Inge Jens

Unvollständige Erinnerungen

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorwort

Kapitel 1: Kindheit und Jugend

Kapitel 2: Nach dem Krieg

Kapitel 3: Aufbruch in die Fremde – und ein Hausgenosse aus Hamburg

Kapitel 4: Lebensdinge und die Welt der Manns

Kapitel 5: Arbeit, Freunde und Familie

Kapitel 6: Neue Horizonte

Kapitel 7: Alma Mater Tubingensis

Kapitel 8: Widerstand und Widerstehen

Kapitel 9: Jenseits der Mauer

Kapitel 10: Berlin und die Wende

Kapitel 11: Die neunziger Jahre

Kapitel 12: Noch einmal Katharina Pringsheim

Kapitel 13: In guten und in schlechten Tagen

Namenregister

 

Für meine Enkelin Paula

Vorwort

Warum schreibe ich dieses Buch? Wie oft im Verlauf meiner gut eineinhalbjährigen Arbeit habe ich mir diese Frage gestellt – spätestens von dem Zeitpunkt an, da klar wurde, dass das, was ich eher aus Zeitvertreib angefangen hatte, wirklich ein Buch zu werden drohte.

Warum schrieb ich trotzdem weiter? Weil ich merkte, dass es mir Spaß machte, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Das war eine unerwartete Erfahrung. Ich bin immerhin 82 Jahre alt und habe mich, soweit ich es weiß, noch nie sehr intensiv für mich interessiert. Da überlegt man natürlich, wo denn wohl die Gründe für dieses plötzliche Vergnügen am eigenen Leben zu suchen sind.

Ja, wo? Zunächst spielt sicherlich das Alter eine Rolle. Ich habe unter anderem Literaturwissenschaft studiert und weiß daher, dass – zumindest in der Vergangenheit – Autobiographien im Allgemeinen in Form von Lebensrückblicken geschrieben wurden; von Menschen also, die versuchten, sich am Ende ihres Daseins der Erlebnisse und Erfahrungen zu erinnern, die sie prägten und die es ihnen wert schienen, aufbewahrt und weitergegeben zu werden.

Resümierend zurückzublicken zu einem Zeitpunkt, da das Alter konkret erfahrbar wird: Das war auch für mich ein wichtiger Grund, mich mit mir und meiner Vergangenheit zu konfrontieren. Jenseits der achtzig registriere ich physische Veränderungen, die mich veranlassen, die Strukturen meiner Lebensführung zu überdenken. Ich kann nicht mehr stundenlang spazieren gehen, das Laufen fällt mir zunehmend schwer. Am Schreibtisch aber fühle ich mich wohl. Mit der Hand schreiben kann ich nicht mehr, meine arthrotischen Finger versagen ihren Dienst. Aber ich habe als sehr junges Mädchen das Schreibmaschine-Schreiben gelernt. Später dann machte es die Arbeit an Thomas Manns Tagebüchern nötig, mich mit dem Computer anzufreunden.

Das alles kommt mir jetzt zugute. Ich kann Aufträge annehmen, die es notwendig machen, neue Themen zu durchdenken und meine Erkenntnisse zu Papier zu bringen. Wenn es Vorträge waren, die ich auf diese Weise niederschrieb, habe ich sie anschließend selbst gehalten – an verschiedenen Orten, zu denen ich gern reiste. Nicht mehr, wie früher, mit dem Auto, sondern mit der Eisenbahn. Und siehe: Mit einem konkreten Ziel vor Augen ging es bisher nicht nur gut, sondern festigte sich gleichzeitig mein Selbstbewusstsein. Die sich an den Vortrag fast immer anschließenden Diskussionen machten mir Spaß. Gelegentliche Rückgriffe auf eigene Erfahrungen stimulierten das Interesse des Publikums und veranlassten mich später, bei mir selbst noch etwas genauer nachzufragen. Auf Eisenbahnfahrten ist so etwas möglich.

Ungefähr zur gleichen Zeit verführte mich meine Freundin Christel Freitag, der ich beim Südwestrundfunk gelegentlich Rede und Antwort gestanden hatte, zu einigen gemeinsamen Veranstaltungen in Bibliotheken oder Volkshochschulen der näheren und weiteren Umgebung. Sie befragte mich variationsreich zu wichtigen Ereignissen in meinem Leben, und ich erzählte ein bisschen. Die Abende hatten eine unerwartet große Resonanz. Sie endeten meistens in auch für uns interessanten Diskussionen, in deren Verlauf ich vielfach gebeten wurde, das, was ich da gesagt hatte, doch aufzuschreiben.

Aber es gibt noch einen weiteren Grund: Nach 57 Jahren nie abreißender Gespräche bin ich allein – ohne den Menschen, mit dem sich über alles auszutauschen mir so selbstverständlich war wie essen und trinken oder atmen. Mein Mann ist seit langer Zeit schwer krank. Seit gut zwei Jahren kann er weder lesen noch schreiben. Eine Unterhaltung mit ihm ist nicht mehr möglich. Er ist da: als ein der Zuwendung bedürftiger Mensch, der ein Recht darauf hat, dass auch ich «da bin». Aber als Partner, als ein verstehendes, Antwort gebendes oder gar widersprechendes Gegenüber gibt es ihn nicht mehr. Das hat mein Leben von Grund auf verändert und mich auf mich selbst – nein, nicht zurückgeworfen, aber verwiesen. Die unerwartete Gegenwart hat mich – vielleicht, um meine Lage überhaupt begreifen zu können – veranlasst zurückzublicken, und ich habe mit Erstaunen bemerkt, dass dieses Zurückblicken Kräfte freisetzt, die mir auch einen neuen, anderen, freieren Umgang mit dem Hier und Jetzt ermöglichen.

Die Rückschau auf mein Leben verbietet mir, mit dem Heute zu hadern. Auf die Frage: «Warum muss das sein, warum trifft es gerade uns?», wüsste ich zwar auch jetzt noch keine Antwort zu geben. Aber – und das wurde mir schlagartig bewusst – diese Frage zöge unweigerlich eine zweite nach sich, die ich ebenso wenig wie die erste beantworten könnte. Denn sie müsste lauten: Warum denn ist es gerade mir – uns – so lange so ungeheuer gut ergangen? Warum war es gerade uns vergönnt, ein so interessantes, erfülltes und – trotz mancher Schwierigkeiten – glückliches Leben zu führen?

Und eben die Nichtbeantwortbarkeit dieser beiden Fragen hat mir Lust gemacht, mich genauer mit meinem erfüllten Leben zu beschäftigen. Dabei ging es mir von vornherein nicht darum, es in allen Details wiederzuentdecken. Ich habe mir keinen Zwang auferlegt und bin keinem System gefolgt, sondern habe mir zunächst lediglich das genauer zu vergegenwärtigen versucht, was mir spontan einfiel.

An einem Punkt begann ich dann, das Erinnerte aufzuschreiben. Zunächst ausschließlich für mich selbst. Später erzählte ich Freunden von meiner mich immer noch etwas seltsam anmutenden Tätigkeit. Sie ermunterten mich, zu versuchen, noch ein paar Ereignisse mehr aus dem «Brunnen der Vergangenheit» heraufzuholen und das zutage Geförderte zumindest in ausführlichen Notizen festzuhalten.

Die Zufälligkeit der Episoden, die bei diesen Bemühungen ans Tageslicht kamen, erstaunte mich. Dennoch notierte ich auch weiterhin meine Erinnerungen, wie sie kamen, und versuchte erst später, sie mit Hilfe der Chronologie in eine gewisse Ordnung zu bringen. Ihrem Wesen nach bleiben sie unsortiert, eine Zuordnung zu Themenkreisen wäre meinen Absichten zuwider. Ich hatte niemals den Ehrgeiz, eine Autobiographie zu schreiben. Mir liegt allein daran, Erinnerungen an Ereignisse und Personen festzuhalten, die ich offenbar absichtslos behalten habe, die aber für mich in sehr verschiedener Hinsicht von Bedeutung waren.

Das heißt jedoch nicht, dass ich alles aufgeschrieben habe, was mir wichtig gewesen ist. Es gibt Personen und Ereignisse, die für mein Leben nicht minder bedeutsam waren als die, die ich erwähne, und die dennoch in diesem Buch nicht vorkommen. Vielleicht, weil sie mir in irgendeiner Weise zu nah sind und deshalb nichts vermitteln können, was noch im Persönlichen Überindividuelles spiegelt. Außerdem lag es nicht in meiner Absicht, einen Katalog von Begegnungen mit mehr oder minder bekannten Persönlichkeiten aufzustellen oder gar ein Journal intime zu schreiben.

Dass meine ungeordneten und «mit Fleiß», wie man hierzulande sagt, «unvollständigen» Erinnerungen sich – ihrer Zufälligkeit zum Trotz – zu einem wie immer gearteten Ganzen zusammenfügten, verdanke ich nicht zuletzt der Hilfe von Hildburg Kindt, Hans Thiersch und Uwe Naumann. Sie haben mich in vielen langen und intensiven Gesprächen davon überzeugt, dass es interessant wäre, zu erfahren, wie eine vorwiegend als «Frau an seiner Seite» wahrgenommene Frau dennoch – und manchmal vielleicht sogar dank dieser Rolle – ein eigenständiges und emanzipiertes Leben führen konnte. Alle drei haben mir zudem durch Fragen und Diskussionen geholfen, einigen zunächst eher kargen Kindheits- und Jugenderinnerungen genauer nachzugehen – nicht zuletzt, um Konstellationen zu verdeutlichen, die sonst leicht, zumal für jüngere Leser, unverständlich bleiben. Sie haben mir aber auch Mut gemacht, die Bedeutung nicht zu unterschlagen, die die Krankheit meines Mannes beim Schreiben dieses Buches gespielt hat.

Als mir nun schon seit mindestens zehn Jahren vertrauter und inzwischen gut befreundeter Lektor hat Uwe Naumann zudem geholfen, das Patchwork-Manuskript übersichtlich zu strukturieren, sodass es schließlich, zwischen zwei Buchdeckeln ansprechend «verpackt», in der vorliegenden Fassung das Licht der Öffentlichkeit erblicken konnte. Auch hier kann ich nur dankbar konstatieren, dass die «Unvollständigen Erinnerungen» ohne Freundeshilfe nie in einer «vollständigen» – sprich: lesbaren – Form hätten erscheinen können.

 

Tübingen, im März 2009

Inge Jens