Pascale Hugues

In den Vorgärten blüht Voltaire

Eine Liebeserklärung an meine Adoptivheimat

Deutsch von Elisabeth Thielicke und Jens Mühling

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Mon Berlin

Frühling

Am Ufer des Harems

In den Vorgärten blüht Voltaire

Poesie im Faltplan

Wa!

La vie en rose

Der James Bond vom Grunewald

Ein Steinway im Mund

Figaro express

Knuts Papa

Das Sofa der Geschichte

Kriege ohne Sieger

Der faltige Charme des Avus

Kaffee ist Leben!

Wo fängt man besser den Tag an?

Die Droge Spargel

Willkommen in Berlin!

Peepshow für die Ohren

Sommer

Albtraum FeWo

Kofferpack-Neurose

Sechs rosa Muscheln

Europa, deine Strandmöbel

Der Aufstand der dicken Bohnen

Gewitter

Dixi-Land

Simone de Beauvoir in Prenzlberg

Pétanque am goldenen Hirsch

Hauptstadt-Safari

Berliner Balkone

Die Rehabilitierung der Geranie

Babel am Scharmützelsee

Die Ferien der Großen

August der Starke

Zu intim!

Ein Sommermorgen auf dem Fehrbelliner Platz

Palermo im Hinterhof

Herbst

Der Kuss im Beton

Das Café Adler verlässt den amerikanischen Sektor!

Immer dabei

Lesung

Ja, ich werfe Bücher weg!

Seepferdchen mit Pilskrone

Berliner Bademeister – ein ewiger Traum

Bei Orkan im Stadtbad Schöneberg

Die Nacht, als Peggy im Büro übernachtete, eng an ihren Chef geschmiegt

Dame Pipis unterirdisches Universum

Die Heilige aus der Sandalenabteilung

Bügeln mit Bienzle

Leckere Tiere, gemischte Gefühle

Die Deutschenmacher

So leicht! Ein Künstler des Krokants!

Matratzen in Habtachtstellung

Das Buch der Straße

Winter

Der geklonte Karneval

Aschenputtel auf der Erbse

ZZZ

Einsteins Cousins

Verschwörung am kalten Büfett

Aber bitte mit Streuselkuchen

Beißende Lava in der Eckkneipe

Höhenangst auf dem Mont Klamott

Eine Despotin – aber leicht zu entkleiden

Der Charme der Revolution

Himmlische Ruhe

Petit Marcel, du Liebestöter

Rundbriefe

Weihnachtsgans Nummer drei

Alle Jahre wieder … löst das Backblech die Leitkulturfrage

Dank

 

Für meinen Vater

MON BERLIN

Dies ist eine Liebeserklärung an Berlin, seit zwanzig Jahren meine Adoptivstadt.

Lange Zeit beneidete ich die Reporter, die in einer Woche nach Bagdad reisten, in der nächsten nach Peking. Jeden Tag, so sagte ich mir, erleben sie das große Abenteuer, fern, sehr fern von zu Hause. In den Städten, die sie durcheilen, ist alles fremd, sensationell, faszinierend. Während sie den Planeten umrundeten, hatte ich mich entschlossen, meine Koffer in Berlin abzustellen. Ganz nahe an Frankreich.

Ich heftete also meine Blicke in die Ferne und hätte darüber beinahe vergessen, mich dort umzuschauen, wo ich war. Doch bald bemerkte ich: Die wahre Exotik wartet an meiner Türschwelle, im Treppenhaus, im Hinterhof, am Ende meiner Straße. Ich muss gar nicht weit gehen, in der ruhigen Abfolge der Jahreszeiten schon entfaltet sich ein ganzes Universum vor meinen Füßen. Seit mehreren Jahren ist meine vierzehntägliche Kolumne «Mon Berlin» auf der Meinungsseite des Berliner Tagesspiegels eine Forschungsreise intra muros.

Ich muss nur aus dem Haus gehen und ein bisschen herumschnüffeln, und schon entdecke ich höchst Verwirrendes: dass die Berliner im Sommer wie englische Internatsschüler in kurzen Hosen zur Arbeit gehen. Stellen Sie sich einen Pariser Beamten vor, der in Shorts, Socken und Sandalen in seinem Büro erschiene! Dass ihre Berge unecht sind, ihr Karneval ein klägliches Plagiat, ihre Hunde ein ödipaler Ersatz für die Kinder, die sie nicht bekommen haben. Die Konditoreien der Berliner treiben mir die Tränen der Verzweiflung in die Augen, andererseits erkenne ich in ihrem Eifer, alljährlich im Dezember Weihnachtsplätzchen zu kreieren, eine gesunde Selbstvergewisserung ihrer nationalen Identität.

Und dann diese Manie, in den ersten Minuten auf der Caféterrasse einen völlig Unbekannten zu duzen, diese triumphierende schlechte Laune, mit der sie um ein Uhr nachts die Reisenden auf dem Flughafen Schönefeld begrüßen, diese kindliche Freude am Dabeisein, wenn irgendetwas los ist in ihrer Nähe, dieser vife, grobe, schnelle Humor, diese so zärtliche «Schnauze», diese große Weisheit in Lebensfragen.

Ich liebe Berlin. Seine unglaubliche Vitalität, die Melancholie mancher Viertel, in denen ich mich bei Einbruch der Dämmerung in das alte Europa der fünfziger Jahre zurückversetzt fühle, die Energie, die diese zerrissene Stadt seit zwanzig Jahren aufbringt, um ihre beiden so lange getrennten Hälften zusammenzuschweißen. Ich liebe auch seine rührende Hässlichkeit.

Man verliebt sich nicht auf den ersten Blick in Berlin. Anders als Paris, Rom oder London verzaubert Berlin uns nicht. Berlin hat kein schönes Gesicht. Es ist mit riesigen Löchern übersät und mit seelenlosen Gebäuden vollgestopft, die nach dem Krieg in aller Eile errichtet wurden. Berlin ist nicht elegant, nicht raffiniert, nicht reich. Berlin war ein Nachkömmling im exklusiven Club der Hauptstädte, es ist schnell gewachsen, schlecht und recht. Eine massige Metropole ohne wirkliche Wurzeln, vom Bombenkrieg zerfleischt, vom Kalten Krieg misshandelt. Ich liebe den Wind bukolischer Anarchie, der hier stärker als in jeder anderen europäischen Hauptstadt weht.

«Berlin ist nicht Deutschland!», sagen die Franzosen, die seit ein paar Jahren in die Stadt strömen. Ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt – auf jeden Fall ist Berlin die einzige deutsche Stadt, von der die jungen Franzosen träumen. Berlin erschüttert ihre tiefverwurzelten Klischees von dem angeblich so ordentlichen und langweiligen Deutschland. In welcher europäischen Metropole kann man schon seine Würstchen unter den Fenstern des Staatschefs grillen und im Herzen der Stadt splitternackt in einen See springen? Welch schreckliche Strafe würde wohl einen Menschen erwarten, der es wagte, im Jardin du Luxembourg unter den erstarrten Blicken der ehrwürdigen Senatoren der Republik seinen Schlüpfer auszuziehen? Ja, es ist wahr, wenn ich in meinem Berlin spazieren gehe, erscheinen mir Bagdad und Peking ein bisschen fade 

Pascale Hugues

FRÜHLING

AM UFER DES HAREMS

Einst war der Frühling eine naive, verspielte Jahreszeit. Er gehörte den Verliebten, den Blümelein und den Vögelchen. Das war einmal. Rund um den Schlachtensee animieren die ersten Temperaturschübe heute nicht mehr die Vögel zum Singen, Springen und Scherzen, sondern Bataillone von Joggern zum Keuchen, Spucken und Ächzen.

Die Morgenstunden gehören den Zehlendorfer Gattinen. Die Kinder sind in der Schule, die Ehemänner schuften im Büro. Der See ist noch kalt und finster, der Himmel leuchtet in zarten Mauve-Tönen. Die Zehlendorferinnen joggen paarweise nebeneinander her, in der gleichen Anordnung wie die Perlenstecker in ihren Ohrläppchen. Sie kultivieren einen lasziven Trott, der eher nach mediterraner Passeggiata aussieht als nach Nordic Walking. An ihren Gürteln baumeln Mineralwasserflaschen. Nach dem Parcours belohnen sie sich mit Cappuccino auf der Terrasse der Fischerhütte.

Das wahre Ziel ihrer morgendlichen Eskapade besteht nicht etwa darin, sich Pobacken aus Stahl für die Bikinisaison anzutrainieren, wie es die Frühlingsausgabe der Frauenzeitschrift ihnen vorschreibt. Nein, viel essenzieller ist die gründliche Erörterung der drei zentralen Themen des Lebens: Beziehung. Krankheiten. Pisa. Bei ihren kleinen, nachdenklichen Schritten versprühen die Damen vom Schlachtensee sophistische Sentenzen. «Es ist die innere Ausstrahlung, die zählt», behauptet die eine. «Schein und Sein», wirft die andere ein. Dann verfallen sie mit Genuss in Tratscherei. Kleine schrille Kiekser hallen zwischen den großen Bäumen wider: «Neeein! Hat sie gesagt? Wirklich? Unverschämt!»

Der morgendliche Schlachtensee ist für Berlin das, was der Harem für Marrakesch ist: eine Institution der Wärme und Intimität. Ein exklusiv weibliches Universum, das sich selbst genügt.

«Der Schlachtensee», schreibt der Stadtführer, den ich in Paris gekauft habe, bevor ich zum ersten Mal nach Berlin kam, «ist der ideale Ort für einen Spaziergang oder ein Sonnenbad. Am schönsten ist er zu jener Stunde, in der die Abendsonne auf den erschauernden Blättern der Bäume verglüht.» Ich entschied, auf die Dämmerung zu warten, um diese noble Erhebung der Seele mitzuerleben, um im Einbruch der Nacht die Lyrik dieser erhabenen Beschreibung wiederzufinden. Doch in den Abendstunden gehört der Schlachtensee den Männern. Nix mit Poesie! Ein Schub viriler Energie ergießt sich plötzlich aus den Büros an die Ufer des Sees. Aufgeschreckt von diesem Einbruch von Männlichkeit, flüchten Amsel, Drossel, Fink und Star auf die obersten Zweige der Bäume. Selbst die Wasser des Sees erschauern.

Mit schweren Körpern joggen einsame Männer die Uferpromenade entlang. Sie schweigen. Es geht sachlich zu. Energisches Tempo, feste Waden, große Schritte. Keuchend wie Walrosse bewegen sie sich fort. Der Bauch wird über dem Elastikband der Shorts getragen, er dient als balancierendes Moment. Saurer Schweiß zeichnet Arabesken auf T-Shirts. Die Gesichter unter den Baseballkappen sind krebsrot. Es ist eine deutlich weniger elegante Welt als die der Morgenstunden. Die Männer spucken und husten und schnäuzen sich die Nase mit dem Handrücken. Ein Rotzfaden landet in einem Busch am Wegesrand.

Nichts kann diese Marathonkämpfer aufhalten – um ein Haar rennen sie einen dicken, gutmütigen Hund über den Haufen, der sich sinnlich in der Wegesmitte räkelt. Am Abend wird der Schlachtensee zur stummen, kämpferischen Männerwelt. Ein Universum der Tat und der Muskeln, ein Universum, in dem Angst keinen Platz hat.

Am Schlachtensee erleben Männer und Frauen den Frühling jeder für sich. Mir gehen tausend einfältige Gedichte durch den Kopf, vor meinem inneren Auge tun sich Margariten auf, die als Liebespropheten abgepflückt werden, ich sehe süße Briefe, die unter Türen durchgeschoben werden, Veilchen, grüne Heide, blättersatte Birken und höre Kuckucksrufe. Ich sehe eine träumerisch sprudelnde Welt. Und schäme mich fast ein bisschen dafür, mich von diesen kitschigen Bildern überwältigen zu lassen.

Plötzlich kommt ein reiferes Paar die Uferpromenade entlanggeschritten, Hand in Hand, in zivilisiertem Tempo. Im Gang des Mannes liegt das Federn eines Halbstarken, der zum ersten Mal verliebt ist. Seine Frau hängt sich tief in seinen Arm. Er umschlingt ihre Schultern, versucht sie zu küssen. Sie geniert sich ein wenig. Er insistiert. Sie fangen an zu lachen. Sie brauchen weder Laufstöcke noch Baseballkappen, noch fluoreszierende Shorts. Und ich bin plötzlich wieder vollkommen beruhigt: Ja, das ist der Frühling. Alle Vögel sind schon da.

IN DEN VORGÄRTEN BLÜHT VOLTAIRE

Ich liebe die Langsamkeit der Berliner Bürgersteige. Wer sie müßigen Schrittes entlangschreitet, muss keine Angst haben, von anbrandenden Fluten eiliger Passanten aus seinen Gedanken aufgeschreckt zu werden. Die Trottoirs der großen Pariser Boulevards sind wie enge Laufbänder, auf denen Stress und schlechte Laune herrschen. Wer sie benutzen will, muss Ellbogen und Absätze gebrauchen. In Deutschland dagegen ist der Bürgersteig schon dem Wort nach ein zivilisierter Ort, an dem der ehrenwerte Bürger sich Muße und Zeit nimmt.

Mir gefällt das anarchistische Eigenleben der Berliner Bürgersteige, ich mag die großzügige Freiheit, die sie ihren Anwohnern bieten. Jeder eignet sich dieses schmale Stück öffentlichen Raumes im Sommer auf die eigene Art an, jeder privatisiert die Granitplatten vor seiner Haustür. Mein Zeitungshändler zum Beispiel verlagert jeden Morgen sein Wohnzimmer ins Freie direkt vor seinem Laden: Klappstuhl und Campingtisch, darüber ein Wachstuch, darauf eine Schüssel Müsli und grüner Tee. Mit einer Strickmütze schützt er seine Glatze vor der Zugluft. Beim Frühstücken inspiziert er auf der Lauer nach Kunden die Straße, wie ein heimlicher, aber mächtiger Kiezkönig. Auch der Physiotherapeut im Erdgeschoss dehnt seinen Wartesaal auf den Bürgesteig aus: An der Hausecke hat er eine Bank mit geblümten Kissen aufgestellt, damit die letzten Strahlen der Abendsonne die Hexenschüsse seiner Patienten streicheln können.

Die Berliner Bürgersteige sind multifunktional. Die kapitalistische Version: Samstags verwandeln sie sich in Basare, auf denen Schulkinder große Picknickdecken ausbreiten und ihr ausgedientes Spielzeug verkaufen. Manchmal weisen am Rand von Straßenkreuzungen improvisierte Altäre, ein Holzkreuz und ein Topf Chrysanthemen auf den Unfalltod eines Kindes, auf die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens hin.

«Es gilt zu wissen, wie man seinen Garten kultiviert», riet Voltaire in meinen Schulbüchern – eine erbärmliche Schrebergartenphilosophie, die ich mit meinem ganzen Wesen verabscheute. Das menschliche Streben reduziert auf eine Gartenschere und eine Gießkanne! Das Universum verengt auf ein Rübenbeet! Mir waren damals natürlich Malraux und Rousseau lieber, die weit gereist waren und die Welt verändern wollten. Die Berliner dagegen – dieser Eindruck drängt sich mir bei meinen sommerlichen Spaziergängen durch die Straßen der Stadt auf – scheinen Voltaire zu ihrem Guru erkoren zu haben. Auf ihren Bürgersteigen pflanzen sie Rabatten aus Stiefmütterchen, lassen Klematisbögen die Bäume hinaufranken und Gartenzwerge gleich familienweise aufmarschieren; zwischen den Pflastersteinen züchten sie Petersilie. Die ganze Stadt jätet und schneidet, gräbt und sät aus. Jeder hegt seine kleine bukolische Oase, um das Grau der Metropole grün zu färben. Der schöpferische Elan kennt keine Grenzen: Im dunklen Hinterhof meines Hauses haben die beiden Yogi-Mieter aus dem Erdgeschoss einen Japanischen Garten mit einem Teich angelegt. Zwischen den Fahrrädern und der Kellertür überquert ein Terrakotta-Nilpferd eine kleine Holzbrücke, hinter den Mülltonnen logiert ein graziöser buddhistischer Tempel. Ein Zenparadies frei Haus. Vermutlich stärkt dieser verspielte Kitsch mit seinen Wellen unsere innere Balance.

In Charlottenburg hat kürzlich eine Delegation von Bezirksbeamten den Abriss eines dieser Miniaturparadiese angeordnet: Die Fußgänger könnten stolpern! Der Drahtzaun, der die jungen Triebe vor Zudringlichkeiten schützt, droht Autotüren zu zerkratzen! Als ich davon hörte, hatte ich fast ein wenig Angst um Berlin. Um eine Stadt, die in diesem Sommer auf ihren Bürgersteigen ein Stückchen jenes irdischen Glücks gefunden hat, nach dem der ebenso bescheidene wie weise Voltaire suchte.

POESIE IM FALTPLAN

Den Straßen der Großstadt sollte man nicht trauen. Oft haben die Straßen, in denen ich gelebt habe, mir Streiche gespielt. In London wohnte ich in einer von kleinen roten Ziegelhäusern gesäumten Straße. Eine Straße wie eine Skisprungschanze, die einen Hang hinaufkletterte und sich auf den Höhen der großen Stadt ins Leere stürzte. Ihr einziger Fehler: Sie hieß Nelson Road. Jeden Tag von neuem demütigte es mich, dass ich in der Umgebung eines Admirals wohnen musste, der die Franzosen bei Trafalgar geschlagen hatte. Als ich meiner jamaikanischen Nachbarin das Herz ausschüttete, lachte sie mein Problem einfach weg. «Nelson – aber damit ist doch Nelson Mandela gemeint!» Sie versöhnte mich mit meiner Straße. Ich habe dort noch lange Jahre mit meiner geretteten Ehre gelebt.

Als ich nach Bonn zog, bot ein Makler mir die ideale Wohnung an: großzügig, sonnig, zentrale Lage. Ruhige Nachbarn, die um acht Uhr abends die Rollläden herunterließen und die Polizei riefen, wenn die Gäste bei einer Geburtstagsfeier es wagten, nach 23 Uhr lauthals zu lachen. Ich wollte gerade den Mietvertrag unterschreiben, als der Makler mir sagte, welchen Namensgeber die Straße hatte: Adolfstraße. Nein! Keine Nachbarin hätte es geschafft, mich von den üblen Assoziationen zu diesem tabuisierten Vornamen zu befreien, und so zog ich in ein Haus in der untadeligen Thomas-Mann-Straße.

In Berlin gibt es geradezu verlogene Straßen. Ihre Namen enthalten Versprechungen, die auf keinen Fall eingehalten werden können. Nehmen wir die Paradiesstraße. Ist das Paradies etwa zwischen der Buntzelstraße und einem Autobahnzubringer eingeklemmt? Oder die berühmte Sonnenallee, die ich vorigen Montag bei Regen entlanggefahren bin? Nein, das ewige Glück suche ich bestimmt nicht hier. Vorsicht auch bei den beiden Venusstraßen – die von Alt-Glienicke mündet in den Birnenweg und streift die Siedlung Eigenheim II. Eine fürwahr aphrodisische Nachbarschaft! Zwischen Saturnstraße und Merkurstraße spricht die Reinickendorfer Venusstraße nicht von Liebe, sondern von Astrologie. Andere Straßen entbehren jeglicher Poesie, und das Leben muss hier trist sein: der Viereckweg, die Tunnelstraße, die Geradestraße oder all die Straßen, die nur eine Nummer tragen. Straße 339. Straße 120. Hier läuft die Phantasie in die Sackgasse.

Manche Straßen sind einfach lächerlich. Die Adresse Spinatweg wird beim anderen jedes Mal einen Lachanfall auslösen. Auch die autoritären Straßen gefallen mir nicht: Kadettenweg, Magistratsweg, Pionierstraße, Ritterfelddamm – ebenso wenig wie die missionierenden Straßen. Dem Predigergarten ziehe ich den Lustgarten vor. Und dann wüsste ich auch gern, wer für den Männertreuweg und den Frauenschuhweg verantwortlich ist. Wer geht zwischen Rudow und Adlershof mit einem dermaßen sexistischen Weltbild hausieren?

Gewinner und Rekordhalter ist in Berlin die Wilhelmstraße mit allen ihren Varianten: Straße, Weg, Platz, Aue, Berg etc. Es gibt siebenundzwanzig Wilhelms in Berlin. Um die vierzig, wenn man die Kaiser noch dazunimmt. Vierzig Kaiser Wilhelms gegen eine Schröderstraße. Dieser Fußweg der Geschichte führt am Nordbahnhof vorbei. Im Kiez denkt man ernsthaft über eine Umbenennung nach.

In das dichte Gewebe der Berliner Straßen sind aber auch kleine Edelsteine eingenäht. Straßen wie Märchen: Schneewittchenweg, Hänsel-Gretel-Steig, Rapunzelstraße. Wie gern würde man nachts im Glühwürmchenweg spazieren gehen. Einen roten Umhang nehmen und durch den Zwerg-Nase-Weg trippeln. Und das Glück in der Kleeblattstraße und im Maikäferpfad suchen.

Manche Straßen sind wie für mich geschaffen. Würde ich in der Allée Saint-Exupéry, der Jean-Jaurès-Straße, an der Place Molière oder in der Rue Diderot wohnen, wie würde ich mich bei meinen verehrungswürdigen Landsleuten zu Hause fühlen! Über die beiden Sedanstraßen in Spandau bzw. in Steglitz würde ich großzügig hinwegsehen. Kreuzberg sei das Waterlooufer und die Waterloobrücke verziehen. Obwohl ein Bahnhof in London wirklich genug ist!

Besser gefallen mir die bukolischen Straßen. Kirschenbaumstraße, Hagebuttenhecke, Fingerhutweg erinnern an die Zeit, als Berlin noch ein großes Dorf war. Minzeweg und Quittenweg – schlichte und gutriechende Straßen. Mein Favorit ist der Alpenrosenweg. Er passt überhaupt nicht nach Treptow, ein ebener Stadtteil, der durch den Teltowkanal in zwei Teile geschnitten wird. Die Nachbarinnen dieser Straße sind ebenfalls charmant: Aprikosensteig, Orchideenweg, Glockenblumenweg. Ich war noch nie im Alpenrosenweg. Aber in einem Knick meines Faltplans, senkrecht V–W und waagerecht 7, hört man Jodeln und das Geläute von Kuhglocken.

WA!

Der Berliner hat immer recht. Und er hasst es, wenn man ihm widerspricht. Um die Gültigkeit seiner Meinung zu unterstreichen, um seinen wie eine absolute Gewissheit abgerundeten Satz zu beschließen, stellt er dieses kleine Wort ans Ende: wa!

Dieses beim ersten Hören so überraschende wa ist, wie mir erklärt wurde, die Volksversion des nicht wahr oder stimmt’s im Hochdeutschen. Aber damit das klar ist: Das wa am Satzende ist eine rein formale Sache. Denn das wa erwartet keine Antwort. Haben Sie bemerkt, dass das wa in geschriebener Form nur selten mit einem Fragezeichen einhergeht, sondern viel häufiger mit einem Ausrufezeichen?

Eigentlich will der Berliner gar nicht wissen, welche Meinung der andere hat. Wäre der andere nicht einverstanden, wäre es dem Berliner auch egal. Das wa ist nicht so sehr ein zweifelndes Seufzen oder eine Bitte um Rat als ein selbstbewusster Knall, der eine Behauptung abschließt. In Wirklichkeit wendet das wa sich exklusiv an denjenigen, der es ausspricht. Es bestärkt ihn in seiner Meinung. Es beklatscht seine Sicht der Welt. Das echoende wa schmeichelt seinem Ego. Denn so ist es doch: Der Berliner hat meistens recht, wa!

Auf den ersten Blick könnte man das wa für einen nutzlosen Parasiten halten. Allerdings wäre es falsch, es nur als einen schlichten Schnörkel ohne besondere Funktion anzusehen. Das wa ist wie ein Luftholen zwischen zwei Behauptungen. Es gewährt eine kurze Erholungspause, bevor man sich gestärkt in eine neue Flut von Gewissheiten stürzt. Aber Vorsicht, das wa kann gefährlich werden. Wenn es in aggressivem Ton herausgeschleudert wird, verwandelt es sich in eine Herausforderung, auf die man besser nicht eingeht. Du hast wohl ein Problem, wa! Im Klartext heißt das: Du willst meine Faust in die Fresse, oder was? Will man heil davonkommen, sollte man die Augen senken und sich wie ein Feigling mit kleinen Schritten entfernen. Würde man auf das wa mit einem Achselzucken oder mit Argumenten reagieren, könnte das fatale Folgen haben. Wa macht den, der es sagt, zum Platzhirsch.

Vergeblich habe ich mich bemüht, das Berliner wa in eine andere europäische Sprache zu übersetzen. Das wa ist nicht das englische isn’t it, das zum dazugehörigen Subjekt passt. Isn’t it … aren’t they Das wa ist unabhängig. Es belastet sich nicht mit Grammatikregeln. Es existiert für sich allein und schert sich nicht um den Rest der Welt. Das wa wird mit offenem Mund und runden Augen hervorgestoßen. Man sieht nicht besonders intelligent aus, wenn man wa sagt. Man hängt das wa mitten in die Unterhaltung, es schwebt einen Moment in der Luft, explodiert und sinkt zu Boden. Am ehesten könnte man noch eine phonetische Ähnlichkeit zu oua finden. Das oua oua der französischen Kinder, wenn sie die Sprache der Hunde nachmachen. Merkwürdig, diese Berliner, dachte ich bei meiner Ankunft in der Stadt, mitten im Gespräch fangen sie zu bellen an. Leiden sie an der Tourette-Krankheit, sind sie Opfer eines unkontrollierbaren stimmlichen Tics?

Das wa entspricht aber auch nicht dem französischen n’estce pas. Das n’est-ce pas ist etwas altmodisch und einen Hauch affektiert. Heute hört man es kaum noch. Man bevorzugt das hein (ausgesprochen wie das französische Wort «pain») oder das durch den Film Willkommen bei den Sch’tis unsterblich gemachte WÄÄÄh. Vielleicht kommt das süddeutsche (und elsässische) gell ihm noch am nächsten.

Ja, das wa ist nicht gerade elegant. Es ist sogar ein wenig ordinär. Und es gellt in den Ohren der deutschen Sprachpuristen. Das wa ist ein lexikalischer Outlaw, ein Eindringling, der nach den Hinterhöfen von Prenzlberg riecht. Ein Asozialer, wie man heute sagen würde. Das wa kommt aus der Straßensprache. Es ist nicht vornehm. Ein wa bei einer mondänen Cocktailparty oder einer Soiree in der Botschaft ist das Gleiche, als würde man sich die Nase mit der Leinenserviette putzen und seine Leberwurststulle verschlingen, während die anderen gepflegte Konversation treiben und zurückhaltend an einem Kaviartoast knabbern.

Das wa ist eher Lautmalerei als Verkleinerungsform, eher Magenknurren als Wort. Einfach ein Geräusch. Das wa ist wie der Berliner: direkt, eher ruppig, aber mit viel Humor. Ich kann es nicht länger verheimlichen: Ich bin ein wa-Fan. Ich liebe das wa, weil es frech und selbstbewusst auftritt. Ich liebe das wa, weil es mir sofort ein beruhigendes Heimatgefühl gibt, und wenn der Berliner auch noch ein junge Frau hinzufügt, bin ich im siebten Himmel. Ich liebe das wa, weil es klar beweist, dass die Globalisierung die Sprache noch nicht plattgemacht hat. Das tapfere kleine wa widersetzt sich. Es ist der letzte Rebell von Berlin.

LA VIE EN ROSE

Ich habe mich in die «Wiener Conditorei» am Roseneck geflüchtet, um in Ruhe meine Zeitungen zu lesen. Diese so durch und durch Westberliner Institution hat mich schon immer fasziniert. Heute ist die Zusammensetzung des Publikums ein wahrer Augenschmaus. Vor mir: zwei in Anstand erstarrte alte Damen in karierten Blazern. Nahe dem großen Fenster: drei junge Russinnen und ihre Vuitton-Handtaschen. Sie sind in ein schweres Parfum aus Moschus und Maiglöckchen gehüllt – die perfekte Kombination für einen sofortigen Migräneanfall. Auf der Bank: Über einem Teller Rührei analysieren zwei Geschäftsmänner einen Finanzplan. Auf den Ablagen: Hunderte Ostereier mit breiten Pastellschleifen. Die «Wiener Conditorei» ist ein sicheres warmes Nest, in dem der turbulente Vormittag der Stadt keinen Platz zu finden scheint.

«Links wählen, rechts leben … war doch IMMER so. Noch ein Latte macchiato?» Die beiden Zehlendorferinnen im Blazer sind soeben in das Karussell des Weltelends eingestiegen: zynische 68er, Schulkatastrophe, böse Krankheiten, unfähige Mütter, herrschsüchtige Männer, grässliches Wetter und wieder Schulkatastrophe, böse Krankheiten … um und um drehen und wenden sie den Jammer, das Entsetzen, die Skandale. Die beiden Damen haben sich heute zum Frühstück getroffen. «Mein Mann fragt mich beim Aufstehen: Wo sind die Brötchen? Ich schnappe mir meine Handtasche. Du frühstückst heute allein. Und bye-bye!» Leichten Schrittes ist sie entschwunden, von den Ketten befreit, stolz auf ihre Unverfrorenheit. Ich stelle mir den Ehemann vor, wie er verloren in der großen Küche steht. Ein ganz kleiner Tyrann, hilflos wie ein mutterloses Kind.

10.30 Uhr. Na, zum Wohl! Zwei Kelche Prosecco klingen aneinander. Eine schöne Gelegenheit, das Leben zu feiern und in das Gespräch heitere Elemente einfließen zu lassen, ein wenig Optimismus und Sonne, eine Brise der Leichtigkeit, einen Hauch Heiterkeit, ja sogar ein lautes Lachen. Aber ich höre nur entrüstete Detonationen. Sie explodieren in der wattigen Stille des Kaffeehauses. «Und das GING! … UN-MÖG-LICH! Er SCHAFFT das!» Die Damen unterstreichen ihre Indignation, indem sie jede Silbe isolieren, kleine trockene Hammerschläge knallen von ihren Lippen. Ich sage mir, dass der Ehemann eigentlich ganz froh sein muss, wenn er heute Morgen allein in seiner Küche sitzt, ob mit oder ohne Brötchen.

Am Nebentisch hält eine junge Russin Händchen mit ihrem ältlichen Liebhaber. Ein recht großes Opfer für den Diamanten am Finger, finde ich, als ich die üppigen rosigen Lippen der Angelina Jolie von der «Wiener Conditorei» sehe und daneben die grauen Wangen des alten Mannes, die wie erschöpfte Scheuerlappen herunterhängen. Die Schlüssel zum Sportwagen vor der Tür baumeln an seinen Fingern wie an einem Angelhaken. Plötzlich wird mir klar, wie ihm die Schöne ins Netz gegangen ist. Aber dank meiner Nachbarinnen kann ich das Funktionieren des so schlecht zusammenpassenden Gespanns leider nicht weiter analysieren.

Eine neue Runde ist eingeläutet. Und mir wird schwummrig. «Wie schwer es für die Kinder ist … Deswegen MÜSSEN wir!», verkündet sie mit einer Stimme aus Stahl und klopft dazu mit den Fingerspitzen auf den kleinen Tisch aus künstlichem Marmor. Sie gestikuliert wild, um ihre Gedanken ganz deutlich zu machen. Wie ein Dirigent schlägt sie zwanghaft den Takt des Elends. Piano die Tränen! Mezzoforte die Empörung! Fortissimo der Zorn!

«Wo LEBEN wir denn?» Die Stinkbomben in den Kreuzberger Mülltonnen. Der Teufel in den Berliner Kinderzimmern. Während die Zehlendorferinnen das Leben schwarzmalen, rieselt ein Sonnenstrahl über die Tische. «In guter Gesellschaft genießen!», lautet die Devise der «Wiener Conditorei». Am liebsten würde ich meine Nachbarinnen kitzeln, um sie mal zum Lachen zu bringen. «JA, das wird IMMER schlimmer», klagen sie im Chor. Innerlich pfeife ich vor mich hin. Always look on the bright side of life 

DER JAMES BOND VOM GRUNEWALD

Es gibt keinen törichten Beruf, sagt ein französisches Sprichwort. Da bin ich anderer Meinung. Einen der undankbarsten Berufe kann ich zweimal in der Woche auf der Königsallee studieren, wenn ich an der Residenz des türkischen Botschafters vorbeifahre. Der Grunewald ist ganz in der Ruhe dieses strahlenden Frühlings versunken. Hundebesitzer beim Gassigehen, Tennisspieler, alte Damen, die zum Friseur oder in die «Wiener Conditorei» dackeln – dieser Kiez beherbergt wenige Krawallmacher oder andere Elemente, die die öffentliche Ordnung bedrohen könnten. In Grunewald riskiert man eher einen Pudelbiss als terroristische Anschläge auf die Freiheit. Und die einzigen Explosionen, die den bürgerlichen Frieden beeinträchtigen, werden von Rasenmähern verursacht.

Auf der Königsallee sieht man nicht viele Fußgänger. Der Polizist grüßt sie unfehlbar mit einem kräftigen «Guten Tag!». Macht er sich die Tristesse seines Berufs manchmal klar? Hofft er, dass ein kleines Attentat eines Tages seine Aufgabe aufwerten, einen Helden aus ihm machen könnte? Träumt er davon, der James Bond vom Grunewald zu werden? Oder beschäftigt er sich mit Prosaischerem? Zählt er, wie viele Schritte er pro Stunde auf dem Bürgersteig zurücklegt? Berechnet er den Abstand zwischen den Gitterstäben der Residenz und dem Rinnstein? Oder inspiziert er die Risse im Straßenbelag?