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Dark

 

Eine dunkle
Weihnachtsgeschichte

von Thomas Endl

 

 

Die Bücher aus dem Hut


 

Natürlich weiß ich, dass ein Jahr lang ist. Eine Menge Zeit, in der sich Menschen verändern können. Und trotzdem war ich verblüfft, als ich meinen Cousin nach zwölf Monaten wiedersah. Die Zeit hatte ganze Arbeit geleistet.

 

 

Alle Jahre wieder kommt im Hause meiner Großmutter die Familie über die Weihnachtsfeiertage zusammen. Mama und Papa ziehen ins Gästezimmer, Mark und ich streiten um die Kammer im Türmchen, und das ehemalige Studierzimmer von Großvater ist für Tante Cornelia und normalerweise auch für Onkel Paul hergerichtet.

Dass das Auto von Tante Cornelia schon in der Einfahrt stand, als wir ankamen, war kein gutes Vorzeichen. Das konnte nur heißen, dass Mark es sich längst im Turmstübchen gemütlich gemacht hatte. Missmutig trottete ich hinter Mama ins Haus. Großmutter umarmte mich, und als ich sie mürrisch anblickte, meinte sie aufgekratzt: „Hier wird nicht herumgemiesepetert! Mir reicht schon die Show, die dein Cousin abzieht!“ Dann fügte sie hinzu: „Bring mal deine Sachen in den Turm, bevor es Abendessen gibt!“

„Aber Mark ist schon da“, gab ich zurück.

„Ja, sie sind gestern gekommen.“

„Dann hat er sich doch eh das Turmzimmer gekrallt, oder nicht?“

„Nein, Fredo, dein Cousin sitzt im Keller.“

„Aber er ist noch nie freiwillig in den Partykeller …“

„Er ist auch nicht im Partykeller. Er ist ins Gewölbe gezogen. Dabei gibt es in dem dunklen Loch nicht mal Strom.“

„Aber Ratten“, ergänzte meine Mutter schaudernd.

Empört entgegnete Großmutter: „Also bitte, in meinem Haus gibt es keine Ratten!“

Ich schleppte meinen Kram die Wendeltreppe hoch und steckte den Kopf durch die halb geöffnete Tür des Turmzimmers. Tatsächlich: Es waren weder das ramponierte Skateboard, noch die neongrünen Fußball-Latschen geschweige denn Großvaters altersschwacher Schrankkoffer mit dem massiven Schnappschloss zu sehen, den Mark eines Tages vom Dachboden der Villa gezerrt hatte und seitdem verwendete. Als kleines Kind hatte sich Mama mal versehentlich darin eingeschlossen und dann stundenlang geschrien, bis Opa sie endlich entdeckte. Das war eine der wenigen guten Erinnerungen, die sie an Opa hatte. Er hatte Haus und Familie verlassen, als Mama und Onkel Paul noch klein waren ― und nicht mal so viel mitgenommen, dass er den Schrankkoffer gebraucht hätte.

Ich schmiss meine Tasche auf das Klappsofa und machte meine Runde von Fenster zu Fenster. Oberhalb der Villa glühte der rote Stein des massigen Doms im letzten Abendlicht, unterhalb versanken die Gassen im Schatten.

 

Im Wohnzimmer roch es nach dem brennenden Holz im Kamin und nach dem Harz der grünen Tanne, mit der sich Papa abmühte. Wie jedes Jahr war der Stamm viel zu dick, um in den Christbaumständer zu passen. Ihn zurechtzustutzen war immer die Aufgabe von Onkel Paul gewesen. Doch diesmal traf es meinen Vater.

„Fredo, vielleicht kannst du mir mal helfen“, raunzte er mich an. Doch ich blieb verschont, denn hinter mir erschien meine Mutter und flötete: „Ach, du bist noch gar nicht fertig mit dem Baum? Dann mach doch mal Pause. Wir essen gleich. Und du, Fredo, holst Mark aus dem Keller.“ Sie drückte mir eine schwere Taschenlampe in die Hand. Dann reihte sie sich wieder ein in den Pendelverkehr zwischen Küche und Speisezimmer, wo meine Großmutter und Cornelia Geschirr, Gläser, Besteck, Essen, Wein- und Wasserkaraffen hin- und hertrugen. Im Vorbeigehen nickte mir meine Tante mit einem Lächeln zu, das aussah, als würde es festklemmen.