf dem Wrack

Abenteuer auf dem Floß

Die beiden Betrüger

Sie haben Jim verkauft!

Vertauschte Rollen

Wir wollen Jim stehlen!

Entführung nach allen Regeln

Warnbriefe und Verhöre

Eine tolle Flucht

Der Schwindel wird aufgedeckt

TOM SAWYERS ABENTEUER

Tom ist kein Musterknabe

„Tom!“

Keine Antwort.

„Tom!“

Keine Antwort.

„Wo nur der Junge steckt? Du, Tom!“

Keine Antwort.

Die alte Dame zog ihre Brille auf die Nase herunter und sah über die Gläser hinweg im Raum umher; dann schob sie die Brille auf die Stirn und sah unter ihr hindurch. Selten oder nie sah sie durch die Gläser; die Brille war ihr Prunkstück, ihr Herzensstolz, sie war eigentlich nicht für den Gebrauch bestimmt, sondern zur Zierde da. Sie hätte genauso gut durch ein Paar Ofenringe sehen können.

Für einen Augenblick machte sie ein erstauntes Gesicht und dann sagte sie, nicht heftig, aber laut genug, dass die Möbel es hätten hören können: „Wenn ich dich erwische, werde ich dich...“

Sie beendete den Satz nicht, denn jetzt bückte sie sich und stocherte mit dem Besen unter dem Bett herum, was ihren ganzen Atem in Anspruch nahm. Aber nichts als die Katze kam zum Vorschein.

Sie öffnete die Tür, stand still und sah hinaus auf die Tomatenpflanzen und „Stinkkräuter“, die den Garten darstellten.

Kein Tom. Sie erhob ihre Stimme und rief: „D-u-u-u, Tom!“

Da hörte sie ein ganz leises Geräusch hinter sich, drehte sich um und konnte gerade noch einen kleinen Jungen bei der Jacke erwischen und so seine Flucht verhindern.

„Na! Ich hätte auch an den Wandschrank denken sollen! Was tust du hier?“

„Nichts!“

„Nichts! Sieh deine Hände an! Und deinen Mund! Was ist das für ein Zeug?“

„Weiß nicht, Tante.“

„Nun, aber ich weiß es. Es ist Marmelade, das ist es! Vierzigmal habe ich dir gesagt, dass ich dir das Fell gerben werde, wenn du mir die Marmelade anrührst! Gib mir die Rute!“

Die Rute schwebte in der Luft - die Gefahr war nahe...

„O Gott, Tante, sieh nur mal hinter dich!“

Die alte Dame fuhr herum und raffte ihre Röcke, um der vermeintlichen Gefahr zu entgehen. Der Junge nutzte die Gelegenheit, lief sofort weg, kletterte den hohen Lattenzaun hinauf und verschwand.

Seine Tante Polly war für einen Augenblick verdutzt, doch dann musste sie lachen.

„Zum Kuckuck, kann ich es denn niemals lernen? Hat er mir nicht schon immer Streiche gespielt, wenn ich nach ihm gesucht habe? Aber man kann einem alten Hund keine neuen Kunststücke mehr beibringen, wie man so sagt. Zum Kuckuck noch mal, er erfindet immer etwas Neues. Und wie soll unsereins wissen, was gerade kommt: Er scheint zu wissen, wie lange er mich plagen kann, bevor ich zornig werde, und er weiß; wenn er mich für einen Augenblick ablenken oder mich zum Lachen bringen kann, ist alles wieder gut und ich kann ihm nicht böse sein.

Ich tue wirklich nicht meine Pflicht an dem Jungen, der Himmel weiß es. Er steckt voller Teufeleien. Aber schließlich ist er der Junge meiner eigenen verstorbenen Schwester und irgendwie habe ich nicht das Herz, ihn anzubinden. Jedes Mal, wenn ich ihm den Willen lasse, peinigt mich mein Gewissen, und jedes Mal, wenn ich ihn prügele, bricht fast mein altes Herz. Heute wird er die Schule schwänzen und da kann ich nicht anders, als ihn morgen an die Arbeit zu kriegen, um ihn zu bestrafen. Aber ich muss meine Pflicht an ihm tun, sonst werde ich dieses Kind verderben.“

Tom schwänzte wirklich die Schule und hatte viel Spaß. Er kam so spät nach Hause, dass er Jim, dem kleinen Negerjungen, kaum noch helfen konnte, das Holz für den nächsten Tag zu sägen. Aber wenigstens kam er noch so rechtzeitig, dass er Jim seine Erlebnisse erzählen konnte, während dieser drei Viertel der Arbeit erledigte. Toms jüngerer Bruder (oder besser Halbbruder), Sid, war schon mit seiner Arbeit fertig, denn er war ein stiller Junge, nicht so abenteuerlich und unruhig.

Während Tom sein Abendbrot aß und Zucker stahl, wenn er gerade Gelegenheit dazu hatte, stellte ihm Tante Polly Fragen. Diese Fragen waren nach ihrer Meinung meist voller Arglist, denn er konnte sich durch seine Antworten leicht selbst verraten. Wie viele einfache Menschen war Tante Polly so eitel, ihre durchsichtigen Einfälle als Wunder an List zu betrachten.

„Tom, es war warm in der Schule, nicht wahr?“

„Hm.“

„Mächtig warm, nicht?“

„Ja.“

„Hattest du keine Lust, schwimmen zu gehen, Tom?“

Tom erschrak - Argwohn kam in ihm auf. Er suchte in Tante Pollys Gesicht, aber er konnte nichts Verdächtiges darin entdecken. Deshalb sagte er: „N-nein, nun, nicht sehr viel.“ Die alte Dame streckte ihre Hand aus, befühlte Toms Hemd und sagte:

„Aber trotzdem ist dir jetzt nicht zu warm.“ Es schmeichelte ihr, dass sie bemerkt hatte, wie trocken das Hemd war, und dass noch niemand wissen könne, was sie vorhatte.

Trotzdem wusste Tom jetzt schon, woher der Wind wehte.

Er kam ihrer nächsten Frage zuvor: „Einige von uns haben die Köpfe unter die Pumpe gehalten - sieh, mein Kopf ist jetzt noch feucht.“

Tante Polly war ärgerlich, dass sie diesen wichtigen Beweisübersehen und einen Trumpf aus der Hand gegeben hatte. Dann hatte sie einen neuen Einfall, „Tom, musstest du nicht deinen Hemdkragen auftrennen, wo ich ihn angenäht hatte, wenn du deinen Kopf unter die Pumpe halten wolltest? Knöpf deine Jacke auf!“

Die Unruhe verschwand aus Toms Gesicht. Er öffnete seine Jacke. Sein Hemdkragen war angenäht.

„Zum Kuckuck! Da hört sich doch alles auf! Ich war sicher, du hättest die Schule geschwänzt und wärest schwimmen gegangen. Aber ich habe mich geirrt, Tom. Ich glaube, du bist diesmal wirklich unschuldig. Zieh deine Jacke gerade, bitte.“

Sie war etwas traurig, dass ihr Scharfsinn sie im Stich gelassen hatte, aber auch etwas froh, dass Tom diesmal gehorsam gewesen war.

Aber Sidney sagte: „Nanu, ich hatte geglaubt, du hättest seinen Kragen mit weißem Garn angenäht. Dies ist aber schwarz.“

„Ich habe natürlich mit weißem Garn genäht! Tom!“

Aber Tom wartete nicht auf das, was kam. Als er zur Tür hinausflitzte, sagte er: „Warte, Sidney, dafür kriegst du deine Tracht Prügel!“

An einem sicheren Orte untersuchte Tom zwei große Nadeln, die er unter die Aufschläge seiner Jacke gesteckt hatte. Inder einen war weißes Garn und in der anderen schwarzes. Er sagte halblaut vor sich hin:

„Wenn Sid nicht gewesen wäre, hätte sie es niemals bemerkt. Verdammt noch mal! Manchmal näht sie es mit Weiß, und manchmal näht sie es mit Schwarz. Ich wünschte, sie bliebe beidem einen oder anderen - ich kann es mir nicht merken. Aber der Sid kriegt todsicher seine Prügel dafür! Ich werd's ihm schon zeigen!“

Zwei Minuten später hatte er all seine Sorgen vergessen. Nicht, dass seine Sorgen für ihn weniger schwer und bitter gewesen wären als die Sorgen eines Mannes für einen Mann, aber ein neues und mächtiges Interesse zog ihn in seinen Bann und nahm ihm seinen Kummer - genau wie ein Mann sein Missgeschick in der Aufregung über eine neue Entdeckung vergisst.

Toms Entdeckung war eine neue Art, zu pfeifen, die er kürzlich von einem Neger gelernt hatte. Er brannte geradezu darauf, es ungestört zu üben. Dieses Pfeifen bestand aus seltsamen vogelartigen Lauten, einer Art von Trillern, die man hervorbrachte, indem man die Zunge in kurzen Abständen unter den Gaumen presste. - Der Leser erinnert sich vielleicht, wie es gemacht wird, wenn er jemals ein echter Junge gewesen ist. Durch Eifer und Ausdauer brachte Tom es bald zu einer gewissen Fertigkeit, und als er die Straße hinuntertrottete, war sein Mund mit Harmonie, seine Seele mit Dankbarkeit erfüllt. Er fühlte sich genauso, wie sich ein Astronom fühlen mag, der gerade einen neuen Planeten entdeckt hat.

Die Sommerabende waren lang. Es war noch nicht dunkel. Tom hörte auf zu pfeifen, denn ein Fremder ging vor ihm, ein Junge, etwas größer als er selbst. Ein Neuer, ganz gleich welchen Alters oder Geschlechts, war eine bemerkenswerte Seltenheit in dem kleinen schäbigen Städtchen St. Petersburg. Dieser Junge war gut angezogen - zu gut angezogen für einen Wochentag. Das war einfach erstaunlich. Seine Kappe war sehr hübsch, seine zugeknöpfte Jacke und seine Hosen waren neu und adrett.

Er trug Schuhe, obwohl es doch nur ein gewöhnlicher Freitag war. Er hatte sogar eine Krawatte umgebunden - ein helles Seidenband.

Er gab sich so großstädtisch, dass es Tom den Atem verschlug. Je mehr Tom dieses elegante Wunder anstarrte, desto schäbiger und verschlissener kam er sich selbst vor. Keiner der beiden sprach. Bewegte sich der eine, so bewegte sich auch der andere, aber immer nur seitwärts im Kreis herum; sie ließen sich nicht aus den Augen. Endlich sagte Tom:

„Ich kann dich verdreschen!“

„Ha, möcht ich mal sehen.“

„Ich kann's wirklich.“

„Nee, das kannst du nicht!“

„Ja, ich kann's!“

„Ach was!“

„Ja!“

„Nein!“

Eine unbehagliche Pause. Dann fragte Tom: „Wie heißt du?“

„Das geht dich gar nichts an.“ „Ich will aber, dass es mich was angeht!“ „Nun, warum tust du's dann nicht?“ „Wenn du noch viel redest, tu ich's!“ „Viel - viel - viel! Nun?“

„Du kommst dir wohl sehr wichtig vor, nicht wahr? Ich könnte dich mit einer Hand verprügeln, wenn ich nur wollte.“„Nun, warum tust du's nicht? Du sagst immer nur, dass du es kannst.“

„Nun, ich tu's auch, wenn du noch mehr sagst.“

„Pah, was für einen großen Mund doch manche Leute haben!“

„Wichtigtuer! Du denkst, du bist ein ganzer Kerl, nicht wahr? Mensch, was für ein dämlicher Hut!“

„Brauchst ja nicht hinzusehen, wenn er dir nicht passt! Schlag ihn mir doch runter, wenn du's wagst!“

„Doofmann!“

„Selbst einer!“

„Geh nach Hause, du!

„Wenn du noch mehr Quatsch red'st, schlag ich einen Stein an deinem Kopf kaputt.“

„Pah!“

„Ja, das tu ich!“

„Und warum tust du's nicht? Warum sagst du immer nur, du wirst es tun? Warum tust du es nicht? Aber du hast ja nur Angst!“

„Ich habe keine Angst!“

„Doch!“

„Nein!“

„Ja!“

Wieder eine Pause, abermals gingen sie umeinander herum. Dann standen sie Schulter an Schulter und schoben sich gegenseitig. Tom sagte: „Hau ab!“ „Hau du ab!“ „Ich will nicht!“ „Ich will auch nicht!“

Sie sahen einander hasserfüllt an, jeder stellte einen Fuß ein wenig vor. Aber keiner konnte einen Vorteil erringen. Sie schoben sich gegenseitig, bis sie erhitzt und rot waren. Dann, ohneeinander aus den Augen zu lassen, traten sie gleichzeitig zurück. Tom sagte: „Du bist ein Feigling. Ich werde meinen großen Bruder auf dich hetzen, der wird dich mit seinem kleinen Finger umwerfen - ich tu's wirklich.“

„Was geht mich dein großer Bruder an? Ich habe einen Bruder, der viel größer ist als deiner - der kann deinen Bruder über diesen Zaun werfen.“ (Beide Brüder waren erfunden.)

„Lügner!“

„Das bin ich noch längst nicht, auch wenn du es sagst!“

Mit seiner großen Zehe zog Tom einen Strich in den Sand und sagte: „Wenn du es wagst, über diesen Strich zu treten, verdresch ich dich so, dass du nicht mehr aufstehen kannst.“

Prompt trat der fremde Junge über die Linie und sagte: „Nun tu's schon, wenn du es immer sagst!“

„Sieh dich vor - fordere mich nicht heraus!“

„Tu's doch!“

„Teufel auch, für zwei Pfennig tu ich's.“

Der fremde Junge zog zwei Kupferstücke aus der Tasche und hielt sie Tom höhnisch unter die Nase. Tom schlug sie ihm aus der Hand. Im nächsten Augenblick rollten beide Jungen am Boden, ineinander verkrallt wie Katzen; sie zerrten sich gegenseitig an den Haaren und Kleidern und schlugen sich auf die Nasen und bedeckten sich mit Staub und Ruhm. Schließlich nahm das Kampfgewühl erkennbare Formen an, und durch den Straßenstaub wurde Tom sichtbar. Er saß rittlings auf dem fremden Jungen und bearbeitete ihn mit seinen Fäusten.

„Sag: Genug!“, schrie er.

Der Junge versuchte, sich zu befreien. Er heulte vor Wut.

„Sag: Genug!“ - Die Schläge prasselten von neuem.

Schließlich überwand sich der Fremde zu einem erstickten „Genug!“

Tom ließ ihn aufstehen und sagte: „Das wird dir eine Lehresein! Das nächste Mal wirst du dich besser vorsehen, mit wem du anbändelst.“

Der Junge lief schluchzend und schnaufend davon und klopfte den Staub von seinen Kleidern. Ab und zu drehte er sich um, schüttelte die Faust und drohte, er werde Tom das nächste Mal auflauern. Tom antwortete nur mit einem verächtlichen Schnauben, drehte sich um und wollte weitergehen. Da nahm der fremde Junge einen Stein und warf ihn Tom in den Rücken. Dann jagte er davon wie ein Wiesel.

Tom lief dem Hinterlistigen nach bis zu dessen Haus und erfuhr auf diese Weise, wo er wohnte. Er blieb noch eine Weile draußen am Zaun stehen und forderte den Feind auf, herauszukommen. Aber der Feind schnitt ihm nur Fratzen hinter dem Fenster und lehnte ab.

Schließlich erschien die Mutter des Feindes, nannte Tom ein schlechtes, bösartiges, gewöhnliches Kind und jagte ihn fort. Er ging, aber er vergaß nicht zu sagen, dass er sich erlauben würde, ihren Bengel einmal aufzusuchen.

An diesem Abend kam er ziemlich spät nach Hause. Sehr vorsichtig stieg er durchs Fenster, konnte es aber unglücklicherweise nicht verhindern, dass seine Tante ihn sah. Als sie bemerkte, in welchem Zustand seine Kleider waren, fasste sie den festen Entschluss, Tom dafür zu bestrafen und aus seinem freien Samstag einen harten Arbeitstag zu machen.


Strafarbeit zu verkaufen!

Klar und frisch kam der Samstagmorgen; die ganze Sommerwelt war erfüllt von Leben. Heute hatte ein jeder ein Lied im Herzen und wem das Herz jung war, dem drängte sich eine Melodie auf die Lippen. Die Menschen schritten beschwingt und leicht dahin, und ihre Gesichter waren fröhlich. Die Akazienbäume standen in voller Blüte und erfüllten die Luft mit Wohlgeruch.

Tom erschien mit einem Eimer voll weißer Farbe und einem langstieligen Pinsel. Er musterte den Zaun und da verließ ihn aller Frohsinn und machte einer tiefen Traurigkeit Platz. Zehn Meter lang und über zwei Meter hoch war der Zaun! Es war zum Verzweifeln -das Leben war nur noch eine Plage! Seufzend tauchte er den Quast in die Farbe und strich damit über die oberste Planke. Er wiederholte diese Übung zweimal, verglich den getünchten Streifen mit der unübersehbaren Fläche des ungetünchten Zaunes und setzte sich dann entmutigt auf einen Baumstumpf.

Ausgelassen hüpfend, kam jetzt Jim mit einem Blecheimer aus dem Tor und sang den neuesten Schlager „Buffalo-Mädchen“. Tom hatte sich immer davor gedrückt, Wasser aus dem Stadtbrunnen zu holen, aber heute beneidete er Jim um diese Arbeit. Er erinnerte sich, dass es am Brunnen lustig war. Weiße Kinder, Mulatten- und Negerkinder trafen sich dort beim Wasserholen, tauschten Spielsachen und stritten und balgten sich. Tom wusste auch, dass Jim immer eine volle Stunde brauchte, um einen Eimer Wasser zu holen, obwohl doch der Brunnen nur 150 Meter weit entfernt war - und selbst dann musste immer noch jemand gehen, ihn zu suchen.

Tom sagte: „Du, Jim, wenn du ein bisschen weitertünchst, will ich das Wasser für dich holen.“

Jim schüttelte den Kopf und sagte: „Kann nicht, Master Tom. Alte Missis hat mir gesagt, ich soll nur Wasser holen gehen und nicht mit Master Tom sprechen. Sie sagen, sie wissen, dass Master Tom keine Lust hat zum Tünchen, aber ich sollen Wasser holen gehen.“

„Ach, mach dir doch nichts daraus, was sie sagt, Jim. So redet sie immer. Gib mir den Eimer - ich bin gleich wieder da. Sie wird es doch nicht erfahren.“

„Oh, ich dürfen nicht, Master Tom. Alte Missis werden Fell über Ohren ziehen!“

„Sie! Sie haut nie jemand — höchstens klopft sie einem mit ihrem Fingerhut auf den Kopf - und wer macht sich schon was daraus? Sie redet dummes Zeug, aber das tut ja niemand weh - na ja, nur wenn sie weint... Jim, ich hab auch was Schönes für dich, guck mal, 'ne weiße Murmel!“

Jim wurde unschlüssig.

„Eine weiße Murmel, Jim! Ist sie nicht wundervoll?“

„Oh, das sein prächtige Murmel, sag ich dir! Aber Master Tom, ich hab schreckliche Angst vor alte Missis...“

„Übrigens: ich zeige dir auch meine wunde Zehe, wenn du tünchst.“

Jim war auch nur ein Mensch und dieses Angebot war zu viel für ihn. Er stellte seinen Eimer nieder, nahm die weiße Murmel und bückte sich mit höchstem Interesse über die Zehe, während Tom den Verband entfernte. Im nächsten Augenblick jedoch flog Jim die Straße hinunter, den Eimer in der Hand; Tom tünchte wie besessen und Tante Polly zog sich mit Triumph in den Augen und einem Pantoffel in der Hand von der Veranda zurück.

Aber Toms Eifer hielt nicht lange an. Er dachte daran, wie schön dieser Tag hätte sein können und sein Kummer vervielfachte sich. Bald würden seine Kameraden kommen und ihm von ihren Plänen für den Tag erzählen - und natürlich würden sie sich furchtbar lustig über ihn machen, dass er arbeiten musste. Schon der Gedanke daran brachte ihn in Zorn. Er kramte seine kleinen Schätze aus der Tasche und prüfte sie - kleine Gegenstände, Spielsachen, Murmeln und Blechstücke; genug, um damit bei jemand eine leichte Arbeit einzutauschen, aber nicht genug, um eine halbe Stunde Freiheit zu erkaufen. Er gab den Gedanken auf, die Jungen zu bestechen.

In diesem hoffnungslos dunklen Augenblick kam ihm eine Idee! Eine großartige, wundervolle Idee!

Er nahm seinen Quast wieder in die Hand und machte sich gelassen an die Arbeit. Bald tauchte auch Ben Rogers auf - ausgerechnet der Junge, dessen Spott er am meisten gefürchtet hatte. Ben ging nicht, er hüpfte und sprang ausgelassen - Beweis genug dafür, dass er gute Laune hatte und seine Erwartungen hoch waren. Er aß einen Apfel, und zwischen den einzelnen Bissen stieß er lange, melodische Pfiffe aus, denen ein tiefes Dingdong, Dingdong, Dingdong folgte: Er spielte Dampfer.

Als er näher kam, setzte er die Geschwindigkeit herab, steuerte in die Mitte der Straße, lehnte weit über nach Steuerbord, und dann - er war ganz bei der Sache und gab sich alle Mühe - drehte er bei, denn er stellte den großen Dampfer „Big Missouri“ vor. Er war Schiff, Kapitän, Maschine, alles zugleich und so bildete er sich ein, er stehe auf seinem eigenen Sturmdeck. Er gab die Befehle und führte sie selbst aus.

„Stopp! Klingelingling!“

Der Hauptweg war fast zu Ende, deshalb wandte er sich jetzt langsam dem Seitenweg zu.

„Jetzt achteraus! Klingelingling!“

Er legte seine Arme steif an die Seiten.

„Steuerbord achteraus! Klingelingling!“

Währenddessen beschrieb seine rechte Hand gewaltige Kreise - sie musste ein vierzig Fuß hohes Rad vorstellen. „Backbord stopp! Klingelingling! Backbord stopp! Halt!“

Tom beachtete den Dampfer nicht und tünchte ruhig weiter.

Einen Augenblick war Ben erstaunt, dann sagte er: „Hihi! Hamse dich reingelegt?“

Keine Antwort. Tom betrachtete seinen letzten Quaststrich mit dem Auge eines Künstlers. Dann strich er noch einmal zart mit dem Pinsel darüber und musterte das Ergebnis kritisch. Ben kam näher. Tom lief bei dem Duft des Apfels das Wasser im Munde zusammen, er ließ sich aber nichts anmerken und hielt sich an die Arbeit.

Ben sagte: „Hallo, alter Junge, hast zu arbeiten, was?“

Tom drehte sich um und sagte: „Nanu, du bist es, Ben! Ich hab dich gar nicht gesehen.“

„Du, ich geh schwimmen - wirklich! Hast du nicht auch Lust? Oder möchtest du vielleicht lieber arbeiten?“

Tom betrachtete den Jungen nachdenklich und sagte dann: „Was nennst du eigentlich Arbeit?“

„Na, ist das etwa keine Arbeit?“

Tom begann wieder mit seiner Arbeit und antwortete herablassend: „Nun, vielleicht ist es Arbeit und vielleicht ist es keine.

Ich kann nur sagen, dass es genau das Richtige ist für Tom Sawyer.“

„Ach, sieh mal an, du willst doch nicht behaupten, dass du es gern tust?“

Der Quast strich ohne Unterbrechung über die Bretter.

„Ob ich es gern tue? Nun, ich sehe nicht ein, warum ich es nicht gern tun sollte. Lange nicht jedem Jungen wird die Möglichkeit geboten, einen Zaun zu tünchen.“

Das warf natürlich ein völlig neues Licht auf die Sache! Ben hörte auf, an seinem Apfel zu knabbern. Sehr zierlich bewegte Tom seinen Quast hin und her -dann trat er einen Schritt zurück, um seine Arbeit zu betrachten. Er fügte hier und da noch einen Strich hinzu und begutachtete anschließend den Zaun von neuem.

Ben beobachtete jede Bewegung. Die Sache interessierte und fesselte ihn immer mehr. Schließlich sagte er: „Du, Tom, lass mich mal ein bisschen tünchen.“

Tom wollte zustimmen; aber - dann überlegte er es sich. „Nein, nein, ich schätze, es würde kaum was draus werden, Ben. Weißt du, Tante Polly nimmt es schrecklich genau mit diesem Zaun. Natürlich, wenn es der hintere Zaun wäre, hätte sie bestimmt nichts dagegen, wenn du ihn streichen würdest, aber so? Ja, sie nimmt es furchtbar genau mit diesem Zaun - er musswirklich sehr sorgfältig gestrichen werden. Ich schätze, es gibt keinen Jungen unter tausend, vielleicht auch unter zweitausend, der es so machen kann, wie es gemacht werden muss.“

„Ist das wirklich so? Och, lass mich doch mal versuchen! Nur ein ganz kleines bisschen - ich würde dich versuchen lassen, wenn ich an deiner Stelle wäre, Tom!“

„Ben, ich tat's gerne, ehrlich; aber Tante Polly - nun, Jim wollte es so gern tun, aber sie wollte es nicht. Sid wollte es tun, aber der durfte es auch nicht. Siehst du denn nicht, wie ich in der Klemme sitze? Wenn du diesen Zaun bearbeitest und es geht etwas schief...“

„Ach was, ich werd mich in Acht nehmen. Jetzt lass mich versuchen. Hier, ich geb dir auch das Gehäuse von meinem Apfel.“

„Nun ja, dann... Nein, Ben, nicht. Ich habe Angst.“ „Ich geb dir auch den ganzen Apfel!“

Tom gab ihm den Quast scheinbar widerwillig -innerlich aber jubelte er. Und während der frühere Dampfer „Big Missouri“ schwitzend in der Sonne arbeitete, setzte sich der pensionierte Künstler im Schatten auf eine Tonne, ließ die Beine baumeln, aß seinen Apfel und sann darüber nach, wie er noch mehr Unschuldige einfangen könnte.

Arbeitskräfte gab es genug; die Jungen kamen, um ihn zu verhöhnen, und blieben, um zu tünchen. Bevor Ben völlig ermüdet war, hatte Tom schon Billy Fisher für die nächste halbe Stunde gewonnen — natürlich nicht ohne dessen Drachen zu verlangen, der noch sehr gut in Ordnung war. Als Billy aufhörte, war Tom schon Besitzer einer toten Ratte; die hatte eine Schnur um den Hals, mit der man sie durch die Luft wirbeln konnte. Johnny Miller hatte sie ihm verkauft.

So ging es weiter, Stunde um Stunde.

Und als der Nachmittag kam, war aus dem morgens noch ausgesprochen armen Jungen ein Tom geworden, der sich fast im Wohlstand baden konnte. Zu dem Drachen und der toten Ratte waren noch folgende Dinge gekommen: zwölf Murmeln, ein kleines Stück von einer Mundharmonika, eine Scherbe aus blauem Flaschenglas zum Durchgucken, eine Kanone, ein Schlüssel, mit dem man nichts aufschließen konnte, ein Stückchen Kreide, ein Zinnsoldat, zwei Kaulquappen, sechs Knallbonbons, ein Kätzchen mit nur einem Auge, eine Messingtürklinke, ein Hundehalsband natürlich ohne Hund, ein Messergriff, vier Stückchen Apfelsinenschale und ein brüchiger alter Fensterrahmen.

Die ganze Zeit über war Tom glücklich und zufrieden - er hatte Gesellschaft und außerdem wurde der Zaun dreimal völlig übergepinselt. Wäre ihm die Farbe nicht ausgegangen, so hätte er jeden Jungen des Städtchens arm gemacht.

Manchmal war das Leben gar nicht so schwer. Tom hatte, ohne es zu wissen, das große Gesetz menschlichen Handelns entdeckt - wenn man nämlich einem Menschen eine Sache schmackhaft machen will, so muss man sie nur als schwer erreichbar hinstellen. Wäre er ein großer und berühmter Philosoph gewesen -wie zum Beispiel der Verfasser dieses Buches -, so hätte Tom jetzt begriffen, dass Arbeit das ist, was man tun muss, und Spiel das, was man freiwillig tut. Und damit hätte er auch verstanden, dass man es zum Beispiel „Arbeit“ nennt, künstliche Blumen herzustellen, während es als Vergnügen gilt, den Montblanc zu ersteigen.

Der Junge grübelte noch eine Weile über sein plötzliches Glück nach, dann ging er nach Hause, um zu berichten.

Tom meldete sich bei Tante Polly, die an dem offenen Fenster eines Hinterzimmers saß, das Schlafzimmer, Frühstückszimmer, Esszimmer und Bibliothek in sich vereinigte. Die laue Sommerluft, die Ruhe, der Duft der Blumen und das einschläfernde Summen der Bienen hatte sie über ihrem Strickzeug einschlummern lassen. Ihre einzige Gesellschaft war die Katze und die lag schlafend in ihrem Schoß. Ihre Brille hatte die Tante zur Sicherheit hoch in die Stirn geschoben. Natürlich hatte sie angenommen, Tom sei längst auf und davon und so wunderte sie sich jetzt sehr, dass er so unerschrocken zu ihr kam.

Er fragte: „Darf ich jetzt gehen und spielen, Tante?“

„Was, schon? Wie viel hast du getan?“

„Der Zaun ist ganz fertig, Tante.“

„Tom, lüg mich nicht an — ich kann es nicht vertragen.“

„Ich lüge nicht, Tante; er ist fertig!“

In solchen Fällen glaubte Tante Polly ihm nicht. Sie ging hinaus, um sich die Sache selbst anzusehen; sie war überzeugt, dass nur zwanzig Prozent von Toms Behauptung stimmten. Als sie jedoch sah, dass der ganze Zaun getüncht war, und zwar nicht nur einmal getüncht, sondern zwei - und dreimal, war ihr Erstaunen unbeschreiblich.

„Das hätte ich nie gedacht! Da gibt es nichts, du kannst arbeiten, wenn du willst, Tom.“ Dann aber schwächte sie ihr Lob ab, indem sie sagte: „Leider muss ich sagen, dass du schrecklich selten wirklich willst. Jetzt kannst du gehen und spielen, aber sieh zu, dass du irgendwann in dieser Woche zurückkommst, sonst gerbe ich dir dein Fell.“

Sie war so angetan von seiner Glanzleistung, dass sie ihn mit in die Speisekammer nahm und ihm einen Apfel aussuchte, nicht ohne ihn salbungsvoll darauf hinzuweisen, wie viel besser doch ein durch ehrliche Arbeit erworbener Apfel schmecke als ein gestohlener. Während sie mit einem biblischen Sprüchlein ihre Rede beschloss, ergatterte Tom heimlich einen Pfannkuchen und schlüpfte hinaus.

Er sah gerade noch, wie Sid die Außentreppe hinaufstieg, die zu den hinteren Räumen des oberen Stockwerks führte. In der nächsten Sekunde prasselten Erdklumpen wie ein Hagelsturm auf Sid nieder und bevor Tante Polly richtig begriffen hatte und Sid zu Hilfe eilen konnte, hatten diesen schon sechs oder sieben Klumpen getroffen. Tom verschwand über den Zaun. Zwar gab es ein Tor, aber für gewöhnlich musste er so schnell verschwinden, dass er davon keinen Gebrauch machen konnte.

Sein Rachedurst war gestillt, nachdem er nun mit Sid abgerechnet hatte, weil der ihn verpetzt hatte.

Bald war Tom außer Sichtweite und damit aus der Gefahrenzone heraus. Jetzt eilte er zum Kirchplatz des Ortes, wo sich verabredungsgemäß zwei „kriegerische“ Jungengruppen treffen wollten, um einen Kampf auszutragen. Tom war General der einen Armee, Joe Harper, sein Busenfreund, General der anderen. Natürlich ließen sich diese beiden großen Befehlshaber nicht herab, selbst zu kämpfen - das überließen sie ihren Soldaten -, sondern sie saßen auf einem Hügel und dirigierten die Schlacht durch Befehle, die von Adjutanten überbracht werden mussten.

Nach einem langen heißen Kampf konnte Toms Armee einen großartigen Sieg erringen. Dann wurden die Toten gezählt, die Gefangenen abgeführt und der Tag für die nächste Schlacht bestimmt. Danach setzten sich die Armeen in Bewegung und marschierten heimwärts und auch Tom lief nach Hause.


Selig sind die Leidtragenden

Als er an dem Hause vorbeikam, in dem Jeff Thatcher wohnte, sah er dort ein Mädchen im Garten - ein hübsches blauäugiges kleines Ding mit blondem Haar, das in zwei lange Zöpfe geflochten war. Sie trug ein weißes Sommerkleid und bestickte Hosen. Es nahm Tom den Atem. Eine gewisse Amy Lawrence verschwand aus seinem Herzen und hinterließ nicht einmal die kleinste Erinnerung. Eben noch war er ein siegreicher Feldherr gewesen, jetzt war er plötzlich der Unterlegene.

Bis jetzt hatte er geglaubt, dass er sie bis zum Wahnsinn liebe, er hatte sie angebetet, doch in diesem Augenblick dachte er kaum noch an sie. Es hatte ihn Monate gekostet, sie zu gewinnen; vor kaum einer Woche hatte sie ihm ihre Liebe gestanden und er war sieben Tage lang der glücklichste und stolzeste Junge der Welt gewesen. Doch jetzt, in einem einzigen Augenblick, verschwand sie aus seinem Herzen wie eine Wildfremde.

Mit heimlichen Blicken beobachtete er den neuen kleinen Engel, bis er bemerkte, dass auch sie ihn gesehen hatte. Dann tat er so, als hätte er sie nicht bemerkt, und fing an, nach Jungenart „anzugeben“, um ihre Bewunderung zu erregen. Er war gerade bei einer besonders gefährlichen turnerischen Übung, als er sah, dass das kleine Mädchen sich dem Haus zuwandte. Sofort beendete er seine Vorstellung und lehnte sich an den Zaun, in der Hoffnung, sie werde noch eine Weile bleiben. Einen Augenblick blieb sie an der Treppe stehen, dann jedoch ging sie auf die Tür zu. Ein schwerer Seufzer entrang sich Toms Brust, als sie ihren Fuß auf die letzte Stufe setzte. Aber sein Gesicht erhellte sich sofort, als sie ihm über den Zaun ein Stiefmütterchen zuwarf. Was? Eine Blume? Und für ihn?

Der Junge setzte sich in Trab und blieb ungefähr einen Schritt vor der Blume stehen, bedeckte seine Augen mit der Hand und sah die Straße hinunter, als ob er etwas besonders Interessantes entdeckt hätte. Dann hob er einen Strohhalm auf und versuchte, ihn auf der Nase zu balancieren, den Kopf weit zurückgelegt; dabei kam er der Blume immer näher. Schließlich setzte er seinen bloßen Fuß darauf, umkrallte die Blume mit seinen Zehen und hüpfte mit seinem Schatz fort. Er verschwand um die nächste Ecke. Hier befestigte er das Stiefmütterchen im Futter seiner Jacke, ganz nahe an seinem Herzen - oder vielleicht auch an seinem Magen, denn er war in der Anatomie nicht sehr bewandert.

Jetzt ging er zum Zaun zurück und trieb sich vor dem Hause herum bis zur Dämmerung; aber das kleine Mädchen zeigte sich nicht mehr. Tom tröstete sich mit der Hoffnung, dass sie hinter dem Fenster gestanden und seine Bemühungen gesehen habe. Schließlich trabte er widerstrebend nach Hause, seinen Kopf voll von dummen Gedanken und Phantasien. Irgendwann würde er sie schon einmal wieder sehen. Während des Abendessens war er so guter Stimmung, dass seine Tante staunte. Es schien ihm nichts auszumachen, dass sie ihn ausschimpfte, weil er Sid mit Erdklumpen beworfen hatte. Unmittelbar vor der Nase seiner Tante versuchte er, Zucker zu stehlen, und bezog dafür eine Ohrfeige. „Sid schlägst du nie, wenn er Zucker nimmt!“, sagte er.

„Nun, Sid quält einen auch nicht so wie du. Wenn ich nicht aufpasste, würdest du den ganzen Tag Zucker stehlen.“

Dann ging sie in die Küche und Sid, seiner Macht bewusst, langte nach der Zuckerdose - und dies mit einer Überheblichkeit, die Tom geradezu unerträglich schien. Die Zuckerdose rutschte Sid jedoch aus der Hand, fiel auf den Fußboden und zerbrach.

Tom war begeistert. Und wenn er begeistert war, konnte er sogar seinen Mund halten und still sein. Er befahl sich selbst, nicht ein Wort zu sagen, sondern still zu sitzen, bis Tante Polly wieder hereinkäme und ihn fragte, wer die Zuckerdose zerbrochen habe. Dann würde er es sagen und - ach, es war ein so wundervolles Gefühl, zu wissen, dass das Muttersöhnchen auch einmal eine Tracht Prügel kriegen würde. Er war so begeistert, dass er kaum an sich halten konnte, als die alte Dame zurückkam und wortlos auf die Scherben starrte. Jetzt kommt's! sagte er sich. Und - im nächsten Augenblick lag er auf dem Boden. Schon hatte sich die strafende Hand wieder erhoben, um zuzuschlagen, als Tom sich rasch zur Seite wandte und los schrie:

„Hör auf, warum schlägst du mich? Sid hat sie kaputtgemacht!“

Erstaunt ließ ihn Tante Polly los, und Tom hoffte, sie werde ihn jetzt mit tröstendem, wohltuendem Mitleid überschütten. Aber er wurde enttäuscht. Als sie wieder zu Atem kam, sagte sie nur:

„Uff! Na ja, du hast es trotzdem verdient für all deine Streiche, von denen ich nichts weiß.“

Kaum waren die Worte heraus, da empfand sie Gewissensbisse, und sie hatte das Bedürfnis, etwas Freundliches oder Liebes zu sagen; aber dann wiederum befürchtete sie, Tom könnte es ihr als Abbitte ihres Unrechts auslegen - und das wollte sie nicht zugeben. Also sagte sie nichts und ging kummervollen Herzens ihrer Arbeit nach.

Tom hockte in einer Ecke und schmollte und übertrieb seine Leiden maßlos. Er wusste, dass seine Tante innerlich vor ihm auf den Knien lag, und bei diesem Gedanken besserte sich seine Laune ein wenig. Er würde mit niemand sprechen, sondern nur still dasitzen. Er wusste, dass sie ihn mit einem abbittenden und tränenverschleierten Blick ansah, aber er bemühte sich, es nicht zu bemerken. Er stellte sich weiter vor, er wäre jetzt todkrank. Seine Tante beugte sich über ihn und flehte um ein kleines verzeihendes Wort - er aber würde sein Gesicht der Wand zukehren und sterben, ohne ihr zu vergeben. Ah, was würde sie dann empfinden?

Und er sah sich, wie man ihn vom Fluss zurücktrug, tot, mit nassen Locken, endlich Frieden in seinem armen Herzen. Wie sie sich über ihn werfen würde und wie ihre Tränen strömen würden und wie sie Gott anrufen würde, ihr ihren Jungen zurückzugeben! Und ganz gewiss würde sie ihn niemals mehr schlagen! Er aber würde daliegen - kalt und weiß und ohne Bewegung, ein armer kleiner Dulder, dessen Leiden endlich zu Ende waren.

Er steigerte sich so sehr in diese dramatischen Träume hinein, dass er immerzu schlucken musste. Tränen stiegen ihm in die Augen, liefen die Wangen hinab und tropften ihm schließlich von der Nase. Als kurz darauf seine Kusine Mary hereintanzte, voll von Leben und glücklich, nach einem einwöchigen Aufenthalt auf dem Lande wieder zu Hause zu sein, war ihm sein eigener Schmerz so kostbar geworden, dass er es nicht ertragen konnte, sie zu sehen. Still ging er hinaus.

Er hielt sich fern von den anderen Jungen und suchte sich einen einsamen Platz, wo er mit seinen düsteren Gedanken allein sein konnte. Ein langes Floß auf dem Fluss schien ihm geeignet und er setzte sich auf die äußere Kante und starrte in die Flut.

Er wünschte, er würde sofort ertrinken, ohne etwas davon zu merken. Dann dachte er wieder an seine Blume. Er nahm sie aus seiner Jacke, sie war verwelkt und zerknittert, doch augenblicklich verbesserte der Anblick seine finstere Stimmung. Er fragte sich, ob sie ihn bemitleiden würde? Würde sie weinen und ihre Arme um seinen Hals legen und ihn trösten? Oder würde sie sich kalt abwenden wie die ganze Welt? Diese Vorstellung versetzte ihn in eine so trübe, aber doch wieder angenehme Stimmung, dass er die ganze Angelegenheit immer von neuem durchdachte. Schließlich sah er sie in einem ganz neuen Licht, sie erschien ihm jetzt ganz richtig. Endlich erhob er sich seufzend und verschwand in der Dunkelheit.

Gegen zehn Uhr erreichte er die einsame Straße, in der die unbekannte Angebetete wohnte; einen Augenblick hielt er an, aber sosehr er auch lauschte - er konnte keinen Laut vernehmen. Nur schwacher Kerzenschein erhellte ein Fenster des zweiten Stocks. War seine Schöne hinter diesem Fenster? Er stieg über den Zaun und tastete sich vorwärts, bis er unter dem erleuchteten Fenster stand. Lange sah er voll Rührung hinauf und legte sich dann darunter auf die Erde, die Blume in den Händen, die er auf der Brust gefaltet hielt. So wollte er sterben - ausgestoßen in dieser kalten Welt, kein Dach über seinem Haupte. Kein liebes Gesicht würde sich mitleidig über ihn beugen, wenn er mit dem Tode rang. Und so würde sie ihn sehen, wenn sie den jungen Morgen begrüßte, und -oh! würde sie wohl eine kleine Träne über diese arme leblose Hülle vergießen, die einst Tom Sawyer gewesen war?

Plötzlich öffnete sich das Fenster, die misstönende Stimme eines Dienstmädchens zerriss die heilige Stille, und eine Flut von Wasser ertränkte die Überreste des auf dem Boden liegenden Märtyrers. Schnaufend sprang unser Held auf. Ein Wurfgeschoss sauste durch die Luft, begleitet von einem gemurmelten Fluch, ein Geräusch splitternden Glases folgte, und eine kleine, unscheinbare Gestalt sprang über den Zaun und war verschwunden.

Nicht lange danach, als Tom, schon entkleidet, beim flackernden Licht einer Talgkerze seine durchnässten Kleider betrachtete, wachte Sid auf. Falls er jedoch vorgehabt hatte, irgendwelche Anspielungen zu machen, so besann er sich eines Besseren und hielt den Mund, denn Toms Augen versprachen nichts Gutes. Tom schlief ein ohne die übliche Plage des Betens, was Sid stillschweigend zur Kenntnis nahm.

Die Sonne erhob sich über eine ruhige Welt und schickte segnend ihre Strahlen auf das friedliche kleine Städtchen. Nachdem das Frühstück vorüber war, hielt Tante Polly Familiengottesdienst; er begann mit Gebeten aus der Bibel und schloss mit einem geharnischten Kapitel aus dem Buch Mose. Anschließend raffte Tom sich endlich auf, seine Verse für die Sonntagsschule auswendig zu lernen.

Sid hatte sie natürlich schon vor Tagen gelernt. Tom nahm all seine Gedanken zusammen, um sich fünf Verse zu merken, und er hatte sich sowieso schon die kürzesten ausgesucht.

Nach einer halben Stunde hatte er eine blasse Vorstellung von dem, was er können musste, aber auch nicht mehr. Mary nahm sein Buch, um ihn abzuhören, und unter vielen Mühen versuchte er aufzusagen: „Selig sind die - die - die...“

„Geistig...“

„Ja - geistig! Selig sind die geistig - geistig...“

„Armen...“

„Armen! Also: Selig sind die geistig Armen, denn sie, sie...“„Ihrer... „

„Denn ihrer. Selig sind die geistig Armen, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind die Leidtragenden, denn sie - sie...“„Sol...“

„Denn sie sol...“ „Sollen!“

„Oh, sollen! Denn sie sollen - denn sie sollen - sie sollen was? Warum sagst du es mir nicht, Mary? Warum bist du so gemein und ärgerst mich?“

„O Tom, du dummer Junge, ich will dich doch nicht ärgern! Aber du musst die Verse noch einmal lernen. Lass dich nicht entmutigen, Tom, du wirst es schon schaffen. Ich gebe dir auch etwas sehr Hübsches, wenn du es tust.“

„Natürlich, aber was gibst du mir, Mary? Was ist es?“

„Nein, nein, Tom, noch sage ich es dir nicht. Aber du weißt, wenn ich sage, es ist hübsch, dann ist es hübsch.“

Also versuchte es Tom noch einmal und Marys versprochenes Geschenk war für ihn ein solcher Ansporn, dass er einen durchschlagenden Erfolg erzielte. Mary gab ihm ein nagelneues Messer, das mindestens zwölf Cent gekostet hatte.

Bald musste er sich für die Sonntagsschule umziehen. Mary gab ihm eine Waschschüssel mit Wasser und ein Stück Seife und er ging hinaus und setzte draußen die Schüssel auf eine Bank, krempelte seine Ärmel hoch, schüttete das Wasser auf die Erde und ging dann in die Küche. Dort, hinter der Tür, begann er, sein Gesicht mit einem Handtuch zu bearbeiten.

Mary beobachtete ihn und sagte: „Dass du dich nicht schämst, Tom! Du musst nicht so ungezogen sein. Das Wasser wird dir nicht weh tun!“

Tom war sehr verlegen. Die Waschschüssel wurde nochmals gefüllt, er betrachtete sie und redete sich selbst Mut zu. Dann holte er tief Atem und begann, sich nochmals zu waschen. Als er nach einer Weile in die Küche kam, beide Augen geschlossen und mit den Händen nach dem Handtuch tastend, war sein Gesicht ganz nass. Mary war allerdings noch immer nicht zufrieden. Sie begann jetzt selbst, ihn zu bearbeiten, und als sie mit ihm fertig war, glänzte er förmlich vor Sauberkeit. Sein Haar war sorgfältig gebürstet und seine kurzen Locken waren mit mathematischer Genauigkeit gelegt. (Er hasste Locken und versuchte heimlich, sie glattzubürsten; denn er hielt Locken für unmännlich.)

Dann holte Mary seinen Anzug, den er seit zwei Jahren nur in der Sonntagsschule anziehen durfte - er wurde einfach der “andere Anzug“ genannt. Und somit kennen wir auch seine gesamte Garderobe. Mary knöpfte seine Jacke bis zum Kinn zu, legte den großen Hemdkragen über seine Schultern, bürstete ihn und setzte ihm schließlich seinen bunten Strohhut auf den Kopf. Jetzt sah er zwar ordentlich und sauber aus, aber man sah es ihm an, dass er sich ausgesprochen unwohl fühlte. Er hasste Kleider, die nicht zerschlissen waren, und er hasste Sauberkeit. Er hoffte, Mary werde seine Schuhe vergessen, aber er wurde enttäuscht. Sie putzte sie sorgfältig mit Talg, wie es üblich war, und brachte sie ihm.

Sein Geduldsfaden riss, und er behauptete, er müsse immer gerade das tun, was er nicht wolle. Aber Mary sagte ruhig: „Bitte, Tom - bitte!“

Widerwillig zog er die Schuhe an. Bald war auch Mary fertig und so begaben sich die drei Kinder zur Sonntagsschule - einem Ort, den Tom von ganzem Herzen hasste. Sid und Mary dagegen besuchten sie sehr gern.

An der Kirchentür blieb Tom einen Schritt hinter den anderen zurück und sprach einen sonntäglich gekleideten Jungen an: „Sag, Billy, haste einen gelben Zettel?“

„Ja.“

„Was willste dafür haben?“

„Was willste geben?“

„Ein halbes Bonbon und 'nen Angelhaken.“

„Lass sehen.“

Tom zeigte seine Sachen vor. Sie waren zufrieden stellend, und die Güter wechselten ihren Besitzer. Dann tauschte Tom zwei weiße Glasmurmeln gegen drei rote Zettel und noch ein paar andere Dinge aus seinen Taschen gegen zwei blaue. Erkaufte Zettel von verschiedenen Farben. Jetzt betrat er die Kirche gemeinsam mit einem ganzen Schwarm sauberer Kinder, wartete noch zehn oder fünfzehn Minuten an der Tür und schob sich bis zu seinem Platz vor und fing mit dem ersten Jungen, der ihm dumm kam, zu streiten an. Der Lehrer, ein grauhaariger älterer Mann, brachte sie auseinander; doch kaum hatte er den Kindern den Rücken gedreht, als Tom auch schon einen anderen Jungen an den Haaren zog. Als der Junge sich umdrehte, schien Tom in sein Buch vertieft.

In der ganzen Sonntagsschulklasse gab es nur eine Sorte Jungen - sie waren alle unruhig, geräuschvoll und faul. Wenn sie ihre Verse aufsagen sollten, wusste keiner sie genau. Immerhin - sie kamen irgendwie durch, und jeder bekam eine Belohnung - kleine blaue Zettel mit Bibelsprüchen darauf. Jeder blaue Zettel war eine Belohnung für zwei gelernte Verse. Zehn blaue Zettelwaren so viel wert wie ein roter, zehn rote Zettel so viel wie ein gelber, und für zehn gelbe Zettel bekam der Schüler vom Superintendenten eine wenig ansehnliche Bibel überreicht.

Mary hatte auf diese Weise schon zwei Bibeln erhalten – es war der Lohn für die harte Arbeit zweier Jahre - und ein Junge deutscher Abstammung hatte sogar schon vier oder fünf gewonnen. Tom hatte sich nie viel um diese Preise gekümmert - aber schon oft hatte er sich vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn ihm die Bibel überreicht würde.

Der Superintendent stand auf der Kanzel, mit einem geschlossenen Gesangbuch in der Hand, den Zeigefinger zwischen die Blätter geschoben, und gebot Aufmerksamkeit. Er war ein abgemagerter kleiner Mann von fünfunddreißig Jahren, mit einem rötlichen Spitzbart und kurzem rotem Haar. Er trug einen steifen hochstehenden Kragen, dessen obere Enden beinahe seine Ohren berührten und dessen scharfe Ecken beinahe in seine Mundwinkel stießen. Dies zwang ihn, immer ganz geradeaus zu schauen und wenn er einmal nach der Seite blicken wollte, musste er den Körper wenden. Sein Kinn lag auf einer weit auseinander gebreiteten Krawatte, die so groß und lang war wie eine Banknote.

Er begann wie üblich: „Nun, Kinder, ich wünsche, dass ihr alle gerade und hübsch dasitzt und mir für einen Augenblick eure Aufmerksamkeit schenkt. So ist es schön. So sollten es alle braven kleinen Jungen und Mädchen tun. Aber ich sehe dort ein kleines Mädchen, das aus dem Fenster schaut - ich fürchte, sie denkt, ich bin irgendwo da draußen, vielleicht in einem der Bäume, um eine Ansprache an die kleinen Vögelchen zu halten.“ (Beifälliges Gekicher. )

In diesem Sinne ging die Ansprache weiter.

Ein gut Teil des Geflüsters, das gerade jetzt in der Klasse herrschte, war auch auf ein mehr oder weniger seltenes Ereignis zurückzuführen: es waren Gäste eingetreten - Rechtsanwalt Thatcher, begleitet von einem sehr schwachen und alten Mann, dann ein netter, wohlbeleibter älterer Herr mit eisgrauem Haar und eine vornehme Dame, die zweifellos seine Frau war. Die Dame führte ein Kind an der Hand.

Bis zu diesem Augenblick war Tom unruhig, mürrisch und von Gewissensbissen geplagt gewesen - er konnte den liebenden Blick seiner früheren Freundin, Amy Lawrence, nicht ertragen. Aber als er diesen kleinen Neuankömmling sah, hob sich seine Stimmung sofort, und sein Herz füllte sich mit eitel Freude. Und im nächsten Moment „gab er an“, wie er nur konnte, er zog die Kinder an den Haaren, schnitt Grimassen, er kniff die Jungen - mit einem Wort: er tat alles, um die Aufmerksamkeit der Kleinen auf sich zu ziehen.