I L K K A
REMES

DAS
HIROSHIMA-TOR

Thriller

Aus dem Finnischen
von Stefan Moster

Deutscher Taschenbuch Verlag

ERSTER TEIL

1

Als Tanja den blonden Mann unter den Menschen in der Rue Marie erkannte, hörte sie hinter sich das grelle Knattern einer Vespa. Dennoch behielt sie den Skandinavier fest im Auge und versuchte Blickkontakt mit ihm aufzunehmen. Nervös hielt sie den Riemen ihrer Handtasche umklammert.

Die Vespa kam näher, eines von vielen Fahrzeugen an diesem Dienstagabend. Tanja schenkte ihr keine sonderliche Beachtung, wechselte aber instinktiv vom Straßenrand weiter in die Mitte des Gehwegs. Trotz der Anspannung durch diese ewige Warterei genoss sie die Atmosphäre von Paris, die sie zum ersten Mal vor Jahren zusammen mit ihrem Freund als Rucksacktouristin erlebt hatte.

Auch der Mann hatte sie erkannt, er kam ihr entgegen und nickte ihr mit ernstem, nervösem Gesichtsausdruck zu. Mit seiner Körpergröße, dem blonden Haar und der hellen Haut fiel er unter den Parisern auf. Er trug einen Trenchcoat und in der Hand eine Aktentasche. Tanja musste lächeln, und dieses Lächeln sollte dem etwas ungelenk wirkenden Mann Mut machen.

Plötzlich spürte sie einen heftigen Ruck an ihrer Handtasche. Sie schrie auf, aber vergebens. Die braune Ledertasche befand sich schon in der Hand des jungen Mannes mit dem Schal vorm Gesicht, der auf seiner Vespa im Slalom zwischen Verkehrsschildern hindurch zurück auf die Straße und in Richtung Seine-Brücke raste.

Tanja sah nur kurz die bestürzte Miene des Skandinaviers, der hilflos auf dem Gehweg stehen blieb, bevor sie dem Dieb hinterherrannte.

Im Laufen merkte Tanja, dass noch jemand die Vespa verfolgte, ein breitschultriger Mann mit Baseballmütze. Er lief auf der anderen Straßenseite und sprach dabei hektisch in sein Handy.

Tanja wurde immer schneller. Die Passanten sahen der dreißigjährigen Frau mit den roten Haaren erstaunt nach. Sie schien um ihr Leben zu rennen. Auf dem Pont Marie musste die Vespa wegen eines Staus abbremsen. Die Reihe der roten Bremslichter reichte bis auf die andere Seite der Brücke. Da die Autos nicht in der Spur blieben, konnte sich die Vespa nicht zwischen ihnen hindurchschlängeln.

Tanja sah schon, dass sie den Dieb einholen würde, Schritt für Schritt kam sie ihm näher, aber sie beobachtete auch, dass der Mann mit der Baseballmütze jemandem winkte, der vom gegenüberliegenden Ende der Brücke auf die Vespa zukam.

Nun schien auch der Taschendieb auf seine Verfolger aufmerksam geworden zu sein. Da er im Stau nicht weiterkam, blickte er sich panisch um – und plötzlich flog die Tasche in den Fluss.

Tanjas entsetzter Blick folgte der Tasche, die zwanzig Meter weiter unten ins Wasser fiel. Sofort blieb sie stehen, umfasste das steinerne Brückengeländer, den Blick auf die Tasche geheftet, die Zentimeter für Zentimeter tiefer im Fluss versank.

Ohne zu zögern, schwang sich Tanja auf das Geländer. Ein Passant stieß erschrocken einen Schrei aus, als sie sich abstieß und mit wehendem Mantel der dunklen Wasseroberfläche entgegenstürzte.

Fast gleichzeitig sprang auf der anderen Seite der Mann mit der Baseballmütze in den Fluss. Die Handtasche war nicht mehr zu sehen. Tanja und der Mann tauchten ihr nach und verschwanden aus dem Blick der Zuschauer.

Mit roten Flecken im kreidebleichen Gesicht starrte der Skandinavier auf den Fluss.

»Qu’est-ce que c’est passé?«, fragte neben ihm ein Passant mit Gehstock.

»Da sind zwei Leute in den Fluss gefallen . . .«, sagte eine Studentin.

»Hat schon jemand den Krankenwagen gerufen?«, fragte der Blonde atemlos auf Englisch. »Oder die Feuerwehr?«

»Sind unterwegs«, antwortete ein junger Mann, der mit seinem Handy am Brückengeländer stand. Er richtete die Kameralinse auf den Fluss. Die zerbeulte Cola-Dose, die langsam in der Strömung trieb, hatte Gesellschaft von einer Baseballmütze bekommen.

Plötzlich tauchte der Kopf des Mannes in der Seine wieder auf. Mit kräftigen Zügen kraulte er auf das gemauerte Ufer zu. Sein Kollege hatte inzwischen die Brücke verlassen und wartete auf ihn. Dabei sprach er pausenlos in sein Handy und blickte immer wieder zu den Schaulustigen auf der Brücke hinauf, von denen einige ihren Weg schon wieder fortsetzten.

Er half seinem Kollegen aus dem Wasser, während die Sirene eines Rettungswagens den Verkehrslärm übertönte. Die Bewegungen des Mannes wurden schneller. Sein Partner hastete tropfnass und außer Atem hinter ihm die Treppe zur Straße hinauf.

Der Krankenwagen schaltete die Sirene aus und rollte langsam auf der Rampe zum Flussufer hinunter. Nur die nassen Fußspuren auf dem Pflaster zeugten noch von dem Mann, der gerade aus der Seine gestiegen war.

Kurz darauf erschien auch ein Polizeiwagen, und der junge Mann mit dem Handy erzählte einem schnurrbärtigen Gendarmen, was er gesehen hatte.

»Die Frau hat also versucht, Selbstmord zu begehen, und der Mann ist hinterhergesprungen, um sie zu retten«, fasste der Polizist mürrisch zusammen.

»Nein. Haben Sie nicht verstanden? Die Frau sprang ihrer Handtasche hinterher. Das war alles andere als Selbstmord!«

Der Polizist seufzte. Sein Kollege sprach mit einem anderen Passanten. Der Skandinavier war inzwischen noch bleicher geworden und zog sich diskret zurück.

In der anbrechenden Abenddämmerung gingen die Laternen auf der Brücke an und leuchteten in warmem Gelb. Während die Polizisten weitere Zeugen befragten, fuhr langsam ein roter Citroën-Lieferwagen die Rampe zum Ufer hinunter und hielt hinter dem Polizeiwagen an. Bald darauf ließen sich im zuckenden Blaulicht Taucher ins Wasser, um nach der Frau zu suchen.

Einige ihrer Kollegen stellten Stative mit Halogenstrahlern auf und richteten das grelle, metallische Licht auf die trübe Wasseroberfläche. Oben auf der Brücke blieben immer mehr Fußgänger stehen, um einen Blick auf das betrübliche Schauspiel zu werfen, das in jähem Kontrast zur Vornehmheit der Île Saint-Louis mit ihren Kunstgalerien, Feinkostläden, Bistros und Konditoreien stand.

Die Suche wurde durch das trübe Wasser beeinträchtigt. Doch nach einer knappen Stunde brachten die Taucher schließlich die Leiche der Frau ans Ufer. Sie wurde sofort zugedeckt, aber schon ein kurzer Blick auf die Tote löste bei der Polizei ganz neue Aktivitäten aus.

Die rothaarige Frau war nicht ertrunken. Jemand hatte ihr die Kehle durchgeschnitten.

»Guten Abend, verehrte Fluggäste«, tönte es aus den Lautsprechern am Gate 42 des Pariser Flughafens Charles de Gaulle. Der Finne im Trenchcoat, der wie der Inbegriff des Skandinaviers, ja beinahe wie ein Wikinger aussah, trat von einem Bein aufs andere. »Ihr Malev-Flug nach Budapest ist jetzt zum Einsteigen bereit. Gute Reise.«

Der Finne stellte sich ganz vorne in die Schlange, er hatte nur ein Boardcase bei sich und schien äußerst nervös. In Budapest würde er übernachten und am nächsten Morgen nach Finnland weiterfliegen. Er hätte auch direkt von Paris nach Helsinki fliegen können, aber in den Finnair- oder SAS-Maschinen hätten Finnen gesessen, ebenso bei der Lufthansa und KLM. Er kannte zu viele seiner Landsleute – und vor allem, zu viele kannten ihn.

Zufrieden stellte er fest, dass bei Malev außer ihm kein weiterer großer, blonder Passagier in der Schlange stand. Das würde in der Morgenmaschine nach Helsinki anders sein, aber dann käme er aus Budapest und nicht aus Paris.

Den Besuch in der französischen Hauptstadt musste er so schnell wie möglich vergessen.

Allein der Gedanke an die Ereignisse auf dem Pont Marie sorgten dafür, dass sich sein Puls beschleunigte. Er war nur kurz am Tatort geblieben, aber auch das bereute er jetzt.

Trotzdem durfte er sich jetzt nicht in einen Verfolgungswahn hineinsteigern. Niemand würde sich an den zufälligen Passanten erinnern, der nur nachgefragt hatte, ob schon jemand Krankenwagen und Polizei gerufen hatte.

Oder hätte er länger vor Ort bleiben und das Schicksal von Tanjas Handtasche eruieren sollen? Hätte es eine Möglichkeit gegeben, sie aus dem Fluss zu fischen?

Er erinnerte sich an das Lächeln der Frau, als ihre Blicke sich kurz getroffen hatten. Sie hatte ganz anders ausgesehen, als er sie sich vorgestellt hatte, zart wie eine Musikerin oder Künstlerin.

Er reichte einer gut gelaunten Angestellten vom Bodenpersonal die Bordkarte und zwang sich zu einem Lächeln. Das verlangte dem verängstigten und deprimierten Mann einige Anstrengung ab.

In der Nacht war der Uferwall der Seine unter dem Pont Marie menschenleer. Die von Bäumen gesäumten Straßen beiderseits des Flusses lagen im Nebel. Dort war auch um diese Zeit noch Verkehr, aber unten am Ufer war es still.

Nur fünfzig Meter stromabwärts hörte man ein gedämpftes Plätschern. Sehr vorsichtig stieg dort ein Taucher an Land, unterstützt von einem Kollegen, der ihm vom Ufer aus half. Der nächste Laternenpfahl stand oberhalb des steilen Walls hinter Bäumen, und der Nebel schluckte den größten Teil seines Lichts. Im Dunkeln war der schwarze Taucheranzug kaum zu erkennen; die Tasche in der Hand des Froschmanns sah man fast nicht.

Der Taucher wurde von Dick Novak, dem Leiter der Operation, erwartet. Novak war bereits am späten Nachmittag der Frau hinterhergesprungen. Er wechselte einige Sätze in amerikanischem Englisch mit dem Taucher, dann nahm er die Handtasche in Empfang.

Weitere Froschmänner stiegen aus dem Fluss, im Abstand von einigen Minuten, mit Handlampen, Metalldetektoren und anderen Suchgeräten ausgerüstet. Die schwarzen, glänzenden Gestalten verschwanden in einem Mercedes-Kleinbus, der zwanzig Meter weiter am Quai d’Anjou abgestellt war, hinter einem mit Graffiti beschmierten Wartungsgebäude der Wasserwerke.

Novak saß schon im Wagen und hielt die Tasche fest auf dem Schoß. Der fünfzigjährige Mann trug das schwarze Haar in der Mitte gescheitelt, sein Gesicht war von alten Aknenarben zerklüftet, tiefe Falten hatten sich ihm um Augen und Mund gelegt, Spuren vorzeitigen Alterns. Dennoch wetteiferten Züge der Jugend und des Alters in Novaks ganzer Erscheinung. Die Taucher setzten sich auf ihre Plätze, nahmen ihre Maschinenpistolen und legten sie auf die Knie.

Einen Begriff wie »überdimensionierte Sicherheitsmaßnahme« gab es bei dieser Operation nicht.

Kim Jørgensen, ein blond gelockter Mann um die dreißig, beobachtete vom Steuer seines Peugeots aus den Kleinbus der Amerikaner, der vom Quai d’Anjou in Richtung Brücke losfuhr.

»Carla, siehst du sie?«, sprach er ins Funkgerät.

»Ja«, antwortete eine feste Frauenstimme. »Sie fahren wahrscheinlich nach Süden . . .«

»Lass sie nicht aus den Augen. Ich hänge mich bei der Metrostation dran.«

Mit einer raschen Geste wischte sich Jørgensen eine schweißnasse Locke aus dem Gesicht. Er war überrascht gewesen, mit welcher Stärke die Amerikaner angerückt waren, und hatte davon absehen müssen, am Ufer zuzuschlagen. Jetzt waren härtere Maßnahmen nötig.

Carla, eine große Frau mit afrokaribischem Aussehen, legte das Funkgerät in den Schoß, nachdem sie Jørgensens Anweisungen erhalten hatte. Sie folgte in ihrer Fiat-Limousine dem Mercedes-Bus mit den Tauchern, dicht genug, um ihnen auf den Fersen zu blieben, aber mit genügend Abstand, um keinen Verdacht zu erregen. Straßenlampen und Lichtreklamen bildeten leuchtende Flecken hinter dem Nebelschleier. Jetzt, in den frühen Morgenstunden, hatte der Verkehr nachgelassen.

Auf der Höhe der Metrostation wurde Carla von Jørgensen überholt. Eigentlich wären vier Fahrzeuge für die Verfolgung nötig gewesen, aber sie mussten sich nun mit zweien zufrieden geben. Nach einem knappen Kilometer setzte sich Carla wieder hinter den Kleinbus.

Über Funk gab Jørgensen Anweisungen, die keine Missverständnisse aufkommen ließen. Sobald die Amerikaner ihr Ziel erreicht hatten, wäre alles vorbei: Offenbar steuerten sie den Flughafen Orly an. Daher musste der Zugriff noch während der Fahrt erfolgen.

Carla blickte auf die Karte. Ihre Lippen waren sorgfältig rot geschminkt, ebenso die Fingernägel, die nervös auf das Lenkrad trommelten. Das krause Haar trug sie ganz kurz.

»Zugriff an der Kreuzung Caillaux–Choisy.«

Jørgensens Stimme klang angespannt. Carla trat aufs Gas und überholte ruhig den Kleinbus. Mit einem Blick in den Rückspiegel kehrte sie auf die rechte Spur zurück und beschleunigte noch einmal kräftig. Die Froschmänner hielten sich an die Geschwindigkeitsbeschränkung und blieben immer weiter hinter ihr zurück.

Südlich von Paris war der Nebel weniger dicht. In forschem Tempo fuhr Carla durch die Ortschaft Vaugirard. Danach führte die Straße durch einen Buchenwald. Verkehrsschilder warnten vor Rehen.

Plötzlich ging es scharf rechts nach Caillaux ab. Carla fuhr gleich nach der Kreuzung wieder nach rechts, auf das Grundstück eines Geschäfts für Kamine. Mit pochendem Herzen wischte sie sich die schweißnassen Hände an den Oberschenkeln ab. Dann wendete sie den Wagen. Rollsplit spritzte auf, als sie wieder auf die Seitenstraße fuhr und nach links schaute. Zwischen den geraden, im unteren Teil fast astlosen Baumstämmen blinkten die Scheinwerfer des näher kommenden Kleinbusses auf.

»Fertig«, sagte sie ins Funkgerät und legte es auf den Beifahrersitz. Sie spürte, wie die Anspannung ihr auf den Magen drückte.

Sie umklammerte fest das Lenkrad. Der Kleinbus der Amerikaner kam näher. Weit hinter ihm schienen nun auch die Lichter von Jørgensens Lieferwagen auf.

Carla ließ den Wagen im Schritttempo auf die Kreuzung zurollen. Sie kniff die Augen zusammen. Der Kleinbus kam immer näher.

Die Hände fest am Lenkrad, hielt sie an und wartete. Die hellen Flecken der Scheinwerfer wurden größer, reflektierten in den Seitenscheiben und brachen sich in Carlas Augen. Sie rissen zwei helle Löcher in die Dunkelheit, hinter denen das Geräusch des Motors immer lauter zu hören war.

Noch zweihundert Meter . . . hundert . . . fünfzig . . .

Carla trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch und schoss mit ihrem Wagen auf die Straße. Die von der Seite heranfliegenden Lichter gerieten heftig ins Schlingern, als der Fahrer des Kleinbusses auf die Bremse trat.

Der Fuß auf dem Bremspedal zitterte, und es fühlte sich an, als träte er auf eine riesige Bohrmaschine. Das ABS-Bremssystem funktionierte exakt so, wie es im Mercedes-Werk geplant worden war. Die Räder blockierten nicht, sondern verlangsamten die Masse von zwei Tonnen Meter für Meter.

Allerdings waren jetzt nur noch sehr wenige Meter übrig. Der Fahrer sah die Flanke des Autos, das plötzlich im Scheinwerferkegel aufgetaucht war, unaufhaltsam näher kommen. Er machte eine schnelle Lenkbewegung nach rechts.

»Eine Falle!«, brüllte Novak auf der Hinterbank Sekunden vor dem Aufprall.

Die linke vordere Ecke des Mercedes prallte gegen die hintere Ecke des PKW. Der scharfe Knall der zusammenstoßenden Karosserien wurde begleitet von den Geräuschen explodierender Airbags und quietschender Reifen. Durch die scharfe Bremsung wurde die vordere Stoßstange auf den Asphalt gedrückt, und ein glühender Funkenregen schoss in die Nacht. Der Kleinbus stellte sich quer und schlitterte weiter, fällte ein paar kleinere Bäume, bis ihm zwei mannsdicke Buchen im Weg standen. Man hörte Glas splittern und Stahlstreben knirschen, als die Baumstämme in die Karosserie eindrangen.

Auf den Lärm folgte vollkommene Stille, die aber nur wenige Sekunden anhielt.

»Wie sieht’s aus . . .«, rief Novak mit heiserer Stimme. »Ist jemand . . .«

Der Satz wurde durch einen gedämpften Knall und ein Zischen unterbrochen. Das Betäubungsgas breitete sich rasch im Wageninneren aus.

Kim Jørgensen schob eine helle Halogenlampe und den Lauf einer Maschinenpistole durch das Seitenfenster des Mercedes. Gleichzeitig zersplitterte auf der anderen Seite ein Fenster durch den Hieb der Lampe seines Partners. Die beiden Lichtkegel glitten über die Taucher in ihren schwarzen Anzügen. Der Amerikaner, der noch immer die Handtasche auf dem Schoß hielt, hatte eine Schramme an der Stirn abbekommen. Von seiner Nasenspitze tropfte Blut.

Jørgensen öffnete die Tür. Mit vorgehaltener Waffe trat er in das Durcheinander. Er hielt den Atem an. Seine Aufmerksamkeit galt der Tasche auf dem Schoß des blutenden Mannes, aber er war auf der Hut: Es war nicht auszuschließen, dass einer der Froschmänner sich nur bewusstlos stellte.

Er packte die Tasche, und die schlaffe Hand des Amerikaners rutschte zur Seite. Dann verließ er den Wagen sofort wieder. Die Bewusstlosigkeit der Männer würde maximal zehn bis fünfzehn Minuten anhalten.

Inzwischen war Carla aus dem Fiat gekrochen. Ihre Wange blutete. Auf dem Airbag konnte man die Blutflecken sehen.

Mit seinem Partner trug Jørgensen Carla zum Lieferwagen, als wäre sie leicht wie eine Puppe. Sie fuhren sofort los, denn jeden Moment konnten weitere Amerikaner auftauchen.

Jørgensen zog einen Plastikbeutel aus der nassen Handtasche. Darin war ein gepolsterter Briefumschlag.

»Großartig gemacht«, sagte er zu Carla, die – noch ganz atemlos – auf der Rückbank lag. Dabei riss er hastig das Kuvert auf. Der Wagen schlingerte in einer scharfen Kurve.

»Einen so heftigen Aufprall wollte ich nicht, das war ein Versehen«, stammelte Carla, den Blick auf das Kuvert gerichtet. Sie drückte ein Papiertaschentuch gegen die Wange. Es verfärbte sich im Nu rot.

Auf Jørgensens schweißüberströmtem, rotem Gesicht machte sich Fassungslosigkeit breit, als er den Inhalt aus dem Kuvert herausschüttelte: eine Haarbürste, ein Fläschchen mit Wimperntusche, Schlüsselbund, Portemonnaie, Handy.

Das war nicht die Tasche, die sie suchten! Was war da passiert? Ein Täuschungsmanöver der Amerikaner?

Jørgensen sah sich die Gegenstände genau an. Seine Reaktionen und Bewegungen waren sonst immer schnell und präzise, aber jetzt lag eine Unbeherrschtheit darin, die nur durch seine Wut gespeist war. Das Portemonnaie war leer, das Handy hatte keinen Saft. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Schlüsselanhänger, eine Plastikkapsel von der Größe einer Fingerspitze. Er starrte ihn einen Moment an, dann hastete er zur Hecktür, öffnete sie in voller Fahrt, schleuderte die Schlüssel in die Dunkelheit und knallte die Tür wieder zu.

»Was machst du da?«, fragte Carla. »Warum hast du sie weggeworfen?«

Jørgensen klappte einen Sitz an der Wand herunter und ließ sich darauffallen. »Der Schlüsselanhänger war ein Peilsender.«

»Was?«

Jørgensen schloss die Augen und konzentrierte sich. Waren die Amerikaner genauso an der Nase herumgeführt worden? Hatten die französischen Taucher die Tasche gefunden und ihren ursprünglichen Inhalt durch diesen Krimskrams ersetzt?

In seiner Wut hämmerte Jørgensen gegen die Wand zur Fahrerkabine und schrie: »Tempo!«

Der rote Punkt auf der elektronischen Karte war stehen geblieben. Drei Augenpaare starrten im Hauptquartier der Pariser Kriminalpolizei in der Rue Mouffetard erwartungsvoll auf den Bildschirm. Von der Île Saint-Louis aus war der Punkt nach Süden gewandert in Richtung Flughafen Orly, bis er an der N 7 bei Vaugirard angehalten hatte. Einige Minuten später war die Fahrt weitergegangen.

»Wo ist die nächste Streife?«, sagte der Leiter der Ermittlungen eher zu sich selbst als zu seinen Kollegen. Bei der Untersuchung des Mordfalls in der Seine war er auf eine simple Idee gekommen. Da die Handtasche für den Mörder offenbar außerordentlich wichtig war, hatte er den Inhalt ausgetauscht und sie mit einem Peilsender versehen. Ein Profi würde ihn erkennen, aber bis eben hatte er sie ja schon ein Stück weiter gebracht.

»Die nächste Streife ist in Montsouris. Sollen wir ihnen Bescheid sagen?«

»Wir warten noch einen Moment.«

Von Anfang an war klar gewesen, dass hier kein normaler Mordfall vorlag. Die Polizeistreifen hatten Anweisung, die Gegend rund um die Brücke im Auge zu behalten, aber es sollten keine Ressourcen für eine Observation geopfert werden. Der Peilsender informierte preiswerter über den Weg, den die Handtasche nahm.

Der Punkt stand noch immer still.

»Die Notrufzentrale hat vor kurzem Meldung über einen Autounfall auf der N 7 bei Vaugirard bekommen«, sagte ein Polizist, der in den Raum geeilt kam. »Die Sanitäter haben einen leeren Fiat und einen Kleinbus mit acht Insassen in Taucherausrüstung vorgefunden. Sie hatten Verletzungen unterschiedlichen Grades. Auch eine Gruppe Amerikaner war vor Ort. Die transportierten die verletzten Froschmänner ab. Sehr seltsam.«

»Wo war das genau?«, fragte der Leiter der Ermittlungen.

»An der Kreuzung Caillaux–Choisy.«

Mit einem Blick auf den Bildschirm stellte der Chef fest, dass dies genau die Stelle war, an der der Peilsender zum ersten Mal stehen geblieben war.

Was ging hier eigentlich vor? Er blickte auf den durchsichtigen Beutel vor sich auf dem Tisch. Er enthielt den ursprünglichen Inhalt der Handtasche. Warum waren ein paar Leute so verzweifelt dahinter her?

Besonders interessierte sich der Leiter der Ermittlungen für die russischsprachige Beschriftung der Plastikhülle.

2

Timo Nortamo war ziemlich aufgeregt. Er parkte seinen alten Mercedes und stieg aus. Soile und Aaro folgten ihm. Niemand sagte ein Wort.

Das Haus stand auf einem steilen Hanggrundstück, auf dem große Lärchen und Buchen wuchsen. Seit sie das Kaufangebot gemacht hatten, waren sie zum ersten Mal hier. Es gab kein Zurück mehr, das hier würde demnächst ihr neues Zuhause sein.

Timo machte das Gartentor auf und ging zwischen Sträuchern und hohen Bäumen die Treppe aus Naturstein hinauf. Soile folgte ihm und sah etwas mürrisch aus. Sie war gerade erst aus Genf gekommen, Timo und Aaro hatten sie direkt vom Flughafen abgeholt.

Aaro stolperte über einen mit Moos bewachsenen Stein in der Treppe. Im Schatten der großen Buchen sah der Junge blass und schmächtig aus, viel jünger als vierzehn.

»Die müsste neu gemauert werden«, sagte Soile.

»Wahrscheinlich«, brummte Timo. Er merkte, dass er empfindlich war und nicht bereit, sofort Kritik einzustecken. Alles in allem war die Treppe in schlechterem Zustand, als er es von seinen beiden früheren Besuchen her in Erinnerung hatte.

Auch das Haus wirkte jetzt wesentlich heruntergekommener. Die Fensterrahmen schrien nach Farbe, die Backsteinwand hinter dem Efeu nach Verputz. Das Dach sah bemooster aus als zuvor. Und der First – war der nicht ein bisschen eingesunken?

Timo war langsam richtig unbehaglich zumute. Hatte er eine überstürzte Entscheidung getroffen?

Nein. Der Experte von der Bank hatte sich überall umgesehen, ihm wäre aufgefallen, wenn etwas Entscheidendes nicht in Ordnung gewesen wäre.

Soile machte – sofern das überhaupt möglich war – einen noch nervöseren Eindruck als Timo. Sie verbrachte nur die Wochenenden in Brüssel und war daher überhaupt nicht begeistert von dem Hauskauf. Sie hatten dafür gar nicht genug Geld, und sie brauchten in Brüssel auch nichts Eigenes. Sie bestritt allerdings nicht, dass es vernünftiger war, einen Kredit zu tilgen anstatt jeden Monat diese horrende Miete zu zahlen.

Bei 285 000 Euro Schulden gab es allerdings auch einiges zu tilgen. Timo war zwar nie ein glühender Anhänger der EU gewesen, aber er hatte nichts dagegen, dass sie ihm ein wesentlich bessers Gehalt zahlte als seine früheren Arbeitgeber in Finnland, die zentrale Kriminalbehörde KRP und die Sicherheitspolizei.

Die bisherigen Eigentümer öffneten die Tür und waren so herzlich wie die Male zuvor. Das gut siebzigjährige Paar schien direkt aus einem Gemälde von van Eyck zu stammen. Der Mann war blass, dünn und wirkte eher verschlossen, die dunkelhaarige Frau war lebhafter und vor allem gesprächiger.

Zum Glück bereitete das Innere des Hauses Timo keine Enttäuschung. An vielen Stellen war eine Renovierung nötig, am dringendsten im Bad und in der Küche, aber die Atmosphäre machte diese Mängel wett. Im Grunde hätte man die hohen, schattigen Räume auf der Stelle beziehen können. Timo beruhigte sich beim Blick auf den Dielenboden im Flur, auf das ursprüngliche Musterparkett im Wohnzimmer, auf den Erker und den Kamin. Lediglich den Küchenboden hatten sie mit Linoleumplatten komplett verhunzt.

Auf einmal begann das ganze Haus zu zittern. Man hörte ein starkes Dröhnen auf niedriger Frequenz, das ständig zunahm. Das Geräusch schien von einem mobilen Erdbeben zu stammen – wurde aber nur durch einen Zug verursacht.

Soile warf Timo einen stechenden Blick zu.

»Ein Güterzug mit Erz!«, rief der Vorbesitzer über den Lärm hinweg. »Die sind selten. Personenzüge merkt man kaum.«

Timo nickte unsicher. Die Eisenbahnlinie lag in der Senke direkt unterhalb der Eibenhecke. Beim letzten Mal war lediglich ein Personenzug vorbeigefahren. Die Strecke war einer der Gründe, die den erträglichen Preis erklärten. Weitere Gründe waren die fehlende Zentralheizung, der mittelprächtige Allgemeinzustand des Hauses und die Lage an einem Nordhang.

Timo spürte das Vibrieren des Telefons in seiner Tasche. Der Klingelton ging im Rattern des Zuges unter, das nun langsam abnahm. Der Anruf kam aus Helsinki, von der Sicherheitspolizei. Välimäki war am Apparat.

»Hast du einen Moment Zeit? Bist du am Bahnhof?«

»Nein«, knurrte Timo und ging ins Schlafzimmer. »Schieß los.«

Normalerweise erkundigte sich Välimäki immer, wie es Timo ging oder wenigstens ob es in Brüssel schon wieder regnete, aber diesmal klang er so gehetzt, dass Timo sofort aufmerksam wurde.

»Letzte Nacht gab es einen Sabotageakt auf der Baustelle von Olkiluoto 3.«

Timo erschrak, obwohl ihn die Mitteilung nicht unbedingt überraschte. Er hatte in einer Arbeitsgruppe aus Vertretern der Sicherheitspolizei, des Kraftwerkbetreibers TVO, des Energiekonzerns Fortum, des Strahlenschutzzentrums und der normalen Polizei gesessen, die sich mit der Sicherheit der finnischen Atomkraftwerke nach den Terroranschlägen vom 11. September beschäftigt hatte. Man rechnete durchaus damit, dass die Baustelle des dritten Meilers von Olkiluoto und erst recht das Testgebiet für die Endlagerung von gebrauchten Atombrennstäben Aktivisten von Greenpeace und anderen Organisationen anziehen würden, eventuell auch einzelne Störer und Gestörte.

»Was heißt Sabotageakt?«

»Sie haben Zucker in die Tanks von Betonfahrzeugen gefüllt.«

Timos Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. »Es hätte wahrscheinlich schlimmer kommen können.«

»Vielleicht steht uns das noch bevor.«

Damit hatte Välimäki wohl Recht. Jemand hatte eine Schwelle überschritten, die Schwelle von Worten zu Taten, und das war die höchste Schwelle von allen.

»Sie reinigen die Motoren und besorgen inzwischen Ersatzfahrzeuge«, fuhr Välimäki fort. »Für den Bau gibt es einen knapp kalkulierten Zeitplan. Man vermutet hier übrigens, dass nicht nur Finnen beteiligt waren. Ich dachte, es ist gut, wenn du das weißt. In Richtung Medien sind wir so still wie möglich.«

»Halt mich auf dem Laufenden.«

Timo legte auf. Die Polizeiführung hatte der Polizei in Rauma Sondermittel für die Überwachung illegaler Aktivisten und ungenehmigter Demonstrationen an der nahe gelegenen Baustelle Olkiluoto gewährt. Mit dem Geld hatte man genau zwei Vollzeitstellen einrichten können. Da aber ein Gelände von 35 Hektar um Olkiluoto 3 und ein noch größeres Gebiet um die Endlagerstelle überwacht werden musste, bot sich Leuten, die sich rechtswidrig austoben wollten, genügend Gelegenheit.

Timo kehrte zu Soile und Aaro zurück. Soile sah ihn finster an.

Aaro räusperte sich leise. »Wisst ihr übrigens, wie viel Dezibel das lauteste . . .«

»Nicht jetzt, Aaro«, sagte Timo steif und erwiderte Soiles Blick. »Die einfachen Fenster dämpfen keine Geräusche. Dreifachfenster schon.«

»Falls man zwei davon übereinander montiert.« Soiles Laune war nicht die beste.

Timo maß die Räume aus, besonders die Küche, denn der Makler hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, vom Grundriss des Hauses eine Skizze anzufertigen. Nach der Besichtigung brachte Timo Soile und Aaro zur nahe gelegenen U-Bahn-Station – die war das große Plus des Hauses – und kehrte selbst an seinen Arbeitsplatz in der Rue Adolphe Buy zurück, in den trostlosen fünfstöckigen Bau aus Backstein und Beton, der das Hauptquartier von TERA beherbergte. TERA – Agence pour la lutte contre le Terrorisme, Extremisme et Radicalisme – war eine operative Polizeieinheit der EU, die gegen Terrorismus, organisiertes Verbrechen und Extremisten kämpfte.

Timo hängte sich die Schlüsselkarte um den Hals, nickte dem Pförtner zu und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf, in dem sich sein Büro befand. Wenn man zehnmal am Tag diese Etage hinaufging, verbrauchte man dabei eine Energiemenge, die den Kalorien einer halben Praline von Pierre Marcolin entsprach. Und für diesen Genuss war Timo gern bereit, auf den Aufzug zu verzichten.

»Timo«, sagte der Franzose Victor Girault, der ihm auf dem Flur entgegenkam, mit besonderem Nachdruck. »Wilson hat dich schon gesucht.«

Der Franzose hinterließ süßlichen Haarwassergeruch. Bei der TERA waren Vertreter aus allen Mitgliedsstaaten beschäftigt. Die Einheit arbeitete geheim und unabhängig von den anderen Organen der EU.

Timo musste eine Etage weiter nach oben, diesmal nahm er den Lift. Tony Wilson, früher Abteilungsleiter beim britischen Geheimdienst MI5, hatte ein großes, spärlich möbliertes Büro, von dem aus man einen Blick über Dächer und Hinterhöfe hatte. Vor der stark getönten Fensterscheibe war ein Gitter angebracht. Es sollte verhindern, dass von außen Lasermikrofone eingesetzt werden konnten.

Wilson – ein zäher, kleiner Schotte – bat Timo, Platz zu nehmen, und reichte ihm zwei Fotokopien. »Sind die deiner Meinung nach irgendwie von Interesse?«

Timo las den russischen Text. Bei TERA genoss er einen guten Ruf als Russlandkenner – er hatte früher als Sonderexperte von KRP und SiPo in Sankt Petersburg gearbeitet.

»Woher kommt das?«, fragte er leise, ohne seine Verblüffung verbergen zu können.

»Aus Paris. Über den DGSE.«

Timo las weiter. Der französische Auslandsnachrichtendienst war auf seinem Gebiet einer der skrupellosesten in Europa.

Von Wort zu Wort und Satz zu Satz wurde Timo aufmerksamer. Mit dem Daumen strich er über den Stumpf seines fehlenden kleinen Fingers. »Wie ist der DGSE da rangekommen?«

»Ein Straßendieb auf einer Vespa entriss einer Frau auf dem Pont Marie die Handtasche. Daraufhin wurde er nicht nur von der Frau, sondern auch von zwei Männern verfolgt. Der Dieb warf die Tasche von der Brücke in die Seine, und die Frau sprang hinterher.«

Timo blickte auf und sah Wilson an.

»Einer der Männer, die der Vespa hinterherrannten, sprang ebenfalls in den Fluss. Er kam kurz darauf wieder an Land. Die Frau blieb im Wasser. Man hatte ihr die Kehle durchgeschnitten. Ganz professionell.«

»Wer war die Frau?«

»Sie ist noch nicht identifiziert worden. Von dem Mörder fehlt jede Spur. Aber die Fortsetzung ist noch seltsamer.«

Wilson erzählte kurz von der Idee des Ermittlers, einen Peilsender in der Tasche zu verstecken, und von dem seltsamen Autounfall, der auf die Operation gefolgt war. »Als die Sanitäter kamen, wurden Verletzte in Taucheranzügen gerade in ein anderes Fahrzeug gesetzt. Vom Fahrer des Fiat keine Spur. Die Sanitäter protestierten, aber die Tauchergruppe fuhr mit einigen Amerikanern, von denen sie abgeholt wurde, davon. Als schließlich die Polizei den Unfallort erreichte, war dort niemand mehr. Der Mercedes-Kleinbus war auf den Namen einer englischen Firma gemietet, der Fiat hatte gefälschte Kennzeichen.«

»Und der ursprüngliche Inhalt der Handtasche?«

»Eine Computerdiskette alten Typs, in einen Plastikbeutel gewickelt. Die Leute von DGSE brauchten Tage, bis sie mit Hilfe von externen IT-Spezialisten an den Inhalt der Diskette herankamen. Wie es aussieht, handelt es sich um Archivmaterial des KGB, das geheime Sitzungsprotokolle enthält. Eine Geschichte hat offenbar mit Finnland zu tun.«

Timo sah wieder auf den Text.

»Ist das irgendwie von Bedeutung?«, fragte Wilson erneut.

Timo starrte eine Weile auf die Zeilen. »Wenn das hier echt ist, droht Finnland der größte politische Skandal des Jahrhunderts«, sagte er leise.

3

Aus einem der zahlreichen Lokale in einer Nebenstraße des Boulevard Saint-Michel dröhnte der stampfende Sound von Anastacia. Ein Mann in Lederjacke schlenderte den Gehweg entlang.

Vor der Virage-Bar kam ihm ein Mann mit Locken und dunkler Wolljacke entgegen. Kim Jørgensen trug eine Plastiktüte der Galeries Lafayette. Ohne sich zu grüßen, betraten die beiden Männer das Lokal.

Das gedämpfte Stimmengewirr in dem halb leeren Raum wurde hier und da von lautem Gelächter übertönt. Die beiden Männer setzten sich nebeneinander an den Tresen. Der Spiegel hinter dem Getränkeregal reflektierte das Licht der Halogenspots über dem Schanktisch.

Der mit der Lederjacke zog eine zusammengefaltete Ausgabe von ›Le Monde‹ aus der Innentasche und bestellte eine Cola. Jørgensen nahm die Zeitung und schlug sie auf. Niemand von den übrigen Gästen bemerkte die Fotokopien zwischen den Zeitungsseiten.

Inzwischen hob der Mann in der Lederjacke die Plastiktüte der Galeries Lafayette auf und prüfte den Inhalt der darin verborgenen zweiten Tüte. In einem Zug trank er sein Glas aus, dann verließ er ohne ein Wort die Bar. Draußen beschleunigte er nach und nach seinen Schritt, die Tüte fest im Griff.

Erst als er zwei Häuserblocks weiter seinen Renault erreicht hatte, entspannte er sich ein bisschen und fuhr ruhig zu seiner Wohnung im Südwesten von Paris. An einer roten Ampel öffnete er die Tüte und nahm ein mit Gummiband zusammengehaltenes Bündel 50-Euro-Scheine heraus. Sie waren benutzt, so wie er es verlangt hatte.

Er kannte die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen bei einer solchen Transaktion nur zu gut. Beim französischen Auslandsnachrichtendienst DGSE hatte er gelernt, die Augen offen zu halten und jede der sich selten bietenden Gelegenheiten zu nutzen.

Er stopfte das Bündel zu den anderen fünf Bündeln in die Tüte zurück. Kein schlechtes Honorar für die Übergabe von zwei Fotokopien. Er wusste zwar nicht, was an der Diskette aus der Seine so interessant war, aber wenn jemand für den Inhalt unbedingt 75 000 Euro bezahlen wollte, war ihm das nur recht.

Timo saß in seinem Büro im TERA-Hauptquartier und wählte betont ruhig die Privatnummer des Chefs der Sicherheitspolizei in Helsinki. Pauli Rautio ließ es lange läuten.

Timos Blick glitt über den unaufgeräumten Schreibtisch und blieb an dem gerahmten Foto hängen. Es war in den Ardennen aufgenommen worden und zeigte ihn und Soile mit Fahrrädern. Soile war braun gebrannt und trug Shorts, ein weißes Top und einen Pferdeschwanz. Sie lachte. In letzter Zeit hatte man auf ihrem Gesicht kaum einmal ein Lächeln gesehen.

»Was gibt’s in Brüssel?«, fragte Rautios ruhige, tiefe Stimme.

»Könnten wir uns treffen?«

»Wann?«

»Morgen«, sagte Timo, ohne zu zögern.

»Morgen ist voll. Am Montag . . .«

»Nur ein kurzes Gespräch. Ich komme mit der Morgenmaschine.«

Timo spürte das erwachende Interesse am anderen Ende der Leitung.

»Ist es so dringend?«, fragte Rautio. »Vor dem Mittagessen könnte ich mir eine kleine Lücke freischaufeln. Viertel vor zwölf. Worum geht es denn?«

»Wir sehen uns morgen«, sagte Timo nur.

Er hatte ein flaues Gefühl im Magen, als er den Flug für den nächsten Morgen buchte. Wilson hatte ihm nicht einmal Kopien von den KGB-Dokumenten gegeben, aber zumindest hatte Timo sich aus dem Gedächtnis ein paar Schlüsselsätze auf einem Blatt Papier notiert. Er faltete das Blatt zusammen und schob es sorgfältig in die Innentasche seiner Jacke.

Anschließend rief er Välimäki bei der SiPo an und erkundigte sich nach den Ermittlungen im Sabotagefall Olkiluoto 3. Sie waren bislang keinen Schritt weitergekommen. Zwar hatte die Polizei einige Aktivisten vernommen, aber es lagen gegen niemanden Beweise vor.

Wütend warf Soile das Essen aus dem Kühlschrank in eine Mülltüte: die verschrumpelten Pfannkuchen, die sie vor einer Woche gebacken hatte, den vertrockneten Nudelauflauf und eine Packung alter Hähnchenschnitzel.

Durch die hohen Fenster fiel das graue Licht des Donnerstagnachmittags in die Wohnung in der Rue Washington im Brüsseler Stadtteil Ixelle. Die Küche in dem Stadthaus aus dem 19. Jahrhundert war von vornherein in üblem Zustand, aber Timo war das egal gewesen, als er die geräumige Wohnung im ersten Stock gemietet hatte. Warum auch nicht, schließlich hantierte werktags nur das Au-pair-Mädchen in der Küche, und an den meisten Wochenenden Soile. Die ärgerte sich Jahr für Jahr mehr über Timos mangelnde Bereitschaft, sich an der Hausarbeit zu beteiligen.

Es beruhigte und wurmte Soile zugleich, sich mitten in der Woche mit dem Haushalt beschäftigen zu müssen. Wegen des Hauskaufs, den Timo so leidenschaftlich forcierte, hatte sie sich zwei Tage frei genommen. Am liebsten hätte sie das Geschäft auf Eis gelegt, aber dafür war es jetzt zu spät.

Per Piepston meldete ihr Telefon auf dem Tisch eine SMS. Sie schnappte sich den Apparat und öffnete ungeduldig die Mitteilung.

Sie hatte richtig geraten. Patrick.

»Habe ein langes Wochenende ohne dich vor mir.«

Sie spürte die Hitze auf ihren Wangen. Noch immer wusste sie nicht, was sie von dieser Sache halten sollte. Ihre Gefühle fuhren derzeit Karussell. Unwillkürlich blickte sie zur Tür und löschte die Mitteilung. Dann kehrte sie entschlossen zum Kühlschrank zurück, nahm die cholesterinsenkende Margarine heraus, schnupperte am fast unberührten, aber ranzigen Inhalt der Packung und warf sie in die Mülltüte. Eine offenbar nach ihrem letzten Besuch aufgetauchte Butter war fast komplett aufgebraucht.

»Reija«, rief Soile nach dem Au-pair-Mädchen, das in ihrem Zimmer schmollte, weil Soile es wegen der Staubschicht und der ungeputzten Toilette ermahnt hatte. »Sei so gut und kauf keine Butter mehr fürs Brot. Das habe ich dir doch schon oft genug gesagt.«

Soile konnte sich selbst nicht ausstehen, wenn sie so nörgelte, aber sie war einfach sauer. Heutzutage schmierte man sich doch nicht einmal mehr in den Wäldern Nordkareliens, wo das Mädchen herkam, noch echte Butter aufs Brot.

Reija erschien an der Tür und musterte Soile forschend. Die junge Frau trug lächerlich enge Hüfthosen und ein oranges Oberteil, das den Nabel frei ließ, als stünde die Julihitze bevor.

»Ich dachte, ich hätte ein Au-pair-Mädchen eingestellt und keine Verwalterin eines Lebensmittelmuseums. Wenn sich da nichts ändert, kannst du gern deine Sachen packen. Und das meine ich ernst.«

Soile wusste, dass Timo sich auf Reija verließ, und letztlich hielt sie das Mädchen auch für zuverlässig, wenn es darauf ankam, aber war bloßes Vertrauen genug? Die Aufgabe eines Au-pairs bestand nicht nur darin, Vertrauen entgegenzunehmen, sondern vor allem darin, den Haushalt zu schmeißen. Oder war sie kleinlich, wie Timo meinte? Vielleicht durfte man nicht zu hohe Ansprüche stellen. Soile hatte zu viele Horrorgeschichten über Au-pair-Mädchen gehört. Vielleicht musste man einfach akzeptieren, dass ein erheblicher Teil der zwanzigjährigen finnischen Frauen Fälle von »neuer Hilflosigkeit« waren.

»Aaro, komm was essen«, rief Soile. »Das Abendbrot machen wir erst, wenn dein Vater kommt.«

Aaro erschien in der Küche mit einem Blatt Papier, auf dem er den Grundriss und die Einrichtung seines künftigen Zimmers skizziert hatte. An zentraler Stelle befand sich der Computertisch. »Bald dürfen wir auch Nägel in die Wand schlagen«, grinste Aaro.

Soile war gerührt von der Begeisterung der männlichen Familienmitglieder für den Hauskauf. In den Mietwohnungen wurden genaue Einzugs- und Auszugsprotokolle gemacht, in denen jeder Nagel und jedes kleine Loch registiert wurden. Diese und andere Einschränkungen schienen bei Timo geradezu eine Paranoia ausgelöst zu haben, und offenbar war es ihm gelungen, Aaro damit anzustecken.

Soile wünschte, sie könnte sich ebenso für den Kauf begeistern. Aber gerade jetzt war sie mit ihren Gedanken ganz woanders.

Nachdem sie Aaro ein Käsebrot gemacht hatte, zog sie sich ins Schlafzimmer zurück, nahm ihr Telefon zur Hand und schrieb eine SMS an Patrick: WIR SEHN UNS MONTAG. SCHICK KEINE SMS.

Timo kam früher und besser gelaunt nach Hause als sonst.

»Ich muss morgen früh nach Helsinki«, sagte er, während er seine Jacke an die Garderobe hängte.

»Das ist nicht dein Ernst«, seufzte Soile beinahe aggressiv. »Warum hast du das nicht früher . . .«

»Ich wusste es nicht. Das kam überraschend. Wichtige Sache.«

»Natürlich«, erwiderte Soile giftiger als beabsichtigt.

Reija stand mit dem Staubtuch in der Hand an der Küchentür und genoss es sichtlich, dass die Hausherrin ihre Nerven nicht unter Kontrolle hatte.

»Am Samstagabend bin ich zurück«, sagte Timo. »Spätestens am Sonntag.«

Aaro kam mit seinem Brot aus der Küche. »Wir fahren also zum Glück nicht zu diesem Baumarkt.«

»Doch«, sagte Timo. »Jetzt. Darum komme ich früher von der Arbeit.«

Soile warf ihm einen finsteren Blick zu.

Nachdem Timo eine Kleinigkeit gegessen hatte, stiegen sie alle drei in den Wagen.

Sie fuhren in Richtung Antwerpen nach Oostmall, wo es ein Geschäft gab, das architektonische Antiquitäten verkaufte. In einer riesigen Halle waren riesige Mengen alter Kamine, Haus-und Zimmertüren sowie Musterparkett und Bodendielen aus zweihundert Jahren gelagert. Timo brauchte lediglich 8,3 Quadratmeter Bodenfliesen für die Küche. Die Preise für hundert Jahre alte Art-nouveau-Kacheln waren in Ordnung, und es gab eine enorme Auswahl. Aaro fotografierte ein paar Alternativen mit der Digitalkamera und sah sich die Aufnahmen während der Rückfahrt an.

»Das mit den Blumen gefällt mir nicht«, sagte er auf dem Rücksitz.

»Blumenmotive sind typisch für die Zeit«, erklärte Timo, erstaunt darüber, dass Aaro dem Thema so viel Interesse entgegenbrachte.

»Das Grünliche hier hat geometrische Muster. Das sieht viel moderner aus.«

Timo mochte nicht sagen, dass es gerade nicht darum ging, etwas Modernes zu finden. Soile saß merkwürdig schweigend neben ihm.

Er warf ihr einen Blick zu. »Probleme?«

Sie lächelte. »Wieso?«

Die Autobahnauffahrt kam näher. Zwei massive, graue Betonzylinder ragten am Horizont hinter dem Acker zum Himmel auf. Über ihnen schwebte eine Wolke, die nach Dampf aussah und sich hell vom Abendhimmel abhob.

»Ist das ein Kernkraftwerk?«, fragte Aaro.

»Ja«, antwortete Soile. »Das sind die Kühltürme.«

»Und ist das eine Abgaswolke, die da schwebt?«

Soile musste lachen.

»Kann durchaus sein, dass etwas darin enthalten ist, das die Umwelt verschmutzt«, sagte Timo ohne den Anflug eines Lächelns. »Auch Ingenieure können sich irren.« Er hatte Soile nichts von den Problemen in Olkiluoto erzählt, die so lange geheim gehalten werden sollten, bis etwas in die Öffentlichkeit durchsickerte.

»Red nicht über Umweltverschmutzung«, ereiferte sich Soile. »Kinder verstehen diese Art von Humor nicht.«

»Was hat das mit Humor zu tun? Aaro soll ein realistisches Bild von der Technik bekommen. Auch dieses Kraftwerk wird in einigen Jahren stillgelegt, weil Belgien aus der Kernenergie aussteigt.«

»Das glaube ich kaum. Jedenfalls nicht, wenn das Kyoto-Protokoll befolgt wird und der Emissionshandel losgeht.«

Timo tat so, als habe er Soiles Kommentar überhört, denn er wusste, dass er in dieser Diskussion den Kürzeren ziehen würde. Da war es besser, den Gegner einfach zu überrollen. »Holland, Deutschland und Spanien steigen ebenfalls aus der Kernenergie aus, und vielleicht auch Schweden. In keinem Land der westlichen Welt werden neue Atomkraftwerke gebaut außer . . .«

»In Finnland!«, juchzte Aaro triumphierend. »Suomi rules!«

»Genau. Aber das ist auch kein Wunder, denn in Finnland kann es ja nicht zu Atomunfällen kommen. Aber wenn dort alles fehlerlos ist, wäre es dann nicht das Klügste, auf der Stelle ein halbes Dutzend Meiler in Finnland zu bauen und den Strom nach Mitteleuropa zu verkaufen, wo man das Unfallrisiko anerkennt . . .«

Timo bemerkte, dass Soile demonstrativ auf die Uhr schaute. »Es wird spät. Du musst auch noch packen, wenn du die Morgenmaschine nimmst.«

»Nicht das Thema wechseln!«, beeilte sich Aaro von hinten einzuwerfen wie der Trainer zweier Boxer beim Sparring.

»Aaros Generation wächst ohnehin schon in einem derartigen Technikrausch auf, dass ein bisschen Kritik sicher nicht schadet«, fuhr Timo fort und gab Gas. »Auch die Technik kann versagen. Ingenieure sind auch nur Menschen. Und das gilt selbst für Teilchenphysiker.«

»Aha. Dann sollte man wohl mehr Energie erzeugen, indem man Weidenäste verbrennt? Oder besser Kohle? Das bisschen Klimaerwärmung. Weißt du, dass dadurch mehr Schaden entsteht, als die Atomenergie je anrichten könnte? Selbst grüne Fanatiker haben inzwischen begriffen, dass von zwei Übeln die Atomenergie das geringere ist.«

Timo wusste, dass Soile keinen Unsinn redete. Trotzdem: Aus irgendeinem Grund wollte er seiner Frau, die manchmal so auftrat, als wüsste sie alles, heute in die Parade fahren.

Dann aber fiel ihm die bevorstehende Reise nach Helsinki ein: das Material, das in der Seine gefunden worden war. Auch Olkiluoto. Und das wiederum führte seine Gedanken zu einer Frau namens Heli Larva.

Kim Jørgensen drehte den Schlüssel, und das Schloss rastete ein. Die feuerfeste Aktentasche war mit einer Kette am Handgelenk des Kuriers befestigt. Darin befand sich die Diskette, die Jørgensen für 75 000 Euro dem DGSE-Beamten abgekauft hatte.

»Gute Reise«, murmelte Jørgensen eher der Tasche als dem Kurier zu, der mit zwei Sicherheitsleuten auf den cremefarbenen Ledersitzen in der Passagierkabine des Gulfstream-Learjets saß.

Jørgensen verließ die Maschine. Das Feld vor dem Geschäftsreiseterminal des Flughafens Le Bourget in der Nähe von Paris wurde von orangegelben Lampen erleuchtet. Von der Startbahn war die Beschleunigung einer Propellermaschine in der feuchten Nachtluft zu hören. Der kleine Zivilflugplatz wurde vor allem von Geschäftsleuten und VIPs benutzt. Hier war am 30. August 1997 auch Prinzessin Diana mit ihrem Freund Dodi al Fayed von Saint-Tropez aus angekommen, am Vorabend ihres fatalen Unfalls.

Erleichtert sah Jørgensen zu, wie die Maschine auf die Startbahn zurollte. Er kaute Kaugummi und spielte mit dem Daumen an seinem Ring. Es fiel ihm schwer, ruhig zu bleiben. Die erste Phase seines Auftrags hatte er hinter sich gebracht, obwohl sich das als deutlich schwieriger erwiesen hatte, als vorauszusehen gewesen war – und als wesentlich teurer. Aber sein Arbeitgeber hatte für die Operation unbeschränkte Mittel zur Verfügung gestellt. Es gab nur ein Ziel: den Erfolg. Da hatte es keine Probleme bereitet, als plötzlich 75 000 Euro in bar gebraucht wurden.

Die Maschine stieg zum dunklen Himmel auf und flog in einem sanften Bogen nach Osten. Die Kopie der KGB-Archivdiskette, die aus der Seine gerettet worden war, befand sich auf der sicheren Reise dorthin, wo man ihren Wert am meisten zu schätzen wusste.

4

Nervös rutschte Timo auf dem Rücksitz des Taxis in der Helsinkier Innenstadt hin und her. Das Blatt Papier, das zusammengefaltet in der Innentasche seiner Jacke steckte, und die wenigen Sätze darauf glichen trockenem Schießpulver. Neben ihm auf dem Sitz lag die Boulevardzeitung, die er sich im Flugzeug gegriffen hatte. Auf der ersten Seite war ein kleines Foto vom Staatsoberhaupt beim Besuch in Polen zu sehen. Kirsti Heino war die erste Frau im finnischen Präsidialamt.

Timo gab sich Mühe, die Präsidentin möglichst neutral und objektiv zu betrachten, obwohl ihm das nicht leicht fiel. Erst vor wenigen Monaten war ihm klar geworden, was die Präsidentin zu Beginn ihrer politischen Karriere seinem Vater Paavo Nortamo angetan hatte.

Timo drehte die Zeitung um, damit er den schmeichlerischen Gesichtsausdruck der Präsidentin nicht sehen musste. Er holte tief Luft und erstickte seine Aggressionen. Die durfte man ihm auf keinen Fall ansehen. Er war Profi, persönliche Motive durften auf seine Arbeit keine Auswirkungen haben. Auf der Rückseite der Zeitung stach eine Überschrift hervor: »Keine Dramatik bei der Präsidentschaftswahl zu erwarten. Zweite Amtszeit von Heino nach neuesten Umfragen sicher.«

Timo verstand nur zu gut, dass der bescheidene Zettel in seiner Tasche die Konstellation bei der Präsidentschaftswahl auf einen Schlag verändern würde. Natürlich immer unter der Voraussetzung, dass die Diskette aus der Seine echt war.

Aber wenn ein Teil des Materials, das mit Finnland zu tun hatte, in Helsinki an die Öffentlichkeit geriete, käme es auf jeden Fall zu einem Skandal – ganz gleich, ob sich das Material als echt erwies oder nicht.

Das Taxi fuhr über die Mannerheimintie zum Hauptquartier der Sicherheitspolizei in der Ratakatu. Timo dachte wieder an den Hauskauf. Er selbst hatte immer gesagt, in Brüssel lohne es sich, zur Miete zu wohnen, weil die Provisionen und Gebühren bei Immobiliengeschäften so hoch waren: bis zu fünfzehn Prozent. Insofern hatte er eine irrationale Entscheidung getroffen, das wusste er. Aber wann war das Leben schon rational? Wann sollte er denn ein Haus kaufen, wenn nicht jetzt, auf der Höhe seiner beruflichen Laufbahn und im besten Alter? Im nächsten Leben etwa? Aaro war auch schon vierzehn und würde in wenigen Jahren ausziehen.

Das Taxi hielt vor dem Haupteingang der SiPo an, und Timo zahlte. Es war 11.40 Uhr. Die Spannung stieg. Pauli Rautio war nicht nur der Chef der SiPo, sondern auch politisch aktiv. Und aus Politik machte sich Timo nichts. Ihn interessierte allein die Wahrheit. Für ihn war die Wahrheit eine absolute Größe, für Rautio eine relative.