Briefe an Eva Haldimann

Cover

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2010

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Covergestaltung ANZINGER WÜSCHNER RASP, München

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ISBN 978-3-644-00531-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00531-0

Fußnoten

S. die Anmerkungen am Schluß des Bandes

im Original deutsch

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1

Budapest, 20. Mai 1977

Sehr geehrte Eva Haldimann!

Einem glücklichen Zufall verdanke ich, daß ich Ihren Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung vom 18. März lesen konnte.[*]

Die verständnisvolle Rezension, mit der Sie Sorstalanság (Roman eines Schicksallosen) würdigen, ermutigt mich, Ihnen heute mein neuestes Buch zu schicken.

Ich wäre Ihnen überaus dankbar, wenn Sie mich wissen ließen, ob Sie die Sendung erreicht hat.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Imre Kertész

Budapest, 2. Juni 1977

Liebe Eva Haldimann,

vielen, vielen Dank für Ihren Brief. In der Tat haben sich die Zeitschriften hier mit Sorstalanság (Roman eines Schicksallosen) nicht beschäftigt. Der Grund dafür ist wahrscheinlich – neben einer «gewissen Unsicherheit»[*] – die literarische Inzucht hierzulande. Die Schublade ist noch nicht gezimmert, in die man mich mit der Zeit hineinstopfen könnte. Die Tageszeitungen haben sich allerdings damit befaßt, wobei jedoch eine so kluge, das Wesentliche erfassende Besprechung wie die Ihre natürlich nicht herausgekommen ist.

An Ihren Artikel bin ich übrigens gelangt, weil jemand im Schwimmbad eine Bemerkung darüber gemacht hatte. Von jemand anderem erfuhr ich das Datum des Blattes. Und ein Londoner Freund schickte mir schließlich den Zeitungsausschnitt. Deutsch lese ich zum Glück.

Kommen Sie manchmal nach Budapest? Wenn ja, lassen Sie uns bitte nicht die Gelegenheit einer persönlichen Bekanntschaft versäumen. Meine Telefonnummer: 161–382.

Es grüßt Sie herzlich

Imre Kertész

Budapest, 14. Dezember 1977

Liebe Eva,

ich danke Ihnen herzlich für den Artikel und daß Sie ihn mir zugesandt haben. Über Umwege hatte ich gerade am Vortag erfahren, daß in der NZZ «etwas» erschienen sei: Sie können also – trotz der Entfernung – etwas bewirken, weil Sie auch hier in Budapest Leser haben.

Ihr Artikel ist voll erregender, spannender Gedanken. Auch dieses «Wenige», das mir gewidmet ist, ist in diesem Zusammenhang eine große Auszeichnung: Bedenken Sie doch, wie wenig verwöhnt ich bin. Zunächst schienen Sie A nyomkereső (Spurensucher) gegenüber etwas abgeneigt, jetzt haben Sie in wenigen Sätzen genau das Wesentliche erfaßt. Wahrscheinlich ahnen Sie gar nicht, was für ein seltenes Geschenk für mich das würdigende Interesse eines unabhängigen Geistes in meinem täglichen Kampf gegen das Schweigen ist.

Ich hoffe, wenn Sie das nächste Mal nach Budapest kommen, erübrigen Sie wieder etwas Zeit für mich. Solange grüßt Sie sehr herzlich

Imre Kertész

4

Budapest, 26. Februar 1983

Liebe Eva,

ich danke Ihnen für Ihren Brief und freue mich sehr, daß Ihnen A kudarc (Fiasko) gefallen hat. Sie haben vollkommen recht, mit einer Besprechung sollten wir warten, bis der

Ob auf das Fiasko ein Erfolg folgen wird? Was den Roman betrifft, wird es ein saurer «Erfolg» werden, Luzifer wird sicher Freude daran haben. Was aber die Realität betrifft: Ich würde lügen, wollte ich behaupten, daß mich die Verlage (also die beiden, die es hier gibt) mit Angeboten bombardieren. Auf jeden Fall hat mir der «Verlag für Schöne Literatur» – auf meine Bitte – einen Vertrag zugesichert, ich erwarte ihn in diesen Tagen. Außerdem gab es eine kleine, enthusiastische Ankündigung in der Magyar Nemzet vom 27. Februar, ich lege sie bei.

Ja, sicher, ich habe auch Lustspiele geschrieben, mit Musik – was tut man nicht alles im Leben! –, es war eine lustige Zeit und hat schön etwas eingebracht. Das ist lange her, inzwischen bin ich «seriös» geworden.

Oglütz und die Oglützer sind ziemlich aktiv, doch solange es Ohrenstöpsel gibt, werden auf dieser Erde noch Romane geschrieben!

Alles Gute und herzlichste Grüße,

Imre

Budapest, 27. Januar 1990

Liebe Eva Haldimann!

So lange schon haben wir einander nicht geschrieben. Artisjus schickte mir Ihren Artikel aus der NZZ: Ich danke Ihnen für Ihre Würdigung, es bestärkt und ermutigt mich, daß A kudarc (Fiasko) eine so beifällige Aufnahme bei Ihnen gefunden hat.

Vielleicht ist eine niederdrückende und unterjochende Epoche zu Ende gegangen. 40 Jahre! Was ist das für uns? Alles in allem mein Leben … – Zur Buchwoche erscheint mein neuer Roman. Der Titel ist Kaddis a meg nem született gyermekért (Kaddisch für ein nicht geborenes Kind). (Sie wissen, was das Kaddisch ist? Ein Totengebet, so wie in der katholischen Liturgie das Requiem.) Der vollständige Text war in der November- und Dezembernummer von Kortárs abgedruckt. Aber Sie sollten ihn lieber in Buchform lesen: Ich schicke Ihnen das Buch sofort, wenn es erschienen ist.

Mit herzlichen Grüßen,

Imre Kertész

6

Budapest, 16. Februar 1990

Liebe Eva,

Ihr Brief hat mich erreicht, haben Sie Dank. Ich glaube, ich muß auf Ihre Frage eingehen, weil sie mich sehr berührt hat – warum aus den Hainen der ungarischen Literatur

Ich fürchte, ich langweile Sie schon. Den Kaddisch werde ich Ihnen, sobald er herausgekommen ist (er ist zur Buchwoche, also für Anfang Juni geplant), persönlich schicken, diese Freude lasse ich mir nicht nehmen. Wenn Sie erlauben, gebe ich Ihnen noch zwei Telefonnummern: 15-64-190, die Nummer meiner Wohnung in der Pasaréti-Straße. Und: 11-50-117, die meines Arbeitszimmers in der Török-Straße, wo ich tagsüber, etwa zwischen 10 und 16 Uhr zu erreichen bin, die letztere steht auch im Telefonbuch.

Seien Sie herzlich gegrüßt,

Imre Kertész

7

[Postkarte]

[Budapest, Sommer 1990]

Liebe Eva!

Ich freue mich sehr, Sie im Oktober wiederzusehen: Es ist mindestens zehn Jahre her, seit wir uns das letzte Mal trafen, falls Sie sich noch daran erinnern. Es gibt aber ein kleines Problem: Der Artikel, den Sie erwähnen, war nicht in dem

Herzlichst,

Imre

8

[Postkarte]

[Budapest, August 1990]

Liebe Eva,

mit Dank erhielt ich Ihren schönen Artikel und freue mich sehr, daß Ihnen mein Kaddisch gefallen hat. Hier war das Buch innerhalb von drei Tagen nach Erscheinen ausverkauft. – Sie tun gut daran, nicht im Sommer, sondern lieber im Herbst nach Pest zu kommen: Bis dahin wird es weniger warm, weniger anarchisch und vielleicht sogar etwas weniger schmutzig sein. Ich warte voll Freude darauf, Sie zu sehen,

Imre

[Budapest, 1. oder 2. Oktober 1990]

Liebe Eva,

ja, seit meinen «Weisheiten» vom Jahresanfang sind wir nun dahin gekommen, daß ich zu der beiliegenden Erklärung gezwungen war. Wie jämmerlich die Sache auch ist, ich meine, Sie darüber unterrichten zu müssen. – Es regt sich auch sonst breiter gesellschaftlicher Protest: Miklós Mészöly hat sein Amt im Komitee des Schriftstellerverbandes niedergelegt.

Mit sehr herzlichen Grüßen,

Imre Kertész

 

Budapest, 25. September 1990

Verehrtes Präsidium!

Zu meinem größten Bedauern sehe ich mich zu der Mitteilung gezwungen, daß ich mich nicht mehr länger als Mitglied des Ungarischen Schriftstellerverbandes betrachte.

Ich bemühe mich, meine Gründe maßvoll, klar und vor allem kurz zusammenzufassen. In einer neueren Nummer der Zeitschrift Hitel ist ein Artikel von Sándor Csoóri erschienen, in dem steht, daß «die Möglichkeit des geistigen und seelischen Zusammenwachsens von Judentum und Ungartum verschwunden ist». Im selben Artikel publiziert Csoóri eine Liste der aus seiner Sicht akzeptablen jüdischen Geister. In diesem Register konnte ich zu meinem nicht geringen Erschrecken meinen eigenen Namen nicht lesen. Noch mehr hätte mich nur erschreckt, wenn ich ihn dort hätte lesen können.

Ich habe immer als Individuum gelebt, mich selbst immer als Individuum definiert. Ich habe keine sogenannten Identitätsprobleme. Daß ich Ungar bin, ist um nichts absurder, als daß ich

Ich lasse nicht zu, daß man mich aus meiner Individualität ausgrenzt; ich lasse nicht zu, daß man, seien es Juden oder Nichtjuden, mich nach den Gefängnisjahrzehnten des Totalitarismus durch «Judentum» definiert. Sowenig ich meine Herkunft – diesen himmlischen Zufall – je verleugnet habe, so wenig werde ich je zulassen, daß ich im Namen der Herkunftsdaten in meiner Geburtsurkunde verstümmelt werde, von ebendenselben, die mir explizit das Recht absprechen, daß auch ich – zum Beispiel – Trianon als Verletzung empfinden könnte. Ich lasse nicht zu, daß Sándor Csoóri mich absondert von meinen Landschaften und Wäldern, meinen Schluchten und den Berggipfeln, von denen ich in die Ferne schaue, über die Köpfe der engherzigen Rassisten hinweg. Ich habe mich nie in irgendeine Rassen-, National- oder Gruppenidentität geflüchtet und tue es auch jetzt nicht; ich bitte keine Rasse, Nation oder Gruppe, mich zum Wortführer zu ermächtigen, um in ihrem Namen auszugrenzen, zu richten und auszuweisen. Ich habe es immer für meine Aufgabe – und zugleich für mein schriftstellerisches Glaubensbekenntnis – gehalten, der Welt die Zerbrechlichkeit und Verletzbarkeit meiner Individualität darzubieten: sämtlichen Erschießungskommandos der Welt – aber auch den aufnahmebereiten Herzen der Welt.

Natürlich erhebt sich auch in mir die Frage, von wem Csoóri

Ich will nicht zu dieser Schlußfolgerung kommen. Ich will

Mit dem heutigen Tag trete ich also unter Bedauern aus den Mitgliedsreihen des Ungarischen Schriftstellerverbandes aus, weil ich es als unmöglich empfinde, weiterhin Mitglied eines Verbandes zu bleiben, der zwar dem Namen nach ungarisch ist, dessen – einer – Co-Präsident jedoch in einem Artikel entschieden in Zweifel zieht, daß ich als ein dem «Judentum» Zugehöriger mit den Ungarn eines Sinnes sein könnte.

Ich bitte Sie, meinen Austritt freundlichst zur Kenntnis zu nehmen; gleichzeitig bitte ich, diese Austrittserklärung den Mitgliedern freundlicherweise in vollem Umfang bekanntzumachen, wie es dem ungeschriebenen moralischen Gesetz und, soviel ich weiß, auch den geschriebenen Vorschriften entspricht.

 

Hochachtungsvoll

Imre Kertész

Budapest, 4. Oktober 1990

Liebe Eva,