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Marc Engelhardt (Hg.)

UNABHÄNGIGKEIT!

Separatisten verändern die Welt

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Oktober 2015
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Einbandgestaltung: Ch. Links Verlag
Einbandabbildungen: oben: Unterstützer der schottischen Unabhängigkeitsbewegung warten auf die Ankunft des schottischen Regierungschefs Alex Salmond in Stirling zu einer Veranstaltung kurz vor dem Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands am 18. September 2014, 15. September 2014 (picture-alliance/dpa); Mitte links: Drei Kinder passieren ein Graffiti in der kosovarischen Stadt Mitrovica, wenige Tage vor der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, Februar 2008 (Robert Atanasovski/AFP/getty images); Mitte rechts: Unterstützer der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung auf einer Demonstration in Barcelona, 11. September 2012 (Lluis Gene/AFP/getty images); unten: Prorussische Separatisten in Jenakijewe nahe Donezk, Ostukraine, 27. Januar 2015 (Kommersant Photo/getty images).
Karten: Peter Palm, Berlin
Satz: Eugen Lempp, Ch. Links Verlag

ISBN 978-3-86153-838-7
eISBN 978-3-86284-317-6

Inhalt

Einleitung: Die neue Weltunordnung
Marc Engelhardt
Katalonien: »Sie respektieren uns einfach nicht.«
Julia Macher
Schottland: Nationalisten an der Macht
Nicola de Paoli
Québec: Langes Warten auf die nächste Chance
Gerd Braune
Ukraine: Che Guevara im Kohlenpott
Stefan Scholl
Transnistrien: »Ein Phänomen, das Konflikt genannt wird«
Thomas Franke
Somaliland: Der Selfmade-Staat
Bettina Rühl
Taiwan: Zwei Chinas und der Kampf um die Geschichte
Klaus Bardenhagen
Palästina: »PLO – Occupation No!«
Susanne Knaul
Irakisch-Kurdistan: Schlappe für die Peschmerga
Birgit Svensson
Türkisch-Kurdistan: Die PKK
Susanne Güsten
Südsudan: Unabhängig in den Abgrund
Marc Engelhardt
Tschechien und die Slowakei: Wie man sich friedlich trennt
Kilian Kirchgeßner
Südtirol: Zusammenleben ist machbar
Christiane Büld Campetti
Kosovo: Mühsame Unabhängigkeit
Danja Antonovič
Sealand und Liberland: Staat machen
Peter Stäuber und Kilian Kirchgeßner
Die Samen: Unabhängig ohne Staatsgebiet
Marc Engelhardt
Abschied von der alten Welt
Marc Engelhardt
Anhang
Literatur
Zu den Autoren

WELTUnabhaengigkeiten.pdf

Einleitung:
Die neue Weltunordnung

Marc Engelhardt

Die bisherige Weltordnung befindet sich in der Krise. Gut zwei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat die Demokratie westlicher Prägung ihre Strahlkraft eingebüßt. Die »alten« Nationalstaaten stehen Krieg und Terror, Ungleichheit und Vertreibung scheinbar machtlos gegenüber. Separatisten versprechen eine bessere Zukunft – entweder durch mehr oder durch weniger Demokratie.

Auf dem Weg zur Arbeit laufe ich jeden Morgen an einer langen Allee aus genau 193 Fahnenmasten vorbei. Sie stehen aufgereiht vor dem Haupteingang zum Genfer Völkerbundpalast. Mitarbeiter der Protokollabteilung stellen sicher, dass die Flaggen regelmäßig umgehängt werden. Hunderte Touristen nehmen täglich ein Selfie oder ein Gruppenbild von sich vor dem bunten Fahnenmeer auf, indem sie sich möglichst nahe vor den hohen Zaun stellen, der den Haupteingang des Völkerbundpalastes und die davorstehenden Fahnenmasten schützt. An dieser prominenten Stelle, ganz vorn, wehen immer wieder neue Flaggen. Sind die Fotos gemacht, pressen sich die meisten Besucher noch einmal eng an den Zaun und versuchen, in der Allee die eigene Fahne auszumachen. Wenn vom Jura-Gebirge her starker Wind weht und die Flaggen mit einem hellen Klingeln gegen die hohen Masten schlagen, geht das am einfachsten. Doch selbst bei Flaute versuchen die Zaungäste, die Nationalflagge ihres Heimatlandes zu finden. Wenn ihnen das nicht gelingt, ziehen sie mit enttäuschten Mienen von dannen. Zweifellos geht eine besondere Macht aus von den Fahnen, die Symbole von Staaten und Nationen sind. Und die 193 Flaggen, die vor den vier Hauptsitzen der Vereinten Nationen in Genf, New York, Nairobi und Wien wehen, stehen sinnbildlich für jene Staaten, die es geschafft haben: die anerkannten Mitglieder der globalen Staatenfamilie. Außer ihnen kann das nur ein einziger weiterer Staat von sich behaupten: der Vatikan, der bei den UN auf eigenen Wunsch lediglich einen Beobachterstatus genießt.

Die Fahne des Landes, in dem Rebiya Kadeer gerne leben würde, ist himmelblau. Darauf sind ein Stern und ein Halbmond abgebildet, ähnlich wie auf der Flagge der Türkei. Doch anders als diese weht die himmelblaue Fahne Ostturkestans vor keiner der vier UN-Zentralen und auch nicht in Kadeers Heimat selbst. Dabei reicht die Geschichte von Ostturkestan 4000 Jahre zurück. 1759 besetzten Truppen der Mandschu-Dynastie erstmals das uigurische Reich, danach gelang es den Uiguren immer nur für kurze Zeit, sich selbst zu regieren. Zuletzt wurde 1944 die Republik Ostturkestan ausgerufen. Fünf Jahre später marschierte die chinesische Volksarmee ein. Völkerrechtlich gehört Ostturkestan seitdem zu China, und die Uigurin Kadeer hat einen chinesischen Pass. Dass Kadeer dennoch für ihren Staat Ostturkestan eintritt, macht sie für ihre Anhänger zur Freiheitskämpferin – und für die chinesische Regierung zur Terroristin. Der Untertitel ihrer Biografie lautet in der deutschsprachigen Ausgabe: »Chinas Staatsfeindin Nummer 1«. Sechs Jahre hat die Mutter von elf Kindern in Haft verbracht, viele davon in Isolation. Jetzt sitzt Kadeer in einem kleinen Genfer Künstlercafé, das den Namen »Babel« trägt. Sie hat keinen Abstecher zum Völkerbundpalast gemacht, keine Fahnen betrachtet. Von Diplomaten würde sie, Repräsentantin eines nichtexistenten Staates, ohnehin nicht empfangen. Stattdessen sitzt sie im Halbdunkel des Cafés, um das zu tun, was sie seit Jahren tut: zu werben für einen Staat, der bisher nur in ihrer Fantasie und in der ihrer Anhänger existiert und den die Chinesen Xinjiang-Provinz nennen.

»Früher habe ich geglaubt, ein harmonisches Zusammenleben innerhalb der Volksrepublik China sei möglich«, sagt Kadeer. »Aber dann hat die chinesische Regierung uns immer stärker an den Abgrund manövriert – ihr Ziel ist es inzwischen, die uigurische Identität zu zerstören.« Immer mehr Han-Chinesen seien in Kadeers Heimat umgesiedelt worden, sagt sie. So viele, dass Land und Arbeit knapp geworden sind. »Die reichen Öl- und Gasvorkommen werden direkt von Peking kontrolliert, das Gleiche gilt für das fruchtbare Ackerland.« Die Uiguren, die einst mehrheitlich die an Tibet, Kirgisien, Kasachstan und die Mongolei grenzende Region von mehr als der vierfachen Größe Deutschlands besiedelten, seien zu Bürgern zweiter Klasse geworden. »Uiguren dürfen nicht einmal in der Öl- und Gasindustrie arbeiten, wo höhere Löhne bezahlt werden als anderswo – von leitenden Funktionen ganz zu schweigen.« Das Überleben ihres Volkes und von dessen Kultur wären aus Kadeers Sicht nur in einem eigenen Staat gesichert. Doch der wird von Tag zu Tag unerreichbarer, weil Chinas Führung konsequent all das unterdrückt, was die uigurische Identität ausmacht. Ihren muslimischen Glauben etwa dürfen die Uiguren nicht mehr öffentlich ausleben. Lange Bärte oder Kopftücher sind untersagt, das Fasten im Ramadan ebenso. Wer dagegen protestiert, wird brutal verfolgt.

Die chinesische Staatsführung hat ihre ganz eigene Version dessen, was in Xinjiang – oder Ostturkestan – passiert. Dabei bestreitet sie nicht einmal, dass sie gegen die einstige Bevölkerungsmehrheit hart durchgreift. »Die Chinesen sprechen von einem Krieg gegen den Terror«, erklärt Kadeer. Uigurische Separatisten sind für Peking islamistische Terroristen. »Die Unterdrückung der Uiguren hat aber mit Religion gar nichts zu tun, es geht um Macht und Geld«, behauptet Kadeer. »Die chinesische Staatsführung gehört nur zu denen, die den ›Kampf gegen den Terror‹ nutzen, um den Widerstand der Uiguren unter einem gefälligen Deckmantel zu brechen.« Im März 2015 wurde ein Gesetz beschlossen, das jede Art religiöser Betätigung in Xinjiang unter Generalverdacht stellt. Wer auch nur Räume vermietet, damit sich darin Gläubige zum Gebet treffen können, muss lange Gefängnisstrafen wegen der Unterstützung des Terrorismus befürchten. Wenige Monate nach dem Beschluss, im islamischen Fastenmonat Ramadan, wurde Beamten und Schülern das Fasten untersagt. Han-Chinesen wurden ermuntert, Fastende zu denunzieren. Das Gesetz ist bewusst vage gehalten, um maximale Unsicherheit und damit Angst zu schüren. Die Uiguren sollen unbedingt davon abgehalten werden, ihren eigenen Staat zu gründen.

Dabei haben sie eigentlich ein verbrieftes Recht dazu. Artikel 1 des UN-Zivilpakts besagt: »Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaft-liche, soziale und kulturelle Entwicklung.« Die beiden Sätze stehen wortgleich auch in Artikel 1 des UN-Sozialpakts. Beide Pakte, 1966 verabschiedet, stellen gemeinsam mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte für Völkerrechtler eine Art globaler »Bill of Rights« dar. Die eigentliche Bill of Rights, der erste Zusatz zur US-Verfassung, beginnt ihrerseits mit den Worten: »We the People« (»Wir, das Volk«). Dass Artikel 1 in beiden UN-Pakten gleichlautet, unterstreicht für Juristen die besondere Bedeutung ihres Inhalts. Der Schweizer Historiker Jörg Fisch zieht daraus den Schluss, »dass der Genuss des Selbstbestimmungsrechts durch ein Volk die Voraussetzung für den Genuss aller übrigen Rechte ist. Ohne Selbstbestimmungsrecht keine Menschenrechte.« Das Selbstbestimmungsrecht der Völker wird im Übrigen auf so unterschied-liche Männer wie den sowjetischen Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin und Woodrow Wilson, den ehemaligen US-Präsidenten und Begründer des Völkerbunds, zurückgeführt. Völkerrechtlich ist es auch deshalb praktisch unbestritten.

Über die Form, in der die Selbstbestimmung ihre Ausgestaltung findet, bestand 1966 bereits weitgehend Einigkeit. Die Vereinten Nationen wurden mit Unterzeichnung der UN-Charta auf der Konferenz von San Francisco am 26. Juni 1945 als Union von Nationalstaaten konzipiert. Ihre Mitglieder sind Staaten, nicht Völker. Die Zahl der Nationalstaaten wuchs in den kommenden Jahren und Jahrzehnten dramatisch an – auf Kosten anderer Staatsmodelle, allen voran der kolonialen Imperien. 1948 bestanden die Vereinten Nationen aus 74 Mitgliedern, heute sind es 193. Anstoß dafür waren mehrere politische Umwälzungen von globaler Bedeutung: Großbritannien löste in den 1950er Jahren als erste Kolonialmacht seine Kolonien im Nahen und Fernen Osten auf, andere wie Frankreich zogen bald nach. In den 1960er und 1970er Jahren wurden fast alle Kolonien in Afrika zu eigenständigen Nationen. Als Ende 1991 die Sowjetunion zerbrach, folgte eine weitere Welle neuer Staaten. 2011 wurde als bislang letzter Staat der Südsudan in die Reihen der UN aufgenommen, ein Staat, der, kaum gegründet, schon wieder zu scheitern droht (s. Kapitel Südsudan). Doch nicht nur die Zahl der Nationalstaaten hat sich erhöht, sondern auch die absolute Verbreitung der Idee, wie der Bremer Politikprofessor Philip Manow 2014 feststellte. Hätten Nationalstaaten im Jahr 1900 noch 40 Prozent der Erde bedeckt, so seien es heute mehr als 90 Prozent.

Jeder dieser Staaten nimmt für sich das absolute Gewaltmonopol in Anspruch: Nur er darf die Bürger zwangsenteignen (wir nennen das Steuern) oder festnehmen, einsperren und – im Extremfall – töten. Doch dieser Anspruch kann höchst unterschiedlich begründet werden. Da ist zum einen der autoritäre Staat, ein Staat wie der chinesische, dem Rebiya Kadeer durch die Abspaltung in die Eigenständigkeit entfliehen möchte. Er gleicht jenem Souverän, über den der Staatsphilosoph Thomas Hobbes 1651 in seinem Werk »Leviathan« schreibt. Der Ausgangspunkt der Staatsbildung ist nach Hobbes, dass jeder Bürger seine Macht an einen Souverän, den Leviathan, abtritt, um den Krieg »Jeder gegen jeden« zu verhindern. Dieser Souverän steht außerhalb des für alle anderen geltenden Rechtssystems, um das aus Hobbes’ Sicht wichtigste Ziel, nämlich die Sicherheit jedes Einzelnen im Staat, zu garantieren. Dafür müssen alle Bürger bereit sein, sich dem Souverän zu unterwerfen. Nur so, behauptet Hobbes, kann der Nationalstaat dauerhaft funktionieren.

Was aber, wenn ein Teil dieser Bürger ihren eigenen Nationalstaat gründen will, gegen den Willen eines Souveräns Hobbes’scher Lesart? Klaus Schubert und Martina Klein definieren Separatismus in ihrem Politiklexikon als »die (wirtschaftlich, sprachlich-kulturell oder ethnisch-religiös begründete) politische Absicht eines Teils der Bevölkerung, sich aus einem Staatsverband zu lösen, um einen eigenen Staat zu gründen bzw. sich einem anderen Staat anzugliedern«. Das Ziel der Separatisten ist Souveränität, die Unabhängigkeit eines von ihnen postulierten Volkes oder einer anders definierten Gruppe. Doch die Souveränität hat jeder Bürger – Hobbes zufolge – abgegeben. Verliert er sie damit für immer? Dieser Ansicht war der umstrittene Staatstheoretiker Carl Schmitt, der als »Kronjurist des Dritten Reiches« bezeichnet wurde. Schmitt verdammte die Weimarer Republik, bejubelte Hitler und segnete dessen Ermächtigungsgesetz als neue Verfassung des Deutschen Reiches ab. Kein Mann, um dessen Meinung man sich heute noch scheren muss, sollte man glauben. Doch tatsächlich sind Schmitts Theorien gefragt wie lange nicht. Von der »unheimlichen Wiederkehr Schmitts« schrieb schon 2008 der Jurist Thomas Darnstädt im Spiegel – und nahm den Kernsatz Schmitt’scher Theorie auseinander, der lautet: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« Mit diesem Satz gesteht Schmitt dem Staat absolute Macht zu – er kann sich über geltende Gesetze hinwegsetzen, wenn die »politische Einheit des Volkes« gefährdet ist, was immer genau das sein mag. Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist diese Lesart wieder en vogue. Weder Parlamente noch Gerichte, Verfassung oder Völkerrecht können Schmitt zufolge einem Staat Einhalt gebieten, der gegen eine aufbegehrende Minderheit die dubiose »Einheit des Volkes« verteidigt.

Doch gerade der Begriff des Volkes ist im Völkerrecht nicht definiert. Nicht einmal gewohnheitsrechtlich lässt er sich ableiten. Und so machen ihn sich die Chinesen ebenso wie die Separatisten um Kadeer zu eigen. Rebiya Kadeer spricht vom uigurischen Volk, dessen Auslöschung die chinesische Staatsführung betreibt. Die chinesische Staatsführung dagegen behauptet, es gebe nur ein chinesisches Volk – und die Uiguren seien dessen Teil. Ein Volk ist nach Brockhaus »eine durch dieselbe Geschichte, Sprache und Kultur verbundene Gemeinschaft von Menschen« oder auch »die Bevölkerung eines Landes«. Je nach Lesart haben Kadeer und ihre Uiguren oder die chinesische Staatsführung recht. Doch um Recht geht es ohnehin allenfalls in zweiter Linie. Auch geht es beim Kampf um Territorium, Ressourcen und Bevölkerung nicht um Gerechtigkeit. Es geht um Macht – und in diesem Machtkampf nutzt jede Seite alle Möglichkeiten, die ihr zur Verfügung stehen.

Im Fall der chinesischen Staatsführung gehört zu diesen Instrumenten des Machtkampfes die Vorspiegelung einer Volksbeteiligung (inklusive der der Uiguren), die es in Wirklichkeit nicht gibt. Einmal im Jahr lädt das Politbüro der KP, die gemeinsam mit einigen mächtigen Oligarchen die politische Richtung in der chinesischen Volksrepublik vorgibt, zum Nationalen Volkskongress. Dessen 3000 Mitglieder beschließen zum Schluss allerdings meistenteils, was die Führung vorgegeben hat. Für den Machterhalt der Regierenden spielt der Volkskongress – nicht anders als etwa die Duma in Moskau – dennoch eine zentrale Rolle: Er zementiert den Status quo. Wer opponiert, kann in den Volkskongress befördert werden, um dort beobachtet oder korrumpiert zu werden. Die Debatten im Volkskongress mit ihren für chinesische Verhältnisse oft kritischen Tönen senden nach innen und außen das Signal, dass Protest (etwa von Minderheiten wie den Uiguren oder den Tibetern) außerhalb der Institutionen unnötig ist. Und nicht zuletzt beinhaltet der Volkskongress ein Belohnungs- und Bestrafungssystem für alle, die in China politisch aktiv sind. Wer bis an die Spitze des Systems kommt, hat sich innerhalb der Strukturen bewährt und ist unweigerlich zu einer von dessen Stützen geworden. Doch man kann im Volkskongress nicht nur hoch aufsteigen, ebenso kann man tief fallen. Damit ergeben sich ungezählte Möglichkeiten der Einflussnahme, direkt und indirekt – und alle liegen innerhalb der Grenzen des Systems, das dadurch nie in Frage gestellt wird. Ein höchst effizientes Mittel gegen Separatisten, wie Kadeer aus eigener Erfahrung weiß. Auch sie war lange Jahre Spitzenfunktio-närin und Mitglied des Volkskongresses, bis sie nach einer Rede über die Unterdrückung der Uiguren 1997 ausgeschlossen wurde.

»Neue Despotien« nennt der australische Politikwissenschaftler John Keane die Regime in China, Russland und vielen anderen Staaten Zentralasiens, Afrikas oder der Arabischen Halbinsel. Sie alle haben nach Keane gemeinsam, dass sie sich auf das Volk berufen und ihre Autorität durch scheinbar demokratische Strukturen legitimieren. In diesen neuen Despotien finden Wahlen statt, die freilich stets mit großer Mehrheit von den Regierenden gewonnen werden. Oppositionelle werden vorübergehend vom Regime unterstützt, um dann von – ebenfalls vom Regime gestützten – Gegenspielern zu Fall gebracht oder – als Warnung an andere – von (manipulierten) Gerichten aus dem Verkehr gezogen zu werden, so wie Kadeer oder zahlreiche russische Oppositionelle. Wer das Regime stützt, wird belohnt. Zugang zu höheren Schulen, zu bestimmten Berufen, zu Geld, Macht, Waffen oder Industriebetrieben erhalten nur diejenigen, die sich ins Patronagesystem einordnen. In diesem System haben wenige sehr viel, die meisten haben wenig. Doch stets wird die Hoffnung genährt, dass die bisherigen Verlierer noch zu Gewinnern werden können oder zumindest das wenige, das sie ihr Eigen nennen, nicht auch noch verlieren müssen. Das alles geschieht in einem Umfeld, das politische Mitbestimmung oder Meinungsfreiheit vorspiegelt und tatsächlich die Unantastbarkeit staatlicher Grenzen zementiert. Vom »Rule by law« spricht Keane, dem Regieren durch Gesetze, im Gegensatz zum »Rule of law«, dem, was wir Rechtsstaatlichkeit nennen. Strukturen wie der Chinesische Volkskongress oder das Parlament im ebenfalls despotisch geführten Südsudan (s. Kapitel Südsudan) garantieren den neuen Despotien eine Stabilität, die in einer simplen Diktatur alter Machart nicht zu erreichen wäre.

Rebiya Kadeer wartet bis heute darauf, dass die freie Welt ihre Forderungen unterstützt und Druck auf China ausübt. »Viele Länder hoffen heute auf Chinas wirtschaftliche Unterstützung und trauen sich deshalb nicht, die Staatsführung in Peking zu kritisieren – und genau auf diesen Moment hat sie gewartet, bis sie gegen die Uiguren vorgegangen ist«, bilanziert Kadeer. Dass die (neodespotische) Staatsführung in Peking ihren Regierungskollegen in der Welt die entsprechenden Ausreden zur Verfügung stellt, indem sie etwa einen Krieg gegen den Terror inszeniert, macht es den anderen Staaten noch einfacher zu schweigen. Die etablierten Staaten stützen sich auf diese Weise gegenseitig und schwächen jede Bewegung, die einen neuen Staat ins Leben rufen will.

Für Kadeer und andere Minderheitenführer überall auf der Welt lassen die neuen Despotien nur einen Ausweg offen: die Überwindung des bisherigen Staates und die Gründung eines neuen. Unter anderem deshalb steht so derzeit ein System in Frage, das in den mehr als 70 Jahren seit Gründung der UN eine mehr oder weniger stabile Weltordnung garantiert hat. Warum, so fragt Kadeer, sollte sie den 193 völkerrechtlich anerkannten Staaten Hoffnung oder gar Vertrauen schenken, wenn die Mehrheit der Staaten Machtmissbrauch anderer Staaten nicht ahndet oder gar leugnet – und damit auf höchster Ebene Gleichheit und Gerechtigkeit in Frage stellt?

Gleichheit und Gerechtigkeit sind die Fundamente jenes Staats-ideals, das die Demokratie westlicher Prägung ausmacht. Dass Gerechtigkeit Voraussetzung für ein funktionierendes Staatswesen ist, wurde von Jean-Jacques Rousseau besonders wirksam postuliert. 1712 wird der Sohn eines Uhrmachers und einer Pastorentochter in Genf geboren. Er ist 50 Jahre alt, als er seine wichtigste staatstheoretische Schrift veröffentlicht, »Der Gesellschaftsvertrag«. Darin stellt Rousseau die demokratische Mitwirkung und die umfassende Gleichheit der Staatsbürger in den Mittelpunkt eines funktionierenden Staatswesens. Das Volk regiert sich in Ausübung seiner Souveränität selbst. Finanzier, Entscheidungsträger und Nutznießer des Staates sind deckungsgleich. Die moralische Grundlage eines solchen gerechten Staates ist der Gemeinwillen. Im Gesellschaftsvertrag, den die Bürger miteinander abschließen, unterstellt jeder Bürger diesem seinen eigenen Willen. Seine natürliche Freiheit wird ersetzt durch die Bürgerfreiheit, an die Stelle der individuellen Gewalt tritt die Staatsgewalt. Vor dem Gesetz ist jeder Bürger gleich, individuelle Schwäche wird durch die Kraft der Gemeinschaft ausgeglichen. Gesetze sind für Rousseau entsprechend nur dann gerecht, wenn sie den Willen aller zum Ausdruck bringen. Gesetze, die den Bürger zu etwas zwingen, was er nicht wollen kann, lehnt Rousseau ab. Kein Wunder: Wegen seiner revolutionären Ideen wurde er immer wieder verfolgt und musste mehrfach die Flucht ergreifen. Die separatistische Bewegung Kadeers verspricht auf ihre Weise eine Rückkehr zu Rousseau: Die Uiguren sehen im chinesischen Staat ihren Gemeinwillen unterdrückt und Gerechtigkeit nicht gegeben.

Bestehende Staaten – tatsächlich die große Mehrheit in der UN-Vollversammlung – sehen staatliche Neugründungen skeptisch. Der Globus ist aufgeteilt. In Afrika, wo die Kolonialmächte die Bevölkerung nur widerstrebend in die Freiheit entließen, ist es seit jeher die Hauptaufgabe der Afrikanischen Union (AU) beziehungsweise ihrer Vorgängerin, der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) gewesen, die Unverletzlichkeit der Grenzen auf dem Kontinent zu garantieren. Das ist umso erstaunlicher, als diese Grenzen von den Kolonialmächten einst willkürlich gezogen wurden und von einem »Gemeinwillen« der meist zusammengewürfelten Bevölkerung kaum die Rede sein kann. Doch die 53 Mitglieder im Club von Afrikas Regierenden, so unterschiedlich sie sein mögen, eint die Angst vor einem Dominoeffekt, sollte sich ein Staat von einem anderen abspalten. Nur zweimal sind in den vergangenen Jahrzehnten in Afrika neue Staaten anerkannt worden. In beiden Fällen, in Eritrea wie im Südsudan, gab es zuvor lange Bürgerkriege mit vielen Toten, die keine Seite für sich entscheiden konnte. Zähneknirschend gaben die Herrschenden nach und willigten ein, einen Teil ihres Staatsgebietes und die dortigen Ressourcen abzutreten. Dass Somaliland bis heute nicht anerkannt ist (s. Kapitel Somaliland), ist vor allem auf den Widerstand innerhalb der afrikanischen Regierungen zurückzuführen.

Doch wie verhält es sich mit Unabhängigkeitsbewegungen etwa in Katalonien oder Schottland (s. Kapitel Katalonien und Schottland), wo von einer despotischen Zentralregierung nun wirklich nicht die Rede sein kann? Warum kommt es hier scheinbar zu einer Verstärkung der Unabhängigkeitsbewegungen? Der Grund ist wohl vor allem die Machtlosigkeit, die die Demokratien Rousseau’scher Prägung heute ausstrahlen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre schien es zunächst, als sei das demokratische Modell zum einzig denkbaren geworden. Doch 20 Jahre später stehen diese Demokratien Krieg und Terror, gesellschaftlicher Ungleichheit und der Vertreibung von Millionen scheinbar machtlos gegenüber. Ihre Einflussmöglichkeiten haben die Nationalstaaten freiwillig aufgegeben, sagt der Soziologe und Globalisierungskritiker Jean Ziegler, der sich ebenfalls auf Rousseau beruft. Wie dieser hat auch Ziegler die entscheidende Zeit seines Lebens in Genf verbracht. Bei den UN machte er sich als meinungsstarker Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung einen Namen. Als ich ihn im Frühjahr 2015 treffe, ist Ziegler schon über 80, aber kämpferisch wie immer. Die Renaissance von Separatisten und Unabhängigkeitsbewegungen ist für ihn nahezu zwangsläufig, »weil sie eine Verzweiflungsreaktion ist gegen die Entfremdung, die den Völkern von der weltweiten Konzerndiktatur aufgezwungen wird«. Die 500 größten transkontinentalen Privatkonzerne, so Ziegler, kontrollierten nach Berechnungen der Weltbank mehr als die Hälfte des weltweiten Bruttosozialprodukts. »Die haben eine Macht, wie sie nie ein König, ein Kaiser, ein Papst in der Geschichte der Menschheit gehabt hat. Und sie haben ein einziges Funktionsprinzip: die Gewinnmaximalisierung in möglichst kurzer Zeit.« Zwar sei die globale Landwirtschaft inzwischen (ebenfalls nach UN-Berechnungen) problemlos imstande, zwölf Milliarden Menschen zu ernähren. Dass das nicht geschieht, liegt laut Ziegler daran, dass der Zugang zur Nahrung nur denen gewährt wird, die dafür zahlen können.

Anders als in den neuen Despotien, die nach Belieben Regeln zu ihrem eigenen Vorteil beugen und erfinden, unterwerfen sich Ziegler zufolge Regierungen selbst großer Demokratien freiwillig einer Ideologie, die ihre Handlungsfreiheit massiv beschneidet. »Das ist die neoliberale Wahnidee, die Legitimationstheorie globaler Konzerne – die sagt, dass Marktkräfte die Welt beherrschen und die Ökonomie nach Naturgesetzen funktioniert. Das ist natürlich eine totale Lüge!« Und doch sei die neoliberale Marktwirtschaft die letzte große Ideologie, auf deren Grundlage Regierungen, Zentralbanken oder multilaterale Einrichtungen wie die Welthandelsorganisation agierten. Die Folgen, sagt Ziegler, seien fatal. »Die Nationalstaaten, auch die größten wie Deutschland, verlieren fortschreitend an Souveränität. Wenn eine Regierung etwas beschließt, was den Konzernen nicht passt, dann wandern die ab. Konzernsprecher stellen sich dann hin und sagen, die Marktkräfte haben reagiert.« Ähnlich bewertet Ziegler die Milliardentransfers nach Griechenland, die vor allem Banken in den reichen Staaten Europas begünstigten. Zwar könnten Regierungen abgewählt werden, gerade in einem demokratischen Land wie Deutschland, wo viele Konzerne ihren Sitz haben. Doch sei die neoliberale Ideologie in Parteiprogrammen aller Couleur enthalten. Die Bürger hätten in dieser Frage deshalb kaum eine Wahl. Eine Alternative biete sich nur in einem neuen Staatswesen, in dem der Mensch nicht mehr auf seine Warenfunktionalität als Konsument und Produzent reduziert werde, so Ziegler. »Deshalb sieht man jetzt Lokalidentitäten, die man längst verschüttet glaubte, wieder auferstehen und zu einer politischen Kraft werden.« Das Volk müsse seine verfassungsrechtlich garantierten Waffen ergreifen – Wahlrecht, Demonstrationsrecht, Gewerkschaftsfreiheit. Der alte Nationalstaat an sich sei aber nicht wiederzubeleben, glaubt Ziegler. »Die Konzernmacht hat ihn zerstört.«

Mit den neuen Nationalstaaten, für die die in diesem Buch vorgestellten Separatisten und Unabhängigkeitsbewegungen kämpfen, verbindet sich oftmals die Hoffnung auf Wandel und eine Renaissance des ursprünglichen Staatsideals – eine (vorgebliche) Rückkehr zu einem bürgerlichen Bollwerk gegen Diktatur oder Konzernmacht, je nachdem. Uiguren, Katalanen und Schotten, Québecer und Ostukrainer, Transnistrier und Somaliländer streben deshalb nach einem eigenen Staat, Taiwaner, Palästinenser, Kurden und Kosovaren ebenso – trotz aller Unterschiede. Die Südsudanesen haben ihn bereits. Nur in wenigen Kapiteln dieses Buches wird über alternative Ziele zum klassischen Nationalstaat berichtet. Die Samen etwa, die ihre Geschicke selbst bestimmen wollen, aber zumindest vorläufig kein eigenes Staatsgebiet fordern. Oder die Südtiroler, die als autonome Region im geeinten Europa ihren Platz gefunden haben. »Die Nationen sind tot, sind aber die Einzigen, die es noch nicht wissen«, erklärte 2014 der österreichische Autor Robert Menasse dazu passend bei einem Festakt in Südtirol, 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs. »Wir Europäer sind Zeugen eines faszinierenden Prozesses: wir bilden den ersten nachnationalen Kontinent und die erste nachnationale Demokratie.« Doch angesichts der Griechenlandkrise im Sommer 2015, wo nationale Egoismen dominieren, mag man das bezweifeln.

Zumindest innerhalb der Europäischen Währungsgemeinschaft schränken tatsächliche oder mutmaßliche Wirtschaftsinteressen die politische Handlungsfähigkeit gewählter Regierungen und damit die des Wahlvolks immer weiter ein. Vor einer »Entkopplung der nationalen Öffentlichkeiten und Parlamente von dem abgehobenen, technokratisch verselbständigten Konzert der markthörigen Regierungen« warnt Jürgen Habermas in einem Aufsatz mit der Überschrift »Demokratie oder Kapitalismus?«. Doch während Habermas in der Konsequenz für den Ausbau der europäischen Währungsgemeinschaft zu einer supranationalen Demokratie eintritt, plädiert der Soziologe Wolfgang Streeck für eine Rückkehr zum Nationalstaat: einem Staat, der in der Lage ist, Institutionen aufzubauen, mit denen Märkte unter soziale Kontrolle gebracht werden können. Er plädiert dafür, »die Reste jener [nationalstaatlichen] politischen Institutionen so gut wie möglich zu verteidigen und instand zu setzen, mit deren Hilfe es vielleicht gelingen könnte, Marktgerechtigkeit durch soziale Gerechtigkeit zu modifizieren und zu ersetzen«.

Der zunehmende Eindruck, dass Staaten den Interessen des Marktes oder globaler Konzerne immer öfter machtlos gegenüberstehen und Teile ihrer Souveränität abgegeben haben – siehe TTIP und andere Freihandelsabkommen –, befördert demnach die Rückbesinnung auf den Nationalstaat, die Region und im extremsten Fall die Abspaltung, den Separatismus. Viele Unterstützer der Unabhängigkeitsbewegungen in Katalonien oder Schottland wün-schen sich einen Staat, wie er vielleicht einmal war, zu sein schien oder zumindest sein sollte: nah am Bürger, verständlich in seinen Entscheidungen sowie beeinflussbar durch den Willen des Volkes und – in letzter Konsequenz – des einzelnen Bürgers. Sie fordern einen neuen Gesellschaftsvertrag. Ob der separate Staat diese Erwartungen tatsächlich erfüllen kann, ist ungewiss. Derzeit haben kleine Staaten – etwa in internationalen Verhandlungen – scheinbar weniger Spielraum als große. Dafür müssen sie freilich nach innen weniger Kompromisse machen. Was besser ist, bleibt abzuwarten.

Andere Separatisten kämpfen dagegen für einen starken Souverän, oft vor allem, um die Sicherheit des Einzelnen zu garantieren – ganz im Sinne von Hobbes. Im Osten der Ukraine oder in Transnistrien (s. Kapitel Ukraine und Transnistrien) glauben viele Unterstützer der Separatistenbewegungen, dass nur ein mächtiger Mann an der Spitze des Staates Ordnung und damit Wohlstand garantieren kann.

Die einst geordnete Welt scheint immer mehr in Unordnung zu geraten. Fest steht heute: Separatisten werden dazu beitragen, sie zu verändern. Auf welche Weise? Das lässt sich nur im Einzelfall beantworten. Die unterschiedlichen Motive und Ziele von Separatisten und Unabhängigkeitskämpfern zu beleuchten: dazu wollen die folgenden Kapitel von überall auf dem Globus beitragen. Dabei trägt jedes Beispiel eine eigene Facette zum Gesamtbild bei; die Kapitel bauen inhaltlich aufeinander auf. Zum Auftakt geht es um die Motive und Wünsche der Separatisten in Katalonien, Schottland oder Québec, die eine Loslösung aus Demokratien westlicher Prägung anstreben. Im Osten der Ukraine und in Transnistrien spielt das Vorbild Russlands eine wichtige Rolle. Die Separatisten in Somaliland wiederum haben längst alle Institutionen eines Staates gegründet, doch fehlt ihnen die internationale Anerkennung. So wie Somalia Anspruch auf ihr Territorium erhebt, so erhebt die Volksrepublik China Anspruch auf Taiwan als »unabtrennbaren Teil Chinas«. Die PLO, die seit Generationen um Anerkennung ihres Palästinenserstaates wirbt, gehört zu denen, die zumindest zeitweise mit Gewalt für ihr Ziel gekämpft haben. So tun es die Peschmerga und die PKK, deren Kampf für ein unabhängiges Kurdistan in den darauffolgenden Kapiteln vorgestellt wird. Die sudanesische Volksbefreiungsarmee dagegen hat ihr Ziel, einen eigenständigen Südsudan, mit Waffen erreicht – doch der jüngste Staat der Welt zerfällt bereits wieder.

Wie man sich erfolgreich und friedlich trennt, das zeigt dann das Beispiel Tschechiens und der Slowakei. Auch in Südtirol, wo die Unabhängigkeitsbewegung einst stark war, ist der Konflikt friedlich beigelegt worden – dank der europäischen Integration. Auf deren Kraft hofft man auch im unabhängigen Kosovo, der der internationalen Anerkennung Schritt für Schritt näher rückt. Wie man selber einen Staat macht, zeigen schließlich die Beispiele von Sealand und Liberland, die nicht zuletzt die Frage wieder aufwerfen, was einen Staat eigentlich ausmacht. Die Samen, die im darauffolgenden Kapitel vorgestellt werden, verstehen sich zwar als Nation, verzichten aber auf ihr eigenes Staatsgebiet. Das macht Kompromisse und Erfolge sehr viel einfacher als bei anderen Separatistenbewegungen und sichert den Samen – zumindest teilweise – die Unterstützung der anerkannten Staatengemeinschaft. Abschließend werden zwei grundsätzliche Fragen aufgegriffen, die in allen Kapiteln eine Rolle spielen: Wer ist im Recht – Separatisten oder ihre Gegner, die Verteidiger der etablierten Staaten? Und wie kann man es ganz praktisch schaffen, als unabhängiger Staat anerkannt zu werden? Der Blick nach Katalonien liefert im folgenden Kapitel dazu erste Anregungen