Ulrich Peltzer
Angefangen wird mittendrin
Frankfurter Poetikvorlesungen
Fischer e-books
Ulrich Peltzer, geboren 1956 in Krefeld, studierte Philosophie und Psychologie in Berlin, wo er seit 1975 lebt. Er veröffentlichte die Romane ›Die Sünden der Faulheit‹ (1987), ›Stefan Martinez‹ (1995), ›Alle oder keiner‹ (1999), ›Bryant Park‹ (2002) und ›Teil der Lösung‹ (2007). Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Preis der SWR-Bestenliste, der Bremer Literaturpreis und der Berliner Literaturpreis. ›Teil der Lösung‹ war nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2009. Im Wintersemester 2010/2011 hat Ulrich Peltzer die Frankfurter Poetikdozentur inne.
In den Vorlesungen der renommierten Frankfurter Poetikdozentur durchquert Ulrich Peltzer die literarische Moderne und berichtet von zügellosen Sprachen, zivilisatorischen Randgebieten und fliehenden Helden. In der Literatur der Gegenwart stößt er auf die Frage nach Leben oder Geld und entwirft von hier aus Szenen seines neuen Romans. Die Geste einer Frau, die ihn auffordert, an ihrem Tisch Platz zu nehmen. In dem Moment beginnt es, die Geschichte, das Erzählen. »Man kann es versuchen. Zu schreiben beginnen. Ich beginne zu schreiben.«
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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ISBN 978-3-10-400857-8
Zu dem Thema schreibt Maurice Blanchot in L’Amitié, zitiert nach G. Deleuze/F. Guattari, Anti-Ödipus, S.441: »Mut besteht gleichwohl eher darin, die Flucht zu akzeptieren, als seelenruhig und scheinheilig in falschen Refugien zu leben. Die Werte, Moralen, Vaterländer, Religionen und diese privaten Gewissheiten, die unsere Eitelkeit und Selbstgefälligkeit uns freigebig zugestehen, stellen ebenso viele trügerische Orte dar, die die Welt jenen einrichtet, die derart wähnen, im Kreise solcher beständiger Dinge sicher und in Ruhe gelassen zu sein.«
Wie Nomaden, die im Grunde raumlos sesshaft sind: »Der Nomade lehnt es ab, sich den Raum, den er durchquert, anzueignen, und schafft sich eine Umgebung aus Wolle oder Ziegenhaar, die an dem Ort, den er vorübergehend bewohnt, keine Spuren hinterlässt.« G. Deleuze/F. Guattari, Tausend Plateaus, S.523.
»Legalized discrimination – where blacks were prevented, often through violence, from owning property, or loans were not granted to African-American business owners, or black homeowners could not access FHA mortgages, or blacks were excluded from unions, or the police force, or fire departments – meant that black families could not amass any meaningful wealth to bequeath to future generations. That history helps explain the wealth and income gap between black and white, and the concentrated pockets of poverty that persists in so many of today’s urban and rural communities. A lack of economic opportunity among black men, and the shame and frustration that came from not being able to provide for one’s family, contributed to the erosion of black families – a problem that welfare policies for many years may have worsened.«
http://www.youtube.com/watch?v=QJ7U8_OAgw8 (Pardon)
Siehe das instruktive Nachwort von Andreas Nohl zur seiner Neuübersetzung der beiden Adventures, im Carl Hanser Verlag erschienen.
Von Les Murray in dem wunderschönen Gedicht Dichtung und Religion aufgegriffen: »Religionen sind Gedichte. Sie bringen / unseren Tages- und Traumgeist in Einklang, / unsere Gefühle, Instinkte, den Atem und die uns angeborene Gestik // in das einzig vollkommene Denken: Dichtung. / Nichts ist gesagt, bis es in Worten hinausgeträumt ist / und nichts ist wahr, was nur in Worten wahr ist. // Ein Gedicht kann, verglichen mit einer geordneten Religion, / wie die kurze Hochzeitsnacht eines Soldaten sein / nach der man sterben und leben kann. Doch das ist eine kleine Religion. // Volle Religion ist das große Gedicht in liebevoller Wiederholung; / wie jedes Gedicht muss sie unerschöpflich und vollkommen sein / mit Wendungen, wo man sich fragt Warum hat der Dichter das wohl getan? // Man kann eine Lüge nicht beten, hat Huckleberry Finn gesagt; / man kann sie auch nicht dichten. Es ist derselbe Spiegel: / beweglich, aufblitzend nennen wir es Dichtung, // um eine Mitte verankert nennen wir es eine Religion, / und Gott ist die Dichtung, die in jeder Religion gefangen wird, / gefangen, nicht eingesperrt. Gefangen wie in einem Spiegel, // den er anzog, da er in der Welt ist, wie die Poesie / im Gedicht ist, ein Gesetz gegen jeden Abschluss. / Es wird immer Religion geben, solange es Dichtung gibt // oder einen Mangel an ihr. Beide sind gegeben, und periodisch, / wie der Flug jener Vögel – Haubentaube, Rosellapapagei – / die so fliegen: die Flügel zu, dann schlagend und wieder zu.« (In der Übersetzung von Margitt Lehbert.)
»Float like a butterfly, sting like a bee.« (Muhammad Ali)
Für die verspäteten italienischen/sardischen Verhältnisse geschildert in Padre Padrone, Roman von Gavino Ledda, 1975, bzw. gleichnamiger Film der Brüder Taviani, 1977.
G. Deleuze, Spinoza. Praktische Philosophie, S.38.
»Je mehr wir daher streben, nach der Leitung der Vernunft zu leben, desto mehr suchen wir, von der Hoffnung unabhängig zu sein, von der Furcht uns zu befreien, das Schicksal – soviel wir vermögen – zu beherrschen und unsere Handlungen nach der sicheren Weisung der Vernunft zu regeln.« Spinoza, Ethik, IV, Lehrsatz 47, Anm.
G. Deleuze, Spinoza und die drei »Ethiken«, in: Kritik und Klinik, S.196.
Allen Ginsberg in Howl: »I saw the best minds of my generation (…) / who faded out in vast sordid movies, were shifted in / dreams, woke on a sudden Manhattan, and / (…) subsequently presented themselves on the / granite steps of the madhouse with shaven heads / and harlequin speech of suicide, demanding in- / stantaneous lobotomy, / (…) and who were given instead the concrete void of insulin / Metrazol electricity hydrotherapy psycho- / therapy occupational therapy pingpong & / amnesia (…).«
Das Wort müsste man eigentlich auch in Anführungszeichen setzen.
Die letzte Zeile in den Aufzeichnungen Paveses (Das Handwerk des Lebens): »Nicht Worte. Eine Geste. Ich werde nicht mehr schreiben.«
Oder, drittens, dem eitlen Augenzwinkern postmoderner Selbstreferentialität, der ›Könnerschaft‹ literarischer Laubsägearbeiten, in denen so viel Leben wohnt wie in einem aufgeräumten Hobbykeller.
In den USA 1935 letzte Prägung von silberhaltigen Münzen als generelles Zahlungsmittel. http://en.wikipedia.org/wiki/Peace_Dollarhttp://en.wikipedia.org/wiki/Peace_Dollar (Vertrauen wir mal dem Netz.)
The Recognitions, 1955 (dt. Die Fälschung der Welt), JR, 1975, Carpenter’s Gothic, 1985 (dt. Die Erlöser), A Frolic of His Own, 1994 (dt. Letzte Instanz), Agapé Agape, posthum 2002 (dt. Das mechanische Klavier).
In den Schlusszeilen von Eliots Gedicht The Hollow Men: »This is the way the world ends/Not with a bang but a whimper.«
»Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben.« M. Foucault, Archäologie des Wissens, S.30.
»Heute wissen wir, dass, wenn die Idee tot ist, auch der Henker stirbt. Die Frage ist, ob aus dem legitimen Wunsch nach dem Tod des Henkers auch der Imperativ ›Lebe ohne Idee‹ folgen muss.« Alain Badiou, Das Jahrhundert, S.146.
»Was nützen mir historische Ruinen?
Ich will mehr Gegenwart.«
Rolf Dieter Brinkmann, Rom, Blicke
Manchmal ist es das Detail eines Bildes, etwa eines Fotos, an das man sich wieder erinnert, manchmal der kurze Refrain eines Songs aus dem Radio, den man gerade hört, oder die Atmosphäre einer Installation, die man irgendwann einmal in einem Museum gesehen hat. Vielleicht ist es auch der Anblick eines verkrüppelten Jongleurs in einer Fußgängerzone oder der Besuch einer Bankfiliale in Zürich vor ein paar Monaten – und sogleich weiß man, nur hier kann es losgehen, in diesem Moment, in dieser Situation, mit dem Jongleur und seinen Krücken zum Beispiel, mit dem Gefühl der Ergriffenheit, das eine raumfüllende Installation Renée Greens damals hervorrief, mit dem Gesicht des Bankangestellten hinter seinem Schreibtisch in der Credit Suisse, als man ihn fragte, was denn ein Schließfach koste. Plötzlich befindet man sich mittendrin, in jenem notwendigen, beinahe schicksalhaften Mittendrin, das den Vorgang des Erzählens wie die Geschichte, die man erzählen will, überhaupt erst ermöglicht. Ein anderer Beginn scheint dann nicht mehr denkbar, ein Vorher, in dem man anfangen könnte, sondern nur noch ein sehr dezidiertes Ab-jetzt, eine Art von Sprung aus dem Nichts in den Text. Der ein Roman werden soll, wie die mit sich selbst getroffene Festlegung lautet, wenn auch das, was Fabel bzw. Plot zu nennen wäre, bisher eher eine lose Folge von Szenen als ein halbwegs strukturierter Zusammenhang war und seine Sprache, die Sprache des Buches, seit Monaten eher einer körperlosen Empfindung glich, als schon syntaktische Gewissheit zu sein. Das heißt ein Spannungsverhältnis zwischen den Sätzen und innerhalb der Sätze, das über jede Konstruktion, über jeden ausgeklügelten narrativen Twist hinaus die Handlung, oder sagen wir besser: das Geschehen vorantreiben würde. Auf ein Ende zu, das ich nicht kenne, das da sein wird, wenn es so weit ist; der letzte Satz am letzten Tag, um alle unproduktiven Determinierungen zu vermeiden.
Beinahe schicksalhaft, wie ich im Bezug auf dieses Mittendrin vor ein paar Zeilen sagte, sollte nicht bedeuten, dass es unter Umständen nicht auch andere geben könnte, die ebenso gut wären, die Geschichte in Gang zu setzen, sollte das Moment der Kontingenz, das jedem Mittendrin innewohnt, nicht unterschlagen, sondern vor allem betonen, dass eine Entscheidung getroffen wurde, die weitreichende, nicht mehr hintergehbare Konsequenzen hat. Etwa die technische Konsequenz, dass eine bestimmte Vergangenheit, das Vorher des zu Erzählenden, jetzt nur noch als Rückblende, als Gedankenspiel oder Teil einer Rede auftauchen darf, oder die praktische, aus der eigenen Erfahrung gewonnene, auch als Zwang zu bezeichnende Konsequenz, nicht mehr aufhören zu können von diesem unbegreiflich einleuchtenden Startpunkt an, bis man fertig wird; mit dem Roman, mit sich, nicht aber, die Hoffnung muss man haben, mit den persönlichen Beziehungen, in denen man zu Anfang steckte. Denn das Schreiben ist kein therapeutischer Akt, Schriftsteller sind keine Kranken, die sich und ihre Nächsten selbst behandeln, sondern sie lesen die Symptome der Welt; selbst wenn sie nichts davon wissen wollen.
Sie lesen sie, ohne sie zu kategorisieren, denn sowenig das Schreiben ein therapeutischer Akt ist, ist es einer von statistischer Diagnostik, von politischer Beweisführung oder Parteinahme, und vielleicht spräche man besser von den Symptomen, wenn wir den Begriff schon eingeführt haben, den Symptomen ›einer‹ Welt, einer Welt ›in‹ der Welt, die auf den Autor, die Autorin, eine schwer widerstehliche Anziehungskraft ausübt. Oder Abstoßungskraft, die zur Mobilisierung eines idiosynkratischen Furors führt, obgleich Furor und Idiosynkrasie einen Roman in der Regel (es gibt Ausnahmen) nicht durchgängig vitalisieren und die Gefahr, ins Ressentiment abzurutschen, meist nur mit großer Mühe abzuwenden ist. (Im Übrigen das widerwärtigste aller negativen Gefühle, das Ressentiment, das einen Menschen durch und durch vergiftet und ausgesprochen hässlich macht.) Also, Symptome eines Typs von Welt, die einem oft als – mehr oder weniger – alltägliche Phänomene begegnen, sich in kleinen differenten Schüben wiederholende Ereignisse, von denen man hört, die man erlebt oder die in irgendeiner Person, in deren Verhalten und Sprache, zum Ausdruck kommen. Und die einen auf verwickelte, nicht immer nachvollziehbare Weise affizieren, mit einem Mal Neugier und Interesse, Abscheu oder Bewunderung erwecken können. Wobei ›mit einem Mal‹ heißt: Gestern noch nicht und morgen nicht mehr, oder nicht mehr mit jener Intensität, die ausreichen würde für eine längere Beschäftigung – mit den Phänomenen wie zugleich mit dem Affekt, dem Bündel von Affekten, die sie auf den Plan gerufen haben. Nicht gestern, nicht morgen, sondern nur heute, an einer flüchtigen Schnittstelle meiner Subjektivität, die sich ständig verändert, verlagert, neue Kombinationen ihrer Linien eingeht, wodurch einem Vorhaben die Akutheit genommen oder ich sogar ganz von ihm abgebracht werden kann. Winzige Drehung der Perspektive oder mitreißende Flucht, beides abhängig von so vielem, das kaum zu kalkulieren, geschweige denn im Detail zu kontrollieren ist und dem wir im doppelten Sinn des Wortes unterliegen.
Davon, von der Fragwürdigkeit jeglicher Souveränitätsvorstellungen, die der Einzelne sich von sich macht, wusste schon der Neapolitaner Philosoph Giambattista Vico im frühen 18. Jahrhundert, als er schrieb: »Ich scheine mir der gleiche zu bleiben; aber im dauernden Auf und Ab der Dinge, die in mich eingehen und mich verlassen, bin ich in jedem Zeit=Moment ein anderer.« Was keineswegs besagen soll, man sei nichts als ein willenloses Produkt zufälliger Verkettungen von Impulsen und Gegenständen, die irgendwo und irgendwie zu finden sind, aber hinreichend klar darauf verweist, dass es eine Illusion ist, sich in einem Akt von Selbstermächtigung eine Beständigkeit (oder Autonomie) zuzumessen, die vielleicht ein Felsbrocken hat, jedoch sicher nicht ein menschliches Wesen.
Das nämlich unausgesetzt modifiziert wird und sich selbst modifiziert, Verbindungen herstellt und kappt, zu allem fähig wie zum Gegenteil von allem, in seiner Gegenwart gefangen wie es ihm immer wieder glückt, sie zu verlassen, zu überschreiten, sich also ihrer pausenlosen Zumutungen zu erwehren. Und sei es im Verschwinden oder Verstummen, »I would prefer not to«, wie Bartleby, der Held in Herman Melvilles Erzählung Bartleby, der Schreiber, ein ums andere Mal seinem Chef erwidert, bevor er sich endgültig ins große Schweigen verabschiedet. Aus dem Kreislauf der Dinge, ihrem »dauernden Auf und Ab«, aussteigt, jener Folge von Corso und Ricorso, von Aufstieg, Fall und neuerlichem Aufstieg, die laut Vico, dem ersten Geschichtsphilosophen der Neuzeit, für alle Zivilisationen Gültigkeit hat. Deren Entstehen und Vergehen hatte er in seinem Hauptwerk, der Neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker von 1725, im Blick, als er für jede Zivilisation drei Stadien annahm, die sie notwendigerweise von ihren Anfängen bis zu ihrer Zerrüttung durchlaufe, und diese Stadien auf den Gebieten der Religion, der Regierungsform und der in ihnen jeweils vorherrschenden Sprache untersuchte. Vom Zeitalter der Götter über das der Heroen zu dem der Menschen, von der Theokratie über die Aristokratie zur Demokratie und von der hieroglyphischen Gebärdensprache religiöser Zeremonien über die symbolisch-heraldische Sprache aristokratischer Krieger zur artikulierten Rede des demokratischen Jedermanns, zur Umgangssprache bzw., wie es Klaus Reichert formuliert, zur »ungeschmückten Schriftsprache«. Womit Vico ein allgemeines, fast schon materialistisches Entwicklungsmodell liefert, das sich sowohl auf Gesellschaften als auch Individuen anwenden lässt und das zudem einer erzählerischen Struktur gehorcht, die im Wechselspiel von beidem, Gesellschaft und Individuum, den Aufbau moderner Narrative bereits vorzeichnet, inklusive ihrer Unabgeschlossenheit, A-Moralität und ihrer, nennen wir es so, ihrer Code-Bewusstheit – als das Wissen um die Beziehungen von sozialem Territorium und sprachlichem Ausdruck. Mit anderen Worten, in welchem Abhängigkeitsverhältnis sich die sprachlichen Möglichkeiten des Subjekts von seiner Welt befinden; wie es nur in ihr und durch sie sein kann; was allerdings nicht ausschließt, nie, dass das Subjekt, ein Subjekt, irgendwann die Grenzen dieser Welt zu überwinden vermag.
Vicos Denken ist zyklisch, insofern meint der Begriff Unabgeschlossenheit, dass es in seiner Theorie kein definitives zivilisatorisches Ende gibt, kein überirdisches finis operis, sondern dass es stets von neuem beginnt, jede Zivilisation ihren vorbestimmten Weg nimmt vom naiven Götterglauben zur aufgeklärten Profanität, vom Schreckensregime der Stärksten zur vertragsförmigen Öffentlichkeit gleichgestellter Bürger, sich vom sprachlosen Erschaudern angesichts unverständlicher und unerklärlicher Naturerscheinungen – Blitze, die vom Himmel schießen – zu einem Raum diskursiver, allen zugänglicher Übereinkünfte hinbewegt, zur Vulgata universeller Wissenschaftlichkeit.
Goethe war einer der Ersten, den die Geschichtsauffassung Vicos in ihren Bann gezogen hat, doch ist es nicht allein das Organisch-Zirkuläre, das ihre Attraktivität ausmacht, sondern ebenso die philologische Methode der Herleitung des einen Zeitalters aus dem anderen, eine Art historisierender Etymologie, die frühere Epochen im Sprachgebrauch späterer identifiziert. Immer tragen die Worte bei Vico alte Bedeutungen mit sich, die es zu entschlüsseln gilt, um auf diese Weise etwas über die Vergangenheit zu erfahren. Faulkners Satz, dass die Vergangenheit nicht tot, ja, noch nicht einmal vergangen sei, trifft in hohem Grad auch auf das spekulative Verfahren der Neuen Wissenschaft, auf die Scienza Nuova des Privatgelehrten aus Neapel zu: Sprachen in Sprachen, die sich über die Zeiten schichten, einander durchdringen, Geschichten erzählen, jedes einzelne Wort im Grunde alles, die ganze Story vom Himmel eines Kronos und Zeus über die Kämpfe mythischer Heroen bis in die Niederungen unseres Alltags, von so elementarer wie beziehungsreicher Semantik, die man, sofern man will, nur lernen muss zu lesen.
Lernen muss zu lesen: »riverrun, past Eve and Adam’s, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs.« Auf derselben Seite des Buches, das mit diesem Satz beginnt, mit dem Kleinbuchstaben des r von »riverrun« – im Mittendrin eines ewigen Kreislaufs sozusagen, dem das Fließen des Flusses hier sinnliche Präsenz verleiht –, auf derselben Seite findet sich ein hundertlettriges Wort (das ich Ihnen jetzt nicht vorlese), ein Wort für Donner, das sich aus den Benennungen, die der Donner in den verschiedensten Sprachen hat, zusammensetzt, unter anderem entdeckt man darin neben dem irischen ›tórnach‹ das schwedische ›åska‹ und das italienische ›tuono‹, das französische ›tonnerre‹ und das japanische ›kaminari‹. Ein knappes Dutzend Donner-Worte, deren Silben über zwei ganze Zeilen hinweg verschliffen und verquickt werden zu etwas radikal Neuem, einem Hyper-Wort, das – wenn man’s halblaut liest – sich wie die Naturerscheinung selbst anhört, ein dröhnender, grollender Klang, der zwar jede sprachliche Partikularität aufhebt, sie aber nicht zum Verschwinden bringt. In dem vielmehr beides eingeschlossen ist, Sound und Repräsentation, Stimme und Schrift, ein geniales Gefüge aus Sinnpartikeln, das die Idee reflektiert, es könnte einmal eine Ursprache gegeben haben, eine universale Sprache, die die Synthese aller Sprachen vor ihrer babylonischen Verwirrung gewesen wäre, vor dem Gebabbel der Gegenwart. Was nun einem Zentralgedanken Vicos über die gemeinschaftliche Natur der Völker entspricht, dem Gedanken, dass sie im Prinzip nicht nur alle die gleiche (sprachliche) Herkunft haben, sondern sich ihre zyklische Geschichte auch Episode für Episode ablagert in den spezifischen Worten, die ein jedes ›Volk‹ in einem bestimmten Zeitalter zur Verständigung dann benutzt, auf Spanisch, Deutsch oder Irisch.
Oder eben Englisch, in dem das Buch geschrieben ist, dessen ersten Satz ich zitiert habe und das sich wie kein anderes auf Vico und seinen Masterplan bezieht, in der Struktur wie in der Mutmaßung, ein Ausdruck, ein Begriff, eine Vokabel bedeute grundsätzlich mehr als das, was man an der Oberfläche zu lesen und zu verstehen glaubt, trage beharrlich eine komplette Sprach- und Sinngeschichte mit sich, die in ihrer schier unendlichen Bezüglichkeit aufgedeckt werden könne – wozu im konkreten Fall die Mittel phonetischer Verdichtung, Verschiebung und Schachtelung herangezogen werden, über die ein Titan, ein Riese, auf dessen Schultern wir stehen und rumbalancieren, vollkommen lässig zu verfügen scheint. Denn einen Titanen braucht es dazu, keine Frage, und der, von dem hier die Rede ist, heißt Joyce, und der Roman natürlich Finnegans Wake.
Den man weitaus einfacher, als es das notorische Gerücht will, lesen (oder entziffern) lernen kann, wenn man sich mit der nötigen Neugier und dem nötigen Spaß auf seine Voraussetzungen einlässt. Auf die Geschichtsphilosophie Vicos, dessen Name in zahllosen Variationen über den Text verstreut ist, auf eine dieser Philosophie abgeleitete Zeitvorstellung, die jedwede Linearität aufsprengt, um ein Kontinuum des Jetzt, eines unaufhörlichen WakeUlyssesUlysses