Buchinfo

Sprudelnd vor Neugier und mit ihrem Fotoapparat in der Tasche macht Ani sich auf die Reise nach Istanbul – die Stadt, in der ihre Wurzeln liegen. Hier findet sie die Orte aus den Erzählungen ihrer Großmutter und lernt Batu kennen, mit dem sie das prachtvolle vergangene Konstantinopel entdeckt, aber auch die pulsierende neue Seite der Metropole. Ani verliebt sich, obwohl sie mit diesem Jungen nicht glücklich werden kann, und kommt ihrer eigenen Geschichte damit dichter auf die Spur, als sie gehofft hatte.

Autorenvita

Autor

 

© privat

 

Karin Kaçi, 1976 in Deutschland geboren und zwischen drei Kulturen und noch mehr Obstbäumen in der Nähe von Köln aufgewachsen, hat als Tochter einer armenischen Familie aus der Türkei sowohl zum Okzident als auch zum Orient Bezug. Die Hälfte ihrer Verwandtschaft ist in den 60er- und 70er-Jahren nach Deutschland ausgewandert, die andere Hälfte lebt weiterhin in ihrer Lieblingsstadt Istanbul. Nach dem Abitur war Karin Kaçi in einer Kostümwerkstatt und in einem Pressevertrieb tätig, studierte zwei Jahre lang Pädagogik und absolvierte dann eine Ausbildung zur Mediengestalterin für Digital- und Printmedien. Seit Abschluss ihres Film-Studiums im Bereich Drehbuch an der ifs internationale filmschule köln 2005 ist sie als freie Autorin für Film, Fernsehen, Prosa und Hörspiel tätig. In ihren Arbeiten beschäftigt sie sich immer wieder mit dem Leben zwischen verschiedenen Kulturen, das in der Jugend anstrengend und nervig sein kann – später aber nur noch bereichernd ist.

Kap

 

1

 

Meine Mutter hatte mich gewarnt. Bei einem Flug in die Türkei sollte ich nicht zwei Stunden vorher am Check-in-Schalter sein.

»Die meisten werden schon drei Stunden vorher dort sein, um die längste Schlange des Terminals zu bilden. Die Hälfte wird Probleme mit dem Gepäck haben. Egal, ob zwanzig oder zweihundert Kilo zugelassen sind, sie werden immer zu viel mitbringen und über die paar Gramm mehr oder weniger mit dem Personal diskutieren. Dann werden sie versuchen, einen ihrer Koffer auf das Ticket ihres Hintermannes abzuwälzen, der natürlich zustimmt, nicht ahnend, dass auch er selbst zu viel Gepäck dabeihat. Aber, wie es der Zufall will, hat der ebenfalls einen hilfsbereiten Hintermann, der keine Waage besitzt. Und so rollt die Last von einem zum anderen, bis sich ein riesiger Kofferball bildet und der Letzte in der Schlange dreihundertsiebenundfünfzig Kilo Übergewicht auf die Waage bringt.«

Als ich ankam, schlängelten sich die Passagiere des Istanbulflugs bereits quer durch die Halle, vom Schalter der Airline bis zur hinteren Glasfront. Zwei Männer um die vierzig mit Laptops, drei blonde Pärchen mit olivgrünen Hosen und Hightech-Rucksäcken, eine Menge Otto-Normalverbraucher-Familien mit dunklen Haaren, kleinen Handtaschen und mittleren Rollkoffern, und nur ein einziger schnurrbärtiger Dorfältester mit brauner Wollweste und einer Ehefrau mit langem Mantel und Kopftuch. Von Fernsehern, Dieselmotoren und Waschmaschinen keine Spur. Meine Mutter übertrieb gerne.

Seit mehr als einer Stunde saß ich am Flughafen und schaute dem Trubel zu. Tatsächlich bewegten sich die Wartenden sehr langsam vorwärts, aber von einer Kofferlawine rückwärts war nichts zu sehen. Dennoch würde ich meinen Sitzplatz erst verlassen, wenn das letzte Gepäckstück des letzten Passagiers hinter dem grauen Gummivorhang verschwunden war, denn auch handlich wirkende Koffer konnte man mit einem Haufen Kingsize-Vollnuss-Schokoladentafeln bepacken, das wusste ich von meiner Oma.

Ich flog das erste Mal alleine in die Türkei und mochte nicht gleich mit einer dreihundertsiebenundfünfzig Kilo schweren Last ankommen.

 

Ich durfte nur nicht den Absprung von dieser Bank verpassen. Immer wieder schüttelte ich meine Beine, um das nervöse Kribbeln loszuwerden. Es war spät am Abend, in der Nacht zuvor hatte ich kaum geschlafen und allein der Gedanke an ein mögliches Übergewicht versetzte mich in Lähmung.

Meine Mutter wusste nichts von meiner Flugangst. Ich selbst hatte bis vor einer Stunde nichts von ihr gewusst. Ich konnte nicht mal ausmachen, ob es überhaupt Flugangst war, aber eine Anspannung umklammerte meinen Körper, betonierte meine Füße in den Boden und fesselte meine Arme an die Rücklehne der Bank. Mein Blick fixierte sich auf die Fliesen, die hoffentlich nicht plötzlich wegsacken würden. Stabil, stabil, stabil, rotierte es in meinem Kopf. Als ich wieder aufschaute, war der stabile Steinboden vor dem Check-in-Schalter leer gefegt. Die Mitarbeiterinnen scharten sich um ihren einzigen männlichen Kollegen und lachten ein Feierabendlachen. Ruckartig riss ich meine Ellbogen aus den imaginären Schnallen, mein Kaffee schwappte aus dem Becher und verwandelte sich in einen hellbraunen Springbrunnen.

»Hey! Pass doch auf!«

Fast wäre die Automatenplörre auf einem iPad gelandet und hätte mich ein paar Hunderter mehr gekostet, aber die Beine darunter hatten sich rechtzeitig weggedreht.

»Der war kalt«, stotterte ich.

»Ja dann.«

Der Junge neben mir schüttelte verständnislos den Kopf, bemerkte nun aber auch die Leere um sich herum und sprang auf. Er war groß, wie konnte ich ihn übersehen haben? Hinter sich her zog er einen ausgebeulten Rollkoffer, auf dem noch ein silberner Hartschalenkoffer lag, mit der anderen Hand schleifte er eine prall gefüllte Reisetasche über die Fliesen und hatte neben einer Laptoptasche noch eine Art Multifunktionsbag, riesig und übersät mit Seitenfächern, um die Schulter hängen. Er musste eine Menge Zubehör transportieren. Nur sein Jutebeutel drohte nicht auseinanderzuplatzen. Der hing schlaff an der anderen Schulter herunter und diente bloß als Fläche für einen dieser lustigen Sprüche.

Der Name einer Supermarktkette machte aus keinem Stoffbeutel ein modisches Accessoire, aber wenn in schwarzen Schreibmaschinenlettern Fake it till you make it auf einer Tasche stand, dann war das in Kombination mit engen blassroten Stoffhosen, einem lockeren Seitenscheitel und dicken schwarzen Fensterglasbrillen ein Zeichen von Stilsicherheit.

Den Spruch kannte ich schon von Olli. Er hatte ihn mir auf den Oberschenkel gekritzelt, als ein wichtiges Referat in der Uni anstand. Damit ich selbstbewusst an die Sache heranging, auch wenn der Text nicht von mir stammte.

Ich folgte dem schwer beladenen Jungen, der zwar keine Brille und auch keine blassrote Hose trug, aber er musste trotzdem ganz gut im Faken sein, denn nichts an ihm wirkte unsicher, weder modisch noch motorisch. Trotz der schlaksigen Statur konnte sein Mördergepäck ihn nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Er ging zum Check-in-Schalter für den Flug nach Istanbul. Mir blieb also nichts anderes übrig, als mich hinter ihm anzustellen. Er diskutierte auch nicht lange und drehte sich gleich zu mir um.

»Hast du viel Gepäck dabei?«

Er musterte meinen federleichten Rollkoffer und ich seine Haare, seine Haut, seine Augen. Sie waren hellbraun, blass, grün und hellwach. Sie waren null Komma null türkisch und eigentlich ganz sympathisch.

 

Seine Sechs-Kilo-Reisetasche wurde auf meinem Ticket vermerkt. Auf dem Weg zum Gate bog er zu Burger King ab und ich malte mir aus, was wohl in dieser Tasche war. Das Boarding hatte bereits begonnen. Vielleicht würde er den Flieger verpassen und ich hätte eine Surf-Ausrüstung gewonnen. Ich würde in den nächsten drei Wochen vormittags das machen, weshalb ich nach Istanbul flog, und nachmittags würde ich surfen gehen. Gerade als mir der Gedanke kam, es könnten auch sechs Kilo Heroin sein und ich könnte die drei Wochen plus tausendzweihundertdreißig weitere in ostanatolischer Haft verbringen, winkte mich die Frau vom Bodenpersonal durch die Schleuse Richtung Flugkabine. Ehe ich darüber nachdenken konnte, saß ich als zuletzt eingecheckter Passagier festgeschnallt in der hintersten Reihe eines verdammt schmalen Fliegers, den andere Fluggesellschaften aussortiert hatten. Seit mein Kaffee übergeschwappt war, hatte ich nicht mehr an meine unbestimmte Angst gedacht. Vielleicht war es auch nur Aufregung oder das Gefühl, etwas zurückzulassen, das endgültig verschwinden könnte.

Mein Magen zog sich zusammen und mir wurde schlagartig klar, dass ich fünf Stunden vorher am Schalter hätte sein müssen, um mir den Platz am Notausstieg zu sichern und anschließend einen Betäubungsmitteldealer zu finden. Aber nun saß ich bei vollem Bewusstsein im hintersten Eck und hielt mir vor Augen, dass es nur drei Möglichkeiten gab, auf direktem Wege von Deutschland nach Istanbul zu gelangen, den Seeweg mal ausgeschlossen.

Als Kind hatte ich immer davon geträumt, mit dem Orient-Express nach Istanbul zu fahren und dabei ein Verbrechen aufzudecken. Meine Oma diente mir dabei als Miss Marple. Später würde sie sicher einen grauen Lockenkopf haben, dachte ich damals. Verbrechen gab es genug, nur die Haare meiner Oma blieben pechschwarz und glatt, und ich erfuhr, dass der Orient-Express von Berlin nach Konstantinopel bereits 1902 eingestellt worden war. Siebzig Jahre später auch der Tauern-Orient, die letzte direkte Zugverbindung zwischen Deutschland und der Türkei. Blieben also das Auto, der Bus und das Flugzeug.

 

Meine Oma war mit dem Auto nach Deutschland gekommen. Obwohl ihr Schwager Bedros, der Fahrer, während der Reise kaum geschlafen hatte und sein Wagen so gut wie neu gewesen war, hatten sie fast drei Tage gebraucht. Doch Bedros hatte es sich nicht nehmen lassen, sie höchstpersönlich abzuholen. Er war der Bruder meines Opas und der Erste aus seiner Familie, der die Türkei verließ. Auch er war nicht mit dem Tauern-Orient gefahren, sondern mit dem Taxi.

Sein Vater mochte ihn nicht zu den Menschenmassen in den Zug setzen. Mein Uropa zahlte lieber siebenhundert Lira, um ein özel araba zu mieten, ein Auto mit Fahrer, das seinen ältesten Sohn von Istanbul ins Rheinland kutschierte.

»Siebenhundert Lira. Das war damals eine Menge Geld. Das waren siebenundsiebzig Dollar. Dollar! Nicht Lira! Dollar!«, rieb mein Opa seinem Bruder bis heute unter die Nase, wenn er kein Kleingeld hatte, um das verlorene Kartenspiel zu zahlen. Die siebenhundert Lira hätte sich die restliche Familie angeblich vom Munde absparen müssen. Nichts als dicke Bohnen hätten sie gegessen, meinte mein Opa. Obwohl ihm das niemand abnahm, fühlte Bedros sich später dennoch verpflichtet, seinen Brüdern und deren Frauen den gleichen Service zukommen zu lassen, den er genossen hatte.

1973 hatte er bereits sieben Jahre in Köln-Niehl bei Ford gearbeitet, um sich den so gut wie neuen Audi zu kaufen und damit nacheinander meine Oma und seine zwei anderen Schwägerinnen, dann meinen Opa und schließlich ihre beiden jüngeren Brüder und meine Mutter, die damals noch ein kleines Kind war, aus Istanbul abzuholen.

Die Frauen kamen zuerst – ohne Männer, ohne Deutsch und ohne längerfristigen Plan. Das Einzige, was sie mitbrachten, waren drei Koffer und drei Arbeitsverträge. Meine Oma hatte ihre Stelle als Lehrerin gekündigt, um als Küchenhilfe in einem kleinen Familienhotel in Rothenburg ob der Tauber zu arbeiten, Schwägerin 1 hatte eine Anstellung als Näherin in Wuppertal ergattert und Schwägerin 2 als Akkordarbeiterin in einer norddeutschen Schokoladenfabrik. Dafür ließen sie ihre roten Blutkörperchen, ihre Zähne und die Krümmung ihrer Wirbelsäulen untersuchen. Und meine Oma ließ ihr Kind zurück. Sobald sie in Deutschland Fuß gefasst hatten, wollten sie meine Mutter nachholen. Die wartete ein Jahr lang und lebte derweil bei ihrer Tante Hasmik, der Schwester meines Opas und die Einzige, die ihre Heimat nicht verließ.

Kurz bevor Bedros Istanbul erreichte, polierte er seinen Audi, bis er glänzte – als Zeichen seines wirtschaftlichen Erfolgs im goldenen Westen. Aber das beeindruckte nur die anatolischen Nachbarn. Meine Oma, mein Opa, seine drei Brüder und deren Frauen kamen nicht nach Deutschland, weil sie nach Rothenburg ob der Tauber wollten, sondern weil sie aus der Türkei wegwollten.

Als sie endlich im Auto Richtung Grenze saßen, waren sie dennoch unglücklich. Sie hatten alles zurückgelassen, bis auf das, was in einen Koffer und einen Kopf passte. Meine Oma meinte später, an zweieinhalb Tage der Reise könnte sie sich nicht mehr erinnern, weil ihre ständigen Tränen Bulgarien, Jugoslawien und Österreich hinter einem milchigen Schleier verschwinden ließen. Erst als sie auf den deutschen Autobahnen endlich Gummi geben konnten, ohne mit ihren Köpfen an die Wagendecke zu stoßen, klarte ihr Blick auf. Es war Frühling. Die Felder leuchteten grün und gelb und hinterließen die schönste Erinnerung an diese Reise. Alle Zeichen standen auf Neuanfang. Der Anfang vom Ende, wie ich mittlerweile dachte.

 

Meine Mutter hatte die Erinnerung an ihre erste Reise von Istanbul nach Deutschland verdrängt. Damals war sie sieben Jahre alt gewesen. Sie hatte ihre Eltern ein Jahr lang nicht gesehen und wollte nun nicht mehr von einem Onkel in einem Audi abgeholt werden. Sie wollte ihre Tante, ihre Cousins und Freundinnen auf keinen Fall verlassen. Nicht den Wassermelonenmann, den Gasflaschenmann und den Teigwarenmann, die jeden Morgen ihre Verkaufskarren unter ihrem Fenster vorbeizogen, nicht Murat Abi, den Besitzer des Lebensmittelladens an der Ecke, der immer einen Kaugummi für sie bereithielt, und auch nicht all die anderen Menschen in ihrer Straße, die nicht mit ihr sprachen, als wäre sie ein taubstummer Dackel. Aber sie wurde nicht gefragt. Man verfrachtete sie in eine Welt voller Leute, die partout nicht verstehen wollten, was sie sagte. Also beschloss meine Mutter zu schweigen. Die ersten Wochen in Deutschland sagte sie kein Wort. Das änderte sich erst, als man ihr eine lange, spitze, bunte Papptüte voller Süßigkeiten in die Hand drückte und sie neben Marion auf die Schulbank setzte. Marion scherte sich wenig darum, wie und ob ihre neue Freundin redete, solange sie das Gummitwistband stramm hielt.

Erst hatte meine Mutter ihre Eltern dafür gehasst, dass sie einfach fortgingen, später dafür, dass sie nachgeholt wurde. Mittlerweile war sie ihnen dankbar für beides. Ein Leben in der Türkei war für sie bald unvorstellbar geworden. Selbst ein Urlaub dort interessierte sie nicht mehr. Während Marion mit ihren Eltern und mit Jugendgruppen die Welt zwischen der Nordsee und der Toskana bereiste, kannte meine Mutter nur Istanbul. Und auf die Erinnerung an ihre erste Fahrt zurück zum Bosporus hätte sie gerne verzichtet. Denn sie fuhr mit dem Bus. Doch dazu später mehr.

 

Und ich? Ich war die Generation Billigflieger. An meinen letzten gemeinsamen Flug mit meiner Mutter in die Türkei erinnerte ich mich kaum mehr, jedenfalls nicht an Flugangst. Damals war ich fünfzehn und vermutlich noch eins mit dem Flieger, mit meiner Mutter, meinen Großeltern, meiner ganzen Familie in der Türkei und in Deutschland. Nur mein Vater und seine Familie waren schon lange nicht mehr Teil dieser Einheit.

Jetzt blickte ich von meinem Sitz in der letzten Reihe auf eine laute und chaotische Gesellschaft aus über hundert Gästen, die mitten in der Nacht in einer ausrangierten Maschine zusammengekommen war, um Unklarheiten über ihre Sitzverteilung zu klären. Später würden sie allerlei Gebackenes, Gekochtes und Geschmiertes ausbreiten und ein letztes Festmahl feiern.

Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Mein Magen war ein einziger Krampf. Die Türen schlossen sich. Meine Muskeln begannen zu schmelzen und wurden von den Stofffasern des Polsters aufgesogen. Ich versank in meinem Sessel, meine Augen klammerten sich an den Vordersitz, scannten wieder und wieder das Wort ein, das dort geschrieben stand: Sicherheitsgurt. Aber mein Blick rutschte ab zur Sitztasche, erhaschte rot leuchtende Warnkreuze, Atemmasken und Schwimmwesten. In mir schwamm nichts mehr. Mein Blut hatte sich in den Adern festgesetzt und verstopfte alle Fluchtwege. Ich spürte meine Gliedmaßen nicht mehr, nur noch den Kopf. Der malte sich seinen eigenen Weg aus: mit dem Dampfer den Rhein entlang bis zur Nordsee, von dort über den Atlantischen Ozean ins Mittelmeer, durch die Ägäis und die Dardanellen ins Marmarameer, und schon wäre ich am Bosporus gewesen. Stattdessen musste ich nun in der letzten Reihe eines Billigfliegers krepieren.

»Magst du?«, sprach eine Stimme aus dem Jenseits zu mir. »Ich hab dir einen King des Monats mitgebracht.«

Eine Papiertüte landete auf dem Platz neben mir, und die Stimme behauptete, es handele sich um einen Long Chicken und sein Name sei Kilian.

Kap

 

2

 

Das Chicken hatte sich noch mal bedankt – an mehr erinnerte ich mich nicht, als ich wieder zu mir kam und in zwei grün leuchtende Pupillen blickte.

Grünes Licht, alles außer mir funktionierte.

»Hey. Geht’s wieder?«, fragte das Gesicht über mir.

Ich lag quer über der vordersten Sitzreihe, mein Kopf war auf ein Kissen gebettet und das wiederum auf einen Oberschenkel. Erschrocken fuhr ich hoch und verpasste Kilian dabei einen Kinnhaken.

»Anscheinend …«

»Was ist passiert?«

»Du bist ohnmächtig geworden. Wir haben dich nach vorne gebracht und hingelegt.«

»Wir?«

Kilian beugte sich zu mir und flüsterte: »Ich habe gesagt, ich sei dein Freund. Hier hat man mehr Beinfreiheit.«

Ich nickte etwas irritiert. Eine Stewardess erkundigte sich nach meinem Befinden. Sie fragte, ob ich krank wäre und ob ich ein Glas Wasser wollte.

»Danke, ich hab …«

»Gerne, eine Cola«, fuhr Kilian dazwischen.

Er hatte auch den Long Chicken gegessen. Die Hälfte davon sei sowieso Wasser gewesen, es wäre kalt geworden und geschrumpft. Er bot an, mir stattdessen ein Sandwich zu kaufen, aber allein bei der Vorstellung etwas zu essen, wurde mir schwindelig. Dabei floss das Blut längst wieder gleichmäßig durch meinen Körper. Alles war ruhig. Die kleine Fensterscheibe war ein zweidimensionales schwarzes Blatt Papier. Nichts deutete auf Bewegung.

»Wann starten wir?«

»Vor zehn Minuten?«

Ich schnellte zurück, presste mich an die Rücklehne, zog den Gurt um meinen Bauch und umklammerte mit den Händen die Armlehnen.

In der Kabine herrschte ein dämmriges Licht, das wohl beruhigend wirken sollte. Auch von einer chaotischen Festmahlgesellschaft war nichts zu hören, rücksichtsvoll gedämpfte Stimmen, mehr nicht. Dies war nicht die Soundkulisse einer trügerischen Stille, bevor die weißen Haie angriffen, und ich flog nicht zum ersten Mal. In den letzten vier Jahren hatte sich nichts an den Maschinen verändert. »Du hast dich verändert«, hatte Olli gesagt.

»Hast du Flugangst?«

Ich schüttelte den Kopf und ließ Kilian schmunzeln.

»Da hilft nur eins. Rutsch mal rüber.«

Er deutete auf den leeren Sitz neben mir. Ich wusste nicht, was das sollte, rückte aber auf den Platz am Gang und schnallte mich dort fest.

»Gib mir deinen Fuß.«

Mit einem matten Lächeln setzte ich mich zurück in die Mitte und zurrte den Sicherheitsgurt um meinen Bauch.

»Mach doch mal«, lachte er und zerrte an meinem Hosenbein.

Er ignorierte einfach, dass wir uns nicht kannten, nahm meinen Fuß auf seinen Schoß, streifte meinen Schuh ab und suchte die Angstzonen. Ich war so perplex, dass ich nicht mal den Versuch unternahm, mich zu wehren.

»Als Kind hatte ich wahnsinnige Angst vor allen Dingen, die flogen. Krabbeln und kriechen war okay, aber fliegen nicht«, sagte er und begann einen dreistündigen Vortrag, der nur durch meine Nachfragen unterbrochen wurde.

Kilian griff sie gerne auf. Er nahm sich, was er brauchte. Meine sechs Kilo Freigepäck, meinen Long Chicken, meine Kaugummis, meine Taschentücher und jedermanns Aufmerksamkeit. Zwei Stewardessen standen eine Weile neben uns und Kilian schwärmte von Marseille. In seinem Monolog war er von Köln über Braunschweig und Amsterdam dorthin gelangt und dann wieder zurück nach Köln. Wie er von seiner Angst vor allem Fliegenden auf sein Kunststudium in Düsseldorf kam, fragte ich mich erst, als wir längst ein eingespieltes Team waren. Am Anfang fand ich alles, was er sagte, interessant. Später theoretisch auch noch. Kilian konnte unterhaltsam erzählen. Was vielversprechend klang, beließ er an der Oberfläche, so blieb es vielversprechend. Und was bei genauerer Betrachtung null und nichtig war, wusste er so auszuschmücken, dass man die Belanglosigkeit kaum bemerkte.

Er war vierundzwanzig Jahre alt, studierte Fotografie, hatte schon ein Auslandssemester, zahlreiche Reisen und dreizehn Umzüge hinter sich, zählte man die innerhalb eines Hauses mit, waren es fünfzehn. Sein Vater war bei der Bundeswehr, seine Mutter Heilpraktikerin. Sie waren in den letzten dreißig Jahren nicht ansatzweise auf die Idee gekommen, sich zu trennen. Als Kilian sechzehn war, mieteten sie ihm ein Apartment, um seine Selbstständigkeit zu fördern. Dort gab es einen Hausmeister, der jeden Satz mit einem tiefen, breiten, rheinischen do beendete. Isch frasch den Elektriker do. Hammse denn schon dat neue Antennenkabel do? Do müssense mit Ihrem Vermieter spresche do.

Kilians Fotos waren auch schon ausgestellt worden, in Amsterdam und an zahlreichen Orten in Köln, Düsseldorf und ganz Nordrhein-Westfalen, die in der Szene angeblich bekannt waren, von denen ich aber nicht wusste, ob es sich um Galerien oder um die Wohnküchen seiner sechshundertsiebenundvierzig Facebookfreunde handelte. Er hatte sogar ein Büro.

»Hast du auch Angestellte?«, fragte ich.

Ich konnte vor Müdigkeit nicht mehr klar denken. Durstig war ich nicht, denn Kilian hatte uns zum dritten Mal Cola bestellt.

»Quatsch«, lachte er. »Ich hatte mal zwei Praktikanten.«

Bezahlen konnte er die nicht. Der eine war sein Cousin, der andere ein Schüler, den er durch seine Kontakte hatte anlocken können.

Ich vermutete schon, dass die Szene und seine Kontakte ihm auch zu dieser Reise verholfen hatten, aber für das Stipendium hatte er sich tatsächlich beworben. Jetzt würde er die nächsten acht Wochen in einem Apartment mitten im hippsten Viertel von Istanbul leben und arbeiten. Er wollte eine Fotoserie über die Kapıcılar machen. In einem Antalya-Urlaub hatte er erfahren, dass fast jedes mittelständische bis gehobene Wohnhaus einen Hausmeister hatte, der mit seiner Familie im Erdgeschoss, im Souterrain oder im Hinterhaus lebte, manchmal in nur einem Zimmer. Und so ein Hausmeister war nicht bloß für Reparaturen, die Reinigung und den Fuhrpark zuständig, sondern stand rund um die Uhr zur Verfügung, um die Einkaufslisten aus den Körben vor den Wohnungstüren zu fischen und Besorgungen zu erledigen, um Wasserkanister die Treppe hinaufzuschleppen und den Müll herunterzutragen.

Kilian wollte den Hausmeistern und ihren Familien in seinen Bildern einen eigenen Raum geben. Denn während die Kinder der Hausbewohner im Pool planschten, mussten sich die Kinder des Hausmeisters mit dem grauen Asphalt zwischen den Autos begnügen. Und das sei nur das kleine, nette Antalya gewesen. In Istanbul mussten die Gegensätze noch viel krasser sein, er würde abtauchen in einen Schmelztiegel der Gegensätze, vermutete Kilian und nahm so die Kurve zum Thema Istanbul im Allgemeinen.

»Arm und reich, Moderne und Tradition, eine Welt zwischen Mexiko-City, Paris und Ali Baba, verschiedene Völker, Gesinnungen, Religionen – in der Türkei trifft sich alles. Gerade in meinem Viertel Beyoğlu leben zum Beispiel auch viele Europäer. Künstler, Musiker, Globetrotter, Geschäftsleute, ein Schmelztiegel der Kulturen und der Zeiten, eine Stadt voll Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Alles prallt aufeinander. Bäm!«

Kilian schlug auf die Armlehne und war sich sicher: Er würde fotografieren, bis seine Kamera schmolz.

Nach zwei Dritteln des Weges war ich mir sicher: Kilian war so ein Typ, der ständig mit fremden Texten Referate hielt. Für Istanbul hatte er den Klappentext eines Reiseführers studiert. Er war noch nie dort gewesen, aber seine Euphorie entfachte das Flugzeug und riss mich immer wieder aus meiner nickenden Trance. Er war völlig geflasht von dieser crazy town oder vielmehr von dem, was er erwartete. Alles, was da abwechselnd rot und grün in seinem Kopf leuchtete, stimmte auch, und dennoch sagte es nichts.

Aber es beruhigte mich. Sein Gequassel ließ die roten Lämpchen in meinem Kopf nach und nach erlöschen. Ein neutrales Grau machte sich stattdessen dort breit. So brauchte ich nicht an meine kommenden drei Wochen zu denken, die wohl weniger bunt aussehen würden. Und Kilian fragte auch nicht danach.

Nur mein Magen ließ nicht locker. Mittlerweile war ich so entspannt, dass ich wieder ans Essen dachte. Ich verschränkte die Arme vor meinem Bauch, um das Knurren zu dämmen. Kilian quatschte unbeirrt weiter und ich war eigentlich gewillt, ihm gedanklich nach Südafrika zu folgen, wo er letztes Jahr als Assistent bei einem Werbeshooting gearbeitet hatte, aber ich musste immer wieder an die Butterbrote denken, die in meiner Tasche darauf warteten, von mir gegessen zu werden. Ich hatte sie liebevoll mit Margarine beschmiert, mit Käse belegt und mit Salat dekoriert, aber jetzt war es mir peinlich, sie vor ihm auszupacken. Welche Zweiundzwanzigjährige bereitete sich Butterbrote vor, steckte sie in eine Tupperdose und legte noch ein hart gekochtes Ei dazu? Den aus Alufolie gebastelten Salzstreuer würde er als solchen zum Glück nicht erkennen.

Ich stellte mir eine Romanfigur in meinem Alter vor. Niemals wäre ihr das unangenehm, es sei denn, sie wäre ein schüchterner Junge. Unsichere Jungs in Romanen oder Filmen kamen gut an, aber die Mädchen mussten stark sein, sonst wirkten sie altbacken. Das selbst gekochte Ei mit dem Alu-Streuer wäre also ein Zeichen ihrer Eigenwilligkeit, nicht ihrer Langweiligkeit. Statt Salz hätte sie Pfeffer in die Folie gewickelt. Ich wünschte mir, ich wäre wie sie. Manchmal klappte dieser Trick, aber jetzt lähmte die späte Stunde mein schauspielerisches Talent. Also versuchte ich mir einzubilden, dass die Uhrzeit der Grund für meine reglosen Arme war, dabei wusste ich, es lag mittlerweile weder an der Nacht noch an irgendeiner Flugangst, sondern an ihm.

Kilian laugte einen aus. Obwohl er fürsorglich war, war er ein flatteriges Insekt, das einem vor der Nase schwirrte und einen zwang, seinem Flügelschlag zu folgen. Nach ihm zu schnappen war sinnlos. Er war nicht greifbar, war immer in Bewegung. Wenn er vom letzten Sommer erzählte oder von den kommenden acht Wochen, bestellte er dabei zwei Cola, zwei Kaffee, immer zwei, ohne mich zu fragen, ob ich überhaupt wollte, ließ den Zucker aus Versehen in meine Handtasche rieseln, stieß mit seinem Fuß gegen mein Knie und massierte meinen Nacken – als Zeichen dafür, dass er im Hier und Jetzt war und niemals in anderen Zeiten verschwand. Wenn sein Magen knurrte, bog er zu Burger King ab. Er war eins mit der Gegenwart. Ich war das seit zwei Jahren nicht mehr.

Das Sicherheitsgurt-Lämpchen leuchtete auf und wir wurden gebeten, unsere Tische zur Landung hochzuklappen.

»Ups, schon da? Ging aber schnell«, sagte er. »War lustig mit dir.«

Ein Lachen stieß spitz aus mir heraus. Ihn beirrte das nicht. Er lachte mit. Er war einer dieser Menschen, mit denen man sich schnell anfreunden konnte, weil sie einem das Gefühl gaben, man wäre der unterhaltsamste Mensch, mit dem sie je drei Stunden verbracht hatten. Wären wir nicht nach Istanbul geflogen, sondern nach Singapur, hätte ich am Ende geglaubt, die wichtigste Person in seinem Leben zu sein, obwohl er den ganzen Flug über nur von sich geredet hätte. Je mehr er erzählte, desto höher flog er, und vergaß dabei dennoch nicht, mir eine Decke um die Schultern zu legen – nur, nach meinem Namen zu fragen.

Mit einem Mal sackte das Flugzeug ab, und das Knurren in meinem Magen schoss hinauf bis zum Scheitel. Kilian nahm sofort meine Hand. Seine war eiskalt.

»Keine Angst.«

Er hatte sich wie eine Libelle auf Speed in die Höhe geschraubt und fiel nun wie eine Mücke unter Valium auf den Boden. Er war blass geworden und erklärte, das läge an den beiden Long Chicken. Dann zählte er weitere Nachteile von Fast-Food-Geflügel auf. Generell solle man auch Fleisch aus Supermärkten meiden. Kilian sprach von Massentierhaltung, Dumping-Preisen und Entfremdung, während wir im Sinkflug vor uns hin holperten. Seine Worte rauschten an mir vorbei, obwohl ich nicht halb so angespannt war wie beim Start. Mein Blick fixierte sich auf seinen Jutebeutel. Auf der Rückseite war ein Auszug aus Wikipedia abgedruckt.

 

»Fake it till you make it« (also called »act as if«) is a common catchphrase that means to imitate confidence so that as the confidence produces success, it will generate real confidence. The purpose is to avoid getting stuck in a self-fulfilling prophecy related to one’s fear of not being confident, e.g., by thinking, »I can’t ask that girl out because she would sense my lack of confidence.«

 

Kilian war ein Poser. Es wäre nicht schwierig gewesen, ihn unsympathisch zu finden, aber ich mochte ihn irgendwie. Vielleicht, weil sein Posen so durchsichtig war.

Als das Flugzeug auf der Landebahn aufsetzte und die Lichter des Rollfeldes an uns vorbeirasten, war meine Hand taub. Er hatte sie zerquetscht und ließ sie erst los, als sich nichts mehr bewegte bis auf die Gesellschaft hinter uns.

»Alles okay?«, lächelte er mich kreidebleich an.

Ich nickte und lächelte zurück.

»Ich heiße übrigens Ani.«

Dann lösten wir unsere Sicherheitsgurte und stiegen aus.

Kap

 

3

 

Von der Gepäckausgabe bis zur Bushaltestelle hatte Kilian meinen Namen in jeden seiner Sätze eingebaut. Jetzt schien auch er geplättet. Wir saßen mitten in der Nacht schweigend auf dem Bordstein vor dem Terminal und warteten auf den ersten Bus um fünf. Der Flughafen Sabiha Gökçen lag vierzig Kilometer außerhalb von Istanbul. Sagten die einen. Andere behaupteten, die Gegend hier sei mittlerweile auch Teil der Stadt. Mein Opa hatte diesen Flughafen auf der asiatischen Seite der Türkei als einen Ort beschrieben, der provisorisch angelegt und dann zu schnell gewachsen war. Er kannte den Neubau noch nicht. Stahlkonstruktionen und ein modern geschwungenes Dach in frischem Türkis, Glas, Beton, grelles Neonlicht und reger Autoverkehr auf unübersehbaren Zebrastreifen wie vor jedem internationalen Flughafen, nur scherte sich hier keiner um den Sinn der weißen Straßenbemalung. Auch kümmerte niemand die Dunkelheit. Das Treiben um uns herum wirkte wie am Tage, die Nacht wurde ignoriert, selbst vom Wetter. Sogar ohne Sonne zeigte das Thermometer fünfundzwanzig Grad an. Es war Ende Juli, es war, als hätte jemand aus Versehen das Licht ausgemacht. Nur von kleinen Straßenkindern, die angeblich rund um die Uhr Sesamringe verkauften, war leider nichts zu sehen. Ich hatte meine Brote immer noch nicht gegessen, und der Bus fuhr erst in einer Stunde.

»Surfst du eigentlich?«, fragte ich irgendwann.

»Nein. Wieso?«

In seiner prall gefüllten Reisetasche, die uns als Rückenlehne diente, war nichts als Kleidung. In seinem großen Rollkoffer auch. Er hatte mehr eingepackt, als ich es jemals bei einem Mädchen gesehen hatte. Ich holte also meine Brote heraus. Kilian war begeistert. Ich aß eins und er die beiden anderen und das Ei mit Salz. Der Bus kam entgegen aller Unkenrufe meiner Mutter pünktlich und verhinderte, dass auch ich in Kilians Rachen verschwand. Neben mir hockte ein Schwamm, ein Staubsauger, eine Venusfliegenfalle, die knallrot leuchtete und alles schluckte, was nicht schnell genug davonflog.

Die trostlose Peripherie Istanbuls hatte nichts mit den bunten Bildern zu tun, die Kilian mir auf seinem iPhone gezeigt hatte, bevor er im Bus einschlief. Fotos eines ehemaligen Gefängnisses, ein imposanter Backsteinbau, der Teil einer Burg sein konnte, vor dem jetzt Fahnen mit großen Künstlerporträts wehten und coole Leute mit Sonnenbrillen und Laptops abhingen. Bei uns wäre solch ein Gebäude das Nationalmuseum, in Istanbul war es nur der Ausstellungsraum der Kunsthochschule. Dann ein knittriger Alter mit löchrigem Sponge-Bob-T-Shirt und Maiskolben-Wagen vor dem Hilton Hotel, Fotos einer nächtlichen Jamsession am Galataturm, Fotos einer Massendemo auf dem Taksimplatz und vom mediterranen Nachtleben in Ortaköy, mit der blau beleuchteten Bosporusbrücke im Hintergrund, auf die ein grellgrüner Schriftzug projiziert war. Man konnte ihn nicht lesen, aber Kilian hielt ihn für Kunst. Er nannte sogar den Künstler. Ich wusste, dass an diese Brücke jedes Wochenende die Namen zweier Liebenden geworfen wurden, die dafür bezahlt hatten und mit einem romantisch geschmückten Schiffchen, das nicht auf dem Foto zu sehen war, über den Bosporus schipperten. Aber ich konnte meine Augen kaum mehr aufhalten und war zu müde gewesen, um ihm zu widersprechen.

Wenn Kilian müde war, schloss er die Augen und schlief. Natürlich. Ich konnte das in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht, selbst wenn mein Ziel die Endstation war und es da draußen nichts als hässliche Wohnblocks und trockene Erde zu sehen gab. Beides wechselte sich eine halbe Stunde lang in einem undurchschaubaren Rhythmus ab. Eine Siedlung mit zehn, manchmal auch nur vier Hochhäusern, die einsam aus der beigefarbenen Gerölllandschaft emporragten und im Licht der aufgehenden Sonne als Horrorfilmkulisse hätte dienen können – The Morning After –, dann wieder nichts. Ich fragte mich, wo die Menschen, die hier lebten, einkaufen gingen, und was die Kinder nach der Schule, die man nirgendwo sah, machten. Immer wieder fuhren wir auch an Geistersiedlungen vorbei, Grüppchen karger Grundgerüste, die nie zu Ende gebaut wurden. Jemand hatte sie eilig und planlos hier platziert und sie dann vergessen. Vielleicht war ihm auch das Geld ausgegangen oder die Idee gekommen, dass die Bewohner dieser Silos womöglich mehr wollten, als nur in ihren Wohnschubladen hocken. Dagegen hatten sich die vielen kleinen, wackeligen Gecekondu-Häuschen, die über Nacht illegal am Rande von Istanbul errichtet worden waren, längst zu lebendigen Vierteln entwickelt.

Als ich Olli erzählte, ich würde nach Istanbul fliegen, sagte er, ich solle ihm etwas vom Basar mitbringen. Basar. Er hatte nicht auf dem Schirm, dass Istanbul die viertgrößte Stadt der Welt war, verglich man nur die reinen Stadtgebiete ohne die Vororte und die ländliche Umgebung. Einzig Mexiko-Stadt, Shanghai und Peking zählten dann mehr Einwohner. Offiziell lebten in Istanbul knapp vierzehn Millionen Menschen. Inoffiziell sprach man von siebzehn Millionen. Die Istanbuler aber waren sich sicher, dass es um die zwanzig Millionen sein mussten. Und in Wahrheit wusste niemand, wo man überhaupt anfangen und wo aufhören sollte zu zählen. Natürlich würde ich Olli dennoch etwas vom Basar mitbringen. Was sollte er auch mit dem Baustein eines halbfertigen Wohnsilos oder einem Coffee to go von Starbucks. Es gab auch Dinge in dieser Stadt, die sich seit Jahrhunderten nicht veränderten.

Als der Bus über die Bosporusbrücke fuhr, verstummte das deutsche, spanische und amerikanische Gerede. Selbst die Schnarcher brummten intuitiv ruhiger. Alle Köpfe drehten sich zu den Fenstern. Unter uns lag die Meeresenge zwischen Europa und Asien und rechts und links davon sah man endlose Hügelketten, ein Auf und Ab von Stein, Ziegel und Holz, grünen Landschaften und spitzen Minaretten. Der Bosporus glitzerte silbern in der Morgensonne, ein milchiger Schleier lag über den Häuserwellen und dämpfte die Megacity zu einer Postkartenidylle ein. Zwanzig Millionen Menschen schliefen.

 

Kurz darauf standen wir im Stau Richtung Zentrum. Natürlich schlief hier niemand, nicht in der Nacht, nicht am Tag, nicht im schimmernden Morgenlicht. Allenfalls machte man ein Nickerchen zwischendurch.

Kilian wachte erst wieder auf, als der Bus am Taksimplatz mit einem lauten Hupen seine Haltestelle eroberte. Ein Taxi und ein Kleintransporter räumten mit schimpfendem Gehupe die Parkbucht und unser Fahrer antwortete mit einem dankbaren Hupen. Der unbeteiligte Fahrer im Bus gegenüber hupte auch, zur Begrüßung.

»Was ist los?«, schreckte Kilian auf.

»Nichts. Wir parken.«

Wir waren am größten, zentralsten und belebtesten Platz der Stadt angelangt, um uns tobte die Metropole, die er kaum hatte erwarten können, aber jetzt verharrte er im Halbschlafmodus. Als wir ausstiegen, tummelte sich schon eine Traube von Passagieren um den Kofferraum. Unser Gepäck lag ganz hinten. Ich kroch in den Bus und zerrte meinen Koffer hervor – der Fahrer half mir und murmelte, da sei ja gar nichts drin. Er sprach Türkisch und war überrascht, als ich ihm auf Türkisch antwortete, auf dem Rückweg werde das sicher anders sein.

»Du kannst Türkisch?«, fragte auch Kilian erstaunt.

»Ja, aber nicht so gut.«

»Bist du denn Türkin?«

»Nein.«

»Lass mich raten. Du hast dich gründlich auf deinen Urlaub vorbereitet und einen VHS-Kurs gemacht«, witzelte Kilian beiläufig, während er weiter seine hundert Gepäckstücke aus dem Haufen fischte, den der Busfahrer auf dem Bordstein stapelte.

Ich ließ seine Reisetasche stehen und zog nur meinen federleichten Koffer zur Seite.

»Genau. Ungefähr vierundvierzig Semester. Hilfreich war auch, dass die Hälfte meiner Familie aus der Türkei stammt.«

Kilian hatte endlich sein Hab und Gut beisammen und schaute mich plötzlich an, als sähe er mich zum ersten Mal.

»Also doch Türkin?«

»Nein, ich bin …« Ich stockte. Wir standen in einem Chaos aus Bussen, Touristen und Koffern an einer mehrspurigen Straße und es gab keine kurze Antwort. »Also, meine Mutter ist in Istanbul geboren, meine Großeltern kommen aus der Türkei, aber sie sind Armenier. Mein Vater ist Deutscher.«

»Klingt kompliziert.«

»Ist es auch.«

»Kannst du denn auch Armenisch?«

»Nur ein paar Worte.«

»Sag mal was.«

»Wotsch.«

Er zog die Augenbrauen hoch.

»Nein«, übersetzte ich.

»Klingt eher Russisch als Türkisch.«

»Ist aber Armenisch.«

»Ja, aber ist das nicht ähnlich?«

»Wie Russisch?«

»Wie Türkisch.«

»Wieso sollte es?«

Kilian zögerte. Nach drei Stunden Flug und beinahe noch einmal so viel Wartezeit und Busfahrt regten sich die ersten Fragen in seinem Kopf. Ich überlegte, ob ich sie beantworten sollte. Leider hatte er gleich das falsche Fass aufgemacht. Eines, das randvoll war und bei jedem Tropfen überlief, weil es nie geleert wurde.

»Armenier sind Armenier und Armenisch ist Armenisch, warum sollte es dem Türkischen ähnlich sein? Ein anderes Volk, eine andere Religion, eine andere Kultur, Tradition, Herkunft, also auch Sprache, sogar andere Buchstaben! Armenisch ist dem Griechischen näher, mit Wörtern aus dem Persischen, Französischen und Russischen. Armenien war ja auch mal Teil der Sowjetunion. Kennst du Armenien überhaupt? Liegt rechts neben der Türkei, da spricht man Ostarmenisch. Aber meine Familie kommt aus der Türkei und spricht Westarmenisch. In dieser Region leben schon seit Jahrtausenden Armenier, früher in eigenen Königreichen und unter römischer, persischer, byzantinischer Herrschaft, später im Osmanischen Reich und jetzt eben in der Republik Türkei. Schon die Oma meiner Oma und deren Omas Oma haben also in Istanbul gelebt und der Opa meines Opas und dessen Opas Opa in der Osttürkei. Natürlich gibt es dann Ähnlichkeiten, so wie es Ähnlichkeiten zwischen allen Völkern in dieser Gegend gibt. Und hier gibt es verdammt viele Völker. Das weißt du aber, oder? Sonst kannst du es ja googeln.«

Kilian starrte mich perplex an. So genau hatte er es nicht wissen wollen. Aber hatte ich nach den Sprachticks seines Exhausmeisters gefragt?

Es hupte. Eine junge Frau sprang aus einem Taxi und hielt ein Schild hoch: Kilian Weber. Kilian Weber rührte sich nicht. Er schaute zwischen der Frau und mir hin und her. Erst nach einer Weile sagte er: »Okay …«

Die Frau wedelte jetzt mit dem Schild in unsere Richtung, was er ignorierte.

»Dann besuchst du deine Verwandten hier? Deine armenischen Verwandten?«

Ich musste lachen. Das befreite ihn und mich.

»Ja, auch.«

»Mister Weber?«, rief die Frau und steuerte schon auf uns zu.

Kilian blickte sie nur kurz an.

»Wirst du abgeholt?«, fragte er.

»Ich hoffe nicht. Aber ich glaube, du.«

Die Frau hatte den Kurs gewechselt und pirschte sich nun an eine Gruppe junger Backpacker heran. Kilians Blick pendelte wieder zwischen ihr und mir.

»Tut mir leid, wenn ich dich zugetextet hab«, murmelte er kleinlaut.

»Hat ja uns beiden geholfen«, lächelte ich etwas verlegen zurück.

Er nickte grübelnd.

»Okay. Dann. Bist du bei Facebook?«

»Ja.«

Kilian zog sein iPhone hervor und tippte darauf ein. Die Frau mit dem Schild stand jetzt wieder am Taxi und guckte sich ratlos um.

»Und du heißt Ani …?«

»Aslan.«

»Klingt Türkisch«, grinste er.

»Stimmt«, ließ ich ihn einen Moment irritiert stocken. »War früher aber mal Aslanyan.« Sein Blick wanderte zu der Frau, die schon ihr Handy zückte. »Keine Angst. Lektion 2 kostet extra.«

Kilian schmunzelte. In Sekundenschnelle fand er eine Ani Aslan. Ehe ich wusste, ob das wirklich ich war, hatte er schon eine Freundschaftsanfrage verschickt. Und während ich noch darüber nachsann, ob er bereits eine türkische Prepaidkarte hatte oder sich einfach keine Gedanken über die Auslandskosten machte, legte er seinen Arm um mich, drückte seine Wange an meine und fotografierte uns, als wären wir schon Freunde und teilten gerade einen glücklichen Moment. Ich lachte in die Kamera. Die klingelte.

»Gut. Dann sehen wir uns.« Er küsste mich auf die Wange und schob kaum hörbar hinterher: »Danke noch mal.«

»Dir auch«, murmelte ich tonlos zurück.

Wir verharrten kurz in dieser Nähe, unsere Blicke huschten aneinander vorbei, bis sie mutig genug waren, aneinander hängen zu bleiben. Wir kannten uns kaum und dennoch sprang ich zuverlässig wie eine zweiundzwanzig Jahre alte Miele-Waschmaschine auf Typen wie ihn an. Kilian hatte etwas Vereinnahmendes, Grenzenloses, und auch ich konnte im Schleudergang eine tiefe Verbundenheit mit Fremden aufbauen. Nur das Loslassen fiel mir schwer. Aber mittlerweile hatte ich begriffen, dass diese tiefe Verbundenheit nur galt, solange man mit diesen Typen zusammen war. Später meldeten sie sich nicht mehr. Kilian schnappte sich sein Gepäck, erlöste die Frau, verschwand mit ihr im Taxi und das Taxi zwischen vierzehn bis zwanzig Millionen Menschen. Wir würden uns bei Facebook sehen. In Istanbul nicht mehr. Dachte ich.

Kap

 

4

 

»Peking, Meking, das hier ist Istanbul!«