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Any Cherubim

Mea Suna - Seelenschmerz

Band 3


Solange ich stehen kann, kämpfe ich für dich, solange ich atme, verteidige ich dich, solange ich lebe, liebe ich dich. Autor unbekannt


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Inhalt

 

 

»Mea Suna! Es ist vorbei«, schreie ich verzweifelt, ziehe sie in meinen Schoss und halte sie fest. Sanft streiche ich blutverschmiertes Haar aus ihrem Gesicht. Ihr Kopf fällt nach hinten - Jades leblose Augen starren ins Leere.

 

Manchmal reicht Liebe nicht aus, um das Schicksal aufzuhalten.

 

Jade und Luca versuchen, ein normales Leben zu führen, doch die Zeit als Taluri hat Luca geprägt. Emotionen zuzulassen und mit der Schuld zu leben, ist für den Ex-Killer fast unmöglich. Seine Heimlichkeiten drohen ihre Liebe zu vernichten. Verzweifelt versucht Jade, Luca zu helfen, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Doch sie fürchtet, ihn an seine Vergangenheit zu verlieren.

Wut und Verzweiflung lassen Jades Seelenschmerz aufflammen, ihre dunkle Gabe kehrt zurück - stärker und tödlicher als jemals zuvor.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

Luca

 

Je länger ich Jade ansehe, desto mehr wird mir bewusst, welches Glück ich habe. Sie liegt vor mir auf unserer Picknickdecke und döst. Sie hier in La Rochelle sicher zu wissen, an meinem heiligen Ort, an dem ich nie Luca der Taluri war, ist für mich die Erfüllung. Sie weiß nicht, dass ich sie beobachte. Die Sonne lässt ihre Haut in einem schimmernden Braunton erscheinen, ihr langes Haar glänzt und ihre vollen Lippen reizen mich, sie zu küssen. Sie hat diesen strahlenden Ausdruck im Gesicht, der mich zufrieden stimmt. Jade ist glücklich - mit mir.

Mit einem Grashalm im Mund hänge ich meinen Gedanken nach und genieße das Meeresrauschen und den Wind, der die Wellen nicht weit von uns an die Felsen schlägt. Es ist ein schöner Sommertag. Jade, Pepe und ich sind schon den ganzen Nachmittag auf der Wiese, die direkt oberhalb vom Strand in der Nähe meines Hauses liegt.

»Luca ... Luca! Spielst du mit mir?« Von weitem winkt mir der kleine Pepe auffordernd zu. Um Jade nicht aufzuwecken, stehe ich auf und laufe zu ihm. »Okay, dann zeig mal deine Ballkünste. Pass mir den Ball zu«, fordere ich. Der Bursche lässt sich das nicht zweimal sagen und schnell finden wir ins Spiel. Voller Eifer luchsen wir uns gegenseitig den Ball ab. Oft muss ich lachen, weil sich der Knirps gar nicht dumm anstellt und ich zeitweise Mühe habe, den Ball zu behalten. Ich muss mir etwas einfallen lassen, um nicht wie ein Idiot vor ihm dazustehen. Lachend nehme ich einfach seinen kleinen Körper, trage ihn wie einen Gegenstand locker unterm Arm und erobere mir so den Ball. Er quiekt und kichert. »Luca! Das ist unfair!«

»Also wirklich! Du bist viel besser als ich - das ist unfair!« Wir haben solchen Spaß zusammen. Mit dem Jungen unter meinem Arm dribble ich den Ball, während er kichernd versucht, sich zu befreien. Kaum lasse ich ihn wieder runter, ergaunert er sich die Pille und schießt sie über die Wiese.

»Ich hol ihn schon«, ruft er und rennt los. Pepe ist wirklich talentiert. Vielleicht sollte er in einer Fußballmannschaft trainieren. Er besitzt gute Reflexe, ist flink und gelenkig - beste Voraussetzungen für ...

Ein merkwürdiges Gefühl unterbricht meine Gedanken. Etwas stimmt nicht. Mein Blick wandert über die Wiese zu Pepe und Jade, die immer noch schläft. Ich kenne diese Emotion - sie bedeutet nichts Gutes. Das ergibt keinen Sinn. Ich halte inne und sehe mich um. Wir sind allein, selten verirrt sich jemand in diese abgelegene Gegend. Versteckt sich jemand dahinten bei den Bäumen? Der Wind lässt die Äste wanken und die Blätter rascheln, aber erkennen kann ich nichts. Verdammt! Was ist hier los? Ich spüre ganz deutlich Gefahr!

»Ich hab den Ball, Luca!« Pepes Lächeln gefriert, als er meinen ernsten Ausdruck erkennt. »Was ist los?«

»Ich weiß es nicht. Wir sollten zum Haus zurück«, sage ich so ruhig wie möglich. »Komm, wir wecken Jade.« Mein Gefühl verstärkt sich. Eigentlich sind wir hier in La Rochelle abgeschieden und sicher.

»Sie ist schon wach«, ruft Pepe.

Jade richtet sich auf. »Was ist denn los?« Sie runzelt die Stirn, spürt die Bedrohung, genau wie ich. Noch bevor ich antworten kann, sehe ich den Grund auf uns zukommen.

»Oh Gott, Luca! Was ist hier los?« Jades Stimme zittert und in ihren Augen sehe ich Angst aufflackern. Aus den Bäumen schießen unzählige, schwarze Maori-Krähen auf uns zu. Ich erkenne sie an den blauen Flecken am Kopf und dem kleinen Spy an ihren Füßen. Sie gleiten krächzend über die Wiese und kreisen über unsere Köpfe. Schützend nimmt Jade Pepe in ihre Arme. »Was hat das zu bedeuten?«

»Ich weiß es nicht.« Doch im Grunde weiß ich es. Die Vögel haben uns im Visier. Wir müssen uns in Sicherheit bringen, die Maoris handeln nicht aus freien Stücken. An ihren Füßen blinkt das kleine rote Licht. Wir werden gefilmt, ausspioniert, wie ich es aus meiner Zeit als Taluri kenne. Sie belauern uns, warten auf einen günstigen Angriffsmoment.

»Wir müssen verschwinden und zwar sofort ... Wir gehen langsam ein Stück über die Wiese. Wenn ich "los" sage, rennt ihr, so schnell ihr könnt.« Pepe hält ängstlich meine Hand. »Hast du mich verstanden?«, frage ich ihn nachdrücklich. Er nickt.

Ich sehe zu Jade. »Im Haus verschließt ihr sofort Fenster und Türen und packt eure Sachen. Wir müssen hier weg. Ich werde versuchen, sie abzulenken.«

»Aber ...!« Mit großen Augen sieht Jade mich aufgebracht an.

»Ich werde nachkommen - versprochen.« Kurz war sie versucht, mir zu widersprechen, aber sie weiß, dass mit jeder Sekunde wertvolle Zeit verstreicht. Schließlich nickt sie. Zögerlich laufen wir über das Gras, behalten die Vögel im Blick. Mit jedem Schritt, den wir machen, krächzen sie wild durcheinander.

»Ich habe Angst, Luca.« Pepes kleine, verschwitzte Hand drückt meine.

»Bleib ganz ruhig. Und denk an das, was ich gesagt habe. Wenn ich "los" rufe, rennt ihr so schnell ins Haus, wie ihr könnt.«

Auf halbem Weg lasse ich Pepes Hand los und verlangsame meinen Schritt, während Jade Pepe mit sich zieht. Sie sieht mich noch kurz an. Ihr Blick verrät sie - sie hat Angst, weiß nicht, was hier geschieht.

Das Krächzen der Maoris wird lauter und ich höre das unruhige Flattern ihrer Flügel. Sie machen sich bereit für den Angriff. Jetzt sind es nur noch Sekunden.

»Los!«, schreie ich, als ich die ersten Krähen tiefer fliegen sehe. Sofort rennen wir los. Ich habe noch keine Ahnung, wie ich die Vögel von den beiden ablenken kann, da entdecke ich nicht weit von mir einen Ast im Gras. Blitzschnell laufe ich hin, hebe ihn auf und stürme den Maoris hinterher, die Jade und Pepe folgen. »Schneller«, rufe ich Jade und Pepe zu.

Pepes rote Locken wirbeln wild durcheinander und ich höre seinen ängstlichen Atem, während Jade ihn, getrieben vom Adrenalin, mit sich zieht. Immer wieder blicken sie hinter sich, sehen, wie die Vögel näherkommen. Es trennen sie nur noch wenige Meter. Ich renne schneller. Mit lautem Gebrüll will ich die Krähen vertreiben. Es funktioniert - zumindest ändern einige von ihnen ihre Richtung und greifen mich an. Ich schwinge den Ast, schlage nach ihren Körpern und treffe. Federn fliegen durch die Luft und ihre Leiber fallen dumpf ins Gras. Mitten im Kampf sehe ich, dass Jade und Pepe kaum eine Chance haben. Es sind einfach zu viele. Sie schreien und wehren sich, versuchen mit aller Kraft, die Maoris loszuwerden, die mit ihren spitzen Schnäbeln in die bereits blutbefleckte Haut picken. Vom Adrenalin angepeitscht, rase ich zu ihnen. Pepe schreit und wälzt sich vor Schmerz auf dem Boden. Sechs Vögel sitzen auf ihm und beißen sich tief in sein Fleisch. Zwei der schwarzen Teufel krallen sich in meinen Rücken, doch ich nehme die scharfen Schnäbel kaum wahr. Den Ast schwingend, treffe ich die Krähen, die sich wild an Pepe zu schaffen machen. Ich bin außer mir, die Schreie des Kindes und die Gewissheit, dass auch Jade in großen Schwierigkeiten steckt, machen mich rasend. Sie fressen sich in den kleinen Körper. Pepes Wimmern geht mir durch Mark und Bein. Der alte Hass schleicht sich durch meine Eingeweide, gepaart mit der Flut von neuen Gefühlen, die mich nach wie vor verwirren. Die verbotene Angst wird stärker. Sie bedeutet Schwäche und wird meist von Versagen begleitet - diesen Kampf darf ich nicht verlieren, ich muss die beiden retten. Da bekomme ich den Flügel einer Krähe zu packen und breche ihn aus seinem Gelenk - es knackt. Einem weiteren Vogel reiße ich den Kopf ab und lasse den toten Leib einfach fallen. So mache ich weiter, bis Pepe befreit ist. Schnell wende ich mich schwer atmend zu Jade. Panik ergreift mich, als ich ihren leblosen Körper auf dem Boden liegen sehe. Die Biester haben sie böse erwischt. Sie blutet stark an unzähligen Stellen. Angst und unsagbarer Hass wallen in mir auf. Ich werfe mich auf die Monster, töte eines nach dem anderen, höre erst auf, als das letzte Krächzen verstummt ist. Schwarze, blutige Federn kleben an meinen Händen. Ich zittere, als ich neben ihr niederknie. Sie liegt blutverschmiert und schwer verletzt auf der Wiese.

»Mea Suna! Es ist vorbei! Hörst du mich?«, schreie ich, ziehe sie in meinen Schoss und richte sie auf. Da knickt ihr Kopf nach hinten weg und ihre leblosen Augen starren ins Leere.

 

***

 

»Luca! Luca, wach auf!« Eine sanfte Stimme drang in mein Bewusstsein und rüttelte mich. »Luca ...!«

»Nein!!! Jade!!!« Schreiend schreckte ich hoch. Den unendlich tiefen Schmerz und Jades toter Körper hatte ich noch genau vor Augen. Tränen stiegen auf, die ich krampfhaft zu unterdrücken versuchte. Ich hielt die Luft an und presste meine Hände vors Gesicht. Ich war schweißgebadet und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass das alles nur ein Traum gewesen war. Nur langsam verschwammen die Bilder und eine unsagbare Erleichterung legte sich auf meine Brust nieder, als ich Jade lebendig neben mir spürte.

»Hey, alles in Ordnung?« Ihre Hand fuhr beruhigend über meinen Rücken. Um Fassung ringend, drehte ich mich zu ihr um, umarmte sie und sog tief ihren Duft ein. Ich brauchte das, musste sie fühlen und bewusst wahrnehmen, bis ich die Schrecken der Nacht hinter mir lassen konnte.

»Es war nur ein Traum«, flüsterte sie leise. Sie hatte recht. Ihr war nichts geschehen, sie war gesund und niemand griff uns hier in La Rochelle an. Als ich den ersten Schock verdaut hatte, löste ich mich aus der Umarmung und zog mein nasses Shirt aus.

»Willst du mir davon erzählen?«, fragte sie mit sanfter Stimme.

Ich wollte ihr nicht von meinen Albträumen berichten, sie hatte schon genug durchgemacht. »Nein, es ist vorbei, mir geht es gut. Lass uns weiterschlafen«, sagte ich, legte mich zurück in die Kissen und zog sie in meine Arme.

»Luca, du weißt, dass du mir alles sagen kannst.«

»Ja, das weiß ich.« Ich küsste sie auf die Stirn. »Danke, dass du mich geweckt hast.« Sie kuschelte sich an mich und es dauerte nicht lange, bis ich Jades gleichmäßige Atemzüge hörte. Mein Mädchen schlief, doch ich war hellwach. Innerlich war ich aufgewühlt und musste an die Bilder denken, die mich in dieser Nacht heimgesucht hatten. Ich träumte oft. Meistens handelten die Träume von meiner Vergangenheit, den schrecklichen Dingen, die ich gesehen und getan hatte, von der Zeit als Taluri und meiner Kindheit.

Die Erinnerungen waren unerträglich. Schließlich hielt ich es im Bett nicht mehr länger aus. Kopfschmerzen vermischten sich mit dem Gefühl, nicht länger ruhig liegen zu können. Meine Brust verengte sich, ich musste hier raus. Vorsichtig löste ich mich von Jade, in der Hoffnung, sie nicht zu wecken. Sie seufzte und drehte sich um. Leise verließ ich das Schlafzimmer. Immer wieder hallten Pepes Schreie aus dem Traum in meinem Kopf nach. Seine angsterfüllten Augen, sein Schmerz ... die Bilder quälten mich, sodass ich die Tür des Gästezimmers öffnete, um den kleinen Jungen anzusehen. Ein leichter Frieden empfing mich, er schlief tief und fest - es ging ihm gut. Im Halbdunkeln sah ich seine roten Locken, die vom Mondlicht angestrahlt wurden. Ein Lächeln huschte über meine Lippen. Alles war friedlich.

Leise schloss ich die Tür vom Haus und machte mich auf den Weg zum Strand, lief die Böschung hinunter. Erst als der Wind mir ins Gesicht blies, fühlte ich mich besser. Leichtfüßig kletterte ich die kleine Klippe hinauf und setzte mich nahe der Brandung auf einen Felsblock. Hier konnte ich in Ruhe über vieles nachdenken - ich mochte diesen Platz.

Ich zog das Handy aus meiner Hosentasche und wählte im Menü die gespeicherten Nachrichten. Gezielt suchte ich nach den Mitteilungen meines jüngsten Bruders Miguel. Immer wieder musste ich seine Nachricht durchlesen, denn es war sein letztes Lebenszeichen, bevor man mich informierte, dass er sich erhängt hatte. Seine letzten Worte klangen so verzweifelt und verängstigt. Ich selbst hatte ihm den Spy entfernt und fühlte mich für seinen Tod mitverantwortlich. Die Flut an Emotionen, die nach der Entfernung des Spys auf ihn eingeströmt und die Erinnerungen, die zurückgekehrt waren, hatten ihm den Rest gegeben.

 

»Scheiße Bruder, ich pack das nicht. Ich bin nicht wie du. Nichts ergibt mehr einen Sinn und ich bin müde ... so müde. Bitte verzeih mir. Ich kann einfach nicht anders. Vielleicht werden wir uns eines Tages wiedersehen. Miguel«

 

Seine Worte hallten in mir nach, brachten mich dazu, mich selbst zu hassen. Ich hätte besser auf ihn aufpassen müssen. Aber so durfte ich jetzt nicht denken. Durch Jade wusste ich, dass es Vergebung gab, in ihrer Gegenwart fühlte ich sie. Sie ließ mich tief einatmen und alles Geschehene rückte in weite Ferne. Es fühlte sich leicht und fließend an, fast wie Glück, und trotzdem überkamen mich in manchen Stunden dunkle Gedanken, die mich glauben ließen, kein normales Leben verdient zu haben.

Es war Sommer. Jade und ich waren erst vor ein paar Tagen von unserer Europatour zurückgekehrt. Wir hatten ganz wundervolle Monate in Europa verbracht, bis auf die lächerlichen Drohbriefe, die ich bisher nicht ernst genug genommen hatte.

In La Rochelle wollten wir uns nun ein wenig ausruhen. Pepe durfte ein paar Tage bei uns verbringen. Seit er bei einer Pflegefamilie untergekommen war, konnte er sich langsam von der Vergangenheit erholen. Er wuchs bei den Familos auf, die selbst zwei eigene Kinder in seinem Alter hatten. Prof. Tramonti hatte für Pepe die Familie ausgesucht. Anfangs war ich eher skeptisch gewesen, weil Rosaria und Angelo Familo ausgerechnet in Rom lebten. Trotzdem schafften sie es, dem Kind ein liebevolles Zuhause zu geben. Ich hing an dem Lockenkopf und hatte mich gefreut, als der Anruf von Prof. Tramonti kam, dass der kleine Kerl ein paar Tage bei uns verbringen durfte. Allerdings erinnerte er mich an alles Vergangene, was ich zu vergessen versucht hatte. Das Leben in den Katakomben unterhalb der Villa Ada, unsere Kindheit und die damit verbundenen Grausamkeiten. Tief in mir regte sich immer noch blinde Wut und Verzweiflung, wenn ich an Morgion und Rabas dachte. Obwohl beide tot waren und ich endlich die verschiedenen Emotionen kennenlernen durfte, verblassten die Bilder meiner Vergangenheit nicht. Es war schwer zu begreifen, was man aus uns gemacht hatte - wir mussten mit diesen Erinnerungen leben. Jade half mir durch viele schlimme Momente, aber ich wusste genau, dass meine Brüder Probleme mit ihrem "Normalsein" hatten. Vor ein paar Monaten nahm sich Toni durch einen Kopfschuss das Leben. Er hatte nach Morgions Tod zurückgezogen in Mexiko gelebt, es schien, als würde er klarkommen. Doch die Wahrheit sah anders aus: wir Taluris waren emotionale Krüppel - Marionetten, die sich zwar von den Fäden befreit hatten, aber nicht die Energie fanden, selbstständig durchs Leben zu gehen. Wir waren nicht fähig, in dieser Welt zu bestehen. Die zweite Todesnachricht meines jüngsten Bruders Miguel vor zwei Tagen traf mich so, dass die Albträume wieder stärker und intensiver zurückkehrten. Miguels Tod war schwer auszuhalten. Erst recht, weil er mir kurz zuvor geschrieben hatte, dass er heiraten wollte und zum ersten Mal in seinem Leben wirklich glücklich wäre.

Ausgerechnet diese beiden, Miguel und Toni, hatten schlimme Folter und Ungerechtigkeiten erleiden müssen. Was, wenn ich diese Erinnerungen und Bilder irgendwann nicht mehr ertragen konnte? Was, wenn ich aus meiner neuen Freiheit keine Kraft schöpfen konnte? Was würde dann aus Jade werden oder aus dem kleinen Pepe? Ich empfand Liebe für sie. Dieses Gefühl erfüllte meinen Körper, gab mir Mut. Ich hatte tausend Fragen, die meine Zukunft betrafen, und tausend Fragen, in denen es um meine Vergangenheit ging. Ich wollte wissen, wo meine Wurzeln waren, wer mich geboren hatte. Wo war ich aufgewachsen? Wann war ich zu Morgion gekommen und warum? Gab es jemals eine Familie, die um mich geweint hatte?

Die Kopfschmerzen wurden jetzt etwas besser. Nur der Schmerz in meiner Brust würde wohl nie vergehen.