Frido Mann

Achterbahn

Ein Lebensweg

Inhaltsverzeichnis

Zitat

Prolog

1. Kriegskind im amerikanischen Exil

2. Die Verpflanzung in die Kulturheimat Europa

3. Der Ausbruch

4. Die Achtundsechziger-Rebellion frisst ihre Kinder

5. Neubeginn: Psychotherapie als säkularisierte Seelsorge

6. Der Wendepunkt in den familiären Schreibschoß?

7. Geographischer und kultureller Brückenschlag und erste Vernetzungsversuche

8. Rückkehr zur Theologie oder Paradigmenwechsel?

Epilog

Namenregister

 

Karl Kraus

Traum vom Fliegen

 

Und wieder mir träumte, ich wäre geflogen,

und diesesmal war es doch sicherlich wahr,

denn ich hatte so leicht wie die Luft ja gewogen

und hatte die Knie an den Körper gezogen,

und es ging wie im Flug, im beherztesten Bogen

hoch über der schwergewichtigen Schar,

es war keine Täuschung, ich war nicht betrogen,

es flogen die Stunden, die Tage, das Jahr.

 

Mit fliegenden Hoffnungen vollgesogen,

so wach’ ich mit müderen Gliedern auf.

Zu Lande ist Leben; und angelogen,

vom leichtesten Trug an der Nase gezogen,

aus allen Himmeln zur Erde geflogen,

da lieg’ ich, da liegen die Lügen zuhauf.

Und trotzdem bleib’ ich dem Traume gewogen,

so läuft er sich leichter, der Lebenslauf.

Prolog

Der fünfzigste Todestag Thomas Manns. Die Hansestadt feiert ihn während einer ganzen Festwoche mit Vorträgen, Ausstellungen und Führungen und einem großen Festakt zum Abschluss.

Lübeck, 12. August 2005. Nach dem Betreten der Eingangshalle zu den «Media Docks» an der Trave arbeite ich mich durch ein Menschengewühl hindurch zum ebenfalls übervollen Vortragssaal. Bald erblicke ich meinen Gesprächspartner für das öffentliche Gespräch im Anschluss an meinen Vortrag, Professor W., der freudig auf mich zueilt und mich mit bayerischer Herzlichkeit begrüßt. Gleich danach treten auch zwei Damen vom örtlichen Organisationskomitee auf mich zu und fragen mich, ob ich denn am morgigen Sonnabend am Festakt in der Lübecker Marienkirche teilnehmen möchte – mit Bundespräsident Köhler, Marcel Reich-Ranicki und Vertretern des S. Fischer Verlags. Ich teile den Damen im geräuschvollen Rummel hastig mit, dass ich morgen ganz früh nach Berlin weiterreisen werde. Ich hatte, außer einem allgemeinen Vordruck zum Ankreuzen, nie eine persönliche Einladung erhalten. Keine Einladung? So was! Das tut uns aber leid. Können Sie nicht trotzdem kommen? Leider nicht, mein morgiger Termin in Berlin steht fest. Die beiden Damen lassen von mir ab.

Dann führt mich Professor W. in das Auditorium zu dem für mich freigehaltenen Platz in der ersten Reihe. In schützender Entfernung von mir wird die erste Reihe bereits von einer ganzen Riege hochrangiger Thomas-Mann-Experten besetzt. Einer davon hat seinerzeit meinen literarischen Erstling, den autobiographischen Roman «Professor Parsifal», im Feuilleton einer großen deutschen Zeitung scharf kritisiert. Ich mustere ihn verstohlen von der Seite, da ich ihm persönlich noch nie begegnet bin. Ansonsten sind wir offenbar beide bestrebt, mit unseren Blicken einander auszuweichen. Ich halte mich an meinem Vortragsmanuskript wie an einem Talisman fest. Ich rechne mit zumindest unterschwelligem Widerstand seitens der führenden Thomas-Mann-Germanisten gegen meine heute darzulegenden Erörterungen. Es ist mehr Kampflust als Angst in mir. Mein Vorsatz, während meines ganzen Vortrags und Gesprächs jeden Blickkontakt mit den Koryphäen in der ersten Reihe zu meiden, hilft mir, der Veranstaltung mit Gelassenheit entgegenzusehen.

Ursprünglich wollte mich die Festspielleitung heute nur zu meinen Enkel-Erinnerungen öffentlich befragen lassen. Schließlich wurde mein Wunsch akzeptiert, einen dieses Gespräch einleitenden Vortrag über das für Germanisten bisher eher unpopuläre Thema «Thomas Mann und die Frage der Religion» zu halten. Das ist mir sehr wichtig. Das Thema passt nicht nur gut zu einem runden Todestag. Es verbindet auch mich, wie ich erst sehr spät herausgefunden habe, mit meinem Großvater. Denn dieser hat in den frühen vierziger Jahren die Kindstaufe aller seiner vier Enkel in der Unitarischen Kirche von Los Angeles initiiert, mit der er während seines kalifornischen Exils in engem Kontakt stand. Noch kurz vor seinem Tod korrespondierte er von der Schweiz aus mit demselben Pastor. Ich freue mich richtig darauf, der Hörerschaft das gängige Bild vom gefühlskalten Geistesriesen zu korrigieren und die Entwicklungslinien im Leben und Werk Thomas Manns aufzuzeigen – vom jugendlichen nihilistisch-atheistischen Spötter zum christlich gläubigen Humanisten nach dem schweren Schock von Krieg, Faschismus und Heimatlosigkeit.

Einer der Germanisten in der ersten Reihe steht auf und begibt sich zum Rednerpult, um mich einzuführen. Er sagt kurz etwas über den «Mythos» meiner literarischen Rolle im «Doktor Faustus», obwohl dies gar nicht zum Thema meines Vortrags gehört. Dann steige ich die Stufen zur Rednertribüne hinauf und beginne zu sprechen. Für einen unbequemen Enkel scheint mir der Kontakt zu meinem Publikum auf Anhieb besonders gut zu gelingen. Aufmerksam und neugierig nehmen die Zuhörer jedes Wort meines Vortrags mit konzentrierter Stille bis zum Schluss auf. Auf die Fragen in dem sich an den Vortrag anschließenden Gespräch mit Professor W. berichte ich unter anderem von meiner Zusammenarbeit mit der religionsübergreifenden Tübinger Stiftung «Weltethos» und von deren Mitwirkung an unserem eurobrasilianischen Kulturprojekt.

Nach dem Ende der Veranstaltung werde ich von allen Seiten aus dem Publikum mit zustimmenden Kommentaren und Fragen bestürmt, und es werden mir Bücher entgegengestreckt, die ich signieren soll. Der Blick zu der inzwischen leeren ersten Reihe zeigt mir, dass die dort platzierte Germanistenriege offenbar als Erste sofort den Saal verlassen hat. Ich nutze den noch warmen Stuhl eines der Geflohenen, um darauf den Signierwünschen aus dem Publikum nachzukommen. Aus dem Stimmengewirr heraus vernehme ich irgendwann die Frage, welche auf den kürzesten Nenner gebrachte Lebenshaltung ich für mich als besonders wichtig ansehen würde. Der junge Mann strahlt mich an, als ich ihm spontan antworte: Die Kunst des Loslassens – was mir, noch ganz unter dem Eindruck meiner Erlebnisse wenige Tage zuvor beim Dalai-Lama in Zürich, wie selbstverständlich einfällt.

Nachdem sich der Saal langsam geleert hat, tritt zum ersten Mal der örtliche Festspielleiter auf mich zu, begrüßt mich, ohne meinen Vortrag und das nachfolgende Gespräch zu erwähnen, unverbindlich jovial und so lässig, als hätten wir uns, statt vor mehreren Jahren, noch vor einer Stunde gesehen. Jetzt lädt er mich und meinen Interviewpartner zum Lunch ein. Auf dem Weg dorthin hole ich eine Zeitschrift aus meiner Mappe. Es ist ein von ihm herausgegebenes Begleitheft zur derzeit laufenden Ausstellung «Das zweite Leben» über Thomas Mann in der Lübecker Katharinenkirche. Dort hat sich eine seiner Mitarbeiterinnen in einem Artikel folgendermaßen über mich ausgelassen:

Nach dem Tode Golos machte sich die Presse auf die Suche nach anderen noch lebenden Mitgliedern der Familie Mann und stieß auf Thomas Manns Enkel Frido, den sie bei seinen Forschungen nach den brasilianischen Wurzeln der Familie begleitete. Dieser nutzte die Popularität seines Namens, um in Paraty die Casa Mann, eine Gedenkstätte für seine Urgroßmutter, einzurichten, dabei natürlich vor allem von der brasilianischen Presse treulich begleitet.

Ich konfrontiere den Herausgeber mit diesem Passus. Er reagiert verlegen und entschuldigt sich mit der Begründung, er habe diese Stelle wohl überlesen. Meinem Hinweis auf die doch etwas merkwürdige Koinzidenz zwischen diesem Artikel und der Tatsache, dass ich auch zur morgigen festlichen Ehrung meines Großvaters nicht persönlich eingeladen wurde, begegnet er mit der Behauptung, dieses sei rein zufällig ein zweites, bedauernswertes Versäumnis, wofür er sich ein weiteres Mal entschuldigt.

Nach dem gemeinsamen Lunch in etwas gezwungener Atmosphäre werde ich erneut von den beiden örtlichen Komitee-Damen gefragt, ob ich denn nicht wenigstens heute Abend die musikalisch begleitete Lesung von Monika Bleibtreu und Dietmar Mues in der Katharinenkirche besuchen wolle. Ich sage gern zu, weil ich heute Abend ja noch hier bin. In meinem Hotel werde ich dann von mehreren Journalisten wegen des morgigen Festakts in der Marienkirche angerufen. Ein Fernsehsender möchte morgen Vormittag ein Interview mit mir in der vollbesetzten Marienkirche aufnehmen. Mit Verwunderung stelle ich fest, dass für die Medien meine Anwesenheit offenbar wichtiger ist als für die örtliche Festspielleitung, und ich verweise deshalb den Journalisten auf diese. Der Journalist reagiert mit Entsetzen, spricht von einem Skandal und versucht mehrfach, mich umzustimmen. Schließlich einigen wir uns darauf, dass wir in einer Stunde irgendwo hinter dem Hotel das gewünschte Interview führen.

Abends begebe ich mich in die vollbesetzte Katharinenkirche. Die beiden Schauspieler bringen, unterstützt von einem Gitarristen, im Wechsel die Stimmen der drei Mann-Töchter und drei Mann-Söhne über den pater familias Thomas Mann zu Gehör. Ich bin vor allem von Monika Bleibtreu beeindruckt. Ihr Vortrag überzeugt durch Klarheit und Prägnanz. Die Schauspielerin versteht es, sich in die von ihr übernommenen Rollen intensiv hineinzuleben.

Auf dem Weg durch Lübecks dunkle Gassen zurück zum Hotel. Die Altstadt überaus vornehm, aber eng und ein wenig bedrückend. Sie «riecht wahrhaft wohlhabend, stinkt sozusagen behäbig», hat der achtzehnjährige Heinrich Mann über seine Vaterstadt geschrieben. Wie mag am Fin de Siècle einem übersensiblen Patriziersohn mit einer brasilianischen Mutter hier zumute gewesen sein?

Beim Frühstück am nächsten Morgen erblicke ich unverhofft Monika Bleibtreu allein an einem der Tische. Ich warte, bis sie mit ihrem Teller zum Buffet geht, spreche sie dort an und beglückwünsche sie für ihre gestrige Darbietung. Wir kommen kurz ins Gespräch und verabschieden uns dann. Das war ein guter Abschluss. Noch bevor sich die Creme des heutigen Festakts hier einfindet, hole ich meine gepackten Koffer und verlasse rasch das Hotel in Richtung Bahnhof.

Bei jeder bisherigen Abreise von Lübeck habe ich, das eine Mal stärker, das andere Mal schwächer, gespürt, wie ein auf mir lastender Druck von mir wich. Heute jedoch, kurz vor diesem gigantischen Festakt, bei dem ich und die in der ersten Reihe Sitzenden einander glücklich losgeworden sind, ist es besonders intensiv. Als der Regionalexpress nach Hamburg losfährt und sich zuerst vom Bahnhof und dann von der ganzen Stadt immer weiter entfernt, merke ich, wie ein riesiger Stein von mir abfällt. Mich überkommt ein lang anhaltendes Gefühl der Befreiung und Erleichterung.