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INHALT

 

ESSEN UND TRINKEN

Katastrophenabwehr beim Coffee to go

Der Cappuccino-Effekt

Tunken für Fortgeschrittene

Lesen im Kaffeefleck

Networking für Tomaten

Schnell und schmerzlos

Fällt er oder fällt er nicht?

Temperierende Atemluft

Schlabbern mit Stil

LICHT UND FARBE

Sonnenaufgang in einem Opal

Mondphasen im Apfelbaum

Verwirrende Beugung

Virtuelle Welten unter dem Fußboden

Wenn der Pool ins Schwimmen gerät

Sphärische Irrwege

Die Augen des Stiers

Spurenlesen in der Regentonne

Wie vergitterte Fenster die Welt einfärben

Farbenschillernder Nebel

WINTERLICHES

Lange Winter, lange Zapfen

Eiszapfen, die gen Himmel wachsen

Glitzernder Schein

Der Blumen im Winter sah

Phantom im Eis

Glatt daneben

Das Heiz-Paradoxon

Weihnachtliche Reflexionen

SELBSTORGANISIERTES

In stetem Fluss

Gleich und Gleich gesellt sich gern

Grenzen des Wachstums

Hart wie ein Brett

Spaziergang am Meer

Das Geheimnis der Waschbrettpisten

Was das Feuer am Leben hält

Verräterische Tröpfchenmuster

KURIOSES

Aufgewühlte See im Bermudadreieck

Magnetische Taschenspielertricks

Spiralwirbel in der Wasserschale

Wenn Shampoo Sprünge macht

Hinter Gittern

Der schwingende Weihrauchkessel

 

 

Titelmotiv: iStock / Okea

 

 

Herausgeber:
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Chefredakteur: Prof. Dr. phil. Dipl. Phys. Carsten Koenneker M.A.
Autor: H. Joachim Schlichting
Slevogtstr. 3-5, 69126 Heidelberg
www.spektrum.de

EDITORIAL

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H. Joachim Schlichting
Autor dieses Hefts

H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der Universität Münster. Mit seiner Rubrik »Schlichting!« in »Spektrum der Wissenschaft« sowie als Buchautor von »Wenn der Pool ins Schwimmen gerät: Physikalische Alltagsphänomene« und »Spiel, Physik und Spaß: Physik zum Mitdenken und Nachmachen« richtet er sich auch an eine breite Öffentlichkeit. 2008 erhielt er den Robert-Wichard-Pohl-Preis der Deutschen Physikalischen Gesellschaft für seine didaktischen Konzepte, 2013 folgte der Archimedes-Preis für Physik.

Zur physikalischen Dimension der ganz alltäglichen Dinge

»Physik ist überall«, so lautet der Slogan, mit dem immer mal wieder auf einen eigentlich selbstverständlichen Sachverhalt hingewiesen wird: dass Physik nämlich nicht auf komplizierte Vorgänge beschränkt ist, die sich nur aufwändig und mit technischen Apparaturen hervorrufen lassen, sondern dass man ihr mitten im Alltag begegnet. Vor allem auch populärwissenschaftliche Bücher oder Magazine – wie dasjenige, das Sie gerade in Händen halten –, spielen auf ihren Titelseiten gern damit, Physik und Lebenswelt zu verknüpfen. Durchaus gewollt erwecken sie so den Eindruck, der Bezug zum Vertrauten würde in irgendeiner Weise den Zugang zur Physik erleichtern.

Doch das Gegenteil ist der Fall. »Wir wollen etwas verstehen, was schon offen vor unsern Augen liegt. Denn das scheinen wir, in irgendeinem Sinne, nicht zu verstehen«, ist bei Ludwig Wittgenstein in seinen 1953 erschienenen »Philosophischen Untersuchungen« zu lesen. »In irgendeinem Sinne« sind uns also die Gegenstände und Phänomene des Alltags so vertraut, dass wir ihre Existenz unbedacht als gegeben hinnehmen. Vertrautes gibt weder Anlass zu Neugier (worauf auch?) noch fordert es zu Fragen heraus (wären die Antworten denn irgendwie nützlich?).

Um aber – mit Aristoteles – das Erstaunen zu spüren, »dass die Dinge sind, wie sie sind«, müssen wir wieder neugierig auf das Alltägliche (gemacht) werden. Das versuchen die hier versammelten Beiträge zu leisten, die der seit 2009 in »Spektrum der Wissenschaft« erscheinenden und von Spektrum-Redakteur Thilo Körkel mit großem Engagement betreuten Rubrik »Schlichting!« entstammen. Sie betrachten das Alltägliche aus einer nicht alltäglichen Perspektive und lenken so die Aufmerksamkeit vom lebensweltlichen Aspekt der Dinge auf ihren physikalischen. Auf diese Weise werden vermeintliche Selbstverständlichkeiten – die Geschehnisse in einer Kaffeetasse, die Tropfen am beschlagenen Fenster und selbst schlabbernde Hunde – zu einer neuen Realität.

Nehmen wir die optische Hebung einer Münze, die auf dem Boden einer halb mit Wasser gefüllten Tasse liegt und doch scheinbar über ihm schwebt. Kaum einer nimmt dieses Phänomen als solches wahr. Wer sich aber am Schwimmbeckenrand auf den Bauch legt und in die Tiefe blickt, beobachtet genau denselben physikalischen Effekt – und glaubt seinen Augen nicht zu trauen, wenn ihm der topfebene Boden als wilde Berg- und Tallandschaft erscheint.

Dem englischen Naturforscher Isaac Newton sagt man nach, dass ihn die Beobachtung des Monds einerseits und eines vom Baum fallenden Apfels andererseits anregten, die Wirklichkeit unter einer neuen Perspektive zu verstehen. Das, worin wir lediglich den unmittelbaren Ausdruck der Beschaffenheit der Welt sehen, fasste er als Wirkung einer neuen Kraft auf. Seine besondere Perspektive ist selbst heute noch ergiebig: Sobald man erkennt, dass die Äpfel am Baum in derselben Weise wie der Mond von der Sonne angestrahlt werden, erweisen sich die Mondphasen schlagartig als höchst irdische und anschauliche Angelegenheit.

Aber nicht immer führt genaues Hinsehen zum Ziel, manchmal hilft nur messen und rechnen. Warum zum Beispiel glitzert Kunststofflametta so farbenfroh? Man richte einen gewöhnlichen Laserpointer auf das gitterartig strukturierte Material und vermesse die sich einstellenden Beugungsmaxima. Dann findet man schon mit einer einfachen Rechnung heraus, dass die Lichteffekte aus den Tiefen der Nanowelt stammen müssen.

Die Welt physikalisch darzustellen bedeutet, sie »so zu beschreiben, wie wir sie nicht erfahren« (Carl Friedrich von Weizsäcker). Das Licht erscheint plötzlich als abstrakte elektromagnetische Welle und seine Farben als Wellenlängen. Den Phänomenen und Gegenständen des Alltags müssen wir das Physikalische also erst einmal abringen, und genau das habe ich in diesen Beiträgen versucht: um nicht nur das sichtbar zu machen, was wir noch nicht kennen, sondern auch das, was wir so noch nicht kennen.

Ihr

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ESSEN UND TRINKEN

Katastrophenabwehr beim Coffee to go

Vorsicht vor Resonanzeffekten: Wer gefüllte Pappbecher durch die Gegend balanciert und den Kaffee am Überschwappen hindern will, macht instinktiv das Falsche.

Divergente Schwingungen jeder Art waren so ziemlich die schlimmste Bedrohung …

Thomas Pynchon (1937) in »Die Enden der Parabel«

Coffee to go ist aus unserer schnelllebigen Zeit nicht mehr wegzudenken. Es scheint das Selbstverständlichste auf der Welt, dass wir Kaffeebecher aus Papier oder Plastik durch Bahnhofshallen und Fußgängerzonen, Büroflure und Sitzungssäle transportieren und womöglich auch noch im Gehen daraus trinken. Dabei bedarf, physikalisch gesehen, das unfallfreie Gehen mit einem vollen Becher einiger motorischer Geschicklichkeit und zwingt uns überdies in eine völlig unnatürliche Haltung. Zwar hat die Industrie längst reagiert und hält das Problem seither unter dem Deckel. Die Physik im Becher entfaltet sich aber natürlich trotzdem.

Die Abläufe beim uns so vertraut erscheinenden Vorgang des Gehens sind tatsächlich äußerst verwickelt. Biomechanische Studien zeigen, dass Menschen, die einem Ziel zustreben, dies üblicherweise unter Minimierung des dafür nötigen Energieaufwands tun. Dankenswerterweise vereinfachen sie das Problem damit ganz erheblich: Sie vermeiden nämlich seitliche Bewegungen und halten auch die Auf- und Abbewegungen des Körpers sehr klein.

Kompliziert wird die Angelegenheit dennoch, und zwar vor allem dadurch, dass die Beine eine Art Pendelbewegung ausführen. Diese überträgt sich auf den gesamten Körper, wobei die Beine ihn abhängig von ihrer Pendelfrequenz, Masse und Bewegungsrichtung beschleunigen beziehungsweise abbremsen. Einer empirischen Untersuchung zufolge, bei der 100 Menschen beim Gehen in unterschiedlichen Situationen beobachtet wurden, schwankt die Frequenz der Beinschwingung zwischen 1,4 und 2 Hertz. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt man, wenn man die Beine als physikalisches Pendel betrachtet – wobei allerdings einige Feinheiten zu beachten sind – und mit der zugehörigen Schwingungsformel die Frequenz bestimmt.

Betrachtet man genauer, wie ein Mensch einen gefüllten Becher trägt, erkennt man, dass er dabei jede zusätzliche Bewegung seiner Hand vermeidet. Das Gefäß ist starr mit ihr, mit dem Arm und schließlich mit dem Körper verbunden und schwingt folglich mit dessen Frequenz. Dahinter steckt unser Bemühen, einen weiteren Bewegungsfreiheitsgrad zu vermeiden – in der mehr oder weniger bewussten Hoffnung, eine bessere Kontrolle über das Geschehen zu erlangen. Das zahlt sich aber nicht aus.

Sobald wir mit der Tasse loslaufen, bleibt die Flüssigkeit auf Grund ihrer trägen Masse zunächst einmal wo sie ist. Erst der Zusammenprall mit der auf sie zukommenden Tassenwand setzt sie in Bewegung. Ob der Kaffee im Folgenden weiter angeregt oder eher beruhigt wird, hängt dann von seiner Eigenfrequenz ab. Es ist wie bei dem Kind auf einer Schaukel: Um es gut in Schwung zu bringen, schubst man es immer dann an, wenn die Schaukel gerade im Umkehrpunkt zur Ruhe gekommen ist. Anders gesagt: Der Antrieb ist optimal, wenn er auf die Eigenfrequenz der Schaukel abgestimmt ist und mit einer Phasenverschiebung von nahezu 90 Grad erfolgt. Während man beim Loslaufen automatisch für die »richtige« Phasenverschiebung sorgt, schaukelt sich die Flüssigkeit nur dann an den Wänden der Tasse auf, wenn ihre Eigenfrequenz und die Schrittfrequenz des Kaffeeträgers zueinander passen.

Im Alltag ist die Resonanzbedingung fast immer erfüllt

Genau diese Resonanzbedingung ist in der Realität meist erfüllt, denn bei gängigen Trinkgefäßen variiert die Frequenz zwischen 2,6 und 4,3 Hertz, je nach Tassendurchmesser und Füllhöhe. Die Flüssigkeit schwingt also bei jedem Schritt ziemlich genau einmal hin und her und zwar so, dass sie sich etwa in derselben Position befindet, wenn wir zum jeweils nächsten Schritt ansetzen – beides wie beim Kind auf der Schaukel.

Die Konsequenz ist klar: Selbst wenn wir von vornherein versuchen, die Flüssigkeit nur wenig anzuregen, erleben wir nach einer hinreichenden Zahl von Schritten – und bei nicht zu kleiner Füllhöhe – zwangsläufig eine Resonanzkatastrophe. Kaffee schwappt nicht unbedingt deshalb über, weil wir nach den ersten vorsichtigen Schritten entspannter und damit unkontrollierter gehen, sondern vielmehr als unvermeidliche Konsequenz phasen- und frequenzrichtiger Anregung.

Was ließe sich gegen das Überschwappen unternehmen? Natürlich könnte man die Dimensionierung von Tassen und Bechern so verändern, dass die Flüssigkeiten darin andere Eigenfrequenzen besitzen. Doch einfaches Nachjustieren von Höhe und Durchmesser würde nicht reichen; damit sich die Frequenzen um das nötige Maß verändern, wären drastischere Eingriffe nötig. Vor allem aber müssen wir Größe und Form von Tassen und Bechern wohl weit gehend als kulturelle Konstante betrachten. Ähnlich unwahrscheinlich ist es, dass wir uns angewöhnen, beim Kaffeetransport unsere Schrittfrequenz deutlich zu verändern.

Doch es gibt eine weitere Lösung, die zunächst paradox erscheinen mag. Dabei schränkt man die Bewegungsfreiheitsgrade nicht ein, sondern nimmt umgekehrt eine zusätzliche Bewegungsmöglichkeit in Anspruch. Stellt man nämlich den gefüllten Becher auf ein an Schnüren hängendes Tablett, kann man durch geeignete Handbewegungen die Eigenschwingungen dieses Pendels bewusst verstärken statt ihnen entgegenzuwirken. So bleibt die Flüssigkeit relativ zum Gefäß weit gehend in Ruhe. Das liegt an der Trägheit: Jeder bewegte Körper »möchte« seinen Bewegungszustand beibehalten und sich geradlinig mit konstanter Geschwindigkeit weiterbewegen (siehe Bild).

In kühnem Schwung im Kreis geschleudert

An Schnüren pendelnd – oder gar in kühnem Schwung im Kreis geschleudert –, wird er aber von der haltenden Hand zum Zentrum der Drehbewegung gezogen; senkrecht zu der Richtung, in die ihn seine Trägheit bewegen möchte. Dabei zwingt der Becherboden die Flüssigkeit nach innen, und umgekehrt drückt die Flüssigkeit mit derselben Kraft nach außen, was sie sicher im Becher hält. Die beteiligten Kräfte sind schon bei leichtem Schwenken so groß, dass die Störungen durch das Gehen nicht mehr ins Gewicht fallen.

Solche Überlegungen haben nicht nur theoretischen Wert. In arabischen Ländern trifft man gelegentlich die Praxis an, dass Getränke auf Tabletts transportiert werden, die ihrerseits an Schnüren hängen. In gleicher Weise zielen die schwungvollen Bewegungen von Kellnern hier zu Lande, wenn sie Suppenteller oder Getränke zu den Tischen balancieren, weniger auf Effekthascherei als schlicht auf (Resonanz-)Katastrophenabwehr.

2012 war das Überschwappen von Getränken Gegenstand einer Publikation im renommierten Fachjournal »Physical Review E«. Wohl ihrer Kuriosität wegen wurde die Arbeit, in der die Autoren ein mathematisches Modell für den Transport von Getränken entwickelt hatten, im selben Jahr sogar mit dem Ig-Nobelpreis ausgezeichnet. Doch die Probleme, auf die sie hinweist, sind so wenig kurios, wie ihre Lösung überflüssig ist. Transportiert man Flüssigkeiten in Lastwagen, Schiffen, Flugzeugen oder gar Raketen, können sich ihre Schwingungen derart aufschaukeln, dass sie das jeweilige Verkehrsmittel destabilisieren – mit unkalkulierbaren Folgen.

Um die Erforschung des Schwappens und seiner Wirkungen bemühen sich daher seit Jahrzehnten zahlreiche Wissenschaftler. Zu ihren Ergebnissen zählt, dass Tanks typischerweise in Kammern unterteilt und mit speziellen Schwallblechen versehen werden, die großräumiges Aufschaukeln unterbinden.

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BEIDE FOTOS: H. JOACHIM SCHLICHTING

Man muss die Hand mit dem Kaffeebecher keineswegs starr mit dem Körper verbinden, um das Überschwappen zu verhindern. Es gibt bessere, wenn auch nicht unbedingt alltagstauglichere Wege. Die Fotos zeigen, wie man die Eigenschwingungen einer Pendelkonstruktion so verstärkt, dass der Kaffee relativ zu seinem Behältnis in Ruhe bleibt.

QUELLEN

Jaiswal, O. R. et al.: A Study on Sloshing Frequencies of Fluid-Tank System. The 14th World Conference on Earthquake Engineering, 12.–17.10.2008, Peking. Kostenfrei unter www.iitk.ac.in/nicee/wcee/article/14_06-0111.PDF

Mayer, H. C., Krechetnikov, R.: Walking With Coffee: Why Does it Spill? In: Physical Review E 85, 046117, 2012

ESSEN UND TRINKEN

Der Cappuccino-Effekt

Luftbläschen in einer schwingenden Flüssigkeitssäule verändern die entstehenden Töne unerwartet stark.

Du lebst in einem klingenden Weltall, wo alles Rhythmus, Klang, Takt und Akkord ist: … die großen natürlichen Geräusche, der künstliche Lärm … umgeben dich wie ein zitterndes und verwickeltes Tongewebe, das du unaufhörlich zu lesen und zu unterscheiden versuchst.

Georges Duhamel (1884–1966)

Kommt der Milchschaum auf dem servierten Cappuccino als kleines Kunstwerk daher, trinkt auch das Auge mit. Dem Ohr wird ebenfalls einiges geboten. Was zuerst auffällt, ist das leise Klingklang des Löffels, der beim Umrühren gegen die Tassenwand stößt. Doch das ist nichts gegen den Cappuccino-Effekt. So altbekannt das Phänomen ist, so überraschend wirkt es auf denjenigen, der es gerade erst entdeckt. Er muss nur auf die Idee gekommen sein, den Löffel, mit dem er kurz zuvor den Milchschaum in den Cappuccino gerührt hat, mehrere Male leicht gegen die Tasse zu schlagen. Dann steigt bei jedem Schlag unüberhörbar der Ton an, als klettere er eine Tonleiter hinauf.

Das ist nicht nur bei Kaffee der Fall. Vom »hot chocolate effect« sprach etwa Frank Crawford, der 1982 die erste elementare physikalische Abhandlung darüber verfasste. Die merkwürdige Tonhöhenzunahme registrierte der Physiker der University of California in Berkeley auch, nachdem er Pulverkaffee oder Kakao in heißes Wasser gerührt oder heißes Wasser aus dem Hahn in ein Glas gefüllt hatte. Mit Brausetabletten funktioniert der Effekt ebenfalls, und selbst Bier und andere kohlensäurehaltige Getränke lassen die Töne steigen – am eindrucksvollsten dann, wenn man Sand oder Salz hineinstreut.

Der Cappuccino-Effekt hat offensichtlich etwas mit den aus dem Getränk entweichenden Luft- oder allgemeiner Gasblasen zu tun. Rührt man Schaumbläschen unter den Kaffee und schlägt dann mit dem Löffel von außen gegen das Trinkgefäß, nimmt die Tonhöhe so lange zu, wie die Blasen aus dem Getränk aufsteigen. Weil Cappuccino relativ stabilen Schaum bildet und sich der größere Teil davon bald wieder an der Oberfläche sammelt, lässt sich der Effekt sogar viele Male wiederholen. Als wäre der Kaffee wie eine Spieluhr aufgezogen worden, beginnt das Spiel nach jedem Umrühren von vorn.

Doch was genau wird hier gespielt? Einer der weniger offensichtlichen Aspekte des Geschehens betrifft die Entstehung des Klangs. Schlägt man seitlich an das Gefäß, sind die mechanisch-akustischen Verhältnisse ziemlich kompliziert. Neben der Füllhöhe tragen in diesem Fall auch komplexe Biegeschwingungen zum Klang bei, die von Form und Material des Trinkgefäßes bestimmt werden.

Erleichtern wir uns also die Untersuchung, indem wir einen Spezialfall prüfen: ein volles, möglichst zylindrisches Glas, gegen das wir von unten schlagen. Dann bestimmt vor allem die schwingende Flüssigkeitssäule das Klanggeschehen. Da die Schallgeschwindigkeit in Wasser (1500 Meter pro Sekunde) die in Luft (340 Meter) um mehr als das Vierfache übertrifft und sich die Tonhöhe als Frequenz f = Schallgeschwindigkeit v / Wellenlänge λ berechnet, klingt ein mit Wasser gefülltes Glas mehr als viermal so hoch wie ein »leeres«, also luftgefülltes.

Anstieg um mehrere Oktaven

Die Formel verrät auch, dass ein niedrigeres Glas noch höhere Töne erklingen lässt. Die Grundschwingung der Flüssigkeitssäule ist eine stehende Welle mit einem Schwingungsknoten am geschlossenen unteren Ende und einem Schwingungsbauch am offenen oberen Ende des Glases; ihre Wellenlänge beträgt gerade das Vierfache der Säulenlänge (siehe Grafik). Sinkt die Höhe des Glasrands, sinkt auch die Wellenlänge λ, dafür steigt die Frequenz f.

Derart vorbereitet können wir nun unser eigenes Experiment angehen. Greifen wir zum Kaffeelöffel oder zu Brausetabletten und erzeugen eine Melange aus viel Wasser und wenig Luft. Dann klopfen wir mit dem Löffel an das Glas. Mit welchem Ergebnis ist zu rechnen? Weil wir dem Wasser Luft zugefügt haben, also ein Medium mit niedriger Schallgeschwindigkeit, erwarten wir, dass die Tonhöhe niedriger ist als im Fall einer reinen Wassersäule. Allerdings nicht viel niedriger, denn die Luftmenge ist ja sehr klein.

Doch dann stellen wir beim Klopfen völlig überrascht fest, dass die Tonhöhe gleich um mehrere Oktaven steigt, während die Luft allmählich wieder entweicht! Das Einrühren von Luft muss sie also zuvor in genau diesem Maß erniedrigt haben. Wie ist das möglich? Tatsächlich ist die Schallgeschwindigkeit in Luft für diesen Effekt fast völlig ohne Belang. Die Schallgeschwindigkeit in einem Medium hängt nämlich von (mindestens) zwei voneinander unabhängigen Parametern ab: Sie sinkt nicht nur mit steigender Dichte des Mediums, sondern auch mit dessen zunehmender Kompressibilität, also seiner »Zusammendrückbarkeit«. Dass es nicht allein auf die Dichte ankommen kann, haben wir ja schon daran gesehen, dass die Schallgeschwindigkeit in Wasser höher ist als die in Luft.

Entscheidend ist in unserem Fall die Kompressibilität. Im Wasser pflanzt sich Schall deshalb sehr schnell fort, weil seine hohe Dichte durch seine extrem geringe Kompressibilität weit mehr als ausgeglichen wird. Umgekehrt verringern die Luftbläschen in unserem Experiment zwar die Dichte der Wassersäule ein wenig; gleichzeitig erhöhen sie aber ihre Kompressibilität sehr stark und senken dadurch die Schallgeschwindigkeit und mit ihr die Frequenz.

Frank Crawford hat übrigens auch mit einem inversen Cappuccino-Effekt experimentiert. Er drehte den Heißwasserhahn auf und wartete, bis nicht mehr kaltes, sondern heißes Wasser daraus floss. In letzterem löst sich Luft schlechter. Sie beginnt also in Form von Bläschen zu entweichen, sobald das Wasser nicht mehr unter dem höheren Druck in der Wasserleitung steht. Genau in diesem Moment befüllte der Physiker sein Glas und brachte es zum Klingen.

Dabei musste er sich allerdings beeilen, denn die sinkende Tonhöhe ist nur während einer kurzen Zeitspanne zu hören: Die Bläschenbildung dauert genau so lange, bis sich ein neues Gleichgewicht eingestellt hat. Kommt sie zum Erliegen, erklingt wieder der ganz normale Cappuccino-Effekt.

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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: H. JOACHIM SCHLICHTING

Betrachtet man ein gefülltes Wasserglas und vernachlässigt dessen seitliche Biegeschwingungen, so schwingt die Wassersäule als stehende Welle. Links außen ist die Grundschwingung gezeigt, mit einem Schwingungsknoten am geschlossenen Boden und einem Schwingungsbauch am offenen Ende; die Wellenlänge beträgt das Vierfache der Säulenhöhe. Daneben ist die erste Oberschwingung zu sehen.

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ISTOCKPHOTO / RUSLAN OLINCHUK

Alles ist bereit für den Cappuccino-Effekt. Jetzt müssen Sie nur noch den Milchschaum unterrühren und anschließend mit dem Löffel mehrfach gegen die Tasse klopfen. Bei jedem Schlag klettert der entstehende Ton dann ein Stück auf der Tonleiter empor.

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H. JOACHIM SCHLICHTING

Wie viel Luft enthält ein Getränk? Das lässt sich nicht leicht überprüfen. Rührt man Kakaopulver in heißes Wasser ein, kann man die Menge immerhin abschätzen. Denn die Blasen, die anschließend an die Oberfläche der »hot chocolate« aufsteigen, zerplatzen dort erst nach einer Weile.

QUELLEN

Crawford, F. S.: The Hot Chocolate Effect. In: American Journal of Physics 50, S. 398–404, 1982

WEBLINK

www.wdr.de/tv/kopfball/sendungsbeitraege/2011/0213/

In der WDR-Sendung »Kopfball« wird der Effekt ebenfalls beschrieben, der Link führt zum Video.

ESSEN UND TRINKEN

Tunken für Fortgeschrittene

Sind beim Tunken von Keksen physikalisch Vorgebildete gegenüber reinen Empirikern im Vorteil?

Abbé Montret tauchte zwei Kekse auf einmal in sein Glas und schnappte sie gierig auf, bevor sie sich in der Flüssigkeit auflösten und im Glas verschwinden konnten.

Pascal Quignard (1948)

Kekse in Kaffee oder Tee zu tunken entspricht nicht den allgemein akzeptierten Tischmanieren. Vielleicht nur deshalb, weil dabei allzuleicht »Unfälle« passieren? Die weiche und anhängliche Keksmaterie könnte an Stellen geraten, wo sie nicht hingehört. Denn ist der Keks zu stark aufgeweicht (wenn man dann überhaupt noch von Keks sprechen will), können ihn die Finger nicht mehr greifen und er versinkt im Getränk. Diese Kekssuppe muss dann jeder selbst auslöffeln. Oder aber er sackt auf dem Weg zum Mund unter dem eigenen Gewicht zusammen und löst sich fallend vom noch harten Teil.

Allerdings existiert eine Reihe physikalischer Gesetzmäßigkeiten, welche die Probleme abzumildern versprechen. So gelingt es den in der Praxis des Tunkens geübten Menschen, die durch Übung ermittelte Eintunkzeit mit gut dosiertem Schwung so zu kombinieren, dass auch der weiche Teil auf der vorgesehenen Bahn gehalten werden kann und – meistens – sicher den Mund erreicht. Insbesondere wissen die Empiriker auch, dass es nicht genügt, den Keks rechtzeitig vor dessen Zusammenbruch aus dem Getränk zu heben. Denn ist der Aufweichprozess erst einmal in Gang gesetzt, lässt er sich nicht mehr aufhalten; kommt es dann zu einer unerwarteten Verzögerung, entsteht ein akutes Problem. Dieses lässt sich leicht lösen, mag mancher einwerfen: Man muss nur die Transportgeschwindigkeit erhöhen. Doch so einfach ist es nicht. Denn wird der Keks stark beschleunigt, kommt die Trägheit ins Spiel – und die wirkt sich auf den weichen Teil völlig anders aus als auf den harten, auf dem Ersterer balanciert wird. Während die Bindungskräfte im harten Keksteil so stark sind, dass sich die Beschleunigung der Hand auf alle Teile dieses starren Körpers gleichzeitig »überträgt«, kann die nur locker gebundene weiche Materie trägheitsbedingt hinter der Bewegung zurückbleiben, was zu unerwünschten Effekten führt.

Hat man den getunkten Keks erst einmal unfallfrei aus dem Tee emporgehoben, ist es daher aus physikalischer Sicht am sichersten, ihn auf einer Wurfparabel in den Mund zu befördern. Dann ist er, vom Luftwiderstand abgesehen, vorübergehend kräftefrei, und alle seine Bestandteile bewegen sich auf derselben Bahn, egal ob und wie stark sie miteinander verbunden sind. Dieser Ratschlag, den Knigge ohnehin ablehnen würde, ist allerdings nur von theoretischem Wert. Denn geeignete Anfangsbedingungen – Abwurfwinkel und -geschwindigkeit – lassen sich wiederum nur durch Beschleunigen des Kekses herstellen. Und selbst wer dies nach einiger Übung beherrschte, finge bei Gebäck mit nur geringfügig abweichender Konsistenz wieder ganz von vorne an (siehe Bild).

Das Tunken hat eine lange Geschichte. Aber wozu dient es?

Woher übrigens das Bedürfnis rührt, Gebäck in Getränke zu tunken, ist nicht eindeutig geklärt. Man weiß aber, dass diese Praxis eine lange Geschichte hat, die mindestens in das dritte Jahrhundert v. Chr. zurückreicht. Die Römer jener Zeit kannten weder Kaffee noch Tee und tunkten ihre harten Backwaren daher in Wein. Ihr bis coctus, das zweimal Gebackene, ähnelte offenbar unserem Zwieback: Ein brotähnliches Produkt wurde in Scheiben geschnitten, erneut gebacken und so weit gehend entwässert. Grund für dieses Vorgehen dürfte weniger das spezielle Gaumenvergnügen als vielmehr die größere Haltbarkeit des trockeneren Gebäcks gewesen sein.

Rein naturgesetzlich gesehen bleibt das Motiv des Tunkens ohnehin unerklärlich. Der Physiker würde es schlicht als Teil des Auflösungsvorgangs auffassen, der ansonsten eben im Mund stattfindet. Wozu also könnte es sonst dienen? Die Römer, so dürfen wir spekulieren, mögen ihrem bis coctus schlicht die Härte haben nehmen wollen. Doch heute, da es Gebäck verschiedener Härtegrade gibt bis hin zu Keksen, die im Mund fast von selbst zergehen, spielt vielleicht auch noch der Geschmack eine Rolle, der sich angeblich mit dem extraoralen Wässern des Kekses verbessert. Nach Untersuchungen des Duftstoff- und Aromenherstellers Firmenich sollen dadurch bis zu zehnmal so viele Aromen abgegeben werden.

Das kann aber nicht die ganze Wahrheit sein. Offenbar kommen zusätzlich taktile Gesichtspunkte ins Spiel: die Wahrnehmung von Druck und Gegendruck beim Kauen und beim Transport der Keksmaterie im Mund. Doch entsprechende Vorlieben sind nicht universell, denn andere Keksesser wollen auch auf den harten Teil der Geschichte nicht verzichten. In »La dame en bleu« hebt Noëlle Châtelet in poetischen Worten genau diesen Aspekt hervor: »Der Keks knackt, scheint zu widerstehen, dann als ob er sich selbst verleugnete, zergeht er auf einmal unter dem weichen Druck der feuchten Lippen.«

Womit die Physik schließlich doch wieder ins Spiel kommt. Zerbeißt man das spröde Gebäck ungetunkt, entlockt ihm dies solide, wenn auch gedämpfte Geräusche des Knackens und Zermalmens. Warum aber gibt ein so harter Keks in Gegenwart einer Flüssigkeit überhaupt so schnell nach? Je nach Herstellungsart durchzieht das Gebäck ein mehr oder weniger verzweigtes Netzwerk von Kapillaren, in dem sich die Feuchtigkeit ausbreiten kann wie die Tinte im Löschpapier. Dank dieser ausgeprägten Porosität gelangt die Flüssigkeit nach einer gewissen Zeit auch an Stellen, die gar nicht eingetaucht wurden.

Die Feuchtigkeit an sich stellt aber noch kein Problem dar. Es ist wie beim Papier: Auch dieses geht durch Wässerung in eine weiche Pampe über, weil sich die verwendeten Klebstoffe infolge der Feuchtigkeit auflösen. In ähnlicher Weise ist auch Gebäck »verklebt«, nämlich vor allem durch Zucker und Fett. Dadurch erklärt sich die Wirkungssteigerung, die Heißgetränke erzielen: Bei hohen Temperaturen lösen sich sowohl Zucker als auch Fett viel schneller auf.

Kaltes Wasser tut es meist aber auch. Nur Mürbeteigkekse sind dagegen ziemlich resistent. Denn ihr Kapillarnetz ist wenig ausgeprägt, weil die Stärkekörnchen des Mehls durch eine Fettummantelung isoliert sind und aneinanderkleben. Das Fett wiederum schmilzt erst, wenn die Temperatur einen Mindestwert erreicht. Die Römer mussten auf eine solche Erleichterung allerdings verzichten. Bis coctus alias Zwieback mit seinem stark verzweigten Kapillarsystem hält auch kaltem Wein nicht lange stand.

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FOTOS: H. JOACHIM SCHLICHTING

Kaum ist der Keks in den heißen Tee getunkt (Image), beginnt sich die Flüssigkeit, angetrieben durch Kapillarkräfte, in der porösen Materie auszubreiten. Bald wird das vorher spröde Material weich und flexibel (Image) – mit der Tendenz, unter der eigenen Schwere abzuknicken. Der virtuose Empiriker beginnt nun, den durchweichten Keksteil auf der noch harten Bruchkante zu balancieren (Image). Der Theoretiker hingegen setzt seine Hoffnung auf eine Wurfparabel: Auf ihr kann der Keks kräftefrei, also ohne weitere Deformation, in den Mund gelangen.

QUELLEN

Châtelet, N.: La dame en bleu. Édition Stock, Paris 1996, S. 59

Quignard, P.: Die amerikanische Besatzung. Aufbau, Berlin 2003, S. 69

ESSEN UND TRINKEN

Lesen im Kaffeefleck

Nur ein leidiger Klecks? Von wegen: Seine ausgeprägten Ränder offenbaren nichts weniger als ein universelles (Potenz-)Gesetz.

Der erste deutsche Professor für Experimentalphysik beschäftigte sich nicht nur mit Geodäsie, Astronomie und Chemie. Nein, der Göttinger Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) ließ seine Gedanken sogar um eine »Theorie der Falten in einem Kopfkissen« kreisen. Machen wir uns also ungeniert an eine ähnlich skurrile wie unspektakuläre Frage, nämlich an die Geheimnisse der Kaffeeflecken, wie sie zum Beispiel auf einer Untertasse zurückbleiben und anschließend austrocknen.