Philippe Claudel

Die grauen Seelen

Roman

Aus dem Französischen von Christiane Seiler

Ich bin da. Da zu sein ist mein Schicksal.

 

Jean-Claude Pirotte, Un voyage en automne

 

Der Gerichtsschreiber der Zeit sein, ein beliebiger Beisitzer, den man herumschleichen sieht, wenn Mensch und Licht sich vermischen.

 

Jean-Claude Tardif, L’homme de peu

Zur Erinnerung an André Vers

I

Ich weiß nicht genau, wo ich beginnen soll. Es ist schwer. Da ist all die vergangene Zeit, die die Worte nicht hervorholen werden, da sind die Gesichter, das Lächeln, die Wunden. Dennoch muss ich versuchen auszusprechen, was seit über zwanzig Jahren mein Herz nicht zur Ruhe kommen lässt. Das schlechte Gewissen, die wichtigen Fragen. Ich muss das Geheimnis mit dem Messer öffnen wie einen Bauch, muss es ergründen, selbst wenn sich dadurch rein gar nichts ändern wird.

Sollte man mich fragen, durch welches Wunder ich die Tatsachen kenne, die ich erzählen will, so werde ich nur antworten, dass ich sie kenne, und damit Schluss. Ich kenne sie, weil sie mir vertraut sind wie die Nacht und der Tag. Weil ich mein Leben mit dem Versuch zugebracht habe, sie zu sammeln und wieder zusammenzufügen, damit sie sprechen, damit ich sie höre. Früher einmal war das Teil meines Berufs.

Ich werde etliche Schatten vorbeiziehen lassen. Vor allem einer wird im Vordergrund stehen. Er gehörte einem Mann, der Pierre-Ange Destinat hieß. Mehr als dreißig Jahre lang war er Staatsanwalt in V., und er übte seinen Beruf aus wie eine mechanische Uhr, die nie aussetzt, nie stillsteht. Große Kunst, wenn man so will, Kunst, die kein Museum braucht, um sich ihres Wertes zu versichern. 1917, im Jahr der «Affäre», wie man bei uns sagte, wobei man das Wort mit Seufzern und Mimik unterstrich, war er über sechzig Jahre alt und ein Jahr zuvor in Pension gegangen. Er war ein hoch gewachsener, hagerer Mann, der aussah wie ein frostiger, majestätischer, abwesender Vogel. Er sprach wenig. Er war sehr eindrucksvoll. Er hatte helle, reglos wirkende Augen und schmale Lippen, eine hohe Stirn und graue Haare.

V. liegt etwa zwanzig Kilometer von uns entfernt. 1917 bedeuteten zwanzig Kilometer eine ganze Welt, vor allem im Winter und vor allem in diesem nicht enden wollenden Krieg, der unsere Straßen mit dem Dröhnen von Lastwagen, dem Rattern von Fuhrwerken erfüllte und stinkenden Qualm und tausendfachen Donner zu uns brachte, denn die Front war nicht weit, auch wenn sie uns vorkam wie ein unsichtbares Ungeheuer, ein verborgenes Land.

An unterschiedlichen Orten und in den verschiedenen Kreisen hieß Destinat anders. Im Gefängnis von V. nannten die meisten Insassen ihn Bois-le-sang, den Bluttrinker. In einer Zelle habe ich einmal sogar eine mit dem Messer in die dicke Eichentür geritzte Zeichnung gesehen, die ihn darstellte; sie sah ihm übrigens ziemlich ähnlich. Dazu muss man sagen, dass der Künstler während seines zwei Wochen dauernden Prozesses alle Zeit der Welt gehabt hatte, sein Modell zu studieren.

Wenn wir dagegen Pierre-Ange Destinat auf der Straße begegneten, nannten wir ihn «Herr Staatsanwalt». Die Männer lüpften ihre Mützen, die einfachen Frauen machten einen Knicks. Die vornehmen Damen, die zu seiner Welt gehörten, nickten nur leicht mit dem Kopf, wie kleine Vögel, wenn sie aus der Dachrinne trinken. Das alles berührte ihn kaum. Er antwortete nicht oder so unmerklich, dass man ein gut poliertes Lorgnon hätte tragen müssen, um die Bewegungen seiner Lippen zu erkennen. Nicht aus Verachtung, wie die meisten Leute meinten, sondern, glaube ich, einfach nur aus Gleichgültigkeit.

Dennoch gab es eine junge Person, die ihn beinahe verstanden hat, eine junge Frau, von der ich noch berichten werde, die ihm, aber nur im Stillen, den Beinamen Tristesse, Traurigkeit, gab. Vielleicht war es ihre Schuld, dass alles geschah; doch hat sie nie etwas davon erfahren.

Zu Beginn des Jahrhunderts war ein Staatsanwalt noch ein bedeutender Herr. Und zu Kriegszeiten, wenn ein einziger Artilleriefeuerstoß eine ganze Kompanie wild entschlossener Kerle niedermähen konnte, war es eine echte Herausforderung des staatsanwaltlichen Handwerks, den Tod eines einzelnen Mannes in Ketten zu verlangen. Destinat handelte, glaube ich, nicht aus Grausamkeit, wenn er den Kopf eines armen Teufels forderte und auch bekam, der einen Postbeamten niedergeschlagen oder seine Schwiegermutter aufgeschlitzt hatte. Er sah den Einfaltspinsel vor sich, in Handschellen, zwischen zwei Polizisten, und bemerkte ihn kaum. Er blickte sozusagen durch ihn hindurch, als wäre der andere schon nicht mehr vorhanden. Destinat hatte es nicht auf einen Verbrecher in Fleisch und Blut abgesehen, sondern verteidigte eine Idee, ganz einfach eine Idee, die Idee, die er von Gut und Böse hatte.

Der Verurteilte schrie bei der Urteilsverkündung, weinte, raste, hob bisweilen die Hände zum Himmel, als erinnerte er sich plötzlich an seinen Katechismus. Destinat sah ihn schon nicht mehr. Er klemmte seine Notizen in die Aktenmappe, vier oder fünf Bogen Papier, auf denen er mit seiner kleinen, vornehmen, in violette Tinte getauchten Schrift die Anklagerede niedergeschrieben hatte, eine Hand voll ausgesuchter Worte, die das Publikum meistens zum Zittern und die Geschworenen, falls sie nicht schliefen, zum Nachdenken gebracht hatten. Bloß ein paar Worte, aber sie hatten hingereicht, im Handumdrehen ein Schafott zu errichten, schneller und zuverlässiger als zwei Schreinergesellen in einer Woche.

Er war dem Verurteilten nicht böse, er kannte ihn nicht mehr. Den Beweis dafür habe ich mit eigenen Augen am Ende einer Verhandlung auf einem Flur gesehen: Destinat kommt heraus, den schönen Hermelin noch auf dem Rücken, mit einem Gesichtsausdruck wie Cato, und begegnet dem Todeskandidaten. Der spricht ihn jammernd an. Seine Augen sind noch ganz gerötet vom Urteilsspruch, und mit Sicherheit bereut er in diesem Augenblick die Gewehrschüsse, die er seinem Chef in den Bauch gefeuert hat. «Herr Staatsanwalt», stöhnt er, «Herr Staatsanwalt …», und Destinat blickt ihm in die Augen, als sähe er die Gendarmen und die Handschellen nicht, und antwortet, wobei er ihm die Hand auf die Schulter legt: «Ja, mein Freund, sind wir uns nicht schon einmal begegnet? Was kann ich für Sie tun?» Ganz ohne Spott, völlig ungezwungen. Der Mann konnte es nicht fassen. Es war wie ein zweiter Urteilsspruch.

 

Nach jedem Prozess ging Destinat in den Rébillon, gegenüber der Kathedrale, zum Essen. Der Wirt ist ein schwerer Mann, bleich wie ein Chicorée, mit einem Mund voll schlechter Zähne. Er heißt Bourrache. Er ist nicht besonders schlau, aber er weiß, wo das Geld herkommt. Das ist seine Natur. Es ist nicht seine Schuld. Er trägt immer eine große Schürze aus blauem Leintuch, die ihm das Aussehen eines gegürteten Fasses verleiht. Früher hatte er eine Frau, die nie das Bett verließ, wegen einer Mattigkeit, wie man das in unserer Gegend nennt, wo man häufig beobachten kann, dass gewisse Frauen den Novembernebel mit ihrer eigenen Verzweiflung verwechseln. Später ist sie verstorben, weniger an ihrer Krankheit, der sie sicher unrettbar verfallen war, als wegen dem, was geschehen ist, wegen der Affäre.

Zu jener Zeit glichen die Bourrache-Töchter kleinen Lilien, aber mit einem Tropfen Blutes, das ihre Gesichtshaut zart erglühen ließ. Die jüngste war noch keine zehn Jahre alt. Sie hatte kein Glück. Oder vielleicht doch, vielleicht hatte sie sehr viel. Wer weiß?

Die beiden älteren hatten nur Vornamen, Aline und Rose, während die Kleine von allen Leuten Belle und von manchen, die sich für Dichter hielten, Belle de Jour genannt wurde. Wenn sie alle drei im Speisesaal waren und Wasserkaraffen, Weinflaschen und Teller brachten und forttrugen, inmitten von Dutzenden Männern, die überlaut sprachen und zu viel tranken, dann schien es mir bei ihrem Anblick, als hätte man Blumen in eine gemeine Spelunke verpflanzt. Vor allem die Kleine wirkte auf mich so frisch, dass sie mir von unserer Welt immer weit entfernt vorkam.

Wenn Destinat das Restaurant betrat, servierte ihm Bourrache, ein Mann mit festen Gewohnheiten, stets den exakt gleichen Satz: «Wieder einer gekürzt, Herr Staatsanwalt!» Der antwortete nichts darauf. Dann führte Bourrache ihn zu seinem Platz. Destinat hatte seinen eigenen Tisch, einen der besten, der das ganze Jahr für ihn reserviert war. Ich habe nicht gesagt: den besten, denn auch den gab es – er stand dicht am riesigen Kachelofen, und man übersah von dort, wenn man durch die Gardinen blickte, den ganzen Gerichtsplatz. Aber dieser Tisch gehörte dem Richter Mierck. Er war Stammgast. Er kam viermal wöchentlich. Sein Bauch, der sich über den Oberschenkeln wölbte, sprach davon ebenso wie seine Haut, blaurot geädert, als würden sich sämtliche Gläser Burgunder, die er je geleert hatte, darunter stauen und auf die Öffnung des Wehrs warten. Mierck mochte den Staatsanwalt nicht sonderlich. Und der empfand das Gleiche für ihn. Ich glaube sogar, dass diese Beschreibung noch hinter der Wahrheit zurückbleibt. Man sah jedoch, wie sie sich ernst, mit gezogenem Hut, grüßten, zwei Männer, die in jeder Hinsicht gegensätzlich sind, aber das gleiche Stammessen haben.

Das Erstaunlichste war, dass Destinat selten in den Rébillon kam und doch seinen Tisch hatte, der also drei viertel des Jahres leer blieb. Ein erheblicher Verlust für Bourrache, der ihn trotzdem um nichts in der Welt vergeben hätte, nicht einmal an Tagen, an denen großer Markt war und sämtliche Bauern, die der Landstrich zählte, herbeiströmten, um sich satt zu essen, nachdem sie die Kruppen zahlreicher Kühe getätschelt und seit Tagesanbruch einen Liter Pflaumengeist getrunken hatten und bevor sie sich im Bordell von Mutter Nain Erleichterung verschafften. Der Tisch blieb unbesetzt. Einmal hat Bourrache sogar einen Viehhändler vor die Tür gesetzt, der ihn für sich verlangte. Er kam nie wieder.

«Besser ein königlicher Tisch ohne König als ein Gast, der mit Mist an den Füßen am Tisch sitzt!»

Das sagte Bourrache eines Tages zu mir, als ich ihm auf die Nerven ging.

II

Der erste Montag im Dezember. In unserer Stadt. 1917. Sibirische Kälte. Der Boden klang hart unter den Absätzen, das Geräusch vibrierte hinauf in den Nacken. Ich erinnere mich an die große, über den Leichnam der Kleinen gebreitete Decke, die sich rasch mit Wasser voll sog, und an die beiden Polypen, die ihn an der Uferböschung bewachten, Berfuche, ein Gedrungener mit behaarten Wildschweinohren, und Grosspeil, ein Elsässer, dessen Familie vierzig Jahre zuvor ausgewandert war. Etwas weiter hinten stand Brechuts Sohn, ein Dickwanst mit Haaren so steif wie Besenborsten, der seine Weste knautschte und nicht genau wusste, was er tun sollte, bleiben oder fortgehen. Er war es, der sie auf seinem Weg zur Arbeit im Wasser entdeckt hatte. Er erledigte Schreibarbeiten im Hafenamt. Das tut er immer noch, nur ist er jetzt zwanzig Jahre älter und sein Schädel so glatt wie eine Eisscholle.

Der Körper einer Zehnjährigen ist nicht dick, schon gar nicht, wenn er vom Wasser des Winters durchnässt ist. Berfuche zog an einem Zipfel der Decke. Dann hauchte er in seine Hände, um sie zu wärmen. Belle de Jours Gesicht tauchte auf. Lautlos flogen einige Raben vorüber.

Sie sah aus wie eine Märchenprinzessin mit bläulichen Lippen und weißen Lidern. Ihre Haare zerflossen ins vom Morgenfrost rötlich verfärbte Gras, ihre kleinen Hände hatten sich um ein Nichts geschlossen. So kalt war es an jenem Tag, dass die Schnurrbärte aller Anwesenden sich mit Reif überzogen, während sie die Luft wie Stiere ausatmeten. Wir stampften mit den Füßen, damit Blut hineinströmte. Unbeholfen kreisten Gänse am Himmel. Sie schienen vom Weg abgekommen zu sein. Die Sonne duckte sich in ihren Mantel aus Nebel, der immer stärker ausfranste. Sogar die Kanonen schienen eingefroren. Man hörte nichts.

«Vielleicht ist endlich Frieden», wagte Grosspeil zu sagen.

«Frieden, du meine Fresse», fuhr ihn sein Kollege an und deckte die durchnässte Wolle wieder über den Leichnam der Kleinen.

 

Wir warteten auf die Herren aus V. Sie trafen schließlich in Begleitung des Bürgermeisters ein, der finster dreinblickte, so finster, wie man eben aussieht, wenn man zu unchristlicher Zeit aus dem Bett gezerrt wird, noch dazu bei einem Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagen würde. Mit ihm kamen Richter Mierck, dessen Schreiber, den alle Crouteux nannten, weil ein hässliches schorfiges Ekzem die linke Hälfte seines Gesichts verunstaltete, drei Gendarmen niederen Dienstgrades, die sich für besonders schlau hielten, und ein Soldat. Ich weiß nicht, was er dort zu suchen hatte, dieser Soldat, jedenfalls blieb er nicht lange: Nach kurzer Zeit verdrehte er die Augen und musste ins Café Jacques getragen werden. Ein Gimpel. Er war sicher nie in die Nähe eines Bajonetts gekommen, außer an einem Waffenschrank, und vielleicht noch nicht einmal das! Man sah es an seiner makellos gebügelten Uniform, die geschnitten war wie für eine von Poirets Schaufensterpuppen. Bestimmt führte er seinen Krieg in der Nähe eines anständigen gusseisernen Ofens, in einem breiten Velourssessel sitzend, und abends erzählte er unter vergoldetem Stuck und Kristalllüstern jungen Frauen in Ballkleidern von diesem Krieg, umgeben von den altmodischen Klängen eines Kammerorchesters.

Unter seinem Cronstadt-Hut und seiner von gutem Essen wohlgenährten Erscheinung war Richter Mierck ein ganz scharfer Hund. Mag sein, dass die weinhaltigen Saucen ihm Ohren und Nase einfärbten, sanfter aber stimmten sie ihn nicht. Er schlug eigenhändig die Decke zurück und betrachtete Belle de Jour lange. Die anderen warteten auf ein Wort, einen Seufzer, denn immerhin kannte er sie gut, sah sie täglich oder beinahe täglich, wenn er in den Rébillon ging, um sich den Bauch voll zu schlagen. Er sah den kleinen Körper an, als wäre sie ein Stein oder ein Stück Holz: herzlos, mit einem Blick so eisig wie das Wasser, das zwei Schritte entfernt vorbeifloss.

«Das ist die Kleine von Bourrache», flüsterte man ihm ins Ohr, als wollte man sagen: «Die arme Kleine, sie war erst zehn Jahre alt, bedenken Sie doch, gestern noch brachte sie Ihnen Ihr Brot und strich Ihre Tischdecke glatt.» Er fuhr plötzlich hoch, auf den Mann zu, der es gewagt hatte, ihn anzusprechen. «Ja und? Was geht mich das an? Eine Tote ist eine Tote!»

Vor diesem Ereignis war der Richter Mierck für uns einfach der Richter Mierck, und fertig. Er hatte seinen Platz, er füllte ihn aus. Man mochte ihn nicht besonders, doch man zollte ihm Respekt. Aber nach dem, was er an diesem ersten Montag im Dezember gesagt hatte, angesichts der durchnässten sterblichen Überreste der Kleinen, und vor allem danach, wie er es gesagt hatte, schneidend, leicht spöttisch, mit lebhafter Freude darüber in den Augen, endlich ein Verbrechen zu haben, und zwar ein richtiges – denn dass es eines war, daran gab es keinen Zweifel – in diesen Kriegszeiten, in denen alle Mörder in Zivil Pause machten, um sich in Uniform noch eifriger an die Arbeit zu begeben, nach dieser Antwort also wandten sich alle wie ein Mann von ihm ab und gedachten seiner nur noch mit Abscheu.

«Gut, gut, gut», fing er summend wieder an, als machte er sich bereit, zum Kegeln oder auf die Jagd zu gehen. Dann bekam er Hunger. Eine Marotte, eine Laune: Er brauchte weich gekochte Eier, «weich gekochte, keine weichen», beharrte er, auf der Stelle Eier, dort am Ufer des kleinen Kanals, bei zehn Grad minus, neben Belle de Jours Leiche: Auch dies hat die Leute schockiert. Einer der drei Gendarmen, der eben zurückgekehrt war, nachdem er den betressten Lackaffen abgeliefert hatte, rannte gleich wieder los, um ihm seine Eier aufzutreiben, «mehr als nur Eier, kleine Welten, kleine Welten», so nannte es Richter Mierck, wenn er die Schale mit einem winzigen, ziselierten Silberhämmerchen aufschlug, das er immer eigens dafür aus seiner Uhrtasche hervorzog, denn sie packte ihn des Öfteren, diese Marotte, bei der er sich den Schnurrbart goldgelb einschmierte.

Während er auf die Eier wartete, erforschte er pfeifend, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, mit seinen Blicken Meter für Meter die Umgebung, während wir Übrigen noch immer versuchten, uns aufzuwärmen. Und er redete, war nicht mehr zu bremsen. In seinem Mund war sie nicht mehr Belle de Jour, obwohl auch er sie früher so genannt hatte, das habe ich selbst gehört. Von nun an sagte er «das Opfer», als raubte der Tod nicht nur das Leben, sondern obendrein die hübschen Blumennamen.

«Sie haben das Opfer herausgefischt?»

Brechuts Sohn kramt noch immer in seiner Weste, als wollte er sich darin verstecken. Er nickt zustimmend, und der andere fragt ihn, ob er die Sprache verloren habe. Brechuts Sohn bedeutet ihm, weiter stumm, ein Nein. Das alles, spürt man, verärgert den Richter, sodass ihm die gute Laune wieder abhanden kommt, in die ihn der Mord gerade versetzt hat, vor allem weil der Gendarm im Verzug ist und seine Eier nicht kommen. Endlich rückt Brechuts Sohn mit Einzelheiten heraus, und der andere hört ihm, von Zeit zu Zeit «gut, gut» murmelnd, zu.

Minuten vergehen. Es ist immer noch genauso kalt. Die Gänse sind endlich verschwunden. Das Wasser fließt. Ein Zipfel der Decke taucht hinein, und die Strömung treibt ihn hin und her, bewegt ihn; man könnte meinen, es sei eine Hand, die den Takt schlägt, ein- und wieder auftaucht. Aber das sieht der Richter nicht. Er hört dem Bericht von Brechuts Sohn zu, lässt sich kein Fitzelchen entgehen, seine Eier hat er vergessen. Zu dieser Uhrzeit hat sein Gegenüber noch klare Vorstellungen vom Geschehen. Später wird er einen Roman daraus machen, während er von einem Café zum anderen geht, um die Geschichte zu erzählen, und sich von allen Wirten einen ausgeben lässt. Gegen Mitternacht wird er besoffen sein, den Namen der Kleinen mit flatternden Tremolos hinausschreien und den Wein aus all den Gläsern, die er im Vorübergehen geleert hat, auf seine Hose pissen. Ganz am Ende des Abends, völlig eingeferkelt, drückt er sich vor seinem vielköpfigen Publikum nur noch mit Gesten aus. Schönen, erhabenen, dramatischen Gesten, die durch den Wein noch sprechender werden.

Richter Miercks dicker Hintern quoll über den Rand seines Jagdhockers, eines Dreibeins aus Kamelleder und Ebenholz, das die ersten Male, als er es auseinander klappte, großen Eindruck auf uns gemacht hat – nach seiner Rückkehr aus den Kolonien. Drei Jahre hatte er damit zugebracht, irgendwo in Äthiopien oder sonst wo Hühnerdiebe und Getreideräuber zu jagen. Unausweichlich faltete und entfaltete er den Hocker an allen Tatorten, meditierte darauf wie ein Maler vor seinem Modell oder schwenkte ihn zum Spaß in der Luft wie einen Gehstock mit Knauf, in der Art eines Generals, den es nach der Schlacht gelüstet.

Der Richter hatte Bréchut zugehört und dabei seine Eier verspeist, denn sie waren, eingeschlagen in ein großes, dampfendes, weißes Geschirrtuch, inzwischen eingetroffen, und der diensteifrige Gendarm, der losgeflitzt war, hatte sie ihm, den kleinen Finger an der Hosennaht, überreicht. Der Schnurrbart des Richters war jetzt gelb und grau. Die Schalen lagen zu seinen Füßen. Er zertrat sie mit dem Absatz, wischte sich die Lippen mit einem großen Batisttaschentuch ab. Fast meinte man, die glasfeinen Knochen von Vögeln zerbrechen zu hören. Die Überreste der Schalen klebten an seinen Stiefeln wie winzige Sporen, während daneben, nur einige Schritte entfernt, Belle de Jour noch immer unter ihrem Leichentuch aus nasser Wolle lag. Dem Richter hatte das nicht den Appetit verdorben. Ich bin sogar sicher, dass ihm die Eier gerade deshalb noch besser gemundet haben.

Bréchut war fertig mit seiner Geschichte. Der Richter hatte sie, zusammen mit seinen «kleinen Welten», gekaut wie ein Kenner. «Gut, gut, gut», sagte er und stand, sich die Hemdbrust richtend, auf. Dann betrachtete er die Umgebung, als wollte er sie aus der Tiefe seiner Augen heraus ergründen. Immer noch steif, mit geradem Hut.

Der Morgen ließ sein Licht, seine Stunden verrinnen. Alle Männer waren aufgestellt wie Bleifiguren in einem Miniaturtheater. Berfuche hatte eine rote Nase und Augen, in denen die Tränen standen. Grosspeil nahm langsam die Farbe von Wasser an. Crouteux hielt sein Notizbuch in der Hand, in das er bereits etwas notiert hatte, und kratzte gelegentlich seine kranke Wange, die sich im Frost mit weißen Linien überzog. Der Gendarm mit den Eiern sah aus wie aus Wachs modelliert. Der Bürgermeister war in sein Bürgermeisteramt zurückgekehrt, sehr zufrieden, wieder ins Warme zu können. Er hatte seine kleine Pflicht getan, der Rest ging ihn nichts mehr an.

Der Richter schnappte, die Hände auf dem Rücken, mit vollen Lungen nach Luft und wippte auf der Stelle. Man wartete auf Victor Desharet, den Arzt aus V. Aber der Richter hatte es nicht mehr eilig. Er genoss Augenblick und Ort. Er versuchte, sich ihn tief ins Gedächtnis einzuprägen, wo es bereits viele Verbrechensgemälde und Mordlandschaften gab. Das war sein persönliches Museum, und ich bin sicher, dass ihm, wenn er hindurchging, wohlige Schauer über den Rücken liefen, die denen der Mörder in nichts nachstanden. Die Grenze zwischen Wild und Jäger ist schmal.

Der Arzt trifft ein: So ein feines Paar, der Richter und er! Sie kennen sich vom Gymnasium her. Sie duzen sich, aber in ihrem Mund wird das Du so merkwürdig geformt, dass man es für ein Sie halten könnte. Sie essen oft zusammen, im Rébillon und in anderen Wirtshäusern; es dauert stundenlang, und alles Mögliche kommt ihnen auf den Tisch, vor allem Schwein und Innereien: Maul, Pansen in Sahnesoße, panierte Schweinsfüße, Kutteln, Hirn, frittierte Nieren. Je länger sie sich kannten und die gleichen Nahrungsmittel in sich hineinschaufelten, desto ähnlicher sahen sie sich: die gleiche Gesichtshaut, die gleichen Schwarten am Hals, der gleiche Wanst, die gleichen Augen, die über die Welt nur zu gleiten schienen und dem Morast ebenso auswichen wie dem Mitgefühl.

Desharet betrachtet den Leichnam wie ein Lehrbeispiel. Man sieht, dass er fürchtet, sich die Handschuhe nass zu machen. Dabei kannte auch er die Kleine gut, aber unter seinen Fingern ist sie kein Kind mehr, sie ist bloß noch eine Leiche. Er berührt die Lippen, klappt das Augenlid hoch, hebt den Hals von Belle de Jour an, und nun kann jeder der Anwesenden die violetten Striemen sehen, die wie ein Halsband um ihren Hals verlaufen. «Stranguliert!», verkündet er. Um das festzustellen, muss man keine Universität absolviert haben, aber dennoch hatte das Wort an diesem eisigen Morgen, dicht neben der kleinen Leiche, die Wirkung einer Ohrfeige.

«Gut, gut, gut», antwortet der Richter, sehr zufrieden, dass er einen richtigen Mord zwischen den Zähnen hat, einen Kindsmord außerdem, und zur Krönung ist das Opfer ein kleines Mädchen. Und dann sagt er, während er Grimassen schneidet und sich geziert auf dem Absatz herumdreht, noch immer mit Eigelb im Schnurrbart: «Und was ist das da für eine Tür?»

Daraufhin sehen alle zu der fraglichen Tür, als wäre sie gerade erst aufgetaucht wie die Jungfrau Maria, eine kleine, halb geöffnete Tür, die auf vereistes und zertretenes Gras führt, eine Tür, die eine Lücke bildet in einer langen Einfriedung aus hohen Mauern, und hinter dieser Einfriedung ein Park, ein richtiger Park mit richtigen Bäumen, und hinter den Bäumen mit ihrem kahlen, ineinander verschlungenen Astwerk der Umriss eines hohen Wohnhauses, eines Herrenhauses, eines großen, verschachtelten Gebäudes.

Es ist Brechut, der, händeringend wegen der Kälte, das Wort ergreift:

«Na, das ist doch der Park vom Schloss.»

«Ein Schloss …», wiederholt der Richter, als würde er sich über ihn lustig machen.

«Na ja, das Schloss vom Staatsanwalt.»

«Sieh mal an, hier ist das also …», sagte der Richter, mehr zu sich als zu uns Übrigen, die für ihn von nun an wohl unwichtiger waren als ein Fliegenschiss. Man hätte glauben können, er sei erfreut darüber, dass er den Namen seines Gegenspielers hörte und dass dieser Name nun vom üblen Geruch eines gewaltsamen Todes umgeben war, der Name eines Mannes, so mächtig wie er selbst, den er hasste, ohne dass man genau wusste warum, vielleicht, weil der Richter Mierck nichts konnte als hassen, weil das sein eigentliches Wesen war.

«Gut, gut, gut», fing er, plötzlich munter geworden, wieder an und presste seinen dicken Körper auf den exotischen Ruhesitz, den er genau gegenüber der kleinen, in den Schlosspark führenden Tür aufgeschlagen hatte. Und so blieb er lange sitzen, ließ sich festfrieren wie ein Spatz auf der Wäscheleine, während die Gendarmen mit den Füßen stampften und in die Handschuhe bliesen, Brechuts Sohn seine Nase nicht mehr spürte und Crouteux sich grauviolett verfärbte.