Schauder um Mitternacht

Alfred Bekker

Published by BEKKERpublishing, 2015.

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Alfred Bekker | Schauder um Mitternacht: Drei Romane

Inhalt: | Patricia Vanhelsing – Engel des Bösen | Patricia Vanhelsing – Das Spukhaus | Die Gruft des bleichen Lords

Alfred Bekker | Patricia Vanhelsing - Engel des Bösen | Unheimlicher Roman

Alfred Bekker | Patricia Vanhelsing – Das Spukhaus | Unheimlicher Roman

Die Gruft des bleichen Lords

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Alfred Bekker

Schauder um Mitternacht: Drei Romane

Eine junge Frau gerät in den Bann okkulter Mächte, als sie die Stellung als Verwalterin eines Landguts antritt – und der geheimnisvolle bleiche Lord wirft seinen dunklen Schatten auf sie...

Mein Name ist Patricia Vanhelsing und – ja, ich bin tatsächlich mit dem berühmten Vampirjäger gleichen Namens verwandt. Weshalb unser Zweig der Familie seine Schreibweise von „van Helsing“ in „Vanhelsing“ änderte, kann ich Ihnen allerdings auch nicht genau sagen. Es existieren da innerhalb meiner Verwandtschaft die unterschiedlichsten Theorien. Um ehrlich zu sein, besonders einleuchtend erscheint mir keine davon. Aber muss es nicht auch Geheimnisse geben, die sich letztlich nicht erklären lassen? Eins können Sie mir jedenfalls glauben: Das Übernatürliche spielte bei uns schon immer eine besondere Rolle.

In meinem Fall war es Fluch und Gabe zugleich.

Alfred Bekker schreibt Fantasy, Science Fiction, Krimis, historische Romane sowie Kinder- und Jugendbücher. Seine Bücher um DAS REICH DER ELBEN, die DRACHENERDE-SAGA,die GORIAN-Trilogie und seine Romane um die HALBLINGE VON ATHRANOR machten ihn einem großen Publikum bekannt. Er war Mitautor von Spannungsserien wie Jerry Cotton, Kommissar X und Ren Dhark. Außerdem schrieb er Kriminalromane, in denen oft skurrile Typen im Mittelpunkt stehen - zuletzt den Titel DER TEUFEL VON MÜNSTER, wo er einen Helden seiner Fantasy-Romane zum Ermittler in einer sehr realen Serie von Verbrechen macht.

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Inhalt:

Patricia Vanhelsing – Engel des Bösen

Patricia Vanhelsing – Das Spukhaus

Die Gruft des bleichen Lords

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Ein Cassiopeiapress E-Book

Die in diesem E-Book enthaltenen Romane erschienen unter den Titeln „Das Spukhaus“ und „Engel des Bösen“ auch einzeln in einer abweichenden, nicht in die Serie „Patricia Vanhelsing“ integrierten Fassung.

© by Author; Cover: Firuz Askin

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 dieser Ausgabe by AlfredBekker/Cassiopeiapress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

Alfred Bekker

Patricia Vanhelsing - Engel des Bösen

Unheimlicher Roman

Mein Name ist Patricia Vanhelsing und – ja, ich bin tatsächlich mit dem berühmten Vampirjäger gleichen Namens verwandt. Weshalb unser Zweig der Familie seine Schreibweise von „van Helsing“ in „Vanhelsing“ änderte, kann ich Ihnen allerdings auch nicht genau sagen. Es existieren da innerhalb meiner Verwandtschaft die unterschiedlichsten Theorien. Um ehrlich zu sein, besonders einleuchtend erscheint mir keine davon. Aber muss es nicht auch Geheimnisse geben, die sich letztlich nicht erklären lassen? Eins können Sie mir jedenfalls glauben: Das Übernatürliche spielte bei uns schon immer eine besondere Rolle.

In meinem Fall war es Fluch und Gabe zugleich.

Ein Cassiopeiapress E-Book

© by Author

© 2013 der Digitalausgabe by AlfredBekker/Cassiopeiapress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

Ich hielt den Atem an und blickte hinunter zum Themseufer.

Wie angewurzelt stand ich im Schatten eines halbverfallenen Hauses und lauschte dem deutlich hörbaren Hufschlag.

Vier Reiter mit knochenbleichen Gesichtern preschten aus der Dunkelheit hervor. Ihre Augen waren leer und blind, die Haut wie vertrocknetes Pergament.

Aschfahl wirkten ihre Gesichter im Licht des Mondes.

Wie tot.

Aber um ihre dünnen, blutleeren Lippen spielte ein triumphierender Zug.

Die skelettartige Hand des ersten Reiters hielt einen Bogen. Pfeile sirrten durch die Luft. Todesschreie gellten in der Nacht und mischten sich mit dem triumphierenden Gelächter der Reiter zu einem schauerlichen Chor des Grauens.

Der zweite Reiter ließ ein gewaltiges, monströses Schwert über dem Kopf kreisen. Er hieb damit nach rechts und links in die Schwärze der Nacht hinein, während sein feuerrotes Pferd in der Dunkelheit zu leuchten begann.

Undeutlich erkannte ich fliehende Gestalten. Sie waren kaum mehr als schattenhafte Umrisse. Aber die Reiter waren unerbittlich. Pfeil auf Pfeil legte der erste Reiter in seinen Bogen und verschoss sie mit einer gespenstischen Treffsicherheit.

Und wann immer der zweite Reiter sein Schwert niedergehen ließ, erscholl ein grauenerregender Todesschrei.

Die Reiter näherten sich.

Sie hielten genau auf mich zu.

Ich wollte fliehen, aber meine Füße fühlten sich an, als ob sie im Asphalt der Straße verwurzelt wären. Einer der Flüchtenden taumelte mir entgegen. Sein Gesicht war von namenloser Furcht gezeichnet. Er schrie mir etwas Unverständliches entgegen, ehe ein Pfeil ihn in den Rücken traf und niedersinken ließ. Reglos blieb er am Boden liegen.

Die Schreie verebbten.

Die Reiter preschten heran und zügelten schließlich ihre Pferde, als sie bis auf einige Dutzend Schritte herangekommen waren.

Ich war ihnen ausgeliefert.

Eine Gefangene, durch geheimnisvolle Kräfte an den Boden gefesselt.

Kalter Angstschweiß stand mir auf der Stirn und meine Knie drohten weich zu werden.

Jetzt erst konnte ich im Schein des Mondes auch die letzten beiden Reiter genauer erkennen. Der eine trug eine Waage in der Hand, ließ sie hin und her schaukeln und kicherte dabei. Die toten, blicklosen Augen leuchteten gespenstisch. Sein Gewand erinnerte an ein stockiges Leichentuch. Der Mund war ein dünner Strich, und die Haut spannte sich so faltig und wächsern über die hervorstehenden Wangenknochen, dass man an eine entblößte Mumie erinnert war.

Der vierte Reiter trug nur zerrissene Fetzen am Leib. Sein Gesicht war zum Skelett abgemagert. Und die knochendürren Hände balancierten eine Schale, aus der blaustichige Flammen emporloderten.

Der Geruch von Moder und Verwesung schlug mir entgegen und betäubte meine Sinne.

Flieh!

Immer wieder schrie eine innere Stimme dieses Wort. Aber ich hatte keine Möglichkeit dazu. Mein Wille war gelähmt. Eine unheimliche Kraft fesselte mich an das kleine Stück Erde, auf dem ich stand.

Die Reiter bildeten einen Halbkreis um mich und verharrten einige Augenblicke.

Der Herz schlug mir bis zum Hals.

Kalter Angstschweiß stand mir auf der Stirn.

„Wer seid ihr?“, murmelte ich, kaum hörbar. Ein kalter Wind pfiff indessen durch die Straßen am Themseufer und wirbelte die Nebelschwaden durcheinander, die sich am Ufer gebildet hatten.

Ein dröhnendes Lachen antwortete mir.

Dann hörte ich eine Stimme.

Sie sprach leise und erinnerte mich an das Wispern einer Schlange.

„Wir sind die Boten des Untergangs, gekommen um das Verderben zu bringen...“

Meine Kehle war trocken. Ich konnte nichts sagen. Völlig starr stand ich da. Ich hatte jetzt nicht einmal mehr die Macht, meine Hände zu bewegen. Eine geheimnisvolle Kraft hielt mich in ihrem eisernen Griff, der wie ein stählernes Korsett war.

Ich versuchte, den Mund zu öffnen und etwas zu sagen.

Aber auch diese Muskeln gehorchten mir nicht mehr.

Der vierte Reiter, der in seinen knochendürren Händen die blauschimmernde Schale balancierte, brach jetzt aus der Phalanx dieser Schreckensgestalten heraus.

Er ließ sein Pferd, dessen Farbgebung ebenso bleich war wie die seines Totenschädel-Gesichtes, ein paar Meter auf mich zutraben, bevor es stoppte.

Wie eine Verkörperung des Todes!

Seine Augen waren vollkommen weiß. Das Mondlicht wurde von diesen blicklosen Augäpfeln reflektiert, so dass man den Eindruck hatte, dass kleine Lampen aus dem Knochenkopf herausleuchteten. Die Haut war im Bereich des Kopfes derart dünn und pergamentartig, dass die Knochen bereits hindurchschimmerten. Sie war noch fadenscheiniger, als seine ihm in Fetzen vom Leib hängende Kleidung.

Mein Gott, was geht hier vor!

Der Reiter stieg von seinem Klepper. Die Augen des Tiers waren ebenso blicklos und tot wie die seines Herren.

Er trat auf mich zu, hob etwas den Kopf und der Ausdruck in seinen Zügen wirkte fast wie die Karikatur eines Lächelns. Seine Lippen bewegten sich nicht. Und doch sprach er mit einer dunklen, sonoren Stimme, deren Klang dafür sorgte, dass sich mir die Nackenhaare aufstellten.

„Sieh her, Menschenkind“, sagte er.

Wie hypnotisiert starrte ich in sein grauenerregendes Antlitz, dass mir auf gleichermaßen unerklärliche und unangenehme Weise bekannt vorkam...

Wer um alles in der Welt ist er, Patricia?

Das Gelächter meines Gegenübers wirkte wie eine höhnische Antwort auf diese Frage, die durch meine Gedanken blitzte.

Ich schauderte.

„Es ist nicht wichtig, wer ich bin“, erklärte der Knochenmann dann, so als ob er meinen Gedanken gelesen hatte. „Wichtig ist nur, was ich dir bringe... Die Schale des Todes!“

Er hob die Schale an und balancierte sie in der Linken. Das bläuliche Feuer züngelte daraus empor.

Seine Augen begannen grell aufzuleuchten. Und das hatte nichts mehr mit den Reflektionen des Mondlichts zu tun, sondern mit der dämonischen Kraft, die ihm wohnte.

Der Knochenmann lachte heiser.

Er wandte sich von mir ab. Dabei glitt die Schale des Todes aus seiner Hand und fiel auf den Asphalt. Eine pechschwarze Flüssigkeit ergoss sich daraus und verteilte sich in rasender Geschwindigkeit über den Boden. Auf der Oberfläche dieser Flüssigkeit tanzte das blau schimmernde Feuer. Die Flammen fraßen sich an meine Füße heran.  Ein geradezu höllischer Schmerz durchfuhr meinen gesamten Körper. Alles krampfte sich in mir zusammen. Ich wollte schreien, aber ich brachte keinen Ton heraus.

In welche Hölle bist du geraten?, durchzuckte es mich, bevor eine erneute Welle aus rasendem Schmerz jeglichen Gedanken erstickte.

*

„Patti, du verplemperst deinen Sekt!“

Tom Hamiltons Stimme riss mich aus dem beinahe tranceartigen Zustand heraus, in dem ich mir für einige Augenblicke befunden hatte.

Es ist bereits das dritte Mal, dass du die Reiter gesehen hast, ging es mir durch den Kopf. Und allein die Erinnerung an die düsteren Bilder, die ich soeben vor meinem inneren Auge gesehen hatte, jagte mir kalte Schauder über den Rücken. Ein leichtes Schwindelgefühl erfasste mich.

Tom sah mich an. Er fasste mich am Arm.

„Du bist plötzlich so blass, Patti...“

Ich lehnte mich gegen ihn, reckte mich ein bisschen und flüsterte ihm ins Ohr.

„Ich hatte eine Vision, Tom.“

Tom Hamilton war einer der ganz wenigen Menschen, die von meiner leichten übersinnlichen Begabung wussten. Und das sollte möglichst auch so bleiben...

Im Augenblick waren wir allerdings umgeben von fast zwei Dutzend Gästen, die meine Großtante Elizabeth Vanhelsing - für mich Tante Lizzy - in ihre verwinkelte viktorianische Villa eingeladen hatte, um mit ihnen gemeinsam den Silvesterabend des Jahres 1999 zu verbringen. Und so war es nahezu unmöglich, jetzt ungestört mit Tom über die Sache zu reden.

Er sah mich fragend an.

Ich versuchte ein Lächeln und strich sanft über seinen Arm.

„Es ist vorbei“, sagte ich.

„Wirklich?“

„Ja...“

Schon zweimal hatte ich diese unheimlichen Reiter gesehen. Aber beide Mal waren es nur kurze, schlaglichtartige Erlebnisse gewesen, denen ich keinerlei besondere Bedeutung zugemessen hatte. Eine kurze Beunruhigung, ein mulmiges Gefühl in der Magengrube, das einige Augenblicke lang anhielt - das war alles gewesen.

Ich hatte weder mit Tom noch mit Tante Lizzy darüber gesprochen, einfach weil es mir nicht wichtig genug erschienen war.

Der Eindruck, den die letzte - dritte - Vision auf mich gemacht hatte, war deutlich nachhaltiger. Erst jetzt beruhigten sich meine überreizten Nerven langsam und der Puls hatte wieder ein normales Tempo.

Mein Blick glitt über die festlich gekleidete Gästeschar, die den Salon von Tante Lizzys Villa bevölkerte. Ein ausgelassenes Stimmengewirr herrschte hier. Tante Lizzy war in ihrem Element. Die alte Dame stand mitten unter den Gästen, zwischen einem Parapsychologen namens Gordon Sykes und dem Chemiker Hugh St. John, den Tante Lizzy um Hilfe gebeten hatte, als es darum ging, eine der Masken chemisch zu analysieren, mit denen die Mitglieder der Weltuntergangssekte ORDEN DER MASKE zu ihrem Herrn und Meister, einem geheimnisvollen Wesen namens Cayamu, Kontakt aufnehmen konnten. St. John war ein ehemaliger Kollege von Onkel Frederik, Tante Lizzys verschollenem Mann. Gordon Sykes hingegen war wesentlich jünger. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig. Sykes war ursprünglich Physiker gewesen, bevor er sich der Parapsychologie zugewandt hatte. Er behauptete, ein Gerät entwickelt zu haben, mit dessen Hilfe er übersinnliche Energien messen konnte. Meine Großtante, die ihr Leben ganz der Erforschung des Okkultismus widmete und das wahrscheinlich größte Privatarchiv Englands auf diesem Gebiet in ihrer Villa untergebracht hatte, war daran natürlich brennend interessiert.

Ich hatte dem Gespräch der drei einige Augenblicke lang zugehört, als mich ein grauhaariger, etwas schlaksig wirkender Mann ansprach. Er war sehr groß und der dunkle Smoking schien ihm nicht so recht zu passen.

Es handelte sich um Dr. Erich Jacobi, einen Spezialisten für alte Sprachen, der vor vielen Jahren Onkel Frederik auf eine archäologische Forschungsreise als Assistent begleitet hatte.

Der gebürtige Schweizer hatte inzwischen einen Lehrstuhl in Cambridge inne.

„Sagen Sie, wie wird denn die London Express News ins nächste Jahrtausend gehen?“, erkundigte sich Jacobi. Die Frage war durchaus berechtigt. Das Londoner Boulevard-Blatt, bei dem Tom und ich als Reporter angestellt waren, hatte seit dem Tod des Verlegers Arnold Reed einiges an Turbulenzen durchgemacht.

Und für eine Zeitung ist es allemal besser, Schlagzeilen zu DER HERR DER FLEDERMÄUSE

zu haben als selbst welche zu machen.

„Man hat so einiges gehört“, meinte Jacobi dann gedehnt. „Wahrscheinlich ist nur die Hälfte davon wahr, aber als regelmäßiger Leser Ihrer Reportagen frage ich mich doch, was nun wird...“

„Wir auch“, meinte Tom etwas düster. „Ein Verkauf an die Konkurrenz ist noch nicht ganz ausgeschlossen. Aber bis die zerstrittene Erbengemeinschaft sich mal geeinigt hat, geht alles seinen mehr oder minder gewohnten Gang.“

„Und das kann noch einige Zeit so weitergehen“, ergänzte ich.

„Sie beide haben doch immer sehr engagiert gegen diesen eigenartigen ORDEN DER MASKE recherchiert“, stellte Jacobi fest. „Ich habe Ihre Stories darüber gelesen... Der Tod von Arnold Reed soll mit den Machenschaften dieses ORDENS in Zusammenhang stehen...“

„Ja, das stimmt“, nickte ich. Die genauen Umstände waren der Öffentlichkeit nicht bekannt. Arnold Reed war Opfer der vampirähnlichen Tuha-na-Dhyss geworden, die von Mitgliedern des ORDENS beschworen worden waren.

„Mr. Reed stand dem ORDEN DER MASKE im Weg, nicht wahr?“, bohrte Jacobi weiter.

„Zumindest hat er mit seinem breiten Rücken unsere Recherchen immer abgedeckt, obwohl es Versuche gab, Druck auf die London Express News auszuüben“, erklärte Tom.

„Nach der Prophezeiung dieses ORDENS soll doch spätestens mit Beginn des Jahres 2000 das Ende der Welt kommen - oder irre ich mich da?“

„Nein, da irren Sie sich nicht“, sagte ich. „Sie wollen die Erde in Chaos stürzen und Cayamu, dieses geheimnisvolle Wesen, das auf dem fernen Planeten einer Doppelsonne residiert, wird seine getreuen Anhänger im Augenblick der Katastrophe entmaterialisieren und zu sich holen...“

„Es gibt Dutzende derartiger Prophezeiungen, Miss Vanhelsing. Verrückte, die irgendwelche willkürlichen Termine für den Weltuntergang festsetzen. Manche sind so schlau, einen kollektiven Selbstmord der Mitglieder anzusetzen, damit hinterher keiner der getäuschten Anhänger noch wütend darüber sein kann, dass die Prophezeiung nicht in Erfüllung gegangen ist...“

„Ich halte den Orden der Maske für eine ernste Gefahr“, erklärte ich. „Und die Ankündigungen dieser Gruppe nehme ich keineswegs auf die leichte Schulter...“

Jacobi wusste nicht genug über die Hintergründe. Anders war sein leicht spöttisches Gerede nicht zu erklären. Oft genug waren Tom und ich bereits den Machenschaften des ORDENS begegnet und hatten sie so gut es ging zu durchkreuzen versucht. Aber dabei hatten wir auch erfahren, wie ungeheuer mächtig dieser aus dem verborgenen heraus operierende Feind war.

Jacobi blickte auf die Uhr.

„Noch ein paar Minuten und das neue Jahrtausend bricht an, Miss Vanhelsing. Glauben Sie, dass der ORDEN DER MASKE etwas unternehmen wird, sobald die Uhr drei Nullen zeigt?“

„Ich weiß es nicht“, sagte ich.

Jetzt mischte sich Gordon Sykes, der Parapsychologe ein. Er kam mit dem Glas in der Hand auf uns zu, was bewirkte, dass sich ein halbes Dutzend Augenpaare in unsere Richtung drehten. Er schien unser Gespräch verfolgt zu haben. „Miss Vanhelsing, ich habe in den letzten Tagen mit Hilfe meiner Apparaturen eine erhöhte Intensität übersinnlicher Energien hier in London gemessen. Glauben Sie, dass das im Zusammenhang mit den Aktivitäten des ORDENS DER MASKE steht?“

„Das will ich nicht hoffen“, erwiderte ich.

Äußerlich blieb ich gelassen.

In Wahrheit war ich überzeugt davon, dass der ORDEN irgend etwas unternehmen würde... Vielleicht nicht gerade in der Silvesternacht, aber schon in allernächster Zeit.

„Wahrscheinlich werden wir uns in Kürze mit viel näherliegenderen Problemen herumzuschlagen haben“, gab Hugh St. John seiner Meinung Ausdruck.

Tante Lizzy hob die Augenbrauen. „Wollen Sie damit auf das berüchtigte Jahr 2000-Problem bei den Computern anspielen?“, hakte sie nach.

St. John zuckte die Achseln und nippte an seinem Glas. „Nun, es reicht doch schon, wenn ein geringer Prozentsatz der Rechner in Unternehmen und Verwaltungen nicht rechtzeitig umgestellt wurden, um ein gehöriges Chaos anzurichten. Geldautomaten spucken kein Bargeld mehr aus, elektronische Kassen in den Supermärkten funktionieren nicht mehr, vielleicht fallen in einigen Städten der Strom und die Heizung aus...“

„Nun, ein paar Minuten müssen wir wohl oder übel noch warten“, meinte Tante Lizzy. „Dann werden wir alle genau wissen, ob an den Unkenrufen, die in den letzten Tagen die Fernsehnachrichten beherrscht haben, etwas dran ist oder nicht.“

„Die computerbedingten Schwierigkeiten werden wohl erst nach und nach auftreten und nicht auf einen Schlag, wie einige Panikmacher in den Medien uns das weismachen wollen“, meinte St. John. „Die ganze apokalyptische Hysterie wird sich in Luft auflösen - genau wie bei der Sonnenfinsternis dieses Jahr. Was bedeutet die Zahl 2000 schon? Eine willkürlich festgelegte Marke. Und wahrscheinlich sogar ein großer Irrtum, denn es spricht vieles dafür, dass Jesus bereits im Jahr 5 vor Christus geboren wurde. Das bedeutet, die 2000 Jahre seit Christi Geburt sind schon lange vorbei...“

„Ich muss Ihnen vollkommen recht geben“, stimmte Tante Lizzy zu. „Und selbst wenn jener römische Mönch namens Dionysus Exiguus, der im Jahre 522 das vermutliche Geburtsjahr Christi errechnete, Recht hätte, hätten wir heute Abend keinen Jahrtausendwechsel, sondern erst im nächsten Jahr. Exiguus kannte nämlich die Null noch nicht und legte den Zeitpunkt von Christi Geburt als Jahr 1 fest, was bedeutet, dass das zweite Jahrtausend erst im Jahre 2001 beginnt...“

„...was wohl nur bedeuten kann, dass die allgemeine Hysterie sich noch ein ganzes Jahr halten wird, wenn sich das herumspricht“, war St. John überzeugt.

„Aber die Messungen, die ich gemacht habe, sind eine Realität“, gab Gordon Sykes zu bedenken. „Mag die Magie der Zahlen auch noch so willkürlich erscheinen...“

Ich hörte dem Disput nur mit einem Ohr zu.

Statt dessen dachte ich an die furchtbaren Bilder, die ich noch vor wenigen Augenblicken gesehen hatte. Ein Schauder überkam mich.

Diese Vision hat etwas zu bedeuten und du weißt es, ging es mir siedend heiß durch den Kopf. Aber was immer das auch für eine Bedrohung sein mochte, vor der diese Bilder mich warnen wollten - im Augenblick hätte ich nicht gewusst, was ich dagegen tun sollte. Da war nur dieses unangenehme Gefühl in der Magengegend und die tief empfundene Gewissheit, dass irgend etwas geschehen würde.

Ich fror innerlich, obwohl Tante Lizzy sehr wärmebedürftig war und stets dafür sorgte, dass ihre Villa gut geheizt wurde.

Die Stimmen der mich umgebenden Gäste traten in den Hintergrund. Undeutlich nahm ich noch wahr, wie sich jemand über die Vorhersagen des Nostradamus ausließ und darüber, dass dieser Seher sich offenbar doch geirrt hatte, als er für das Jahr 1999 einen großen Krieg vorhergesagt hatte, der im Osten Europas seinen Anfang nehmen würde. Der Kosovo-Konflikt konnte ja wohl kaum als großer Krieg durchgehen...

Mein Blick wanderte die langen Regalwände entlang, die in der gesamten Villa die Wände bedeckten. Ein staubiger Buchrücken reihte sich an den nächsten. Tante Lizzy war eine unermüdliche Sammlerin okkulter Schriften sowie jeglicher Literatur, die sich mit Grenzwissenschaften und außergewöhnlichen Phänomene beschäftigte. Ihr Pressearchiv war in diesem Bereich so umfangreich, dass ich es dem Archiv der London Express News meistens vorzog, wenn ich in diesem Themenbereich zu recherchieren hatte. Die langen Bücherreihen wurden immer wieder durch eigenartige Gegenstände unterbrochen, die zumeist irgendeine okkulte oder magische Bedeutung hatten. Götterstatuetten, Schnitzereien von Dämonengesichtern, Kristallkugeln, Schrumpfköpfe und ein bemalter Totenschädel gehörten zu diesen Dingen, die Tante Lizzy als ihre Sammlung bezeichnete. Hin und wieder fanden sich unter diesen Artefakten auch archäologische Fundstücke, die Onkel Frederik von seinen zahlreichen Reisen mitgebracht hatte. Sie ließen die gesamte Villa wie eine Art Museum aussehen. Der tägliche Kampf gegen die dünne Staubsicht, die sich auf ihnen absetzte, war von vorn herein verloren.

Lediglich meine eigenen Räumlichkeiten, die im ersten Stock der Vanhelsing Villa lagen, waren nicht von Tante Lizzys ausuferndem Okkult-Archiv belegt. Wenigstens beim Schlafen wollte ich sicher sein, nicht die ganze Zeit über von einer Dämonenfratze angestarrt zu werden - selbst wenn die nur aus Holz war.

Mein Blick wanderte die Wände entlang.

So als würde er von irgend etwas auf gewisse Weise angezogen.

Die innere Unruhe in mir wuchs.

Und dann bemerkte ich einen bereits etwas grünlich angelaufenen Messingteller. Er hing an einem Haken von einem Regal herab. Er war mir nie sonderlich aufgefallen, aber jetzt stach er mir aufgrund der Gravuren ins Auge.

Vier Gegenstände waren auf dem Teller abgebildet.

Bogen, Schwert, Waage und Schale...

Die Erkenntnis traf mich wie ein Keulenschlag.

Es handelte sich exakt um jene Kombination von Gegenständen, wie sie die grauenerregenden Reiter mit sich geführt hatten, denen ich in meiner Vision begegnet war.

Das kann kein Zufall sein, Patti!

„Lasst uns hinaus gehen! Sonst verpassen wir noch den Beginn des neuen Millenniums!“, hörte ich in diesem Moment Tante Lizzys Stimme.

Ein kühler Luftzug durchwehte einen Augenblick später den Salon. Jemand hatte die Tür geöffnet, die vom Salon aus direkt auf die Terrasse und in den Garten der Vanhelsing-Villa führte.

„Wir sollten das Licht ausmachen“, schlug Hugh St. John vor. „Dann sieht man das Feuerwerk besser.“

*

„Auf das neue Jahrtausend, Patti“, flüsterte Tom mir ins Ohr.

Wir standen in dem leicht verwilderten Garten der alten Vanhelsing Villa.

Ich lehnte mich gegen ihn, während er seinen Arm um mich legte. Wir schauten zum sternklaren Nachthimmel empor.

Hier und und da wurde mit Sektgläsern angestoßen und ein Raunen ging durch die Gästegruppe, als endlich die ersten Feuerwerkskörper über London gezündet wurden. Kaskaden aus Licht sprühten in die Dunkelheit hinein und ließen die Sterne verblassen. Raketen heulten hoch empor und zerplatzten dann zu Myriaden von Funken.

Aber die flirrenden Lichtpunkte erloschen nicht.

Auf geheimnisvolle Weise sammelten sie sich und bildeten Linien...

Nein, das darf nicht wahr sein...

Ich ahnte, was geschehen würde - Augenblicke, bevor es dann Wirklichkeit wurde.

Die Reiter...

Ein Bild von geradezu gespenstischer Intensität entstand aus den flirrenden Lichtern am Himmel und ließ alle Betrachter den Atem anhalten.

Vier Reiter schälten sich aus dem gleißenden Licht heraus. Und jede Rakete, jeder Böller, der nun noch gezündet wurde und vor dem dunklen Hintergrund des Sternenhimmels seine Leuchtkaskaden verteilte, trug auf geheimnisvolle Weise zur Vervollständigung dieses überdimensionalen Gemäldes aus glühenden Teilchen bei.

Eine unheimliche Kraft ordnete diese flimmernden Lichtpunkte so, dass sie die Bilder der vier Reiter vervollständigten.

„Da hat sich aber jemand etwas einfallen lassen für den Beginn des Jahrtausends“, meinte anerkennend Professor St. John.

Doch die Bewunderung, die aus der Stimme des sonst so nüchternen Wissenschaftlers sprach, machte ungläubigem Staunen Platz.

„Tom, hier stimmt etwas nicht“, murmelte ich. Mit der Linken fasste ich mir an die Schläfe. Ich spürte eine starke Präsenz mentaler Energie, die ich mit Hilfe meiner leichten übersinnlichen Begabung wahrzunehmen vermochte. Das Pochen hinter meiner Schläfe war unangenehm und schmerzhaft. Ein starkes Schwindelgefühl erfasste mich.

Ich starrte wie alle anderen Angehörigen dieser etwa zwanzigköpfigen Silvestergesellschaft zum Himmel. Was geschieht dort?, fragte ich mich.

Das aus grellen Lichtpunkten bestehende Gemälde wurde immer vollständiger. Wie bei einem gigantischen Puzzle kamen immer neue Farbpunkte hinzu.

Vier Reiter waren es...

Ich hielt den Atem an.

Der erste dieser Reiter ritt auf einem Schimmel und hatte einen Bogen in der Hand. Das Pferd des zweiten war feuerrot. Er schwang ein gewaltiges Schwert über dem Kopf. Der dritte Reiter war von aufgedunsener Gestalt und ritt auf einem Rappen. In der linken hielt er eine Waage. Bei dem vierten Reiter handelte es sich um eine zum Skelett abgemagerte Gestalt. Die Augen waren hohl und blicklos, und in der unter dem zerrissenen Gewand hervorragenden Knochenhand balancierte er eine Schale, in der ein Feuer mit kalter, blaustichiger Flamme aufloderte.

„Da hat sich jemand einen schlechten Scherz zum Jahrtausend-Ende erlaubt“, meinte Tante Lizzy laut. Sie sah mich an, runzelte dabei die Stirn und fragte dann: „Was ist mit dir, Patti?“

„Ich weiß nicht...“

„Du bist so blass geworden...“

„Ich habe diese Reiter gesehen.

In diesem Moment begannen die bis dahin starren Reiterbilder am Himmel sich zu bewegen.

Eine unheimliche Art von Leben erfüllte sie.

Es wurde still über London.

Kein Feuerwerkskörper wurde jetzt noch in die Luft gejagt. Millionen von teils verwunderten, teils ungläubigen Blicken gingen zu diesen Himmelserscheinungen empor. Die Umrisse der Reiter leuchteten jetzt grell auf, so dass es in den Augen schmerzte.

In wildem Galopp jagten die vier über den Nachthimmel.

Ein höhnisches Lachen dröhnte zu uns herab. Es klang in meinem Kopf in unerträglicher Lautstärke wider. Ich hielt mir die Ohren zu, aber das nützte nichts. Erstaunt stellte ich fest, dass nicht nur ich dieses schauerliche Lachen wahrnahm, sondern auch alle anderen Anwesenden.

Der Reiter mit dem Bogen legte den ersten Pfeil ein. Wie ein greller Blitz zuckte das Geschoss Sekundenbruchteile später über den Himmel und ging dann mit einem lauten Zischlaut irgendwo hinter dem Horizont nieder.

Der Schwertkrieger wirbelte drohend seine Waffe über dem Kopf.

Die vier Schreckensreiter preschten direkt über uns hinweg.

Und genau in diesem Moment erreichte das Pochen hinter meinen Schläfen eine geradezu unerträgliche Intensität. Das Lachen in meinem Kopf mischte sich mit etwas anderem. Ein gespenstischer Chor war nun zu hören. Ein Chor wehklagender Stimmen, als ob die verdammten Seelen aller Zeitalter und Kontinente zu einem gemeinsamen Schrei angesetzt hatten. Ein Gesang, der einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte.

Für einen Moment sah ich, wie Hugh St. John und Dr. Jacobi die Hände gegen die Ohren pressten. Ihre Gesichter wirkten verzerrt.

„Das ist ja kaum zu ertragen!“, rief jemand. Es war eine Frauenstimme, aber ich war mir nicht sicher, wem unter Tante Lizzys Gästen sie zuzuordnen war.

Gordon Sykes, der Parapsychologe lief schreiend zurück in den Salon. Auch er hielt sich die Ohren zu. Aber jedem, der noch einen halbwegs klaren Gedanken fassen konnte, musste klar sein, dass das gegen diesen Chor des Grauens nicht half...

Schwindel erfasste mich.

Alles begann sich vor meinen Augen zu drehen. Ich fühlte zwei starke Hände, die mich an den Oberarmen fassten und blickte in Tom Hamiltons entschlossen wirkende Augen. Vielleicht konnte er sich auf irgendeine Art und Weise besser gegen die Einflüsse abschirmen, denen wir alle im Augenblick ausgesetzt waren. Seit seiner Zeit bei den Mönchen von Pa Tam Ran beherrschte er besondere Konzentrationstechniken, mit denen er seinen Geist abschirmen konnte.

„Patti!“

„Tom...“

Über uns preschten die mysteriösen Himmelsreiter in einem Bogen über das Firmament.

Ihre Erscheinungen waren mit der Zeit immer realistischer geworden. Hatten sie zunächst noch recht groben und mit bunter Kreide gezeichneten Darstellungen geähnelt, so wirkten sie jetzt erschreckend plastisch. Sie glichen nun vollkommen jenen Gestalten, die ich in meiner Tagtraum-Vision gesehen hatte.

„Was geht hier vor sich?“, rief Tom.

Ich starrte währenddessen wie gebannt auf den vierten Reiter.

Jene dürre Knochengestalt mit dem zerfetzten Gewand, die auf einem totenbleichen Pferd ritt und in der Hand eine Schale balancierte.

Die Schale des Todes...

Die blauen Flammen züngelten aus ihr heraus.

Dann schleuderte der dürre Knochenmann sie von sich. Ich hielt den Atem an. „Nein“, flüsterte ich kaum hörbar, während in meinem Kopf der Chor der Verdammten einen immer schriller werdenden Gesang aufführte.

Die Schale des Todes wird über der Welt ausgeschüttet!

Ein Gedanke, der mich lähmte.

Die bläulich schimmernde Schale irrte wie ein aus der Bahn geratener Komet über den Nachthimmel. Eine schwarze, zähflüssig erscheinende Substanz floss aus ihr heraus und breitete sich wie ein schwarzer Teppich über immer weitere Teile des Himmels aus. Die Sterne verloschen einer nach dem anderen. Und selbst das Licht des Mondes vermochte nicht, durch diese Substanz hindurchzuscheinen.

Innerhalb eines einzigen Augenaufschlags breitete sich diese vollkommene Finsternis über den gesamten Himmel aus und senkte sich dann tiefer und tiefer.

Renn! Renn ins Haus!

Mein Körper gehorchte nicht mehr den Befehlen des Gehirns. Wie zur Statue erstarrt stand ich da, unfähig, mich zu bewegen, während sich in meinem Kopf alles in rasender Geschwindigkeit drehte. Ich sah ein verwirrendes Gemisch aus Bildern, Farben und dieser allumfassenden Finsternis, die sich immer mehr ausdehnte. Gleichzeitig fühlte ich eine unheimliche Kälte in mir aufsteigen. Sie erfasste meinen gesamten Körper, und ich fühlte mich wie gefroren.

Als ob ganz London sich in eine einzige große Leichengruft verwandelt hatte...

Ein Geruch von Verwesung und Moder stieg mir in die Nase.

Tom!

Ich konnte die Berührung seiner Hände nicht mehr spüren. Und ich sah ihn auch nicht mehr.

Die Kälte lähmte nicht nur meinen Körper, sondern auch jegliche Gedanken. Ich spürte, wie sich eine furchtbare Agonie in mir ausbreitete.

Ich schloss die Augen. Szenen aus meinem Leben zogen in rasender Folge vor meinem inneren Auge vorbei. Erinnerungen an meine Eltern, an den Tag als ich ihren viel zu frühen Tod bei einem Verkehrsunfall voraussah. Ich durchlebte noch einmal das Gefühl der Ohnmacht, das ich in jenem Moment empfunden hatte. Das Gefühl, ein Unheil klar und deutlich vor Augen zu sehen und nichts zu tun können, um es abzuwenden...

Dann sah ich, wie ich in Tante Lizzys Villa einzog.

Tante Lizzy, die mich wie eine Mutter behandelt hatte, all die langen Jahre...

Mein erster Tag bei der London Express News, das strenge Gesicht meines Chefredakteurs Michael T. Swann, der mich am Liebsten gar nicht genommen hätte. Nur Tante Lizzys Einfluss und der Tatsache, dass sie mit dem Verleger Arnold Reed befreundet gewesen war, hatte ich es zu verdanken gehabt, wenigstens eine Chance zu bekommen.

Ich erinnerte mich auch an den Augenblick, in dem ich Tom Hamilton zum ersten Mal begegnet war. An sein sympathisches Lächeln, an den Blick dieser geheimnisvollen meergrünen Augen, die mich immer an den Geruch von Salz und Seetang erinnerten. Ich hatte mich unsterblich in ihn verliebt, auch  wenn er mir zunächst eher zwielichtig erschienen war.

Ist das das Ende?, ging es mir durch den Kopf.

Das Ende der Welt, an das ich mich geweigert habe zu glauben?

Durch Tom wusste ich, dass es so etwas wie Wiedergeburt gab.

Seit seiner Zeit in Pa Tam Ran, einem kambodschanischen Kloster, war er in der Lage, sich an alle seine vorherigen Leben zu erinnern.

Finsternis umgab mich nun.

Ich sah nichts mehr und hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen.

Dann war da nur noch Dunkelheit und Kälte.

*

„Patti, wach auf!“

Es dauerte einige Augenblicke, bis ich begriff, dass es Toms Stimme war, die da zu mir gesprochen hatte. Ich schlug die Augen auf und stellte fest, dass ich auf dem Boden lag. Der Rasen im Garten der Vanhelsing-Villa war nicht unbedingt das, was man für gewöhnlich als englisch bezeichnete und dementsprechend weich.

„Tom...“ Ich blickte auf. Er half mir auf die Beine. Die Knie waren noch etwas weich. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie viel Zeit vergangen war und wie lange ich auf dem Rasen gelegen hatte. Jedenfalls war mein Kleid auf der einen Seite ziemlich feucht.

Ich blickte hinauf zum Himmel.

Erleichtert stellte ich fest, dass die Sterne dort wie gewohnt funkelten. Der Mond stand als bleiches Oval am Himmel und wirkte wie das Auge eines übergroßen Götzen, das kalt auf uns herabblickte. Ich atmete tief durch und dann schlang ich die Arme um Toms Hals.

„Tom, ich bin so froh...“

„Alles in Ordnung, Patti?“

„Ich denke schon.“

Auf dem Boden lagen noch einige weitere Personen aus Tante Lizzys Gäste-Schar, die langsam zu sich kamen, sich ungläubig die Köpfe hielten und verstört ihre Blicke kreisen ließen.

„Wo ist Tante Lizzy?“,  fragte ich.

„Dr. Jacobi und Professor St. John haben sie in den Salon getragen und auf den Diwan gelegt. Ich hoffe, sie kommt auch gleich zu sich...“

Tom strich mir eine verirrte Strähne aus dem Haar. Ich trug mein brünettes, etwa schulterlanges Haar an diesem Abend hochgesteckt, aber die Zeit, die ich auf dem Rasen gelegen hatte, hatte meiner Frisur alles andere als gutgetan. Ich blickte Tom fragend an. Das Mondlicht spiegelte sich in seinen Augen.

„Was ist passiert?“, murmelte ich. „Es wirkte so unwirklich wie ein Traum...“

„Wenn es ein Traum war, dann haben ihn alle hier geteilt“, erwiderte Tom.

„Diese Reiter... Tom, ich habe sie zuvor in einer Vision gesehen.“

„Weißt du irgend etwas darüber?“

„Nein...“

„Was immer das da oben auch war - ein gewöhnliches Feuerwerk haben wir nicht erlebt...“

Ein eiskalter Wind wehte um die Mauern der Vanhelsing-Villa herum. Ich zitterte am ganzen Körper. Tom führte mich auf die Terrassentür des Salons zu. Mir fiel auf, dass nirgends Licht brannte. Die Außenbeleuchtung war ausgefallen, aber auch im Inneren der Villa brannte kein Licht.

Wir betraten den Salon.

Professor St. John hatte eine Kerze entzündet, deren flackernder Schein diesen Raum notdürftig erhellte.

Tante Lizzy lag auf dem Diwan.

Ich ging auf sie zu und sah, dass meine Großtante sich etwas bewegte. Sie rieb sich die Stirn und richtete sich langsam auf. Ich setzte mich zu ihr auf den Diwan.

„Tante Lizzy...“, flüsterte ich.

Sie sah mich an.

Der Schein der Kerze tauchte ihr Gesicht in ein weiches Licht.

„Patti“, flüsterte sie. Sie atmete tief durch und versuchte dann zu lächeln. „Es geht mir gut, mein Kind. Ich hoffe, dasselbe kannst du auch von dir sagen...“

Jetzt meldete sich Professor St. John zu Wort.

„Haben Sie noch weitere Kerzen, Miss Vanhelsing?“, erkundigte er sich.

Tante Lizzy runzelte die Stirn.

„Kerzen?“, echote sie etwas verwirrt. „Wozu Kerzen? Machen Sie doch einfach das Licht an.“

„Tut mir leid, aber wir haben keinen Strom...“ Der Professor zuckte die Achseln. Die Tatsache, die er soeben ausgesprochen hatte, schien ihn in keiner Weise zu beunruhigen. „Wahrscheinlich wird es sich ein paar Stunden hinziehen, bis der Schaden behoben ist... Offenbar hat die Jahr 2000 Umstellung der Großrechner in den Elektrizitätswerken doch nicht so geklappt, wie man uns das hat weismachen wollen...“

„Und wenn dieser Stromausfall mit den Dingen zu tun hat, die am Himmel passiert sind?“, erwiderte ich.

Hugh St. John sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. Sein Blick drückte Skepsis aus. „Weiß Gott, ich habe keinerlei Erklärung für das, was wir gesehen haben. Aber ich wüsste nicht, weshalb diese Erscheinungen am Himmel etwas mit dem Elektrizitätsnetz zu tun haben sollten...“

Tom war unterdessen in die Bibliothek gegangen und kehrte jetzt zurück. „Wir haben auch kein Telefon“, erklärte er. „Und wie es scheint, ist selbst das Mobilfunknetz zusammengebrochen. Jedenfalls ist mein Handy tot. Vielleicht ist jemand anderes hier, der ebenfalls über eines verfügt, so dass wir das genauer überprüfen könnten...“

Die Bestätigung ließ nicht lange auf sich warten.

Mehrere der anwesenden Gäste überprüften ihre Handys und machten dieselbe Feststellung wie Tom.

Tante Lizzy erhob sich von ihrem Diwan. Sie suchte noch ein paar Kerzen aus einer Schublade heraus. „Sollte diese Phase der Dunkelheit länger anhalten, so habe ich im Keller noch ein paar sehr dekorative Öllampen, mit denen man die Villa ausreichend beleuchten kann“, erklärte sie.

Etwas Furchtbares ist geschehen, wurde mir in dieser Sekunde klar. Auch wenn es jetzt so schien, als wäre alles wieder wie vorher, so wusste ich doch, dass dieser Eindruck trog. Nichts wird je wieder so sein, wie es war, Patti...

Das grausige Gelächter der vier unheimlichen Himmelsreiter klang mir noch in den Ohren.

Ein furchtbarer Triumph lag darin, eine Siegesgewissheit, die mich schaudern ließ.

Ein dumpfes Grollen ließ plötzlich alle Anwesenden aufhorchen.

Die letzten Gäste stürzten jetzt durch die Terrassentür in den einigermaßen erhellten Salon herein.

„Es gibt ein Gewitter“, meinte jemand.

„Jetzt?“, fragte Tom. „Mitten im Winter?“

Wie, um diesen Einwand sofort zu widerlegen, zuckte der erste Blitz über den Himmel. Der Donner folgte sogleich. Der Wind wurde heftiger. Ich trat ans Fenster und konnte die dunklen Wolken sehen, die sich innerhalb kürzester Zeit gebildet haben mussten. Das Mondlicht schimmerte auf geradezu gespenstische Weise durch sie hindurch. Wie große, schwarze Ungetüme wirkten sie, formlose Schatten, die sich jederzeit in Ausgeburten der Hölle zu verwandeln drohten.

Tante Lizzy trat neben mich, während der Regen gegen die Scheiben klatschte.

„Da draußen ist etwas in schreckliche Unordnung geraten“, stellte sie fest.

Und ich fürchtete, dass sie mit dieser Feststellung sehr viel mehr recht hatte, als uns das allen in diesem Augenblick lieb war...

*

Innerhalb der nächsten halben Stunde normalisierte sich das Leben in der Vanhelsing Villa etwas, soweit man unter diesen Umständen von einer Normalisierung überhaupt sprechen konnte.

Tom holte die Öllampen aus dem Keller und bald war es wenigstens im Salon und in der Bibliothek fast so hell, wie es das mit elektrischem Licht gewesen wäre.

Außerdem wurden sämtliche batteriebetriebenen Taschenlampen hervorgekramt, die in der Vanhelsing Villa aufzutreiben waren. Alec St. John - der Sohn des Professors, der durch einige Sachbücher zum Thema Okkultismus in Afrika hervorgetreten war - versuchte sich vergeblich an den Sicherungskästen, während ich mit Hilfe des batteriebetriebenen Kofferradios in der Küche feststellte, dass es keinerlei Rundfunk mehr gab.

„Offenbar gibt es niemanden mehr, der etwas sendet“, stellte ich tonlos fest, woraufhin im Salon zunächst einmal Schweigen herrschte.

Was mochte geschehen sein?

Die Frage wurde immer drängender.

„Beinahe fühlt man sich an die Szenerie in diesen Hollywood-Filmen erinnert, die zu schildern versuchen, was nach einem Atomkrieg passiert“, meinte Professor Hugh St. John. Er hatte versucht, seine Bemerkung witzig klingen zu lassen, aber es konnte niemand darüber lachen.

Irgend jemand machte den Vorschlag, so schnell wie möglich nach Hause zu fahren, um zu sehen, ob dort alles in Ordnung war. Aber davon riet Tante Lizzy heftig ab.

„Keiner von uns“, so erklärte sie, „weiß, was wirklich geschehen ist. Vielleicht ist der Strom nur in diesem Viertel ausgefallen, vielleicht auch in ganz London. Niemand kann das im Moment sagen. Wenn man von der Tatsache ausgeht, das offenbar auch die Rundfunksender betroffen sind, würde ich letzteres für wahrscheinlicher halten. Das bedeutet, dass jetzt in der Stadt Chaos herrscht. Keine Verkehrsampel funktioniert noch, es gibt keine Beleuchtung mehr... Wer sich da auf den Weg macht, geht ein völlig unnötiges Risiko ein...“ Tante Lizzy versuchte, ein entspanntes Lächeln aufzusetzen und ihre Gäste etwas zu beruhigen. Schließlich war es das Wichtigste, dass jetzt niemand eine unüberlegte Kurzschlussreaktion zeigte und Hals über Kopf in die Ungewissheit dieser mysteriösen Finsternis aufbrach, die über London hereingebrochen war.

Aber ich kannte Tante Lizzy gut genug, um zu wissen, dass auch sie sich große Sorgen machte. Zwischen ihren Augen hatte sich auf ihrer Stirn eine tiefe Furche gebildet.

Gordon Sykes, der Parapsychologe, saß mit kreidebleichem Gesicht in einem der zierlichen Sessel und starrte ins Nichts.

Seine Frau Elaine war bei ihm und redete leise auf ihn ein, doch er schien sie gar nicht wahrzunehmen. Sykes' Augen waren weit aufgerissen. Er schüttelte stumm den Kopf.

„Wir haben notfalls für mehrere Tage ausreichend Verpflegung für alle“, erklärte Tante Lizzy indessen. „Also behalten Sie die Ruhe.“

In diesem Augenblick sprang Sykes auf.

„Was ist dort draußen Ihrer Meinung nach geschehen, Mrs. Vanhelsing“, begann er dann mit vibrierender Stimme. „Ich bin überzeugt davon, dass es irgendwie mit den Messergebnissen in Zusammenhang stehen muss, von denen ich Ihnen schon berichtete! Sie sind eine der anerkanntesten Expertinnen auf dem Gebiet des Okkultismus und der unerklärlichen Phänomene... Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie sich nicht Ihre Gedanken machen...“

Alle Augen waren nun auf Tante Lizzy gerichtet.

Aber ehe sie etwas sagen konnte, hatte sich Hugh St. John zu Wort gemeldet.

„Mrs. Vanhelsing kann nur spekulieren - so wie wir alle. Ich fürchte, wir müssen einfach abwarten, was geschieht...“

Draußen brauste ein regelrechter Sturm los. Fensterläden klapperten. Der Wind heulte wie verrückt um die Mauern der Vanhelsing-Villa. Bei einem Blick durch die hohen Fenster des Salons konnte man sehen, wie die Bäume und Sträucher des leicht verwilderten Gartens hin und her gebogen wurden. Äste knackten. Und wieder zuckten grelle Blitze über den Himmel.

Gewitter im Winter, dachte ich.

So etwas gab es hin und wieder bei extremen Wetterumstellungen.

Ich dachte an den wolkenlosen, sternenklaren Himmel, zu dem wir noch vor wenigen Momenten aufgeblickt hatten.

Jetzt meldete sich Tom zu Wort.

Er sprach mit ruhiger, überlegter Stimme.

„Was wir gesehen haben, waren die Apokalyptischen Reiter“, erklärte er. „Krieg, Hunger, Pest und Tod...“ Ich trat auf ihn zu. Sein Blick schien durch mich hindurchzuschauen. Er wirkte abwesend, als wäre er in lange zurückliegenden Erinnerungen versunken.

Erinnerungen aus einem anderen Leben...