Lew Nikolajewitsch Tolstoi


Herr und Knecht



Novelle

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-187-9


Für Fragen und Anregungen: info@ruthebooks.de


RUTHeBooks
Johann-Biersack-Str. 9
D 82340 Feldafing
Tel. +49 (0) 8157 9266 280
FAX: +49 (0) 8157 9266 282
info@ruthebooks.de
www.ruthebooks.de

Zehntes Kapitel



Vor Tagesanbruch wachte Nikita auf. Es weckte ihn die Kälte, die ihm wieder in den Rücken zu dringen begann. Es hatte ihm geträumt, er käme mit einer seinem Herrn gehörigen Fuhre Mehl von der Mühle, verfehlte bei Ljapino die Brücke und bliebe mit der Fuhre stecken. Und nun sah er sich im Traume, wie er unter die Fuhre kroch und sie zu heben versuchte, indem er sich mit dem Rücken dagegen stemmte. Aber seltsam! Die Fuhre bewegt sich nicht und haftet fest an seinem Rücken, und er vermag weder die Fuhre zu heben noch unter ihr wieder hervorzukriechen. Das ganze Kreuz ist ihm zerquetscht. Und dabei ist sie eiskalt! Es ist klar, dass er sich Mühe geben muß hervorzukriechen. "Na, nun ist's genug!" sagt er zu jemand, zu demjenigen, der ihm die Fuhre auf den Rücken preßt. "Nimm die Säcke herunter!" Aber die Fuhre wird immer kälter und kälter und drückt ihn immer schlimmer, und auf einmal hört er ein sonderbares Klopfen und wird davon vollständig wach und erinnert sich an alles Vorhergegangene. Die kalte Fuhre, das war sein erfrorener, toter Herr, der auf ihm liegt. Und derjenige, der da geklopft hatte, das war der Braungelbe gewesen, der zweimal mit den Hufen gegen den Schlitten geschlagen hatte.

"Andrejitsch, he, Andrejitsch!" ruft Nikita, der schon die Wahrheit ahnt, vorsichtig seinen Herrn an und krümmt mit Anstrengung seinen Rücken, um in die Höhe zu kommen.

Aber Wasili Andrejitsch gibt keine Antwort, und sein Bauch und seine Beine sind steif und kalt, und schwer wie Bleigewichte.

"Er muß wohl gestorben sein. Gott gebe ihm die ewige Seligkeit!" denkt Nikita.

Er dreht den Kopf ein paarmal hin und her, gräbt sich mit der Hand durch den auf ihm liegenden Schnee hindurch und öffnet die Augen. Es ist schon hell. Der Wind pfeift noch ebenso um die Deichselstangen, und das Schneetreiben ist noch ebenso dicht, nur mit dem Unterschiede, dass der Schnee jetzt nicht mehr mit peitschendem Tone gegen die Bastwand des Schlittens schlägt, sondern lautlos Schlitten und Pferd immer höher und höher bedeckt und keine Bewegung und kein Atmen des Pferdes mehr zu hören ist. "Der muß wohl auch erfroren sein," denkt Nikita mit Bezug auf den Braungelben. Und wirklich waren jene Hufschläge gegen den Schlitten, von denen Nikita aufgewacht war, die letzten Anstrengungen vor dem Tode gewesen, durch die der schon ganz erstarrte Braungelbe versucht hatte, sich auf den Beinen zu halten.

"Mein Gott, Vater im Himmel, gewiß rufst du nun auch mich," sagt Nikita zu sich selbst. "Dein heiliger Wille geschehe. Aber mir ist doch bange. Nun, zweimal braucht man nicht zu sterben, und dass man einmal stirbt, ist unvermeidlich. Wenn's nur recht schnell ginge ..." Er steckt seine Hand wieder unter, schließt die Augen und verliert das Bewußtsein, völlig überzeugt, dass er jetzt sicher und gänzlich sterbe.

Es war schon Mittag, als Bauern mit Schaufeln Wasili Andrejitsch und Nikita ausgruben, achtzig Schritt seitwärts von der Landstraße und eine halbe Werst vom Dorfe entfernt.

Der Schnee lag höher, als der Schlitten war; aber die Deichselstangen und das Tuch daran waren noch sichtbar gewesen. Der Braungelbe stand bis an den Bauch im Schnee; der Umlaufriemen und der Sack waren ihm vom Rücken heruntergeglitten. Das Tier sah am ganzen Leibe weiß aus; den toten Kopf hielt es gegen den erstarrten Kehlkopf gedrückt. Die Nüstern waren von Eisstücken erfüllt, die Augen bereift und gleichfalls wie mit gefrorenen Tränen überzogen. Das Pferd war in der einen Nacht so abgemagert, dass nur Haut und Knochen an ihm übriggeblieben waren. Wasili Andrejitschs Körper war starr geworden wie der eines geschlachteten, gefrorenen Tieres, und in derselben Haltung, in der er auf Nikita gelegen hatte, mit gespreizten Beinen, wurde er von diesem herabgewälzt. Die vorstehenden Habichtsaugen waren überfroren, und der offene Mund unter dem kurzgeschnittenen Schnurrbart mit Schnee vollgestopft. Nikita dagegen, obgleich völlig erstarrt, war noch am Leben. Als man ihn aufweckte, war er überzeugt, dass er bereits gestorben sei, und dass das, was mit ihm jetzt geschah, nicht mehr in dieser, sondern in jener Welt vorgehe. Als er das Schreien der Bauern hörte, die ihn ausgruben und Wasili Andrejitschs Leichnam von ihm herunterwälzten, da war er zuerst darüber erstaunt, dass in jener Welt die Bauern ebenso schrien wie auf Erden; nachdem er aber dann begriffen hatte, dass er noch hier in dieser Welt sei, war er darüber eher betrübt als erfreut, namentlich als er merkte, dass ihm an beiden Füßen die Zehen erfroren waren.

Zwei Monate lag Nikita im Krankenhaus. Drei Zehen wurden ihm abgenommen; aber die übrigen heilten, so dass er wieder arbeiten konnte. Er lebte noch zwanzig Jahre, zuerst als Knecht, dann in höherem Alter als Wächter. Gestorben ist er erst in diesem Jahre, bei sich zu Hause, wie er sich das gewünscht hatte, unter den Heiligenbildern und mit einer brennenden Wachskerze in der Hand. Vor seinem Tode bat er seine Frau um Verzeihung und verzieh auch ihr den Böttcher, nahm Abschied von seinem Sohne und seinen Enkelkindern und starb, aufrichtig erfreut darüber, dass er durch seinen Tod seinen Sohn und seine Schwiegertochter von der Last eines überflüssigen Essers befreie, sowie darüber, dass er nunmehr wirklich aus diesem Leben, das er satt hatte, in jenes andere Leben übergehe, das ihm von Jahr zu Jahr und von Stunde zu Stunde immer verständlicher und lockender geworden war. Ob es ihm dort, wo er nach diesem wirklichen Tode erwacht ist, besser oder schlechter geht, ob er sich enttäuscht gesehen oder ebendas gefunden hat, was er zu finden erwartete, das werden wir alle bald erfahren.

 

 

Inhalt




Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

 

 

 

Erstes Kapitel



Es war in den siebziger Jahren, an einem 7. Dezember, also am Tage nach St. Nikolaus. Im Kirchspiel war Feiertag, und der Herbergswirt und Kaufmann zweiter Gilde Wasili Andrejitsch Brechunow hatte das Dorf noch nicht verlassen können; denn zuerst hatte er in der Kirche anwesend sein müssen, da er Kirchenältester war, und dann hatte er nicht umhin gekonnt, in seinem Hause seine Verwandten und Bekannten zu empfangen und zu bewirten. Aber nun waren die letzten Gäste abgefahren, und Wasili Andrejitsch machte sich bereit, sofort zu einem benachbarten Gutsbesitzer zu fahren, um diesem einen kleinen Wald abzukaufen, um den er schon lange gehandelt hatte. Wasili Andrejitsch hatte es mit dieser Fahrt eilig, damit ihm nicht städtische Händler dieses vorteilhafte Geschäft wegschnappten. Der junge Gutsbesitzer forderte für den Wald nur aus dem Grunde zehntausend Rubel, weil Wasili Andrejitsch ihm siebentausend dafür geboten hatte. Diese siebentausend Rubel bildeten aber nur den dritten Teil des wirklichen Wertes des Waldes. Wasili Andrejitsch hätte vielleicht noch länger um den Preis gefeilscht, da der Wald in seinem Bezirke lag und zwischen ihm und den andern ländlichen Händlern des Kreises schon seit langer Zeit eine Abmachung bestand, nach welcher ein Händler in dem Bezirke eines andern den Preis nicht in die Höhe treiben durfte; aber Wasili Andrejitsch hatte erfahren, dass Holzhändler aus der Gouvernementsstadt vorhätten, nach Gorjatschkino zu fahren und um den Wald zu handeln, und so hatte er denn beschlossen, sofort selbst hinzufahren und die Sache mit dem Gutsbesitzer zum Abschluß zu bringen. Sowie ihn daher der Feiertag loskommen ließ, nahm er aus dem Kasten siebenhundert Rubel, die ihm gehörten, tat noch zweitausenddreihundert Rubel Kirchengelder, die er in Verwahrung hatte, dazu, so dass dreitausend Rubel herauskamen, zählte die ganze Summe sorgsam durch, steckte sie in seine Brieftasche und traf Anstalten zur Abfahrt.

Der Knecht Nikita, der einzige von Wasili Andrejitschs Leuten, der an diesem Tage nicht betrunken war, ging hinaus, um anzuspannen. Der Grund, weswegen Nikita an diesem Tage nicht betrunken war, war der: er war ein arger Trinker; aber nach der Fastnacht, wo er die Jacke vom Leibe und seine Lederstiefel vertrunken hatte, hatte er das Trinken verschworen und nun schon seit mehr als einem Monat nicht mehr getrunken; auch jetzt hatte er nicht getrunken, trotz der starken Verführung, da überall an diesen beiden ersten Festtagen eine tüchtige Menge Branntwein konsumiert wurde.

Nikita war ein Bauer aus einem Nachbardorfe und jetzt fünfzig Jahre alt; er war, wie man von ihm sagte, kein rechter Hauswirt und hatte den größten Teil seines Lebens nicht in seinem eigenen Hause, sondern bei andern Leuten als Knecht verbracht. Überall schätzte man ihn wegen seines Fleißes, seiner Geschicklichkeit und Arbeitskraft, ganz besonders aber wegen seines guten, freundlichen Wesens; aber nirgends blieb er lange im Dienst, weil er etwa zweimal im Jahre, mitunter auch häufiger, ins Trinken hineingeriet und dann nicht nur alles vertrank, was er auf dem Leibe hatte, sondern auch händelsüchtig und gewalttätig wurde. Auch Wasili Andrejitsch hatte ihn schon ein paarmal fortgejagt, ihn aber immer wiedergenommen, da Nikitas Ehrlichkeit, seine Liebe zu den Tieren und vor allem seine Anspruchslosigkeit bei ihm stark ins Gewicht fielen. Wasili Andrejitsch zahlte ihm nicht achtzig Rubel, was der angemessene Lohn für einen solchen Knecht gewesen wäre, sondern vierzig Rubel, und diese verabfolgte er ihm ohne genaue Abrechnung, in kleinen Posten, und großenteils nicht in barem Gelde, sondern in Gestalt von hoch berechneten Waren aus seinem Laden.

Nikitas Frau, Marfa, die früher einmal ein hübsches, flinkes Weib gewesen war, wirtschaftete zu Hause mit einem nahezu erwachsenen Sohne und zwei Töchtern und forderte ihren Mann gar nicht dazu auf, zu Hause zu wohnen, erstens weil sie schon seit zwanzig Jahren mit einem aus einem fremden Dorfe stammenden Böttcher zusammenlebte, der bei ihnen im Hause wohnte, und zweitens weil sie zwar mit ihrem Manne ganz nach ihrem Belieben umsprang, wenn er nüchtern war, aber eine Heidenangst vor ihm hatte, sobald er zu trinken anfing. Einmal, als Nikita sich zu Hause betrunken hatte, hatte er, wahrscheinlich um sich an seiner Frau für die Knechtung zu rächen, die er in nüchternem Zustande erlitt, ihre Truhe erbrochen, ihre besten Kleider hervorgeholt, das Beil genommen und alle ihre Röcke und Umhänge auf dem Hauklotz in kleine Stückchen zerhackt. Der gesamte Lohn, welchen Nikita verdiente, wurde seiner Frau ausgehändigt, und Nikita erhob dagegen keinen Widerspruch. So war Marfa auch diesmal zwei Tage vor dem Feste zu Wasili Andrejitsch gekommen, hatte sich von ihm Weizenmehl, Tee, Zucker und ein Achtel Branntwein, zusammen für ungefähr drei Rubel, sowie noch fünf Rubel in bar geben lassen und sich dafür wie für eine besondere Gnade bedankt, während doch Nikita, selbst bei niedrigster Berechnung, von Wasili Andrejitsch zwanzig Rubel zu fordern hatte.

"Ich habe doch mit dir keinen förmlichen Kontrakt gemacht," pflegte Wasili Andrejitsch zu Nikita zu sagen. "Wenn du etwas brauchst, so lass es dir von mir geben; du wirst es schon abarbeiten. Bei mir ist es nicht wie bei anderen Leuten, wo das Gesinde auf seinen Lohn bis zum Termin warten muß und dann peinlich gerechnet wird und Strafabzüge gemacht werden. Zwischen uns beiden geht es anständig zu: du dienst mir, und ich lasse dich nicht im Stiche." Und wenn Wasili Andrejitsch in dieser Weise redete, so war er der aufrichtigen Meinung, dass er Nikitas Wohltäter sei; denn was er sagte, überzeugte ihn selbst, und alle Leute, Nikita allen voran, bestärkten ihn, um sich seine Gunst zu erhalten, durch ihre Zustimmung in dieser Überzeugung.

"Das sehe ich ja auch ein, Wasili Andrejitsch, und ich meine, ich diene Ihnen so eifrig, wie wenn Sie mein leiblicher Vater wären. Ich sehe es sehr wohl ein," antwortete Nikita, der sehr wohl einsah, dass Wasili Andrejitsch ihn betrog, sich aber sagte, dass er keinen Versuch machen dürfe, seine Rechnung mit ihm klarzustellen, sondern, solange er keine andere Stelle habe, dableiben und nehmen müsse, was man ihm gebe.