Cover

Martina Kempff

Die Teufelsbraut zu Aachen

aus der edition sagenhaft

Herausgegeben von Günter Krieger und Dieter Hermann Schmitz

Meyer & Meyer Fachverlag & Buchhandel GmbH

Inhaltsübersicht

Impressum

© 2015 by Meyer & Meyer Verlag, Aachen

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Andreas Reuel

Illustration: Mia Steingräber

Lektorat: Dr. Irmgard Jaeger

Satz & Layout: Eva Feldmann und Andreas Reuel

E-Book Produktion: Katharina Niemann

978-3-8403-3601-0

verlag@m-m-sports.com

www.aachen-buecher.de

ISBN 978-3-8403-3601-0

Für meinen Mann Michael, mit dem ich schon seit Jahren darüber streite, was das Göttliche in der Welt hält, und was es aus ihr verschwinden lässt.

Prolog

Ein Orden, der nicht verliehen wird

Die Tür knallt ins Schloss. Hätte ich meinen rechten Daumen noch, wäre er mir jetzt im Handschuh abgequetscht worden. So aber eile ich heil die Stufen vor dem Eurogress-Portal hinunter und entgehe mit knapper Not meinen zornigen Verfolgern. Menschen, die mir, dem begnadeten Dr. Faunus, eigentlich hatten huldigen wollen – weil ich sie mit Witz, Wissenschaft und Weissagung vor Unheil bewahrt habe. Doch all das ist jetzt vergessen.

Wieder einmal kehrt sich Verehrung mit voller Wucht in ihr Gegenteil um. Da ich sprichwörtlich selbst im Detail stecken soll, weiß niemand besser als ich, wie gerade Kleinigkeiten ein Geschöpf zu Fall bringen können. Nun hat dieses Los mich selbst getroffen: Die Hose, die mir Camena für den feierlichen Anlass geschneidert hat, ist viel zu eng und zu kurz. Als ich die Stufen zur Bühne hinaufschritt, rutschten die Hosenbeine weit nach oben und offenbarten die Natur, die ich mir vor sehr vielen Christenmenschenaltern zu eigen gemacht habe. Diese Natur jagt den Menschen seitdem Angst ein und hält die Kirche im Geschäft. Kurzum, ich bin der Teufel.

Wo soeben noch alle fröhlich zur Blasmusik geschunkelt hatten, herrschte plötzlich Schockstarre. Meine Hörner wären rot geworden, hätte ich sie nicht schon zuvor in dieser Farbe lackiert, um ihre Echtheit nicht allzu deutlich sichtbar werden zu lassen.

Ich nutzte den Moment des Entsetzens, riss die Auszeichnung vom Kissen und stürmte davon. Auf die Urkunde in barbarischem Latein kann ich verzichten; den Orden wider den tierischen Ernst aber habe ich mir redlich verdient. Für den Festakt hatte ich auf Gestaltswandlung verzichtet. Ich wollte mit gebotenem satyrischen Ernst einem Aachener Sprichwort entgegentreten: De Oecher send der Diivel ze lous. (Die Aachener sind dem Teufel zu schlau.)

Widmen werde ich den Orden der unwiderstehlich schönen Camena, dem klügsten, geistreichsten, unterhaltsamsten und feinsinnigsten Wesen, das je durch die alte und die neue Welt geschwebt ist. Ihre kristallklaren Augen spiegeln das Element, dem sie entsteigt, um mich zu necken. Wie auch jetzt in dieser Stunde meiner Schmach: Dort drüben tanzt sie im Wasserbecken vor dem Eurogress. Sie lässt sich von einer Fontäne besprühen und winkt mir lachend zu. Ich verabschiede mich von der Idee, aus Wut über meinen misslungenen Auftritt den mächtigen Barbarossaleuchter im Dom zu Boden krachen zu lassen und eile zu ihr hin. Nein, nicht um sie für ihren jüngsten Schlag gegen meine Autorität zu maßregeln. Sondern weil ich dem Liebreiz dieser Wassernymphe seit Jahrtausenden verfallen bin. Schon eine winzige Zuneigungsbekundung würde mich für das soeben Erlebte entschädigen.

Camenas wegen habe ich diese undankbare Stadt immer wieder verschont und den Bau des Aachener Doms nicht nur zugelassen, sondern sogar gefördert. Dass er nach diesem schweren Erdbeben immer noch steht, ist auch mir zu danken.

»Was rennen die Menschen dem Teufel hinterher, mein Faunus?«, lockt sie mich mit der Stimme, für die ich einst den Stahl für die Ringanker der Domkuppel geschmolzen habe, und die jetzt das Geschrei meiner Verfolger übertönt.

»Nicht den Teufel jagen sie, Camena, nur dieses bunte Stück Metall«, keuche ich, hüpfe zu ihr ins Becken und werfe ihr das Band mit der Medaille über. »Ich ernenne dich hiermit zu meiner Teufelsbraut.«

Bevor sie widersprechen kann, verwandele ich mich in einen Wasserfloh. Mit meinem Krallenschwanz setze ich mich auf einem zarten Fuß fest. Solange Camena solche Nähe duldet, ertrage ich mit Freuden die Gestalt einer unscheinbaren niedrigen Kreatur.

Das war allerdings nicht immer so.

I

Im Land der germanischen Götter

Lange vor der Zeit, da Kaiser Augustus die Menschen aufrief, sich in ihren Heimatorten zählen zu lassen, bot sich mir erstmals die Gelegenheit, Camena meiner ewigen Liebe zu versichern. Ich nutzte den idealen Augenblick, denn die anbetungswürdige Quellgöttin war allein und unglücklich. Weinend saß sie am ausgetrockneten Becken im Hain ihrer einstigen Kultstätte nahe der Via Appia.

Ich näherte mich ihr mit großer Scheu. Denn anders als die vielen Najaden, die über meine Streiche lachten und sich mit Lust von mir verführen ließen, hatte sie stets meine Gesellschaft gemieden. Nicht ein einziges Mal hat ihre Stimme das Spiel meiner Flöte begleitet. Auch nicht, als ich sie zu Ehren des Bacchus einst höflich darum gebeten hatte.

»Enkel des Saturn«, wies sie mich damals zurecht, »ein Tonwerkzeug, das du aus einer meiner Schwestern gebrochen hast, kann mich nicht zum Singen bringen.«

War es denn meine Schuld, dass sich eine unbedeutende Nymphe in ein Schilfrohr verwandelt hatte, um mir zu entkommen und ihre sinnlose Keuschheit zu bewahren? Darauf konnte ich doch nur pfeifen!

Bei Camena lag die Sache anders. Ich war unfähig, sie zu verzaubern, denn sie war mir damit zuvorgekommen. Wie sie es angestellt hat, in meinen menschlichen Oberkörper ein für sie glühendes Herz einzusetzen, habe ich in all den Jahrtausenden nicht ergründen können. Wohl aber weiß ich inzwischen, warum sie es getan hat und warum sie mich dennoch darben lässt.

»Kann ich das Unglück verschwinden lassen, das dich betroffen hat, liebste Camena?«, fragte ich und ließ mich ihr zu Füßen auf einer bröckligen Steinstufe nieder.

»Nur, wenn du wieder Menschen herbeizuschaffen vermagst, die mich so wie früher mit Wasser- und Milchopfern ehren«, antwortete sie. »Meinen Kult gibt es nicht mehr, Faunus, also gibt es auch mich nicht mehr. Meine Zeit ist vorbei. Ich werde mich auflösen müssen.«

Erschrocken sprang ich auf. Eine Ewigkeit ohne Camena war undenkbar.

»Ich glaube an dich und ich liebe dich, Camena!«

Sie lachte bitter.

»Gottheiten hilft es nichts, wenn nur sie aneinander glauben, mein Lieber. Dafür brauchen wir die Menschen. Denk dir, Faunus, die letzte Vestalin, die sich hier mein heiliges Wasser zur Reinigung des Tempels geholt hat, ist schon seit mehr als hundert Jahren tot!«

Deutlicher hätte sie mir die Grenzen meiner Macht nicht aufzeigen können. Wie gern hätte ich sämtliche Vestalinnen Roms zu Camenas früherem Nympharium beordert, doch leider waren die keuschen Priesterinnen meinem Zugriff gänzlich entzogen. Nicht einmal auf ihre Träume konnte ich Einfluss nehmen.

Wohl aber auf die anderer Menschen. Denn im Gegensatz zu Camena wurde mir damals in Rom immer noch reichlich Verehrung zuteil. An den Lupernalien, meinen Festtagen, opferten mir meine Priester Wölfe und schnitten aus den frischen Häuten Riemen. Mit diesen berührten sie alle Menschen, die ihnen bei ihrem Rundgang um den Palatinhügel entgegenkamen. Das Volk strömte herbei, um sich solchermaßen von Schuld zu reinigen - februare, wie das in der Sprache des Landes hieß.

Natürlich interessierten mich vor allem jene Frauen, die an meinen Festtagen zum Palatin eilten, um von mir, dem Gott der Fruchtbarkeit, ein Kind zu erflehen. Mit den Schönsten paarte ich mich des Nachts selbst, zu den weniger Begünstigten sandte ich Dämonen aus oder weckte beim jeweiligen Ehemann im Schlaf Begierde für seine Gemahlin. Ich befand mich in der glücklichen Lage, jedem Träumenden eine zweckdienliche Vorliebe einflüstern zu können.

Auch dem Legionär, der jetzt unter dem Olivenbaum neben uns seinen Mittagsschlaf hielt. Kurz nach Camenas Klage öffnete er seine Augen und rappelte sich schlaftrunken auf. Noch in Trance griff er zu seinem Wasserschlauch.

»Sieh hin, Camena, dieser Mann wird dir gewiss opfern«, sagte ich.

»Ach was, er wird nur seinen Nachdurst stillen wollen. Von mir und meinem Kult hat er nie in seinem Leben jemals etwas gehört.«

Aber sie sah doch hin, denn es war ein auffallend hübscher Legionär.

Noch war er nicht ganz wach, noch besaß ich Macht über ihn. Er fiel vor Camena auf die Knie.

»Quellgöttin, ich bete dich an«, sprach er brav meine Gedanken aus und leerte den Wasserschlauch zu Füßen des Wesens, das er ebenso wenig wie mich sehen konnte. Dann schüttelte er den Kopf. Die Klarheit des Tages hatte ihn wieder und ich somit die Gewalt über seine Gedanken verloren. Ich hielt die Luft an. Was, wenn er jetzt fluchen würde, weil er sein sauberes Trinkwasser verschüttet hatte?

Camena beugte sich vor und strich ihm durch das wirre schwarze Haar.

»Camena?«, wiederholte er rätselnd den Namen, den ich seinem Traum eingehämmert hatte.

In Camenas Augen trat überirdisches Leuchten. »Er nimmt mich wahr, Faunus, er glaubt an mich! Noch ist nicht alles verloren!«

»Sag ich ja.«

»Ein wunderschöner Jüngling opfert mir seine letzten Wassertropfen! Ach, Faunus, für ihn ganz allein könnte ich weiterexistieren. Was für ein edler Mann! Welch wohlgeformter Körper! Hast du je einen solch dichten Wimpernkranz um so ausdrucksvolle Augen gesehen? In ihrer Schwärze könnte selbst ich ertrinken!«

Ich unterdrückte den Impuls, mit dem Bocksfuß aufzustampfen. Warum nur hatte Amor wieder einmal den falschen Pfeil abgeschossen? Behutsam wies ich Camena auf die größte Schwäche des betörenden Legionärs hin: »Er ist sterblich.«

»Nicht, solange ich um ihn bin. Unsere Kinder könnten unsterblich werden.«

Ich bemühte mich um Sachlichkeit.

»Als wen oder was wirst du ihm erscheinen?«

»Als die Frau seiner Träume.«

»Vielleicht bevorzugt er Männer.«

Camena lachte. »Als ob ich mich darauf nicht einstellen könnte! Ich werde ihn und seine Sehnsüchte kennenlernen. Ich werde ihn glücklich machen.«

Da hatte ich uns etwas Schönes eingebrockt. Aber immerhin hatte ich Zeit gewonnen und Camena vor der Selbstauslöschung bewahrt. Sie wich nicht mehr von der Seite ihres hübschen Legionärs. Und ich nicht von ihrer.

Es war eine schöne Epoche. Gemeinsam reizten wir alle denkbaren Erscheinungsformen aus, bis wir mit der sechsten Legion nach Germania inferior aufbrachen. Da wurde es dann erheblich ungemütlicher. Auf der beschwerlichen Reise durch das dicht bewaldete, unwirtliche Land lieferten sich unsere Kohorten immer wieder Schlachten und Metzeleien mit derb gewandeten, grimmigen Ureinwohnern. Auch deren Göttern gebrach es nicht nur an Feinschliff, sondern vor allem an militärischer Raffinesse. Also konnte sich Mars nach erstem Erschrecken über die unkonventionelle Kriegsführung zunächst ganz gut behaupten.

Da die Schlacht im Teutoburger Wald noch in ferner Zukunft lag, ersparte ich den Legionären Traumbilder über deren Ausgang. Doch ich war des Krieges und der Herumzieherei mehr als überdrüssig. Ich sehnte mich nach fruchtbarem Weideland, nach reichen Viehherden, behaglichen Badestellen, mildem Klima und konsequenter Einhaltung der Mittagsruhe. Zu Camenas Entsetzen rief ich den Einzigen der fremden Götter herbei, dessen Vorhandensein ich zumindest dulden konnte.

Loki zeigte sich allerdings nur zu einem Gespräch bereit, wenn ich ihn zuvor bei einem Wettstreit in Gestaltungskunst besiegt haben würde. Darauf ließ ich mich gern ein. Und natürlich gewann ich: Mit meinem Schweif erledigte ich mühelos die Fliege, in die er sich verwandelt hatte. Dem Bakterium, zu dem ich daraufhin wurde, konnte er hingegen nicht beikommen. Für die Germanen mag es bedauerlich sein, dass er zu ungeduldig war, um sich auch nur das Prinzip dieser mikroskopisch kleinen Kreatur erklären zu lassen, mir aber konnte es nur recht sein, schnell zur Sache zu kommen. Rasch zählte ich die Anforderungen an mein gewünschtes Reiseziel auf. Loki nickte.

»Nicht weit von hier gibt es genau den Ort, den du suchst, aber …« Er brach mitten im Satz ab.

»Aber?«, wiederholte ich fragend und deutete auf das, was gemeinhin mein Pferdefuß genannt wird.

»Dort hockt ein griesgrämiger, uralter Gott, dem schon vor einer halben Ewigkeit die Gläubigen abhandengekommen sind. Trotzdem will er sich einfach nicht auslöschen. Jede Gottheit, die sich ihm nähert, vertreibt er mit wüsten Tiraden und stinkenden Dämpfen.«

»Das würde sich Jupiter nicht gefallen lassen.«

»Kein Problem«, meinte Loki, »dies ist ein großes Land. Wir lassen den Alten sinnlos walten. Er bewirkt ja nichts mehr, brüllt nur dauernd seinen Namen in die menschenleere Gegend hinaus. Aber auch dieser Klang wird irgendwann gänzlich verhallen. Dann kommt die Auslöschung ganz von selbst.«

»Wie heißt er denn?«, fragte ich.

»Grannus.« Loki verzog das Gesicht. »Versuche dein Glück, Faunus, mehr als verjagen kann er dich ja nicht.«

Der Floh, als der sich Camena mir ins Ohr gesetzt hatte, raunte: »Grannus ist ein Quellgott, Faunus, der wird uns willkommen heißen!«

Aber leider irrte sie sich da.

II

Wie Gott Grannus endet und das Bahkauv entsteht

Der Centurio der Vorhut sandte am nächsten Morgen eine Kundschaftertruppe Richtung Nordwesten aus. Fragen nach dem Grund einer Mission derart abseits der großen römischen Verkehrswege umging er mit der Antwort, die Männer würden dort dringend benötigt. Was durchaus der Wahrheit entsprach. Der Trupp sollte die Kultstätte des Quellgottes Grannus ausfindig machen und dort ein kriegsfernes Erholungslager mit angemessenen Kultstätten für Camena und mich errichten.

Diesen Befehl hatte ich dem Centurio in der Nacht eingetrichtert. Dabei hatte ich allerdings den Namen des ihm fremden Gottes Grannus durch den des Apollo ersetzt, obwohl mich seit dem musikalischen Wettstreit im Hause Midas ein gespaltenes Verhältnis mit diesem Gott des Lichts verbindet. Blond gelockt, purpurgewandet und lorbeerbekränzt, schindet man bei Neureichen mit der antiken Leier eben mehr Eindruck, als wenn man ihnen mit Hörnern, nacktem Oberkörper und Bocksfüßen auf einer Mehrrohrflöte etwas bläst.

Doch da wir uns in einem feindlichen Land befanden und Apollo gegnerischen Truppen auch gern mal die Pest ins Lager schickte, erschien es mir sinnvoll, diesen reiselustigen Gott in unser Projekt mit einzubeziehen. Ich freute mich, dass der Centurio seinen Traumauftrag augenblicklich in die Tat umsetzte.

Weniger beglückt war ich, als unterwegs ein unanständig liebreizendes Hirtenmädchen am Wegesrand über einen verknacksten Knöchel wehklagte. Der schöne Legionär Fabius beugte sich vom Ross und versprach, das unglückliche Geschöpf heimzubringen.

»Aber es ist doch noch so schrecklich weit«, säuselte Camena, und dem dummen Legionär fiel nicht einmal auf, dass sich das vermeintliche Kind des Barbarenlandes seiner eigenen Sprache bediente.

»Alles eine Frage der Perspektive«, antwortete der Legionär und starrte auf den halb entblößten Busen vor sich. Dann hob er Camena hinter sich auf seinen Hengst. Ich wandte mich angewidert ab, als sie sich entzückt an den breiten Rücken des Sterblichen schmiegte. Wie peinlich die Vernarrtheit der Geliebten doch sein kann, wenn sie einem nicht selbst gilt!

Camena würde diese lächerliche Erscheinungsform wohl erst aufgeben, wenn mehr als nur ein einziger, leicht beeinflussbarer Legionär ihren Kult wieder aufleben ließe.

So dachte ich damals. Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie sich später aus lauter Liebe sogar soweit herablassen würde, neben dem dummen Legionär scheinbar zu altern. Denn leider kann ich nur für andere die Zukunft vorhersagen. Alle Angelegenheiten, die mich selbst betreffen, und dazu gehört eben auch Camena, sind für mich, einen Gott der Weissagung, in undurchschaubare Nebel gehüllt. Während die Göttin meiner Sehnsucht mit dem Legionär ihrer Sehnsucht Süßholz raspelte, gaukelte ich ein drohendes Unwetter vor. Ich trieb ein paar Auerochsen vor uns her und so zu unbehaglicher Eile an. Es wurde Zeit, dem vernachlässigten alten Quellgott unsere Aufwartung zu machen.

Ich hörte ihn schon lange, bevor ich ihn roch:

»Grannus! Grannus! Grannus!«

Die Stimme klang laut, aber so zittrig, wie die eines jeden Greises, den Angst vor herannahender Nichtexistenz befällt.

Die Pferde scheuten, die Legionäre hielten sich die Nasen zu.

»Welch infernalischer Gestank!«, rief Fabius, wandte sich um und zog Camena fürsorglich das karierte Bauerntuch übers Gesicht.

Ich holte tief Luft. Ach, welch ein köstliches Aroma! Nichts ist bekömmlicher als Sulfur. Schwefel verhütet Krankheiten, trocknet Pusteln aus, veredelt Wein, bleicht Stoffe und ist obendrein auch noch als Brandbeschleuniger nützlich. Nie habe ich verstanden, weshalb die Menschen diesem Element eine solche Abneigung entgegenbringen. Ich versinke am liebsten darin.

»Grannus! Grannus! Grannus!«

»Wir kommen ja schon!«, rief ich und flog rasch voraus. Hah, damit hatte ich es Camena gezeigt! Wie sollte sie sich jetzt vom Rücken des dummen Legionärs lösen?

Doch als ich in die immer dichter werdende Schwefelwolke eintauchte, spürte ich eine weitere göttliche Präsenz. Ich verlangsamte meinen Flug.

»Camena?«, fragte ich unsicher.

»Natürlich«, antwortete sie. »Ich lasse dich das doch nicht allein machen! Schließlich geht es um mein Dasein.«

»Und … Fabius?«, fragte ich, mir den dummen Legionär mühsam verkneifend.

»Den hält meine Zwillingsschwester jetzt fest.«

Ich stürzte ab.

»Hoppla«, sagte Camena und zog mich aus dem Sumpf. »Die Kunst des Fliegens hast du auch schon mal besser beherrscht, mein lieber Faunus. Muss ich mir um dich etwa Sorgen machen?«

»Deine Zwillingsschwester?«, brachte ich atemlos hervor.

»Natürlich. Du hast doch nicht angenommen, dass ich ohne sie auf Reisen ginge?«

»Aber sie ist doch nur …«

»… ein Schatten meiner selbst, gewiss. Aber dennoch sehr nützlich, wie du siehst.«

»Aber sie ist stumm. Wie soll sich dein Legionär erklären, dass du plötzlich aufhörst, lauter dummes Zeug daherzuplappern?«

»Dummes Zeug in der Tat. Nachdem ich ihm von den wundersamen Klängen vorgeschwärmt habe, die der Gott Faunus zu Ehren Apollos an den Schilfufern meiner germanischen Heimat hervorbringt, muss mich die Eintönigkeit dieser Vorstellung in den Schlaf gewiegt haben.«

»Grannus! Grannus! Grannus!«

»Es reicht!«, brüllte ich. »Zeig dich uns, Grannus!«

»Ausländische Götzen!«, krächzte es. »Verlasst mein Reich! Raus! Sonst lasse ich eure Flügel flattern!«

Die Ladung heißen Dampfes, die der greise Gott zur Bekräftigung hinterhersandte, atmete ich begierig ein. Camena aber liebt frischere Dünste. Sie schüttelte sich und sandte einen besonders schön geformten Tautropfen aus. Wie ein riesiger Diamant schnitt er durch die wabernden gelben Schwaden und kam zu einem funkelnden Halt vor den kaum erkennbaren Umrissen eines krötenähnlichen Wesens in Hinkelsteingröße.

»Ich opfere dir, verehrter Grannus«, zirpte sie. »Ich, die Quellgöttin Camena.«

»Wasserschlange!« Der schlecht gelaunte Gott schleuderte den Tautropfen zurück. »Nicht mir, sondern mich willst du opfern! Um meinen Platz einzunehmen! Verschwinde! Ich bin hier der Gott, ich, Grannus, Grannus, Grannus.«

»Schweig!«, donnerte ich in den Nachhall hinein. »Kein Mensch glaubt mehr an dich. Dein Name ist nur noch Schall und Dampf! Du bist ein Niemand! Lös dich auf! Oder soll ich dich in den Orkus stürzen?«

Um meiner Drohung Nachdruck zu verleihen, verwandelte ich mich in ein schreckliches Ungetüm. Ich hätte nichts, was dem Innersten der Erde entkommt, grauenerregender aussehen lassen können. Klotzige Augen ließ ich wie Feuerkugeln leuchten. Scharfnägelige, lange Klauen drohten, den Schemen des gastfeindlichen Gottes zu zerfetzen. Ich ließ meinen schuppenbesetzten Schweif auf die Erde schlagen und eiserne Ketten an Hals und Beinen gewaltig rasseln.

»Ich werde mich über dich herwerfen, Grannus! Deine müden Knochen werden mich nicht abschütteln können! Je lauter du fluchst, desto fester werde ich dich halten! Bis du endlich im Abgrund erstickt und aufgelöst bist!« Ich öffnete das Maul mit den riesigen Fängen und schleuderte dem Schatten des Quellgottes einen Feuerstrahl entgegen. Er schaffte es zwar, ihn verzischen zu lassen, aber die Anstrengung kostete ihn Kontur.

»Hebe dich hinweg!«, nuschelte er.

Zum ersten Mal hörte ich jene drei Wörter, die meine spätere moderne Erscheinungsform über Jahrtausende zwar bannen sollte, doch mit dem Namenszusatz Satan meine Existenz immer wieder aufs Neue konsolidierte.

»Gib nicht so an, Faunus«, wies mich Camena zurecht und flatterte an mir vorüber. Sie ließ vor den immer schwächer werdenden Umrissen der Kröte eine frische Fontäne emporsprudeln. Auf deren Spitze führte sie einen so betörenden Tanz auf, dass mir zu schwindlig wurde, um einzugreifen.

»Hast du Kinder, Quellgott Grannus?«, flötete sie.

»Waren mir nicht vergönnt«, knurrte der Krötenschatten.

»Ach, und ich bin elternlos der Quelle entsprungen.«

»Und dazu noch im Ausland!«, antwortete Grannus. Seine Stimme klang schon erheblich weniger barsch.

»Elternlos und fern der Heimat«, schluchzte Camena. »Willst du nicht mein Vater sein?«

»Dich adoptieren? Was hätte ich davon? Ich, Grannus, Grannus, Grannus!«

Das musste man dem Alten lassen: Mitten in der Auflösung konnte er mit seinem Namen immer noch ein ganz schönes Unwetter entfachen. Die Kundschafterabteilung hinter uns geriet auf der Suche nach Schutz in ein heilloses Durcheinander.

»Du könntest deine Stimme schonen«, antwortete Camena dem Alten.

»Was bleibt mir sonst?«

Die Silhouette der Kröte war kaum noch sichtbar.

»Aquae Granni«, flüsterte Camena. »Die Wasser des Grannus. So soll die Kultstätte heißen, die dich dem Vergessen der Menschen entreißen wird. Das verspreche ich dir, bei allem, was mir heilig ist. Apollo sei mein Zeuge.«

Sie deutete nach oben. Die Schwefelwolke teilte sich und zeigte für einen Augenblick das Bild des blond gelockten, purpurgewandeten und lorbeerbekränzten Leiergottes.

»Das bin ja ich!«, jauchzte die schon nicht mehr sichtbare Kröte. Der wohlgefällige Blick, mit dem Apollo Camena eine Botschaft zu übermitteln schien, gefiel mir überhaupt nicht. Der blasierte Gott ignorierte mich gänzlich und trollte sich. Vermutlich Richtung England, wo er sich in zahlreichen etablierten Kultstätten feiern lassen konnte.

»Apollo Grannus«, bestätigte Camena. »Der Name steht. Du darfst dich also zur Ruhe setzen, mein Vater. Ich führe deine Arbeit weiter. Dein Haus ist gut bestellt.«

Angesichts der kümmerlichen Kultstätte fand ich diese Bemerkung übertrieben, aber Schmeichelei funktioniert offenbar immer. Grannus entließ noch einen letzten köstlichen Sulfurseufzer und löste sich dann tatsächlich in der Tiefe seines Quells auf.

Anmutig hüpfte Camena von der versiegenden Fontäne und wandte sich mir zu.

»Verhandlung und Tanz«, sagte sie, »sind brachialer Gewalt doch allemal vorzuziehen. Und machen zudem mehr Spaß. Sag, Faunus, was sollte dein Auftritt soeben, wen oder was wolltest du damit überhaupt darstellen?«

Die Schwefelschwaden waren inzwischen verzogen. Neu geordnet, rückten die Legionäre näher. Den Abgang des grantigen Gottes hatten sie nur als Wetterkapriole wahrgenommen.

»Nun, Faunus«, drängte Camena, »wie wirst du diese zerzauste Gestalt denn nennen?«

»Bah«, äußerte sich Fabius, dem der Sulfurduft noch in der Nase steckte. Er legte seine Arme um Camenas durchnässte stumme Zwillingsschwester und bezupfte den zerschlissenen Stoff unterhalb des Busens. »Dieser Gestank durchdringt alles. Bah, kaufe ich dir doch ein neues Kleid, meine Schöne!«

»Bahkauv«, stotterte ich, »das unversöhnliche Bahkauv aus dem Ort der Verdammnis. Es wird die künftigen Bewohner von Aquae Granni in Furcht versetzen, wenn sie uns nicht die gefällige Verehrung schenken.«

Camena lachte. »So ein niedliches Tierchen. Sah aus wie ein unrasiertes Bachkalb, fand ich.«

Ich fand, dass sie selbst nie schöner ausgesehen hatte und trieb den Bau der Kultstätte voran. Dem feurigen Bahkauv aber blieb ich zugeneigt. Sehr viele Menschenalter später gab ich seiner Gestalt eine Heimat im Kolbert, dem großen Abflusskanal der heißen Quellen, wo sich Büchel und Holzgraben begegnen. Gelegentlich stieg ich dort aus der Tiefe, um Spitzbuben und betrunkenen Männern der Stadt Aachen einen Schreck einzujagen. Bis Camena mir auch diesen harmlosen Spaß vermasselte. Aber ich greife zu weit vor. Aachen konnte schließlich nur zu Aachen werden, weil wir zuvor Aquae Granni als Kurort erschlossen hatten.

Ach, was war das für eine prächtige Anlage! Klein, aber fein. Befestigte, saubere Straßen in einem ordentlichen Planquadrat. Sie waren gesäumt von wohnlichen Holz- und Ziegelhäusern mit reich verzierten Kalksteinfassaden, verglasten Fenstern und leicht geneigten Dächern aus Schiefer oder Ziegel. Innen edel ausgestaltet mit Wandmalereien, Mosaiken, Parkett, edlem Mobiliar und feiner Keramik in den Sanitärbereichen.

Oberste Priorität aber schenkten wir dem Ausbau der Thermen, die zu unseren Kultstätten werden sollten. Camena wollte sämtliche Quellen, die sie aufgespürt hatte, freilegen und fröhlich sprudeln lassen. Ich aber hielt drei ergiebige Quellen für mehr als ausreichend.

»Wir dürfen uns nicht verzetteln«, warnte ich sie, ließ allerdings die meisten Brunnen mit Ton, Steinen und Zement erst zu einem Zeitpunkt verpfropfen, als Camena anderweitig beschäftigt war. Ihre schwächste Stunde hatte geschlagen: Sie trauerte um den dummen Fabius, den Altersschwäche dahingerafft hatte, und zürnte den Göttern, dass diese weder ihm noch ihren Kindern Unsterblichkeit geschenkt hatten. Ich konnte ihr nur einen kleinen Trost spenden: Eines ihrer Kindeskinder würde dereinst der Unsterblichkeit so nahe kommen, wie es einem Menschen nur möglich war. Dieser Nachfahr, versicherte ich, sollte als römischer Feldherr gen England ziehen und dank seines göttlichen Erbes dort ein bedeutender König werden. »Seinen Namen wird die Menschheit niemals vergessen«, versprach ich.

»Und wie lautet der?«, fragte sie unter Tränen.

»Artus«, antwortete ich. »König Artus.«

»Klingt musisch und kraftvoll«, erklärte sie und schnäuzte sich hold. »Dann kann ich ja jetzt in Frieden sterben.«

»Fabius sei Dank!«, seufzte ich, heilfroh, dass ihre verhutzelte Weibchenhülle endlich zu Grabe getragen werden konnte. Sie hatte sich zwar nur der Familie und Nachbarn wegen so verunstaltet, aber mir hatte es doch jedes Mal einen Stich versetzt, wenn ich das zahnlose, rotäugige Weiblein am Stock durch die Straßen humpeln sah. Über diese Bedrücktheit hatten mir Orgien mit frivolen Nixen nur unzulänglich hinweggeholfen, wie auch die Streiche, die ich den Bewohnern oder dem lieben Vieh spielte. Immer seltener wurden Opfergaben an meiner provisorischen Kultstätte abgelegt. Niemand wollte einen traurigen Faunus anrufen oder verehren. Aber jetzt, da Fabius endlich tot war, brauchte ich meiner Flöte keine weiteren schwermütigen Weisen zu entlocken. Ich wollte wieder zu munteren Zechgelagen einladen, panisches Gelächter hervorrufen und den Badenden im heißen Schwefeldampf die Fußsohlen kitzeln.