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Mauerpark

Ach, Mauerpark, ick liebe dir. Obwohl du oft so häßlich bist. Obwohl in dir heute, Sonntag, sicher noch der Müll von gestern Abend liegt. Und obwohl da heute Abend sicher noch viel mehr Müll liegen wird und du wieder überfüllt sein wirst, ich mag dich, Mauerpark. Und bin damit nicht allein, Tausende mögen dich und strömen herbei, zum Flohmarkt, zum Mauerpark-Karaoke, oder um einfach bloß im Gras zu liegen. Mauerpark, mir gefällt der sonntägliche Ausnahmezustand, der Volksauflauf, mir gefällt, daß jede Woche Woodstock ist, mir gefällt die sich an sich selbst berauschende Menge, die auf der Wiese tanzt, sich filmt und fotografiert und das gleich postet. Und ja, mir gefällt, daß sie alle kommen, aus der ganzen Welt, sagt mir das nicht, ja, ich lebe in einer attraktiven Stadt?

Mauerpark, mir gefallen die paar Stufen aus roh behauenen Granitblöcken, die von der Bernauer Straße auf das ehemalige Güterbahnhofgelände führen, es geht hinauf wie auf das Podest eines griechischen Tempels, dahinter liegt ein locker gepflanzter Hain. Ach Mauerpark, mir gefällt, daß die Mauer hier nicht mehr steht, kein einziger Meter, was manche Besucher verwirrt. Sie fragen nach ihr oder halten das Stück Hinterlandmauer oben auf dem Stadionhügel für Mauer. Dabei ist die Topographie der Teilung noch immer gut zu erkennen: Park ist der Mauerpark nur im ehemaligen Osten, hier wurde auf dem früheren Todesstreifen Parklandschaft angelegt, der Landschaftsarchitekt heißt Gustav Lange, er hat einen wunderbaren Garten mit Pappeln und Pyramideneichen geschaffen, die alte, kopfsteingepflasterte Schwedter Straße führt hindurch, neben ihr der Hang, der in DDR-Zeiten zum Bau des Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportparks aus Bombentrümmern aufgeschüttet wurde, im Winter sind halsbrecherische Schlittenfahrten möglich.

Mauerpark, mir gefallen deine großen Schaukeln oben auf dem Hügel, auf diesen Schaukeln läßt sich über die tristhübsche Hüttenlandschaft und das Brennstofflager hinweg Richtung früherer freier Westen schaukeln, in den Himmel über Berlin hinein. Und mir gefällt die Hinterlandmauer zum Stadion, die Farbe, hier darf gesprüht werden, pappt in daumendicken Schichten wie Blätterteig auf dem Beton.

Mauerpark, wochentags gefällst du mir noch besser, wochentags bist du so leer. Mauerpark, ich liebe im Sommer dein blau-violett blühendes Gestrüpp, das den Boden des Stadionhangs bedeckt, nein, leider kein Lavendel, es duftet nicht, sieht von fern nur so aus wie Lavendel, schön wär’s. Es ist eine Salbei-Art. Und Mauerpark, ich liebe die Abende, ein oder zwei im Jahr, wenn die Junikäfer schlüpfen und herumfliegen, Tausende brummen herum und paaren sich. Und die Parkbesucher tun es ihnen gleich, im Dunkeln, unter den nichtleuchtenden Flutlichtmasten, die wie zwei schlanke Riesen über das Gelände wachen.

Mir gefallen die Findlinge, auf denen die Kinder klettern, und mir gefällt, was Mütter und Väter da so alles mit ihren Kindern anstellen müssen: Frisbee spielen, kicken, Schlagballwurf üben, Drachen steigen lassen oder eben, Verzweiflung, das Kind weint, nicht steigen lassen. Und mir gefallen die Kinderwagenkohorten auf dem Kopfsteinpflaster, auf dem sich nicht so gut radfahren läßt.

Mauerpark, mir gefallen auch deine Entrepreneure, die Flaschensammler, die leere Pfandflaschen suchen, die Kuchenmädchen, die sonntags Selbstgebackenes verkaufen, die Minidrachenverkäufer, der Seifenblasenmann mit seinen Riesenseifenblasen und der Hula-Hoop-Promoter mit seinen Ein- und Vortänzerinnen. Mir gefallen auch die wechselnden Musiker, die hinter ihren aufgeklappten Koffern Folk oder Anti-Folk spielen, Mauerpark, manchmal liebe ich sogar deine Trommler, die da die halbe oder die ganze Nacht durchtrommeln und herrlich nerven, so ist sie halt, die große Stadt.

Mauerpark, mir gefällt, daß dein Amphitheater, das jahrelang eher unbeachtet im Hang ruhte seit 2009 Ort des mittlerweile weltberühmten Mauerpark-Karaoke ist, Tausende sitzen sonntags da, hören zu und schauen. Von der Wiese betrachtet sieht das aus, als niste eine gigantische Vogelkolonie auf einem Felsen, ein Berlin-Werbefilm könnte sich kein besseres Bild ausdenken, Veranstalter Joe Hatchiban sollte vom Senat bezahlt werden.

Mir gefällt, daß der Mauerpark eine internationale Öffentlichkeit herstellt, von der Europa-Politiker träumen; hier trifft sich die Jugend der Welt, und, so sieht es aus, da bleibt eben Müll zurück. Angekokelte Einweg-Grills, Tetrapaks und Plastiktüten. Grilldunst kann sonntagabends wie eine Nebelwolke über der Wiese liegen, obgleich Grillen im Mauerpark eigentlich verboten ist, aber, Mauerpark, ach, ich liebe deine fetten Krähen, die von den Grillresten leben. Sie haben sich so schwer gefressen, sie können kaum noch fliegen.

Ja, mir gefällt das Wimmelbild Mauerpark und wie hier Berlin gespielt wird, und es macht nichts, daß die meisten, die hier Berlin spielen, vielleicht gar nicht in Berlin wohnen, egal, hier sind auch sie Berlin.

Mir gefällt das große Klettergerüst aus ganzen Baumstämmen, dessen Regenbogenfarben lange ausgeblichen waren, erst kürzlich wurde es wieder neu gestrichen, diesmal hoffentlich mit abriebfester Farbe. Und ich liebe das Birkenwäldchen, das sich bis zum Gleimtunneldach erstreckt, das kleine Stück Sibirien, in dem Mädchen auf Decken liegen und lesen oder sich bloß sonnen. Oder Kiffen. Oder in einer Hängematte zwischen zwei Bäumen schaukeln. Kindergeburtstage werden im Kifferwäldchen gern gefeiert, einer feiert immer, manchmal auch mit Stromerzeuger und Soundsystem.

Mir gefällt das eingezäunte Taubenhaus auf dem früheren Niemandsland, mir gefallen die beiden immer traurig schauenden Pferde des Kinderbauernhofs, seine Ziegen und die Kaninchen. Mir gefällt die hohe Kletterwand, die aussieht, als könnte sie gleich umfallen. Und ich mag den tollen Blick auf die nur den Stadtfüchsen und den S-Bahnen zugängliche Nordkreuzwildnis.

Und, Mauerpark, mir gefällt, wie viele Menschen sich für deine Vollendung engagieren, denn eigentlich bist du ja noch immer nicht fertig, eigentlich hätte bis 2010 ein mindestens zehn Hektar großer Park entstehen müssen, das Land muß sonst eines Tages einen Millionen-Betrag erstatten. Und mir gefällt wie die neue Stiftung Welt-Bürger-Park für einen Mauerpark ohne Bebauung kämpft. Und ach, Mauerpark, mir würde es gefallen, wenn sich einer fände, der in einer Nacht mal einen der auf den Luxus-Loft-Baustellen der Umgebung herumstehenden Bagger kurzschließen und die seit Jahren überfällige Parkerweiterung in einer Nacht erledigen würde. Er müßte nur die Zäune, Lagerflächen und die Flohmarktwucherungen plattwalzen. Wäre das schön – denn ist es nicht eine politische Peinlichkeit, daß es bald fünfundzwanzig Jahre nach Mauerfall noch immer keinen Mauerpark-Zugang von der Weddinger Seite gibt?*

Ach, Mauerpark, ich liebe deine Wiese, die im Spätsommer gar keine Wiese mehr ist, englischer Rasen sieht anders aus. Mauerpark, du bist eine kleine Steppe, ein Stück Berlin-Prärie, sieht aus, als ob Büffelherden über dich hinweg getrampelt wären.

Und, Mauerpark, ich muß lachen, als ich lese, daß um deinen historischen Vorläufer, den alten Exerzierplatz, der sich ein Stück weiter östlich befand (dort, wo heute das Stadion und seine Nebenplätze liegen), bereits ähnlich gestritten wurde. Anwohner klagten über unerträgliche Zustände auf dem stark frequentierten Gelände, zu dem jedermann Zutritt hatte, sie forderten damals, so um 1900, den Bau einer Mauer …

* Wunder geschehen. Seit Ende Juli 2013 führt ein asphaltierter Weg von der Lortzingstraße Richtung Max-Schmeling-Halle, die West-Ost-Passage ist endlich offen.



Impressum und Copyright

Erste Auflage
Verbrecher Verlag Berlin 2013

www.verbrecherverlag.de


© Verbrecher Verlag 2013

Lektorat: Marcel Regenberg und Kristina Wengorz
Satz und Ebook-Erstellung: Christian Walter

ISBN Print: 978-3-943167-41-2
ISBN Epub: 9783943167665
ISBN Mobipocket: 9783943167672

Der Verlag dankt Adrian Breda, Giorgi Jamburia, Doris Mall und Julia Mielewski.

Der einsamste Esser von Mitte

Wer einen ruhigen, durch und durch ungestörten Abend in einem riesigen Restaurant verbringen möchte, der sollte die Weltbühne, das leerste Lokal Berlins, besuchen. Er wird der einsamste Esser sein. Das leerste Lokal Berlins liegt in der Gormannstraße, hat eine sehr lange Bar, eine Klimaanlage, einen offenen Konzertflügel neben dem Tresen, eine Lounge mit Sesseln und ein Klavier im Speisesaal. Und einen Barmann, der jeden, der eintritt, euphorisch begrüßt. Der Gast hat die Wahl zwischen dreißig leeren Barhockern, leeren Stehtischen und leeren Ledersesseln. Keiner da, und doch brennt auf jedem Tisch eine Kerze.

Für den Aperitif schneidet der Herr der leeren Weltbar, wie sie sich nennt, die erste Zitrone des Abends an. Später weist er dem Gast den Weg ins Restaurant Weltbühne, weiter hinten im Haus. Dort nimmt der Kellner dem Gast den Mantel ab und hängt ihn an die Garderobe, verzichtet jedoch darauf, eine Garderobenmarke auszuhändigen. Sein Mantel ist der einzige Mantel, alle anderen Bügel sind leer. Der Kellner sagt: »Bitte, suchen Sie sich doch einen Platz.« Der Gast sagt: »Danke«, und findet einen ohne jede Mühe. Alle Stühle, alle Bänke im Saal sind leer. Auf einem einzigen Tisch steht ein »Reserviert«-Schild. Es steht so da, daß es von draußen gelesen werden kann.

Lokale in Mitte lassen sich viel einfallen, um Gäste anzulocken. In einem Restaurant Unter den Linden darf in der Herrentoilette auf Eiswürfel uriniert werden. Es gibt Bars mit Tresen aus Silber, andere mit Betten im Raum oder überlebensgroßen Bildern nackter Frauen an der Wand. Andere Orte wiederum warten mit halbprominenten Besitzern oder mobilen japanischen Nudelsuppenküchen auf, die mitten in einem großen Lokal ein Sub-Lokal eröffnen. Und damit alle Japaner der Stadt anlocken.

Die Weltbühne – »Café, Bar und Restaurant«, wie es auf der Streichholzpackung heißt – wollte wohl einfach durch Perfektion überzeugen. Vielleicht war es auch der Wunsch des Architekten, an ein großes Pariser Restaurant zu erinnern. Dunkles Holz, venezianische Lampen, Lederbezüge, direkte und indirekte Beleuchtung: gediegen und künstlich zugleich. Der Gestalter war auch Bühnenbildner, die Innenarchitektur hat Dramaturgie. Dieser Saal müßte laut und voll sein, denkt der einsame Gast. In der Stille, in die nur die Umwälzpumpe des leeren Aquariums hineinplätschert, vertreiben nur Rückblenden die Zeit. In einem Film müßte die Wahrnehmung des einsamsten Gasts von Mitte sich mit einer in Wirklichkeit leider fehlenden Geräuschsinfonie aus der Erinnerung füllen. Mit eingespieltem Frauenlachen, Silberbesteckklappern und dem Klirren voller Gläser.

Der Kellner kommt mit der offenen Karte und sagt: »Die Penne und die frischen Cannelloni sind leider schon aus.« Der Gast wundert sich über das Wort »schon«, wendet den Kopf leicht nach links und sieht nur leere Tische, wendet den Kopf nach rechts und sieht auch dort nur freie Tische, die ihre weißen Tischdecken vielleicht auch, wie eingemottete Möbelstücke, als Staubschutztuch tragen. Und der Gast fragt nicht: »Haben Sie die Cannelloni ganz allein gegessen?«

Die Peinlichkeit des Augenblicks kann der Kellner gekonnt überspielen. Ein inneres Grinsen – warum ist dieser Gast eigentlich so doof, gerade hier essen zu wollen – scheint er sich allerdings nicht verkneifen zu können. Der einsamste Gast muß denken, er sei in die Traumszenen eines Films von Buñuel geraten – dann aber passiert leider doch nichts mit dem Flügel. Und kein Fernando Rey will hier zu Abend essen. Nicht einmal Ameisen laufen dem Gast über die Hände.

Der Kellner kommt wieder und bringt Crostini, drei sehr dünne, sehr harte Weißbrotscheiben. Die erste ist mit einem Klecks Pesto bestrichen, die zweite mit etwas, das wie gehackter Lachs aussieht. Die dritte verschwindet unter einem Häuflein Dosenthunfisch. Der einsamste Gast von Mitte traut sich nicht, die Gabe der Küche zu kosten.

Durch die Musik und das Plätschern der Umwälzpumpe hindurch hört er ein Geräusch aus der Küche, das wie das Signal eines Mikrowellenherdes klingt. Der Kellner, der dem Gast nachschenkt, bringt die bestellten Ravioli. Die Ravioli mit Spinat und Ricotta sind sicher irgendwann »hausgemacht« worden, wie die Karte sagt. Nur mit Sicherheit nicht heute, denkt der einsamste Esser von Mitte und stochert auf seinem Teller. Der einsamste Esser stochert in seinen zähen Ravioli und hört Louis Armstrong singen, Louis Armstrong singt »Let’s Do It (Let’s Fall in Love)«. Dreihundert leere Stühle hören zu. Perfektion in der Einrichtung kann auch Beklemmung erzeugen, denkt der Gast. Und stellt sich vor, draußen, in Mitte, sei ein Krieg ausgebrochen und die Weltbühne durch die Front abgeschnitten. Tatsächlich verläuft die Hauptkampflinie des Nachtlebens nur zwei- bis dreihundert Meter weiter südlich, um den Hackeschen Markt herum. Ein- oder zweimal nur tritt jemand, vielleicht sind es Späher, von der Straße in den offenen Hof. Und starrt, als sei der einsame Gast Teil einer Inszenierung, in den Saal. Der Späher wundert sich, erschrickt vielleicht, von der Leere betroffen, und zieht sich wieder zurück.

Die Leere der Weltbühne hat nichts von der heimeligen, im Grunde sympathisch-verzweifelten Leere, die in den Gemälden Edward Hoppers herrscht. Für eine Hopper-Stimmung ist die Weltbühne viel zu groß. Und ein Stück zu protzig. Ihre Beklemmung gleicht eher der eines Pharaonengrabs. Und der in seiner Konzentration und Professionalität nicht nachlassende Kellner einem lächelnden Grabwächter, der hier vor wer weiß wie vielen tausend Jahren mit begraben wurde. Vielleicht hat die Weltbühne deshalb, obwohl sie erst anderthalb Jahre Leere hinter sich hat, schon etwas Museales. Und so, wie Libeskinds Jüdisches Museum und seine »Voids« ohne Ausstellungsobjekte funktionieren, so funktionieren die Weltbühne und die ihr vorgelagerte Weltbar ohne Gäste. Im Gegenteil, zu viele Gäste würden die erhabene Installation bloß stören.

Im Durchgang von der Weltbar zum Restaurant – gleich neben dem Abstieg in die Toilettenunterwelt, in der auch der Tisch, an dem ein Toilettenbetreuer sitzen könnte, verwaist ist – gibt es eine Zeitungs- und Zeitschriftenecke. Einst für alle wichtigen Zeitungen der Welt gedacht, und einst, das war zur Eröffnung, tatsächlich mit den wichtigen Zeitungen bestückt, liegen da heute die Gratisillustrierten »Feine Adressen in Berlin« und »Bärenstark – das Fachmagazin für Personalservice in Berlin«. Auf der ersten Innenseite von »Bärenstark« grüßt der Geschäftsstellenleiter des Arbeitsamtes Reinickendorf. Der Mann an der Bar und der perfekte Kellner haben – wenn sie nicht gerade telefonieren oder, was allerdings nur ausnahmsweise vorkommt, einen Gast bedienen – genug Zeit, in den Fachmagazinen zu lesen.


Schon seit Jahren befindet sich an gleicher Stelle ein Dunkelrestaurant. Ein Dunkelrestaurant hat immerhin den Vorteil, daß der Gast nicht sieht, wie allein er ißt. – Und sonderbar, hätte mir damals, im Jahr 2001, jemand prophezeit, daß es nur ein paar Schritte weiter, auf der Torstraße (zu dieser Zeit eine ziemlich tote Straße), eines Tages etliche, fast immer gut besuchte Restaurants geben würde – ich hätte ihm nicht geglaubt. Wer hätte gedacht, daß gar nicht einsame Esser im Sommer in Trauben auf den Torstraßengehwegen sitzen und sich vom Verkehrslärm nicht stören lassen würden? Scheint so, als hätten die Steine nicht vergessen, daß hier schon einmal eine Vergnügungsmeile war mit vielen Amüsierlokalen, schon vor und wieder nach dem Ersten Weltkrieg.

Tiergartengeher

Der Tiergartengeher versucht, die frische Luft zu trinken. Der Tiergartengänger zeigt sich dem blauen Himmel und den Blättern am Boden. Oder den Novemberregentropfen. Der Tiergartengänger ist oft ein Läufer, meist in langen, manchmal auch in kurzen Hosen. Und mit kurzen Ärmeln. Der Tiergartenläufer trainiert und rennt, Tiergartenkenner kraulen über die Wege zwischen den Wiesen, auf denen im Sommer gegrillt wird. Der Tiergarten wird von Spazierradfahrern befahren, von Fahrradkurieren gequert, von Schnellgehern durchmessen. Liebhaber lüften sich hier, zeigen sich den Bäumen. Und die Bäume zeigen sich auch. Der Tiergartengänger kann, ohne es zu bemerken, das Gaslaternenmuseum streifen. Der Tiergartengeher kann Enten quaken hören und Kinderwagen fahren sehen, in denen Kinder liegen, die ebenfalls quaken. Gelegentlich füttert der Tiergartengänger die Enten. Oder die Kinder. Oder sich selbst. Oder er sitzt auf einer Bank und tut nichts und macht sich verdächtig. Der Tiergartengänger trägt sonderbare, selbstgestrickte Stirnbänder und sieht für Kinder furchterregend aus. Oder sitzt am Wasser und raucht. Oder lehnt an einer Laterne und wartet auf Kundschaft. Oder genießt doch nur den Duft der frisch verfaulten Blätter. Tiergartenkinder toben durch die trocknenden Blätter wie weiland im Vorspann der »Sesamstraße«. Nah an der Siegessäule trägt der Tiergartentourist oft einen aufgeschlagenen Stadtplan, näher am Brandenburger Tor eine Videokamera. Die Tiergartengängerin schlenkert ihre kleine, silberfarbene Kompaktkamera an einer Kordelschlaufe, an der auch kleinere Hunde hängen könnten, um ihr Handgelenk. Den Tiergartenwanderer umgeben die Geräusche der Vögel. Und der Gesang des Verkehrs. Der Tiergartengänger geht oft im Kreis, auch Tiergartengeher sehen sich im Leben zweimal. Tiergartengänger treten oft zu zweit auf, als leicht- bis mittelverliebtes Paar, der Tiergartengeher bildet sodomitische (Frauen mit Hunden und Hunde mit Männern) und gleich- und gemischtgeschlechtliche Paare. Tiergartengänger sind gelegentlich Männer im Mantel mit Anzug und Krawatte, vielleicht aus dem Bundespräsidialamt entlaufen. Tiergartengänger gehen oft leicht nach vorne gebeugt, in der kontemplativen Haltung des gehenden Denkers. Und spielen, wie sich beim Näherkommen zeigt, doch nur mit ihrem Mobiltelefon. Tiergartengänger führen ihre Jacken, ihre Jogginghosen und ihre Hunde aus. Und ihre langen Leopardenmustermäntel. Der Tiergartenwandler läßt sich von Aktenmappe, Schal, der Zeitung unter dem Arm und dem Matsch am Schuh begleiten. Und perforiert mit zusammengeklapptem Schirm den aufgeweichten Boden.


Nordic Walker sind hinzugekommen, mit Stockprothesen staksen sie wie sehr große Insekten durchs Bild. Ansonsten hat sich, was Gangarten betrifft, nicht viel geändert.

Friedrichstraße

Was die Friedrichstraße einmal war, wissen nur noch alte Ansichtskarten. Heute ist sie die Schneise, in der sich alte und neue Berlinmetaphern aneinanderreihen. Wer vom Bahnhof Friedrichstraße oder dem Eck Unter den Linden Richtung Hallesches Tor spaziert, kann Besuchern, Touristen und manchem Stadtbewohner beim Staunen zusehen.

Teils mit Stadtführern und patentgefalteten Falkplänen, teils mit gut gefüllten Einkaufstüten beschwert, stapfen die einen wie die anderen über das Pflaster. Viele Gesichter sagen: »Wir wollen nun mal sehen, wie es hier aussieht.« Auch Helmut Kohl hat man hier schon flanieren sehen. Andere Passanten, jünger und besser angezogen, benutzen die Straße so selbstbewußt, als hätte es sie so schon immer hier gegeben. Wer Jahre nicht hier war, könnte glauben, in einem Traum aufzuwachen. Großkulissenbauer scheinen am Werk gewesen zu sein, die Leere hat sich – wie eine Opernbühne zur Chorszene – mit telefonierenden Anzugträgern gefüllt. Manchmal fährt einer von ihnen auf einem Tretroller vorbei.

Vor dem Wolfsburger Autopalast am Eck Unter den Linden bleiben schaulustige Menschen stehen, als gäbe es in der Stadt sonst keine Autos zu sehen. Die meisten staunen über das Preisschild neben dem ausgestellten Rolls-Royce. Ein Stück die Straße hinunter sind ein alter schwarzer Bugatti und das silberne Tretauto-Coupé im Fenster der Mercedes-Filiale zu bewundern. Ein Fahrrad mit Hilfsmotor und der Aufschrift »Daimler-Benz« kostet 3.250 Mark. Die Friedrichstraße ist auch Vorführstrecke für die Wagen, die hier hinter den Scheiben stehen. Reisebusse rollen langsamer die Straße hinunter, die Menschen auf den Sitzen halten Ausschau nach dem neuen Berlin. Auf einer Fensterscheibe können sie »Permanent Make-Up« lesen, vielleicht gilt die Beschriftung der Fassade, vielleicht der ganzen Straße. Bis hinunter zum ehemaligen Grenzübergang reihen sich Büro- und Geschäftshäuser selten scheibchenweise aneinander, hier stehen ganze Blöcke, die kleinteilige Parzellierung wurde aufgegeben. Die letzten Bauschilder schreiben Lyrik an den Straßenrand, die Versanfänge lauten: »Hier entsteht …«, »Hier baut …«. Dazwischen wartet eine entkernte, abgestützte Eckfassade auf neue Füllung. Der Glaspalast, den Jean Nouvel für die Galeries Lafayette errichtet hat, mußte sich, nicht lange nach Fertigstellung, mit vorgehängter Folie wieder als Baustelle verkleiden. Hin und wieder löst sich eine Scheibe aus der Fassade und zerbröselt über den Passanten. Einen Block weiter stehen die großen Namen unserer Zeit – italienische, japanische, französische, amerikanische – auf der Fassade. Die großen Marken hängen in den Fenstern aus, einen Block lang möchte die Friedrichstraße Fasanenstraße sein. Italienische Touristen, französisch sprechende Spanier und Amerikaner auf Europaschleife schauen in die Auslagen, Klebebuchstaben schreiben Sonderangebote auf die Scheiben.

In den meisten Gebäuden sind die Fensterbänder gleich- und regelmäßig in die Fassade gestochen. Polierter Stein allerorten, in einem Eingang zitiert roter Marmor Speers Neue Reichskanzlei. Deren Reste finden sich noch als Wandverkleidung im nahe gelegenen U-Bahnhof Mohrenstraße. Auf dieser Höhe wirkt die Friedrichstraße einheitlich, spätere Generationen werden sie betrachten und sagen: »So sahen die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts aus.« Und schon heute darf man sich fragen, ob die Häuser der neuen Friedrichstraße für einen, der hier in fünfundzwanzig Jahren vorübergeht, nicht so ausschauen werden wie das Europa-Center oder das Neue Kreuzberger Zentrum am Kottbusser Tor heute. Vielleicht wird man dann laut über den Abriß der heute gerade fertig gewordenen Gebäude nachdenken. Nicht wenige von ihnen ducken sich wie riesige polierte und zu eng aneinandergesetzte Grabsteine in den märkischen Sand. Andere ruhen sich wie Sockelgeschosse zukünftiger Hochhäuser noch aus.

Vorbeilaufende Hobbystadtplaner erklären gern, was hier alles anders, viel besser hätte gemacht werden müssen: »Die Straße weiter, weniger glatter Stein, mehr Stuck«, »mehr alte Häuser«, »mehr Glas«. »Hier sieht man Gesichter, die man in Berlin sonst nicht gesehen hat«, erklären Kinder ihren Eltern, »hier suchen Angehörige kürzlich zugezogener Kasten nach der Metropole.« Die Geisterbahnhöfe, auf denen zu Mauerzeiten die Züge nicht hielten, spucken Menschen, keine Gespenster aus. Sie arbeiten beim Fernsehen am Hausvogteiplatz, in einer Bundesbehörde oder bei einem der vielen Verbände. Hier ist alles frisch gestrichen.

Das Jagdgeschäft Frankonia lockt mit Lodenmode im Schaufenster, gegenüber erinnert eine neuere Gedenktafel an die Barrikadenkämpfer des März 1848, die an dieser Stelle auf die Soldaten des zweiten Königsregiments schossen. Barrikaden könnten heute nur noch aus Bauzäunen oder umgestürzten Autos errichtet werden, auf der Friedrichstraße stören keine Bäume die Sicht. Im Sommer 1999 besetzten die letzten militanten Autonomen der Stadt die Friedrichstraße, bekritzelten den Asphalt und versuchten, die Galeries Lafayette zu stürmen. Einige Regale stürzten um. Am Ende der Aktion waren ein paar Designer-Sonnenbrillen verschwunden. Letztere zeigen sich auf der Friedrichstraße beim ersten kleinen Sonnenstrahl. Leider gibt es kaum Straßencafés, in denen Sonnenbrillenträger länger sitzen könnten. Ursprünglich hätte am Eck Unter den Linden, dem Traditionsstandort des Café Bauer, wieder ein Café einziehen sollen, dann aber zogen doch die Autos aus Wolfsburg ein. Das Café im Haus der Demokratie ist schon lange geschlossen, das Gebäude gehört nun dem Beamtenbund. In den anderen, neu eröffneten Cafés der Friedrichstraße gibt es keine alten Sofas, keine Gesellschaftsspiele, keine Berge alter Zeitungen und keine Wandparolen mehr. In der Bäckerei am U-Bahnhof Stadtmitte und in der Filiale des Café Einstein stehen nur Hocker. Das Einstein gibt sich hier nicht mehr österreichisch wie in der Kurfürstenstraße, sondern amerikanisch. Durch die heruntergezogenen Glasscheiben läßt sich die oft aufgesetzte Hektik mancher Passanten gut beobachten, häufig wirkt sie wie aus den Hollywoodfilmen abgeschaut, die vorgeben, in New York zu spielen. Selbst Fahrradfahrer scheinen hier energischer als anderswo in die Pedale zu treten, manche können, während sie Fahrrad fahren, noch telefonieren.

An der Stelle, wo die Mauerstraße auf die Friedrichstraße trifft, wird eines Tages vergessen sein, daß die Mauerstraße ihren Namen schon lange vor der Mauer von der ehemaligen Stadtmauer hatte. Auf dem leeren Eckgrundstück erinnern die weichen Formen der letzten DDR-Straßenlaternen an die Zeit, in der die Sektorengrenze weiträumig ausgeleuchtet war. Die alte, viel fotografierte Wandschrift wirbt noch immer für die Neue Zeit, die Ost-Tageszeitung, die es schon lange nicht mehr gibt. Daß hier einmal, von 1961 bis 1989, die Mauer stand, muß Touristen und Nachgeborenen mittlerweile erklärt werden, nur ein schmales Metallband markiert den Verlauf im Asphalt. Trotzdem bleiben beim Gang von Mitte nach Kreuzberg Übergangsgefühle spürbar. Grenzlinien ziehen sich, sichtbar oder unsichtbar, zwar auch anderswo durch die Stadt – nirgendwo aber wäre eine Maßhemdenschneiderei nur hundert Meter weiter südlich so undenkbar wie hier.

Am Checkpoint Charlie wechseln das Straßenpflaster, die Laternen und der Bezirk. Auf einer kleinen Mittelinsel steht der Leuchtkasten mit den großen Porträts, die Frank Thiel von einem sowjetischen und einem amerikanischen Soldaten gemacht hat, auf dem Bürgersteig steht ein weiterer Leuchtkasten mit einem Plan von Kreuzberg. Investitionswunderland ist zu Ende, eine leere Hemdchentüte weht vor dem renovierten Café Adler übers Pflaster. Der angloindische Kulturtheoretiker Homi K. Bhabha, der einmal dort auf dem Bürgersteig saß und Kaffee trank, sagte, Berlin erinnere ihn an Bombay.

So gegensätzlich die beiden Hälften der Friedrichstraße vor der Maueröffnung waren, so wenig haben sie heute miteinander gemeinsam. Heute ist der Westen alt und Mitte neu; früher war es umgekehrt. Unvoreingenommene Besucher des Mauermuseums könnten den Westen für den Osten halten, denn an dieser Stelle erfüllt der Westen das Klischee, das früher für den Osten galt: ästhetisch weit abgeschlagen zu sein und irgendwie hinter der Zeit zu liegen.*