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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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2. Auflage 2016

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Redaktion: Antje Steinhäuser

Umschlaggestaltung: Maria Wittek

Umschlagabbildung: Maria Wittek/Shutterstock

Bilder Innenteil: Melanie Melzer

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN Print 978-3-86883-706-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86413-967-3

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86413-968-0

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»Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.«

Aristoteles, 384 bis 322 v. Chr., griechischer Philosoph

»Ich bin Rapper, scheiß auf Noten lesen. Wir sind aus dem Ghetto, wir sind die, die dich auf dem Boden treten. Ich benehm mich nicht, ich bin so was wie ein Sextourist, Egoist, Terrorist. Ich benehm mich nicht!«

Kurdo, *1988, deutscher Rapper

Inhalt

Von Furzen, Rittern und Teufelszinken: Wie alles begann

Weil unsere Großväter den Hut zogen

Weil sich die Nachbarn um Witwe Lorenz kümmerten

Weil niemand auf Pump nach Bali flog

Weil kein Schafkopfabend jemals ausfiel

Weil die Lichthupe nur bei schlechter Sicht benutzt wurde

Weil der Sparkassen-Berater eine sichere Bank war

Weil Oma trotz Rudolf Schock warten konnte

Weil Max Morlock niemals den Verein wechselte

Weil kein Fremder die Bade-Bilder vom Baggersee zu sehen bekam

Weil es dank der Tanzschule keine Netiquette brauchte

Wie knigge sind Sie?

Test

Quellen

Von Furzen, Rittern und Teufelszinken: Wie alles begann

Um den Niedergang unserer Umgangsformen in all seiner Dramatik zu erfassen, genügt ein kurzer Blick auf die Nachrichtenlage eines ganz normalen Tages.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Es sind nicht die großen, global bedeutsamen Zusammenhänge, mit denen wir uns auf den folgenden Seiten beschäftigen wollen. Selbstverständlich muss man feststellen, dass etwa die Enthauptung eines Menschen aufgrund der angeblichen Missachtung einiger Fastenregeln nicht von zivilisiertem Benehmen zeugt. Auch die Besetzung eines fremden Landes oder zumindest eines Teils davon durch militärische Truppen eines ganz anderen Landes ist kaum das Ergebnis ausgeprägten Anstands; ebenso wenig die Exekution eines Ministers in einem diktatorischen Staat, der alleine deshalb sein Leben lassen musste, weil er bei einer Rede seines Chefs eingeschlafen war. Aber derlei Exzesse fallen natürlich nicht mehr unter die Kategorie Umgangsformen. Sie sind vielmehr Ausdruck dessen, zu welcher Entmenschlichung die Kreatur Mensch imstande ist.

Dieses Buch will auch nicht die allgemeinen Herzlosigkeiten und Ungerechtigkeiten unserer Zeit aufgreifen, die zum Beispiel dort deutlich werden, wo hilfesuchende Menschen bei Wind und Wetter in einem provisorischen Zeltlager untergebracht sind, während der Filialleiter des benachbarten Supermarkts schwere Vorhängeschlösser an den Restmülltonnen anbringen lässt, damit niemand die abgelaufenen Lebensmittel entnehmen kann. Und auch die rein objektiv besehen ziemlich unanständige Tatsache, dass das reichste Prozent der Weltbevölkerung rund 50 Prozent des weltweiten Wohlstands besitzt und den restlichen 99 Prozent nur höchst selten etwas davon abgeben mag, spielt hier keine Rolle.

Stattdessen soll hier die Frage gestellt werden, was mit einer Gesellschaft los ist, in der eine ganz normale Familie mit vier Kindern in den Augen vieler als asozial gilt, ein Bankangestellter, der unwissenden Rentnern Hochrisikoderivate aufschwatzt und so um ihre Ersparnisse bringt, aber nicht. Einer Gesellschaft, in der jedes Jahr und mit steigender Tendenz rund 550.000 Menschen zum Opfer von immer brutaleren Körperverletzungsdelikten werden und in der alleine der Bahn über 30 Millionen Euro Schäden pro Jahr durch Vandalismus entstehen. Einer Gesellschaft, in der zehn Prozent aller Toten anonym bestattet werden müssen, weil weit und breit keinerlei Freunde oder Angehörige aufzufinden sind. Einer Gesellschaft, in der manche nicht mehr zu wissen scheinen, dass die Bezeichnung »Du Opfer« keineswegs die förmliche Anrede ersetzt und dass es nicht wirklich rücksichtsvoll ist, in einer voll besetzten U-Bahn quer auf dem Sitz zu lümmeln, während sich eine gebrechliche alte Dame im Gang kaum auf den Beinen halten kann.

Dabei sind derartige Verfehlungen mitnichten ein Privileg der jüngeren Generation, der vermeintlich Dummen oder gar der Mittellosen: Wer sich als, sagen wir mal, Münchner Zahnarzt, Düsseldorfer Werbeagenturinhaber oder Berliner Ministerialbeamter in einem Fünfsternehotel einmietet, darf trotz eines Zimmerpreises von 400 Euro aufwärts durchaus »Bitte« sagen, wenn er zum Frühstück den hausgebeizten Lachs bestellt, und »Danke schön«, wenn ihm der Kellner zum dritten Mal den Champagner nachschenkt. Eine Flugbegleiterin ist selbst dann keine Leibeigene des Passagiers auf Platz 3C, wenn der Preis für sein Ticket nach Mallorca 99 Euro übersteigt. »All inclusive« bedeutet auch in einer teuren Ferienunterkunft nicht, dass man schon am Nachmittag die Poolbar vollkotzen oder die Putzfrau herumschikanieren darf, und ein nackter Oberkörper wird nicht ansehnlicher, wenn er den anderen Gästen beim Mittagessen im Restaurant an der Strandpromenade präsentiert wird – selbst wenn auf dem Teller keine Currywurst, sondern ein halber Hummer liegt.

Es mag auch für viele Verkehrsteilnehmer überraschend klingen, dass die rechte Spur unserer Autobahnen vom Gesetzgeber gar nicht ausschließlich für Pferdefuhrwerke, Ausländer und Fahrzeuge in anderen Farben als Mattweiß und Schwarzmetallic vorgesehen ist – man darf dort sogar fahren, wenn das eigene Kfz mehr als 150 PS besitzt. Das Einschalten der Warnblinkanlage in zweiter Reihe entbindet zudem niemanden vor einer möglicherweise mühsamen Parkplatzsuche in der Innenstadt, und selbst wenn die Konstrukteure der Firma BMW ihr X6-Modell mit einem 4,4-Liter-Motor ausgestattet haben, heißt das nicht, dass die dunkle Zahl auf hellem Grund in diesem komischen runden Schild dort am Straßenrand höchstens für die anderen Trottel gilt, wenn überhaupt.

Allem Anschein nach ist unser Land in den vergangenen Jahrzehnten leider zu einer weitgehend anarchistischen Zone geworden, was viele gängige Verhaltensregeln, Tugenden und Wertvorstellungen betrifft. Natürlich: Ungehobelte Klötze, rücksichtlose Proleten, maßlose Angeber, notorische Lügner und gewalttätige Brutalos, die ihren anständigen und aufrichtigen Zeitgenossen das Leben schwer machten, gab es schon immer; zumindest seit die Menschen sich entschlossen, in größeren Gemeinschaften zusammenzuleben. Doch immerhin hatten wir hier im Vergleich zu manch anderen eher grob kultivierten Gesellschaften die Aufklärung, deren honorige Vertreter, allen voran Immanuel Kant, uns seit der Mitte des 17. Jahrhunderts eingehend Vernunft und Toleranz predigten. Die grundsätzlichen Bemühungen um gewisse allgemeingültige Rahmenbedingungen, die uns allen das zugegebenermaßen nicht immer ganz einfache Miteinander erleichterten, reichten überdies noch viel weiter zurück, etwa ins Jahr 1215 – als man andernorts noch grußlos ins Gemach platzte und derjenige, der entschlossen die Forke ausfuhr, um das dickste Stück zu angeln, womöglich den Handrücken des ebenfalls zulangenden Tischnachbarn erwischte.

Da nämlich trat ein gewisser Thomasîn von Zerclaere auf den Plan, seines Zeichens ein hochgebildeter höfischer Beamter, der – obwohl Norditaliener – für eine Reihe angesehener deutscher Persönlichkeiten und Kirchenvertreter arbeitete. Offenbar störte sich der gewissenhafte Gelehrte am Gebaren einiger junger Adeliger in seiner Gastheimat. Sonst hätte er sich nicht beinahe ein ganzes Jahr zurückgezogen und in seiner stillen Kammer ein bemerkenswertes Standardwerk verfasst, das unter dem Titel »Der welsche Gast« in die hiesige Kulturgeschichte eingegangen ist. In zehn Kapiteln mit über 14.700 Versen ermahnte Signore von Zerclaere seine Zielgruppe zu einem anständigen Benehmen. So legte er zunächst den Damen eine gewisse Portion Demut ans Herz, immerhin durften diese erst seit gut 100 Jahren überhaupt am selben Tisch sitzen wie ihre Männer. Von denen verlangte er Freigiebigkeit und Großmut, verurteilte Gier und Machtstreben, warnte vor den gefährlichen Lastern wie Hurerei, Trägheit, Trunksucht und Völlerei. Beide Geschlechter gleichermaßen ermunterte er ganz allgemein zum Einsatz ihres Verstandes, weil der es nun einmal sei, der uns von anderen Wesen unterscheide.

Mit der sprichwörtlichen Ritterlichkeit, die später so romantisch beschrieben und besungen werden sollte, war es nämlich bis dahin selbst in unseren Breitengraden nicht so weit her: Die allermeisten Leute auch höheren Standes konnten nicht lesen und schreiben, was aber noch das geringste Problem darstellte. Je später der Abend in den Tavernen, Wirtshäusern oder Bankettsälen wurde und umso mehr Alkohol dort floss, desto wüster ging es zu. Es wurde, man kann es leider nicht anders sagen, gefressen und gesoffen, als ob es kein Morgen gäbe. Die Anwesenden furzten nach jeder einzelnen Bohne, rotzten in die Hand, spuckten unter die Stühle, kratzten sich am Sack, stocherten sich in der Nase oder den Ohren herum und schmissen ihre Speisereste hinter den Tresen, wenn sie ihnen nicht ohnehin aus dem Mund fielen, weil man so besoffen oder übersättigt war. Und wenn man wieder konnte, dann haute man sich ordentlich aufs Maul. Das Leben vor Thomasîn von Zerclaere war also, wenn man so will, ein einziges großes, mittelalterliches Oktoberfest!

Nun aber setzten sich, auch und vor allem durch sein Zutun, zunächst im Rittertum langsam Tugenden durch, die allesamt auf der Basis der beiden militärischen Grundvoraussetzungen für den Job, also Treue und Tapferkeit, beruhten. Wer nun ein tüchtiger Ritter sein wollte, der musste Würde bewahren, freundlich und höflich sein, dazu seelisch mit sich im Reinen, stets verlässlich und vor allem: wohlerzogen, was auch die gewohnten Exzesse zu Tisch fortan ausschloss. Das Sprechen mit vollem Munde war auf einmal ebenso tabu wie der verfrühte Beginn des Verzehrs, und weil die Hand als Reinigungswerkzeug jetzt ebenfalls nicht mehr benutzt werden konnte, durfte man sich nur noch in den eigenen Hemdsärmel schnäuzen, wenn der Glibber aus der Nase lief. Blöd war nur, dass die meisten Zeitgenossen eben keine Ritter waren und es ziemlich lange dauerte, bis sich das von Zerclaere vorgegebene und ansonsten nur von Minnesängern und Dichtern verherrlichte Ideal auch in den einfacheren Schichten herumsprach.

Für solche Spitzfindigkeiten hatten die normalen Menschen ohnehin noch relativ wenig übrig – was zumindest vor dem Hintergrund der nicht immer ganz einfach verlaufenden Evolution sogar verständlich erscheinen mag: Wer sich über etliche Tage hinweg von fauligen Beeren ernähren musste, der konnte das mit letzter Kraft gefangene und mühsam erlegte Wild nicht auch noch mit den eigentlich ganz netten Bewohnern der Nachbarhöhle teilen, weil sonst die eigene Sippe vor lauter Hunger draufgegangen wäre. Stattdessen aßen wir, so viel wir hinunterwürgen konnten, und wenn uns die ausgezehrten Nachbarn die Portion streitig machen wollten, erschlugen wir sie eben mit dem Faustkeil. Besonders höflich war das nicht, aber wenn der Mensch ganz am Anfang seiner Existenz ständig Rücksicht auf die anderen genommen hätte, wäre er vermutlich ausgestorben, noch bevor irgendein schlauer Kerl das Rad erfinden konnte.

Erst mit der Entdeckung der Religion kamen gewisse moralische Leitplanken ins Spiel, die unsere grenzenlose subjektive Freiheit ein bisschen einengten. Der Prophet Mose etwa schrieb einst die »Zehn Gebote« nieder und legte so zumindest für alle Christen und Juden einen ersten strengen und umfassenden Kodex fest, der ziemlich unmissverständliche Prinzipien für alle Gläubigen aufstellte: Morden durfte man plötzlich nicht mehr, stehlen oder ehebrechen auch nicht, und einen anderen Gott haben schon gar nicht, sonst drohte spätestens im Jenseits gehöriges Ungemach. Und mit dieser Drohung ließ sich schon mal ein Großteil der Wilden befrieden, wenn auch natürlich nicht alle.

Jesus Christus erweiterte einige Hundert Jahre danach das Spektrum dieser Verhaltensregeln um ein paar nettere Aspekte: So übel ihm auch mitgespielt wurde, propagierte er stoisch die Nächstenliebe und teilte, was ihm gerade auf den Tisch kam – egal, ob das nun ein Laib Brot oder eine Karaffe Wein war. Er war selbst dann noch barmherzig, als er von einem seiner eigenen Jünger verraten, den Römern von einer aufgebrachten Menge ausgeliefert und von seinen Henkern auf bestialische Weise gefoltert und getötet wurde. Von diesem bis zur letzten Konsequenz philanthropischen Wanderprediger konnte man, so viel stand schon vor rund 2000 Jahren fest, eine ganze Menge lernen, was Anstand anging.

Leider schienen aber nicht alle Angehörigen der folgenden Generationen die Lehren von Mose oder gar Jesus Christus zu beherzigen; nicht einmal dann, wenn sie sich auf sie beriefen. Zu verlockend waren vor allem die Besitztümer der anderen, als dass man sich nicht bei ihnen bediente. Selbst wenn die Kreuzzüge vorgeblich religiös motiviert waren, ordentlich benommen haben sich die Eroberer aus dem Abendland ganz bestimmt nicht. Gerade im Namen der Kirche wurde das, was einst Chef Mose so gewissenhaft in die Schiefertafeln diktiert hatte, aufs Sträflichste missachtet. Und daheim, wo es bisweilen im finstersten Mittelalter einzig darum ging, den nächsten Tag zu überleben oder der Pest zu entgehen, spielten irgendwelche Betragensformen sowieso keine Rolle.

Thomasîn von Zerclaere jedoch stieß mit seinem Wertekanon eine zivilisatorische Entwicklung an, die zwar immer wieder von Rückschlägen gekennzeichnet war – zum Beispiel, weil die Bedeutung der Ritter für die Herrscherhäuser stetig abnahm. Nach und nach aber setzten sich dennoch flächendeckend wenigstens gehobene Tischzuchten durch, wenn auch zunächst nur beim Adel. Dort galt es eines schönen Tages als verpönt, mit den Fingern zu essen, in den Trinkkrug zu brechen oder unter den Tisch zu pissen. Ja, man teilte den Wein in einem Anflug von Brüderlichkeit sogar mit dem Nebenmann! Durch diese Riten demonstrierte man wenigstens untereinander, dass man etwas Besseres darstellte als das einfache Volk.

Bei dem ging es nach wie vor etwas unkultivierter zu, wie eine Beschreibung des zeitgenössischen Schriftstellers Heinrich Wittenwîler zeigt, der in seinem Roman Der Ring von 1410 eine typische Bauernhochzeit wie folgt beschrieb: »Wenn ihnen etwas aus der Kehle fiel, kam es wieder in die Schüssel hinein, denn ihre Mäuler waren weit und allzeit offen«, notierte er angewidert und stellte fest, dass man fraß und soff, »bis die Augen tropften«. Dabei war derartiges Verhalten im Grunde gar nichts Unanständiges: Die gewöhnlichen Leute besaßen eben noch keinerlei Essbesteck außer einem groben Messer, um sich ihren Anteil aus dem Fleisch herauszuschneiden. Das Tischtuch wurde, sofern vorhanden, vorwiegend zum Reinigen des Mundes verwendet, weil die Serviette sowieso erst im späten 16. Jahrhundert erfunden wurde, und sämtliche Gefäße wurden aus Praktikabilitätsgründen gemeinsam genutzt. Die Oberschicht aber guckte sich derweil in den Nachbarländern Italien und Frankreich um, wo man während des Verzehrvorgangs bereits flächendeckend moderne Esshilfen namens Gabeln benutzte – obwohl dieses praktische Instrument bereits 1023 das erste Mal erwähnt, in den vielen Dekaden danach gleichwohl nur zum Servieren verwendet wurde. »Gott behüte mich vor den Gäbelchen«, klagte selbst der vornehme Martin Luther, wohl wissend, dass die Kirche ihren Schäfchen befahl, beim Mahl gefälligst die Finger zu benutzen und nicht jenes unheimliche Werkzeug, das mit etwas Fantasie aussah wie die Hörner des Teufels. Letzterer sollte sich auch lieber nicht in den Löffel hineinsetzen können, weshalb die Kuhle grundsätzlich nach unten zu liegen hatte.

Ab 1516 trat dann ein gewisser Desiderius Erasmus von Rotterdam auf den Plan, der als unehelicher Sohn eines Priesters mit dessen Haushälterin aus eigener Erfahrung nur zu gut wusste, dass man durch eine ansprechende Haltung einiges wettmachen konnte, was man an Reputation oder Stand nicht besaß. Und so widmete er sich neben seinen theologischen Arbeiten vorwiegend Themen wie Höflichkeit, Sitte und Moral, die er in Büchern wie Über die Verfeinerung der kindlichen Sitten oder Stilübung anschaulich machte. Erasmus glaubte, dass Menschen nicht als Menschen geboren wurden, sondern erst zu solchen erzogen werden mussten. Wer also niemals auf bestimmte Versäumnisse und Verfehlungen hingewiesen wurde, der konnte auch niemals ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft werden.

Und zu den feinen Herrschaften dazugehören – das wollten plötzlich immer mehr Leute, die nicht mehr alleine aus dem Adel stammten, sondern zunehmend auch aus dem Bürgertum, das die Gepflogenheiten der »Von und Zus« zu imitieren begann. Man wurde im Laufe der Zeit auch in bescheideneren Haushalten derart vornehm, dass man sich zumindest bei den Mahlzeiten nicht einmal mehr seinen Penis herauszuholen traute: »Lasse nicht deine Geschlechtsteile so offen liegen, dass man sie sieht. Es ist höchst beschämend und abstoßend, verabscheuenswürdig und ungehobelt«, riet 1619 Richard Weste in seinem Buch des Benehmens. Diese neue Tischkultur muss ein echter Schock für viele Männer gewesen sein, aber sie wurde tatsächlich weitgehend eingehalten!

Am Hofe war man sogar noch einen Schritt weiter und zeigte auf etwas andere und weniger anstößige Art, was man war: Je mehr Geld ein Gutsherr besaß, desto aufwändiger wurden jetzt die Essutensilien in seiner Stube. Dazu waren die entsprechenden Rituale in den Königs- und Fürstenhäusern inzwischen dermaßen kompliziert, dass viele Anwesende ohne fachkundige Anleitung gar nicht mehr wussten, wann sie welches Besteck benutzen und wie sie welches Glas halten mussten. Zumeist kümmerte sich ein eigens angestellter Benimmlehrer um die Einhaltung der Etikette, die zu begreifen Monate in Anspruch nahm. Manche dieser Bräuche setzten sich durch, manche nicht: So käme wahrscheinlich niemand mehr auf die Idee, seinen Kaffee aus der Untertasse zu trinken, was im 17. und 18. Jahrhundert aber kurzzeitig absolut schicklich war. Dass wir heute unser Brot gelegentlich mit den Händen auseinanderbrechen, wirkt dagegen wie ein Rückfall in barbarische Zeiten: Wer dieses geradezu heilige Lebensmittel noch zu Lebzeiten Adolph Freiherr von Knigges nicht säuberlich mit dem Messer zerteilt hätte, wäre ganz sicher mindestens des Raumes verwiesen worden.

Apropos Knigge: Der aus einem verarmten Bremer Adelsgeschlecht stammende Schriftsteller hatte sich nicht nur in höheren Kreisen mit einer Sammlung von Umgangsregeln einen Namen gemacht, die im Jahr 1788 erschienen war. Über den Umgang mit Menschen hieß das berühmte Buch denn auch folgerichtig, das schnell zu einem beachtlichen Bestseller im gesamten deutschsprachigen Raum wurde. Dabei war es Adolph Knigge selbst erstaunlicherweise egal, ob man die Gabel in der rechten oder linken Hand hielt oder sich den Mund mit der Gardine abwischte. Er wollte seine Mitbürger vielmehr darüber hinaus dazu animieren, miteinander stets respektvolle, höfliche und moralisch einwandfreie Beziehungen zu unterhalten. Lügen, Gewalt und vor allem Dummheit waren ihm ein Graus, und in den 26 Kapiteln seiner Publikation befasste er sich auf geradezu philosophische Weise damit, wie man zu einem besseren Menschen werden konnte. Beispielsweise behandelte er das Verhältnis zwischen Eltern und ihren Kindern, zwischen Eheleuten oder auch zwischen Mensch und Tier und kam stets zu dem Schluss, dass der Respekt den jeweils anderen gegenüber an oberster Stelle des eigenen Handelns stehe sollte.

Dass der wohlklingende Name Knigge heute vorwiegend für die Einhaltung der bloßen Etikette herhalten muss, tut diesem klugen Vordenker dagegen Unrecht, denn die ist eigentlich gar nicht das Thema seiner Ausführungen – wenn er auch den schmalen neunten Abschnitt den Beziehungen zwischen Wirt und Gast widmete. Menschenfreundlichkeit war ihm viel wichtiger als die korrekte Anordnung der Gläser, und er distanzierte sich nur allzu gerne und recht deutlich von »Windbeuteln, Schafsköpfen, Schöpsen, Plusmachern und Pinseln« aller Art, wie er beklagte. »Sei, was du bist, immer ganz und immer derselbe«, lautete sein Rat, den er uns einst mit auf den Weg gab – und: »Sei ernsthaft, bescheiden, höflich, ruhig, wahrhaftig. Rede nicht zu viel. Und nie von Dingen, wovon Du nichts weißt.« Das kann man auch heute noch einfach mal so stehen lassen!