Unsichtbar und trotzdem da!, 5, Spur der Erpresser

Illustrationen von Stefani Kampmann

KOSMOS

Umschlagsillustrationen Stefani Kampmann, Berlin

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© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

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ISBN 978-3-440-13805-2

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Kapitel 1

„Ein Sandberg?“ Jenny Schneider sah ihren Freund Addi Felsfisch ungläubig an. „Und da willst du wirklich hin?“

„Nicht nur ich“, entgegnete Addi. „Ağan auch. Und ich bin mir außerdem hundertprozentig sicher, dass der Ausflug selbst Goffi richtig Spaß bringen wird. Emma macht uns einen Picknickkorb und kommt auch mit. Das wird cool! Essen, im Sand spielen, um die Bäume jagen und vielleicht sehen wir sogar Wildschweine ...“

Ağan grinste. „Klingt wirklich gut. Besonders der Picknickkorb. Ich ahne, Emma wird ihn mit jeder erdenklichen Köstlichkeit füllen, und wir müssen nur noch danach greifen und uns die Leckereien in den Mund schieben. Ja, ich fühle schon gebratene Tauben, Honigkuchen und saftige Datteln auf der Zunge …“

„Da kennst du die deutsche Küche aber schlecht!“, unterbrach ihn Jenny. „Und außerdem – ein Sandberg?! Leute, das klingt wie ein großer Sandkasten. Sollen wir da etwa Förmchen und Schippen mitnehmen und zusammen Sandkuchen backen?“

Ağan rollte mit den Augen. „Doch nicht so was! Mir hat Addi das ganz anders erklärt. Dieser Sandberg ist der größte in ganz Berlin. Mitten im Wald! Viele Meter hoch weißer, reiner, in der Sonne glitzernder Sand, in den man sich hineinwerfen und herunterrollen kann.“

Jennys blaue Elfenaugen hatten während Ağans Aufzählung zu funkeln begonnen. „Ach so!“, sagte sie jetzt. „Das ist so eine Art Abenteuerspielplatz!“

Addi fuhr in die Höhe. „Mann, Jenny, es ist überhaupt kein Spielplatz. Hör doch endlich mal auf, das zu denken! Es ist ein riesiger Sandberg mitten im Grunewald. Eine alte Kiesgrube oder so. Einfach ein Wahnsinnsloch. Und in der Mitte erhebt sich ein gigantischer Berg aus Sand. Dadrin kann man zehn Meter tiefe Löcher buddeln.“

„Ja, und wenn das Loch einstürzt, erstickt man“, höhnte Jenny. „Sehr clever, für einen so ausgebufften Detektiv wie dich, Addi. So schnell wollte ich eigentlich nicht ins Paradies.“

„Aber Jenny, man muss nicht erst sterben, um ins Paradies zu gelangen“, sagte Addi. „Jedenfalls nicht, solange man einen Garten hat.“

Erstaunt sah Jenny ihren Freund an. „Wo hast du denn das her? Solche Sprüche gibt doch sonst nur Ağan von sich.“

Addi pustete seine langen Ponyhaare aus dem Gesicht. „Das ist kein Spruch, sondern eine alte persische Weisheit. Und damit du es weißt, wie ich darauf komme: Ich habe meinen Vater gebeten, mir ein Buch mit persischen Weisheiten mitzubringen. Ich dachte, Ağan kann ja nicht immer der Einzige sein, der mit Weisheit um sich wirft.“

Ağan klatschte in die Hände, sodass Goffi, Addis Geoffroy-Klammeraffe, der die ganze Zeit zwischen den Freunden hin und her gehüpft war, ruckartig abbremste und Ağan misstrauisch musterte.

„Das ist super, Addi!“, rief Ağan. „Du erweiterst deinen Horizont. Und das aus Freundschaft zu mir. So einen großartigen Beweis deiner Zuneigung habe ich wirklich nicht verdient.“

„Äh ...“ Addi wurde rot und grinste verlegen. Er warf Jenny einen Seitenblick zu. In Wirklichkeit hatte er vielmehr wissen wollen, ob seine neue Weisheit bei ihr Eindruck machen würde. Aber Jenny wirkte ganz ungerührt.

„Na ja, ich wollte eben auch mal was richtig Weltbewegendes sagen“, murmelte er. „Und deutsche Sprichwörter sind irgendwie nicht so der Bringer.“

Es war früher Samstagnachmittag. Die Unsichtbar-Affen saßen bei Addi Felsfisch im Garten, genauer gesagt im Garten der Villa Felsfisch, in der Addi mit seinem Vater, der wie meistens auf Geschäftsreise war, und der Haushälterin Emma wohnte. Die Villa lag im Berliner Bezirk Grunewald. Und der grenzte direkt an den richtigen Grunewald, der sich über viele Kilometer und an einer ganzen Kette von Seen vorbei quer durch Berlin erstreckte und in dem man sich verlaufen konnte, wenn man nicht wusste, in welche Himmelsrichtung man gerade unterwegs war.

Jenny Schneider und Ağan Enc kamen aus anderen Stadtbezirken.

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Jenny aus Lichtenberg, einem Viertel weit im Osten Berlins, in dem es neben vielen Neubausiedlungen noch zahlreiche kleine Handwerksbetriebe und ansonsten nur Autohäuser und jede Menge Einkaufszentren gab. Ağan wohnte in Neukölln, in dem Berliner Stadtteil, in dem Menschen aus über einhundertsechzig Ländern lebten.

Kennengelernt hatten sich die drei vor einigen Monaten im KaDeWe, dem größten Berliner Kaufhaus, das Addi damals fast in seine Bestandteile zerlegt hatte.

Seitdem nannten sie sich die Unsichtbar-Affen. Für diesen Namen gab es einen Grund, der nichts mit Goffi zu tun hatte. Als Kinder wurden Jenny, Addi und Ağan von den Erwachsenen oft übersehen und waren wie unsichtbar. Das war oft schlecht – hatte aber auch Vorteile. Wer unsichtbar war, sah mehr, und zwar auch Dinge, die eigentlich niemand sehen sollte. Und Affen wurden die Freunde von den Erwachsenen auch immer wieder genannt: Muss dieses Affentheater jetzt wieder sein! Benimm dich doch nicht wie ein Affe ...

Als Unsichtbar-Affen hatten Jenny, Ağan und Addi schon einige der größten Berliner Kriminalfälle der letzten Jahre gelöst und waren bei ihren Ermittlungen auf die merkwürdigsten, schrillsten, unheimlichsten und auch gefährlichsten Seiten der deutschen Hauptstadt gestoßen.

Aber das würde heute endlich einmal anders sein ...

„Wenigstens wird uns im Grunewald kein Gangster oder Dieb über den Weg laufen“, meinte Jenny. „Da treffen wir eher auf zwitschernde Vögel und Sonnenstrahlen.“

„Ja, aber wenn wir Wildschweinen begegnen, könnte es trotzdem gefährlich werden“, entgegnete Addi begeistert. „Die werden da nämlich immer dreister. Manchmal kommen sie so nah an einen ran, dass sie deine Hosen beschnüffeln. Und neulich hat Emma gesehen, wie eine Wildsau einem Mann die Jeans vom Hintern fressen wollte.“

Jennys Gesicht wurde etwas bleicher, als es sowieso schon von Natur aus war. „Aber am helllichten Tag?“

„Ja, ja, ja!“, rief Addi, dem es gefiel, endlich die ungeteilte Aufmerksamkeit Jennys zu besitzen. „Das sind total unverfrorene Wildschweine. Emma meinte, das sind die neuen Tauben der Stadt. Die gehen an jede Mülltonne, wühlen sich durch Vorgärten und rennen nachts durch die Straßen. Da sind schon ein paar Autofahrer böse erwischt worden.“

Jenny wurde noch bleicher. Doch ehe sie etwas erwidern konnte, ertönte eine laute und durchdringende Stimme von der Terrasse der Villa.

„Addi Felsfisch, ich habe lediglich gesagt, dass die Wildschweine immer weiter in die Stadt kommen und dass sie den Müll fressen. Alles andere entstammt deiner blühenden Fantasie. Und im Übrigen wollte ich euch Bescheid geben, dass wir jetzt loskönnen!“ Emma, die Haushälterin der Felsfischs, stand klein und kräftig vor den Unsichtbar-Affen und war zum Abmarsch bereit. Ihre roten Wangen glänzten und in der Hand hielt sie einen großen Bastkorb, den sie jetzt unaufgefordert an Addi abgab. „Das ist unser Picknick, Addi. Und wehe, der Affe geht mit seinen schmutzigen Pfoten an den Korb. Dann sehe ich dunkelrot, mindestens. Habt ihr eure Räder?“

Addi grinste und ließ den Korb übermütig um sich herumschwingen.

„Klar doch. Aber Ağan ist Skater. Bis zum Wald fährt er selbst, dann kann er sich bei Jenny hinten auf den Gepäckträger stellen.“

Emma verzog missbilligend den Mund, nickte dann aber. „Und den Affen nimmst du auch, Addi!“ Emma hatte gehörigen Respekt vor Goffi, seit der ihr vor einiger Zeit einmal nachts ins Gesicht gesprungen war.

„Aber sicher, Emmilein!“, säuselte Addi. „Wir passen alle auf, dass Goffi keinen Unsinn macht.“

„Gut!“ Emma musterte Goffi streng aus sicherer Distanz.

Doch der kleine Affe sprang auf ein Zeichen Ağans sofort auf dessen Schulter und verhielt sich ganz still.

„Also“, erklärte Emma und lächelte plötzlich versonnen. „Mein Plan für heute Nachmittag sieht vor, dass wir jetzt aufbrechen und uns auf direktem Weg zur alten Kiesgrube begeben. Da könnt ihr dann spielen und euch amüsieren. Anschließend kehren wir aber nicht auf dem gleichen Weg zurück ...“, Emmas Lächeln wurde breiter, „… stattdessen fahren wir bis zum Wannsee und drehen noch eine Runde auf dem berühmten Moby Dick!“

Jenny machte große Augen. „Aber das ist doch der weiße Wal aus dem Buch!“

„Genau deswegen heißt unser Moby Dick ja auch so“, sagte Emma. „Allerdings heißt unserer ganz genau MS Moby Dick. Der hat zwar auch eine glänzende Fischhaut mit schwarzen Schuppen und eine große silberne Schwanzflosse, aber er ist kein Wal, sondern ein berühmter Ausflugsdampfer. MS bedeutet nämlich Motorschiff. Und ich sage euch, Kinder, es gibt nichts Schöneres, als sich am Ende eines warmen Tages, den man umgeben von kreischenden Kindern und einem wild gewordenen Affen verbracht hat, beim Tanzvergnügen auf dem Moby Dick ein wenig zu entspannen. Und während ich das Tanzbein schwinge, könnt ihr einen schönen heißen Kakao trinken.“

„Cool!“ Ağan leckte sich genießerisch die Lippen. „Das klingt nach einem sehr guten Plan. Ich bin noch nie auf dem Wannsee-Dampfer gefahren.“

„Na ja, ich weiß nicht. Tanzvergnügen auf einem Ausflugsdampfer? Das ist doch wohl eher was für Omas und Opas?!“ Addi schüttelte den Kopf. „So alt bist du doch noch gar nicht, Emma.“

Die Haushälterin lief rot an. „Addi Felsfisch! Dafür, dass deine beiden Freunde heute hier übernachten dürfen und ich mich um alles kümmere, wirst du es eine Stunde mit mir auf einem Dampfer aushalten“, erklärte sie kategorisch. „Und in dieser Stunde, das möchte ich hier und jetzt schon mal ankündigen, lasst ihr drei mich in friedlicher Ruhe. Habt ihr das verstanden?“

„Na klar“, knurrte Addi. „Wir sind ja schließlich keine Babys mehr. Und dass wir für dich auf dem Dampfer den Babysitter machen, kommt ja wohl auch nicht infrage!“

Kapitel 2

Es wurde ein toller Tag.

Der große Sandberg war genau so, wie Addi es versprochen hatte. Und kaum erblickte Jenny ihn, warf sie auch schon ihr Fahrrad auf den weichen Waldboden und rannte mit wilden Sprüngen den sandigen Abhang hinab in die ehemalige Kiesgrube und von dort wieder den Berg hinauf. Von ganz oben blickte man über einen angrenzenden kleinen See und die zahllosen Kiefernkronen des Grunewalds. In der dunkelgelben Herbstsonne roch es herrlich nach Harz und es war wunderbar warm.

Das Jauchzen der Unsichtbar-Affen schallte weit über den Sandberg hinweg bis in die Baumwipfel. Und von Wildschweinen belästigt wurden die Freunde auch nicht. Stattdessen bewarfen sie sich gegenseitig mit Sand, kugelten unzählige Male den Abhang hinunter und Jenny und Addi lieferten sich sogar ein Wettrennen mit ihren Fahrrädern, bei dem sie allerdings auf halber Strecke im Sand stecken blieben.

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Ağan rannte neben seinen Freunden her und lachte sich halb tot, als die beiden kurz nacheinander über ihre Lenker flogen. Und auch Jenny und Addi hielten sich die Bäuche, nachdem sie nebeneinander auf dem Hosenboden gelandet waren.

„Füße sind im Sand immer noch besser als Räder“, kicherte Ağan und kraulte Goffi, der auf seiner Schulter saß, unter dem Kinn.

Verschwitzt und außer Atem liefen sie zu Emma, die es sich auf einem quer gelegten Baumstamm gemütlich gemacht hatte und den Sonnenuntergang beobachtete.

„Was für ein Rot“, murmelte sie, während sie genüsslich in eine Leberwurststulle biss. „Ach, Kinder, was für ein Rot. Was für ein schöner Platz. Und das mitten in Berlin.“

„Das ist wahr, Emma!“ Jenny setzte sich neben sie und sah ebenfalls in die Sonne. Der rote Abendschein ließ ihr Gesicht leuchten.

Emma lächelte ihr zu. „Ja, der ideale Zeitpunkt für eine Stärkung, Kinder!“ Mit entschlossenem Griff öffnete sie den gewaltigen Picknickkorb. Addi wollte sofort hineinfassen, doch da stieß die Haushälterin mit einem Mal einen gellenden Schrei aus, der selbst Goffi zusammenfahren ließ.

„Du bist schlimmer als dein Affe, Addi Felsfisch! Lass ja deine Finger aus dem Korb! Denn dadrin herrscht Ordnung. Und Ordnung ist das halbe Leben. Oder meinst du, irgendein Mensch möchte im Chaos leben zwischen ungewaschenen Tellern, vollen Mülleimern und verstreuten Dingen? Nein, das möchte niemand. Und genau das Gleiche gilt auch für meinen Picknickkorb. Nur ich weiß, was da drin ist und wie man es am besten rausholt. Also mache ich das, denn die Ordnung auf der Welt schaffen nur die Frauen!“ Sie zwinkerte Jenny zu. „Männer können das gar nicht oder zumindest nur selten, was nebenbei bemerkt eine Schande ist. Jedenfalls, hier kommt die Speisekarte! Ich lese sie vor und ihr sagt mir dann, was ihr wollt.“ Emma holte einen langen Kassenbon aus dem Korb, auf dessen Rückseite sie sich ihre Leckereien notiert hatte. „Also. Die Leberwurststulle habe ich mir schon selbst genehmigt. Für Addi habe ich eine Riesenstulle mit Prager Schinken eingepackt. Dann hätten wir noch Bananenbrot mit Sauerrahmbutter, Schusterjungen mit Erdbeermarmelade und Radieschenstulle mit Butter und Salz. Ihr wisst ja sicher, warum Radieschen nur außen so schön rot sind, oder?“ Emma blinzelte die Kinder an. Dann gackerte sie los: „Sie schämen sich außen, dass sie innen so scharf sind!“

Jenny rollte mit den Augen. „Aha“, sagte sie dann trocken und fügte hinzu: „Ich nehme das Bananenbrot, das macht meine Großmutter auch manchmal.“

„Echt?“ Ağan schüttelte erstaunt den Kopf. „Das klingt gar nicht schlecht. Das probiere ich auch.“

„Ich nehme natürlich die Riesenstulle“, rief Addi. „Und was bekommt Goffi?“

„Der frisst doch eh alles“, winkte Emma ab. „Ich habe mir gedacht, ihr gebt ihm einfach was ab. Ansonsten ist da auch noch frisches Gemüse im Korb.“ Sie zog einen Beutel mit geschälten Möhren und Gurke hervor und drückte ihn Addi in die Hand.

Während die Unsichtbar-Affen ihre Brote aßen und dazu selbst gemachten Apfelsaft tranken, erhob sich ein frischer Abendwind zwischen den Bäumen und die Sonne begann schneller zu sinken.

„Wie die Zeit rast!“ Emma erhob sich als Erste und packte zusammen. „Wir sollten uns auf den Weg machen!“

Diesmal stellte sich Ağan bei Addi auf den Gepäckträger und Jenny nahm Goffi. Den leichter gewordenen Korb transportierte Emma, die den Weg zum Wannsee kannte und vorneweg radelte.

Mit der einsetzenden Dunkelheit wurde es rasch kühler im Wald. Immer weniger Menschen waren unterwegs.

„Ein Glück ist morgen Sonntag“, freute sich Jenny. „Sonst müsste ich jetzt noch Schularbeiten machen.“