image

Helge Timmerberg

Tiger fressen keine Yogis

Das Buch: Helge Timmerberg ist nicht nur als Skandaljournalist bekannt geworden, sondern hat sich auch durch seine abenteuerlichen Reiseberichte einen Namen gemacht. Er testete für verschiedene Redaktionen so gut wie sämtliche Drogen, und in Bayern verbot man schon mal eine Tempo-Ausgabe wegen eines Artikels von ihm. Immer wieder hat sich Timmerberg auch auf die Suche in die Ferne begeben. Davon zeugen die Stories dieses modernen Nomaden, der ohne Reisen nicht leben kann: z. B. von der Yakuza in Japan, aus Tel Aviv während des Golfkriegs oder zur Pestzeit aus Maharashtra. Er lebte unter Heiligen in Indien und sah das Weiß im Auge des Tigers. Sein Ziel ist es, den Geist einer Kultur, einer Stadt, eines Menschen zu erfassen. Dabei zieht sich ein roter Faden durch alle Reportagen: die Kraft Timmerbergs, immer wieder loslassen zu können und dadurch die Inspiration für die Geschichten zu gewinnen. Gibt er eben noch zynische Kommentare über Prominente im Borchardt (Berlin) von sich, so folgt gleich darauf ein einfühlsamer und wahrhaftiger Bericht über seine Begegnung mit Todgeweihten im Haus von Mutter Theresa in Kalkutta. Timmerberg ist das enfant terrible des deutschen Journalismus, der es auf diese Weise schafft, in Bild und Zeit gleichzeitig zu schreiben.

Helge Timmerberg, geboren 1952 im hessischen Dorfitter, entschloss sich mit zwanzig im Himalaja dazu, Journalist zu werden. Seitdem schreibt er Reisereportagen aus allen Teilen der Welt – bisher mit Ausnahme der Fidschis und Australien. Nur Crewmitglieder der großen Fluglinien sind möglicherweise mehr unterwegs. Seine Wohnung nennt er Basiscamp, und alle Ansätze des modernen Nomaden, ernsthaft sesshaft zu werden, schlugen bisher fehl. Er versuchte es in Marrakesch (drei Jahre), in Havanna (zwei Jahre), in Wien …

Bisher von Helge Timmerberg erschienen u. a.:

• Tiger fressen keine Yogis – Solibro 2001

• Timmerbergs Reise-ABC – Solibro 2004

• Timmerbergs Tierleben – Solibro 2005

• Shiva Moon – Rowohlt 2006

• Das Haus der sprechenden Tiere – Rowohlt 2007

• Timmerbergs Single-ABC / Beziehungs-ABC – Solibro 2007

• In 80 Tagen um die Welt – Rowohlt 2008

• Der Jesus vom Sexshop – Rowohlt 2010

• African Queen – Rowohlt 2012

Helge Timmerberg

Tiger fressen keine Yogis

Stories von unterwegs

image

eISBN 978-3-932927-70-6 (epub)

© SOLIBRO® Verlag, Münster 2013 [2001]
Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München
Umschlagfoto: Dieter Eikelpoth

Bestellen Sie unseren Newsletter unter www.solibro.de/newsletter Infos vom Solibro Verlag gibt es auch bei Facebook und Twitter.

www.solibro.de            verlegt. gefunden. gelesen.

„Die Welt um mich herum tanzte,
tanzte, tanzte, nur ich kümmerte mich
einsam-verdrossen um die letzten Fragen der
Menschheit. Erst als ich sie alle, alle gelöst
hatte, ging auch für mich das Feiern los ...“

Helge Timmerberg

INHALT

Das Buch / Der Autor

Vorwort von Sibylle Berg

Loco Romantico (Andalusien)

Seit zwanzig Jahren ohne Sex (Indien)

Yakuza (Tokio)

Borchardt (Berlin)

Der Tod ist ein sanfter Bruder (Kalkutta)

Café Òpera (Barcelona)

Pillen, Pilze, Paranoia (Amsterdam)

Vier Tage im Quartier der Pest (Maharashtra)

Der Skarabäus (Kairo)

Raketen auf Tel Aviv (Heiliges Land)

Aufruhr im Basar (Marrakesch)

Sehnsucht Familie (Tanger)

Kampf der Kehlen (Schweiz)

Tiger fressen keine Yogis (Süd-Indien)

Straße nach Indien (Türkei-Iran-Pakistan)

Geldgruben (Deutsche Demokratische Republik)

Kalil el Maula (Libanon)

Southern Comfort (USA)

Verhaftungswelle unter Geburtstagskindern (Hamburg)

Mal durchatmen

Die Kunst des Entliebens (Droge I)

Kokain (Droge II)

Prozac (Droge III)

Die Götter tanzen mit (Droge IV)

Viagramania (Droge V)

Jetzt koche ich (Zuhause)

Auf der Flucht

Nachweis

Anzeigen

Vorwort

– von Sibylle Berg –

Vor ungefähr hundert Jahren lernte ich Helge Timmerberg kennen.

Wir waren jung und so schön, wie es möglich war; wir waren pleite, standen an einem Bankautomaten und wußten beide: für uns ist der nicht. Für uns war Tchibo, und da teilten wir uns einen Kaffee. Helge erzählte, daß er schreiben würde, ich dachte: was habe ich falsch gemacht, daß ich wirke wie eine, die beeindruckt ist dadurch, daß einer zu schreiben vorgibt.

Dann war der Kaffee fertig und Helge in Fahrt. Er erzählte Geschichten von Goldgräbern, Malaria und Drogenbossen; er redete von Märchen und Zauberern, und ich glaubte ihm kein Wort. Vor der Tür waren die 80er Jahre, alle logen und hatten Schulterpolster und blondierte Strähnen. Auch die Hunde. Helge und ich hatten kein Geld für Blondierungen, aber noch Hoffnung. Ich glaubte, mein Leben würde einen Sinn bekommen, wenn ich Bücher schreiben und veröffentlichen könnte, und Helge glaubte noch an die Liebe.

Das Ende war noch nicht zu sehen.

Später las ich seine Geschichten von Zauberern und Drogenbossen, von Malaria und Orten, die es vielleicht nur in seinem Kopf gab. Und ich traf ihn wieder und merkte, daß er der freieste Mensch war, den ich jemals kennengelernt hatte. Geld und Heimat waren ihm egal, und die Regeln des Journalismus waren ihm erst recht egal. Helge hatte lange Haare, er rauchte Rauschgift, er fuhr in Jogginganzügen in der Welt herum, er nuschelte, war unzuverlässig, doch alle liebten ihn, weil er die schönsten Artikel schrieb, die jemals in einer Zeitung gestanden hatten und weil er Menschen zum Vergessen bringen konnte damit.

Ich hatte gerade angefangen zu schreiben und war verbissen und ehrgeizig; ich wollte Preise und Ruhm, und es ging mir nicht gut. Ich dachte, man müßte das machen, was alle machten. Mit großen Worten Halbwissen verbreiten und tun, als ob man sich auskennen würde, in einer Welt, in der sich keiner auskennen kann. Mein Mund war zusammengepreßt und alle waren mir Feinde. Die wichtigen Männer beim Spiegel, die alten Herren, die Bücher schrieben, und ich glaubte an die Regeln, die sie in ihrer Angst aufgestellt hatten.

Bis ich Helge traf.

Helge zeigte, daß es ganz anders gehen konnte. Daß man nur gut ist, wenn man sich für das, was man schreibt, interessiert – selbst wenn das, was einen interessiert, nur man selbst ist –, daß man nicht tun soll, als hätte man Ahnung, daß Regeln und Gesetze die Erfindung von Feiglingen sind, daß es keine Sicherheiten gibt, für nichts und man sich deshalb auch keine suchen müßte.

Ich habe dann Bücher geschrieben, und Helge hat die Liebe gesucht. Die 80er sind lange her, und so frei wie Helge bin ich nie geworden und er vielleicht nie so glücklich, wie er gewollt hätte. Alle Jahre haben wir miteinander geredet, und immer wollte Helge gerade dann ein Buch schreiben, das sein Leben verändert, oder zu einer Frau ziehen, die ihn rettet und damit sein Leben ändert.

Hundert Jahre sind vergangen. Helge hat noch immer nicht das gefunden, von dem er gar nicht sagen kann, was es eigentlich ist. Und nun gibt es doch endlich ein Buch von ihm, und beides ist gut. Daß er noch nicht angekommen ist, denn so muß er weitersuchen und vielleicht noch ein paar schöne Geschichten schreiben. Daß es ein Buch gibt, denn so bleiben ein paar Gedanken von ihm, auch wenn er schon wieder weit weg ist.

Loco Romantico

(Andalusien)

Ich war genervt, müde und ohne jede Hoffnung, daß wir doch noch einmal zu einer Party kommen würden, die nicht vorbei oder verschoben oder sonstwie ausgefallen war. Sieben Stunden Autofahrt steckten mir im Rücken, und diese Stadt gefiel mir nicht, und die Wohnung, in die man mich gebracht hatte, gefiel mir auch nicht, und am wenigsten gefiel ich mir selbst.

Same old story. Der alte bescheuerte Blues. Irgendein Zigeuner erzählt mir etwas von Wahnsinns-Fiestas, zu denen er mich bringen will, und von dem einzigen, dem echten, dem ursprünglichen Flamenco, und ich habe nichts Besseres zu tun, als ihn und seine Frau und seine Tochter und seinen Sohn in den Wagen zu packen und mich für den Rest des Lebens darauf einzustellen, ihr Essen zu bezahlen.

Doch der Mann hatte mich beeindruckt. Allein sein Name. Loco Romantico. Zuerst hörte ich noch ein L zuviel. Local Romantico. Und ich fand das enorm witzig. Der lokale Romantiker. So wie der lokale Säufer, der lokale Hurenbock, der lokale Journalist. Sie klärten mich auf. Kein zweites L. Nur Loco. Und „loco“ ist das spanische Wort für verrückt.

Er hat sich den Namen selbst gegeben. Er darf das. Loco ist ein Sänger, ein cantaor, wie man unter Zigeunern sagt. Noch dazu ist er ein genialer Poet. Erzählte mir seine Frau. Und alles, was sie mir über Loco erzählte, ging in die Richtung, es hier mit dem begnadetsten Naturtalent zu tun zu haben, daß das lichtbeschienene Andalusien in den letzten fünfhundert Jahren hervorgebracht hat. Die Bauern der Sierra Nevada werden zu weinen beginnen, wenn sie Locos Gedichte hören. Geschichten über die Kommunikation zwischen Biene und Ameise und ähnliches. „Zen“, sagte seine Frau. „Reiner, naiver Zen.“

Ich gehe also mit Loco und seiner ehrgeizigen, höchst manipulativen Frau Samina seit drei Stunden durch die Straßen von Jerez, und im Kinderwagen schläft Sol, der neun Monate alte Säugling, und daneben trabt Nu, die neunjährige Tochter, und Nu weint. Weil es spät nach Mitternacht ist und der Wind Regen aus Marokko bringt. Und egal, wohin wir gehen, wir kommen nicht an. Keine Fiestas, kein Flamenco.

Vorsichtig, ganz vorsichtig, versuche ich es ihnen beizubringen. In einem Kaffeehaus, an einem Marmortisch, irgendwo in der Nacht. Ich bestelle Bier für die Großen und Cola für die Kleine und sage: „Ich habe einen Fehler gemacht. Das passiert mir öfter, daß ich den Bogen einer Recherche nicht schließe. Ich habe in Sacramonte ein paar nette Leute kennengelernt, und man hat mich zu einer Feier eingeladen. Morgen. Ich glaube, ich muß zurück.“

Das war gut gesprochen. Kein Wort der Enttäuschung über diesen erfolglosen Abend, nichts, was ihnen das Gesicht geraubt hätte. Alles nur meine Schuld. „Wann willst du zurück?“ fragt Samina. „Nach dem Frühstück.“

Sie übersetzt es Loco. Er spricht kein Englisch. Er kann noch nicht einmal lesen, geschweige denn schreiben. Und er bekommt plötzlich sehr traurige Augen. Ein großes, dickes, 36jähriges Baby mit schwarzen Rastalocken, das ein Gesicht macht, als habe man gerade zum ersten Mal sein Urvertrauen zerstört. Er sagt nur einen Satz, und Samina übersetzt.

„Loco sagt, du seist wahrscheinlich doch kein so guter Journalist, wenn du Loco Romantico verlassen willst.“

Das brachte mich zum Nachdenken. Was hatte ich denn bisher erlebt? Und gesehen? Gewiß sind die Höhlen von Sacramonte traumhaft. Mit einem wunderbaren Ausblick auf die Alhambra, auf die schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada und auf die weißen Dächer der Altstadt von Granada. Vor ein paar hundert Jahren muß es da richtig gut gewesen ein. Mit Feuern und Liedern, die die Nacht zerreißen. Aber dann kam Hemingway vorbei und dann der internationale Massentourismus, und jetzt ist Sacramonte im Grunde nichts anderes als so eine Art Zigeunerzoo, wo sie fürs Rumhampeln bezahlt werden.

Ja, auch ich war dabei. In einer weißgekalkten Höhle mit hundert kitschigen Tellern an den Wänden, und ein paar grell geschminkte Omas wollten mir und den fünf Gästen aus Tokio Kastagnetten andrehen, zum zehnfachen des üblichen Preises. Ja, sie haben auch getanzt und gesungen und Gitarre gespielt, eine halbe Stunde lang, für zweitausend Peseten pro Mann und Japaner, und genauso gut hätten sie einen blökenden Esel durch die Stuhlreihen treiben können. Um ein Haar hätte ich die Contenance verloren, als ich da wieder herauskam. Weil ich der Esel war und es hätte wissen müssen. Für Flamenco zu bezahlen, bringt dasselbe, wie bezahlter Sex. Für beide Seiten. Als Konsument bist du ein Freier, als Interpret eine Hure. Und was dabei auf der Strecke bleibt, ist diese menschliche Qualität, die man Ehre nennt. Oder, wie die Spanier sagen: honor. Und es gibt keinen Flamenco ohne honor.

Loco hatte noch immer traurige Augen. Er sagte wieder nur einen Satz und Samina übersetzte. „Loco sagt, du gibst der Zeit keine Zeit.“

„Hat er das genau so formuliert“, fragte ich Samina, „oder sind das deine Worte?“

„Seine“, sagte sie.

„Dann ist er wirklich gut.“

„Er ist noch besser. Du hast ihn überhaupt noch nicht kennengelernt. Und du wirst ihn auch nicht mehr kennenlernen. Du fährst ja nach dem Frühstück.“ Sie lächelte.

Ich mochte diese Frau nicht. Während unserer Fahrt von Granada an die Küste hatte ich sie einmal im Rückspiegel dabei beobachtet, wie sie mit ihren Händen tanzte. Zehn Finger wie zehn Schlangen direkt über meinem Kopf. Ich mag keine Frauen, die mich zu verhexen versuchen. Ich mag auch nicht die Art, wie sie mit ihren Kindern umgeht. Ein neunjähriges, übermüdetes Mädchen durch die Nacht zu schleppen und weinen zu lassen. Ist das Zigeunerleben?

Oder ist es Gastfreundschaft, und sie tun es nur für mich? Weil Loco und ich Samina zum Übersetzen brauchten und weil kein Geld für einen Babysitter da war, und weil sie die einzigen Zigeuner waren, die mich nicht sofort nach Geld gefragt hatten. Sie wollten kein Geld, aber vielleicht wollten sie Popularität, was dasselbe ist. Loco hatte eine Platte produziert. „Flamenco Colours“. Er hat Samba reingemischt und Rock und Jazz, und die Produktion war ein Flop. Niemand in Andalusien interessierte sich dafür. Zu strange, zu neu, zu unkonventionell. Vielleicht interessierte man sich in Deutschland dafür, und vielleicht war das der Grund, warum sie mir halfen? Durchaus ein faires Geschäft. Ich verschaffe ihnen Popularität und sie verschaffen mir den reinen Flamenco. Eine Hand klatscht in die andere.

Nur nicht in dieser Nacht. Und es war bereits gegen zwei Uhr. Du gibst der Zeit keine Zeit, hatte Loco gesagt. Na schön, ich werde sie diesem verrückten Romantiker geben. „Sag ihm, daß ich bleibe“, bat ich Samina, und sie tat’s, und Locos Augen veränderten sich. „Amigo“, sagte Loco, und das mußte nicht übersetzt werden. Wir gingen.

Was war geschehen? Nicht viel. Ich hatte ein bißchen Flamenco verstanden. Dieses Phänomen, das am besten von einem Sänger beschrieben worden ist, den sie El Chocolate nannten, und der wie Loco aus Jerez kam. Chocolate sprach einmal über seine Erfahrungen mit Plattenaufnahmen: „Die sagen zu dir, komm morgen früh ins Studio und sing. Aber wie soll das gehen? Wie soll ich wissen, ob ich morgen früh singen kann? Darum taugen meine Platten nichts. Es sind Morgenplatten. Mit Flamenco haben sie nur wenig zu tun.“

Das sagen alle. Du kannst den Flamenco nicht planen, nicht zwingen, nicht locken, nicht herbeischmeicheln, bezahlen schon gar nicht, im Grunde nicht einmal suchen. Flamenco ist wie eine Sternschnuppe, wie ein Regenbogen, wie Verlieben. Und manchmal wie ein Blitz. Und wenn er wie ein Blitz ist, dann zerreißt er dir das Herz.

Das war mein Problem. Darunter wollte ich es nicht machen. Und in Granada war es darunter. Nicht immer so tief wie in der Touristen-Abzockerhöhle. Nein, ich hatte Samina nicht belogen. Ich hatte durchaus nette Leute dort getroffen, an durchaus netten Abenden, in durchaus netten Bars. Die Gang zum Beispiel. Drei Zigeuner, die immer nur zusammen auftauchen, und der Boß hatte die linkesten Augen, die ich je gesehen hatte, und außer seinen beiden Wasserträgern schien ihn dort niemand zu mögen. Nur sie klatschten mit, als er zu singen begann. Laut und dermaßen aggressiv, daß ich bereits die langen, schmalen, feingeschmiedeten Zigeunermesser fliegen sah. Ich ließ mir den Text übersetzen. Er handelte von Geld.

Als er Luft holte, nutzte einer der Männer von der anderen Seite der Bar die Chance und sang eine Antwort, und jetzt schlugen dessen Freunde mit ihren Handknöcheln den Rhythmus auf die Tische und sein Text handelte von Philosophie, und noch bevor der Gangchef etwas darauf erwidern konnte, legte der Wirt seinen unglaublichen Bauch auf die Theke und schlichtete mit zwei Liedern den Streit. Das erste handelte von Mutterliebe, das zweite vom Essen und Trinken.

Ich meine, das war kein übler Abend. Aber ich war noch nicht satt. Ich war unbescheiden, und Loco, den ich einen Tag später kennenlernte, fand es mehr als legitim. Er hielt es für meine Pflicht, in dieser Angelegenheit unbescheiden zu sein. Er hatte mir das Beste versprochen, und er war der beste Führer auf der Straße des Flamenco. Und das ist kein romantisches Bild. Die Straße, auf der wir gingen, nachdem wir das Kaffeehaus verlassen hatten, hieß tatsächlich Calle del Flamenco.

Eine schmale, in dieser Nacht regenglänzende Gasse, die durch das Zigeunerviertel von Jerez de la Frontera führt, und irgendwie war alles anders. Ein Schalter hatte sich umgelegt, und das kannte ich. Das hatte ich tausendmal erlebt. Ein winziger, unsichtbarer Schalter, an dessen einem Ende Plus steht und am anderen Minus, und manchmal reicht ein Windhauch, ihn umzulegen.

Dieselbe Nacht, dieselbe Stadt. Die Quelle des Sherry. Hier kommt er her, hier wird er gemacht, hier ist er überall, dieser geniale Alkohol, der ziemlich genau in der Mitte zwischen Likör und Wein liegt. Darum ist die Luft hier süß. Darum kommt es dir nach einiger Zeit so vor, als hättest du ständig ein Gläschen Sherry unter der Nase. In Jerez de la Frontera wirst du schon vom Atmen besoffen. Und es scheint eine Menge lustiger Leute hier zu geben. Denn jetzt hörte ich sie plötzlich in den Häusern klatschen und fast hinter jedem Fenster war noch Licht. Und die kleine Nu weinte nicht mehr. So einfach ist das, wenn sich der Schalter umlegt. Loco blieb stehen und zeigte auf eine offene Tür links von uns, und er sagte wieder nur einen Satz, den Samina übersetzte: „Loco sagt, warum gehen wir nicht rein?“.

Es war eine reinrassige Flamenco-Bar mit Vorraum und Theke und einem kleinen Tanzsaal hintendran. An den Wänden hingen keine Teller, sondern Schwarzweißfotografien, zum Teil vergilbt, zum Teil mit Autogrammen, und reinrassig war sie deshalb, weil nur Zigeuner da waren. Viele Zigeuner.

Ich ließ es langsam angehen. Blieb im Vorraum und studierte Gesichter. Studieren ist untertrieben. Ich fiel in sie hinein. Kein Mensch hatte mir erzählt, wie schön Zigeuner sind, wenn sie feiern. Ich sah eine Menge feingeschnittener Nasen und einen alten Mann, dessen Gesicht wie ein zerknautschter Fußball war, nur Falten und ein ganz breites Lächeln zwischen den Ohren. Wie ich seine Augen beschreiben soll, weiß ich nicht. Nach einigen Minuten fiel mir auf, daß sie alle solche Augen hatten, und Loco schob mich weiter. Nach hinten, in den Tanzsaal. Da war die Musik, und davor war nochmal eine Mauer von Menschen. Aber Zigeuner sind kleiner als ich, und ich brauchte nicht weit durch den Raum zu gehen. Ich suchte mir einen Stehplatz in der linken Ecke des Saals und wurde zu Luft.

Wenn du beobachten willst, ausschließlich beobachten, wenn jede deiner Poren zu einer Antenne geworden ist und deine Augen zoomen, dann stört es manchmal sehr, wenn auf deine Anwesenheit reagiert wird. Dann möchtest du Mäuschen sein, und wenn du zu groß dafür bist, dann werde Luft. Oder ein Stück Holz. Und stehe wie eingebaut in deiner Ecke.

Sie hatten einen Halbkreis gebildet, etwa sechs bis sieben Reihen stark. Dahinter war eine Tribüne mit Stühlen. Die Alten saßen, die Jungen standen. Kinder waren dabei, bis zu zwei Jahren runter. Und viele Mädchen im heiratsfähigen Alter mit ihren Vätern, Vettern, Brüdern, Cousinen, Großmüttern und Urgroßmüttern, samt deren Freunden und Freundesfreunden und Anverlobten, Eingeheirateten oder sonstwie Verwandten, die aus allen Provinzen Andalusiens und manche sogar aus Barcelona und Madrid zu dieser Feier des Familien-Clans angereist waren. Und alle hatten sich unglaublich in Schale geworfen.

Die Männer trugen dunkle Anzüge mit feinen Streifen, die Frauen Kostüme oder Abendkleider. Billigste Ware, bester Stil. Und Hüte trugen sie und großen Schmuck, und auf der Tribüne, genau in der Mitte, saß eine Frau in einem grünen Kleid. Sie war um die fünfzig und muß einmal wunderschön gewesen sein, und sie war noch immer schön. Sie trug ihren Kopf wie eine Königin und rauchte mit einer langen Zigarettenspitze. Sie rauchte ununterbrochen, und sie war die einzige, die nicht klatschte.

Der Rest tat es. Nicht sonderlich akzentuiert möglicherweise, aber unglaublich schnell, mit Gegenschlägen, die in Rhythmusspiralen durch den Halbkreis jagten, und dazu sangen sie ganz einfache, sehr leichte und fröhliche Lieder. Was sie in der Schule singen, oder wenn jemand Geburtstag hat oder wenn am nächsten Tag geheiratet wird. Lieder, die kein Ende brauchen. Endlosmelodien. Endlosschleifen. Dieser Gesang und dieses Klatschen kamen mir sehr bald wie ein akustischer und manchmal fliegender Teppich vor, in den die besten Sänger ihre Soli woben. Die besten Sänger! Man sagt, daß Jerez ihre Stadt sei. Granada hat die Tänzer hervorgebracht. Sevilla die Gitarristen. In Jerez ist die Seele. Weil die Stimme alles ist und der Ursprung, aus dem der Flamenco kommt. Und die Sänger fühlen, wenn der Flamenco kommt und wenn du in der Nähe bist, kriegst du das mit. Sie stehen mit geschlossenen Augen da, atmen schnell und tief und summen sich ein. Wer ihre Stimmen hört, macht „psst, psst, psst“, und dieses „psst“ pflanzt sich fort, und wenn sie es alle gehört haben, bricht der Gemeinschaftsgesang ab und das Klatschen wird leiser, nicht langsamer, keineswegs, und der Mann kann beginnen.

Leise, aber komprimiert, rauh, aber schön, hart und verletzlich holt er unter den anfeuernden, scharfgerufenen „ays“ der anderen die Stimme aus dem Bauch und bringt sie heraus und läßt sie gleiten und schweben und Girlanden ziehen und holt sie zurück und kommt mit noch mehr Intensität wieder. Und jetzt reitet er. Intensität. Darauf kommt es an. Ein Flamencosänger ist nur dann ein Flamencosänger, wenn er sich selbst singt. Und wenn du in den wenigen Minuten seines Solos alles, aber wirklich alles über sein Leben erfährst, über den Regen und über die Sonne, die er gesehen hat, über die Straßen, die er hinuntergegangen ist, über die offenen und geschlossenen Türen, über die Liebe, die dahinter war, und über das Leid; wenn es das ist, was du erfährst, dann hast du einen guten Sänger gehört.

Und wenn du ein guter Zuhörer bist, verschmilzt du mit ihm, was das mindeste ist, was ein Sänger braucht. Einen, der eins mit ihm wird, einen, der jede Facette seiner Gefühle aufnimmt und sie mit seinen vermischt. Dann singt der cantaor nicht nur seinen Flamenco, sondern auch deinen, und das bringt neben vielen anderen Annehmlichkeiten vor allem dies: Ekstase. Damit geht er ins Finale und das ist dann kein Lied mehr. Das ist ein Schrei. Ein langgezogener und länger und immer länger werdender Schrei, und erst, wenn du wirklich nicht mehr weißt, woher er die Luft dafür nimmt, und wo und wie das alles enden soll, erst dann bricht das hundertstimmige olé wie eine Welle über den Sänger herein, und der Mann ist fertig.

Welle um Welle, Sänger um Sänger und – natürlich – Tänzer um Tänzerin. Alle tanzten. Alle haben es noch vor dem aufrechten Gang gelernt. Eine nach der anderen sprang in den Halbkreis und gab das Geschehen für die Dauer von vier, fünf Schritten an die berühmten spanischen Stiefelabsätze weiter. Nicht mehr. Der kurze Tanz war angesagt. Bewegungen, die eigentlich nur Zitate waren. Aber das reichte. Loco Romantico hatte Recht. Diese Frauen gesehen zu haben, wie sie in vier, fünf Schritten, vier-, fünfmal die Hüften schwangen, reichte tatsächlich, um für den Rest des Lebens auf den Besuch von Discotheken verzichten zu können. Ich habe Zigeunerinnen tanzen gesehen. Ich war endlich satt.

Seit zwanzig Jahren ohne Sex

(Indien)

Ein armer alter Inder fand am Strand eine Flasche, die ihm merkwürdig erschien. Er machte sie auf, und ein Geist kam heraus. „Wow“, sagte der Geist. „Ich war hier zweitausend Jahre eingesperrt, und du hast mich befreit. Dafür hast du einen Wunsch frei. Sag an.“ Der arme alte Inder überlegte ein Weilchen, dann erklärte er, daß er schon immer mal nach Madagaskar wollte. Da er zum einen aber Flugangst habe und zum anderen schnell seekrank werde, wünsche er sich eine Brücke dorthin. Der Flaschengeist reagierte ungehalten. „Eine Brücke von Indien bis Afrika? Weißt du, wie viele Säulen ich dafür brauche? Mann, kannst du dir nichts Leichteres wünschen?!“ Der Inder überlegte wieder, dann fiel ihm etwas ein. „In meiner Religion“, sagte er, „gibt es ja nicht nur unendlich viele Wege zu Gott, sondern auch unendlich viele Götter. Da habe ich mich noch nie wirklich zurechtgefunden. Kannst du mir den Hinduismus erklären?“ Der Geist sah ihn traurig an. „Okay, welche Farbe soll deine Brücke haben?“

Wie lange kann ein Mann seinen rechten Arm ausgestreckt nach oben halten? Eine halbe Stunde? Eine Stunde? Zwei? Ich hatte schon nach zehn Minuten keine Lust mehr, denn ein Schmerz begann, der mit jeder Sekunde schmerzhafter zu werden versprach. Wer foltert sich freiwillig? Und wozu? Der Trick der Sadhus ist es, „den Schmerz mit dem Willen zu verspeisen“. „Ich kann es, ich kann es, ich kann es“, reden sich die indischen Asketen ein und stellen irgendwann fest, daß sie es wirklich können. Und mit jedem Augenblick, den sie dem Schmerz abringen, siegen sie über die Natur. Das bringt zumindest ihrem Willen übernatürliche Kräfte. Und dann, sagen sie, fängt der Spaß erst an. Das klassische Über-Wasser-Gehen, der schwebende Lotussitz, die heilenden Hände, der böse Blick. Dann beginnen Right-hand- oder Left-hand-Tantra, Schwarze oder Weiße Magie. Guter oder böser Zauber würde das europäische Mittelalter dazu sagen.

Amrit Giri Baba zähle ich zu den bösen Zauberern. Er hat eine faszinierende, aber dunkle und alles beherrschende Energie. Wer seine Dominanz nicht akzeptiert, muß gehen. Schnell gehen, denn Amrit Giri Baba wirft seine Flüche wie Steine hinter einem her. Ein Mann, der seinen rechten Arm seit zwölf Jahren hochhält, besitzt die nötige Verbissenheit dazu. Zwölf Jahre? Ich kann etwa drei Stunden davon bezeugen, solange saß ich vor seinem Zelt und konnte ihn durch den Eingang beobachten, aber alle, die den Baba kennen, sagen, es stimmt: zwölf Jahre, und jedes Jahr wird es eins mehr. Spinnen die Inder? Amrit Giri Baba hatte den Arm als Beweis. Obwohl mit Haut umspannt, sah er wie ein Ast aus, die Faust war wie eine Blüte des Grauens zur Klaue verwachsen, und überlange Fingernägel krümmten sich wie Krallen darum.

Amrit Giri Baba ist eine Berühmtheit in Nordindien, ein Star unter den Sadhus und ein gefürchteter Mann, wie ich festzustellen begann. Hindus warfen sich ihm zu Füßen, die Stirn in den Staub, und wenn sie – weiter kniend – ein Stückchen hochkamen, blieb der Kopf noch immer gesenkt und der Blick auf Amrit Giri Babas Füße gerichtet, während sie mit ihren ausgestreckten Händen eine Zeremonie begannen. Sie führten die Rechte über die Linke und die Linke über die Rechte, und diese Bewegung machten sie etwa dreißig Sekunden lang so schnell, wie es ihnen nur möglich war. Erst dann hoben sie den Kopf, sahen – ganz kurz, nur einen Augenblick lang – in Amrit Giri Babas Augen, in der Hoffnung, Shiva darin zu erblicken, den destruktiven Aspekt der kosmischen Energie.

Shiva ist der hinduistische Gott der Zerstörung, der zerstört, was zerstört gehört. Er ist der Bruder von Krishna, dem Gott der Liebe, der aus dem Zerstörten wieder Neues schafft, und der Bruder von Brahma, dem Erhalter und Beschützer. Wer an Macht interessiert ist, betet in der Regel Shiva an. Außerdem ist Shiva ein Gott, mit dem man gut kiffen kann. Die Sadhus glauben, ihm damit näherzukommen, und das Chillum, ein großkalibriges Rauchgerät, gehört zu den Devotionalien dieses Gottes.

„Bum Dharakka, pheenk Bombai, Calcutta. Jo na piye gnje ki kali – Larka se Larki Bholi!“ (O Chillum, brenn Bombay und Kalkutta nieder. Ein Mann, der kein Haschisch raucht, ist nicht besser als ein Mädchen.)

Bin ich besser als ein Mädchen? Ich habe in Amrit Giri Babas Zeit jedes Chillum mitgeraucht, aber ich bleibe höflich, bescheiden und bestimmt. Den Diener mache ich nicht vor ihm. Wir liegen im Alter wahrscheinlich nicht weit auseinander. Er hat es in seinem Leben zu einem Star-Sadhu gebracht, ich bin Reisejournalist geworden. Er streckt die Faust in den Himmel, durch den ich ständig fliege. Überall hin und überall fort. Und hier will ich weg. Mir gefällt dieser Baba nicht – das sind die Schmerzen in meinem Beruf.

Was ist jetzt mit dem Interview? Ich möchte gern wissen, ob du dich an den Tag erinnerst, an dem du dich entschieden hast, den Arm hochzustrecken und nie wieder herunterzunehmen. Ich möchte wissen, wie lange es dauerte, bis die Muskeln sich im permanenten Krampf verknorpelt hatten, und ob du dich an den Tag erinnerst, an dem es plötzlich nicht mehr weh tat (positiv), weil dein Arm kein Arm mehr war (negativ), sondern ein Stück Holz, steif und tot. Und ich möchte wissen, wie du dich in der Zeit dazwischen gefühlt hast, in den endlosen Nächten, in denen du mit Shiva, dem Schmerz und den Sternen allein gewesen bist, und woran du gedacht hast, wenn du pinkeln gehen mußtest.

Als man meine Fragen dem Sadhu übersetzt hatte, bekam Amrit Giri Baba einen Wutanfall. Ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte. Herbeigelaufen zu kommen, sich in sein Zelt zu setzen, seinen Tee zu trinken und auf Knopfdruck seine Lebensgeschichte abzufragen. „Wofür? Du machst Geld damit, aber was nützt es mir?“ Er kramte eine Kamera aus seinen Sachen.

„One Englishman make photo and give me this“, sagte er in indischem Englisch und meinte, ein Photo von ihm koste eine Kamera.

Es war eine Nikon, ein Billigmodell, aber immerhin eine Nikon.

„I don’t push, I don’t beg and I don’t pay“, antwortete ich – ich drängele nicht, bettele nicht und zahle nicht für meine Geschichten.

Als Amrit Giri Baba mein journalistisches Credo übersetzt worden war, ließ er mich wissen, ich hätte mich auf der Stelle aus dem Staub zu machen. Ich zögerte nicht damit.

Wütende Sadhus sind ungemütliche Heilige, und wir waren im Lager der Juna-Akahara, die für ihre Aggressivität gefürchtet sind. Rund 15 Millionen Sadhus gibt es in Indien. Sie werden Sadhus, Babas, Swamis, Yogis und alles mögliche genannt. Das kommt ganz auf die Gegend und die jeweilige Ordenszugehörigkeit an. Von den dreißig bekannten Orden sind dreizehn Kriegerorden, Akaharas genannt, das Hindu-Wort für Fingerring. Sie wurden im Mittelalter militarisiert, um Pilger vor den einfallenden Muslimen zu schützen. Akahara-Sadhus waren später die ersten, die gegen die Briten kämpften. Sie wurden besiegt und entwaffnet, aber ihre Todesverachtung konnte ihnen keiner nehmen. Unter den dreizehn Kampforden sind die Juna-Akaharas wiederum die wildesten; sie werden auch Indiens Hell’s Angels genannt. Sich mit einem Juna-Akahara anzulegen bedeutet, sich dem Gott der Zerstörung in den Weg zu stellen. Drei Tage, bevor wir in ihr Lager kamen, hatten sie sich mit einem anderen Orden Straßenkämpfe geliefert. Dreißig Sadhus starben, mehrere Hundert wurden schwer verletzt. Viele Polizisten, die dazwischenritten, um die Sadhus zu trennen, ebenso. Die heiligen Männer haben sie von ihren Pferden gerissen und sie mit Dreispitzen traktiert.

Normalerweise leben Sadhus allein in kleinen Gruppen im Berg oder in den Bergen. Sie ziehen über die Wege und Straßen des Subkontinents, denn die ständige Wanderschaft ist Teil ihrer Disziplin. Die Seele soll keine Gelegenheit bekommen, sich an Freundschaften, Heim oder Familie zu binden.

Aber alle zwölf Jahre, sobald Jupiter in das Sternzeichen des Wassermanns rückt, werden in Neu-Delhi 12.000 Sonderbusse sowie 1.400 Busse aus den Staaten Punjab, Rajasthan, Himachal und Madhya Pradesh auf den Weg gebracht. Eine weitere Armada von Interstate-Bussen reist aus den Metropolen des Südens an, und die indische Eisenbahn ist mit sechzehn Sonderzügen dabei. Sieben Millionen Pilger wollen zum Kumbha Mela, dem größten Fest der Hindus, dem größten Fest der Welt, das traditionell drei Monate lang zu Füßen des Himalaja in der heiligen Stadt Haridwar stattfindet. Dort, wo der Ganges noch sauber ist. Wer sich in Haridwar während des Kumbha Mela im Ganges wäscht, der wäscht die Sünden von sieben Leben ab.

Und was die Straßenschlacht der Sadhus anging: Die Juna-Akaharas waren der Meinung, daß sie als erste in den Ganges springen dürften, weil sie der größte Orden sind. Zweitausend von ihnen waren in der Stadt, die meisten nackt, mit Asche beschmierte, durchtrainierte Körper – der Wald ist ein gutes Fitneßcamp. Vor allen Zelten brannte Feuer, in einigen standen Fernsehgeräte, und die Asketen sahen sich Videos an. Historische Hindu-Schinken, in denen Heilige noch Helden waren. Sechs Millionen Pilger befanden sich bereits in der Stadt, aber es kamen unablässig mehr, und Haridwar glich einem Zaubertopf, der einen Ozean aufzunehmen versuchte. An diesem Ort zu dieser Zeit Distanzen von hundert Metern zielorientiert hinter sich zu bringen, war reine Glückssache. Ich wollte Sadhus sehen, und das Kumbha Mela ist ihr Klassentreffen: Zu diesem Anlaß verläßt selbst der einsamste Asket seinen Wald.

Katya Baba gehört zu den guten Sadhus, er praktiziert Right-hand-Tantra, also Weiße Magie, und es ist ein Vergnügen, ihm in die Augen zu sehen. Er hat einen Blick, den Männer sonst wahrscheinlich nur während des Geschlechtsverkehrs haben – und auch nur dann, wenn sie die Frau wirklich lieben. Dabei hatte Katya Baba seit mehr als zwanzig Jahren keinen Geschlechtsverkehr. Seine Genitalien sind in einem Ledersack verschlossen, der an einen mächtigen Gürtel gekettet ist. Ein Gürtel, fast so groß wie ein Wagenrad, der keine Haken und Ösen hat, sondern ein schweres Schloß, das ihn zusammenhält. Den Schlüssel für das Schloß besitzt sein Guru. Und wenn er mal muß? Zum Urinieren bekommt er den Penis ein Stück aus dem Lederbeutel heraus, aber für eine Erektion reicht es nicht.

Der Sadhu darf seine Sexualenergie nicht verschleudern, er braucht sie für sich. Sadhus arbeiten, egal in welchem Orden sie sind, an totaler Keuschheit, totaler Armut, totalem Gehorsam. Ein permanenter Kampf gegen das Ego, dessen Natur eine ganz andere ist. Erklärtes Ziel aller Sadhus ist nichts weniger als das ewige Leben, und laut der Lehren der sechstausend Jahre alten heiligen Veda-Schriften ist die Brücke zur Unsterblichkeit in der Mitte des menschlichen Schädels lokalisiert. Sie wird das siebte Chakra genannt.

Chakras sind Energiezentren. Wenn es die Sadhus schaffen, ihren Sex in Macht zu verwandeln (Lokalisierung: Solarplexus), die Macht in Liebe (Lokalisierung: Herz), die Liebe in Weisheit (Lokalisierung: Kehlkopf) und die Weisheit in Erleuchtung (Lokalisierung: Stirnmitte) – erst wenn sie das geschafft haben, können sie über die siebte Brücke gehen und ihr individuelles Bewußtsein mit dem kosmischen verbinden. Und wer einem von denen, die es fast geschafft haben, in die Augen blickt, wird von jemandem angesehen, der kurz vor seinem größten Orgasmus steht. Denn er hat Sex mit Gott.

Katya Babas Augen waren das erste und letzte, was ich von ihm sah, und in seinem Blick lag auch das überzeugendste Erlebnis, das ich mit einem Sadhu hatte. Am zweiten Tag unserer Bekanntschaft wurde Katya Baba furchtbar krank. Das hatte sich schon am Abend zuvor angekündigt. Er klagte über Kopfschmerzen und hustete schwer, als ich ihn verließ. Am nächsten Tag fand ich Katya Baba halbtot in seinem Zelt liegend, von sechs, sieben Sadhus umgeben, die ihn abwechselnd oder gleichzeitig massierten, die Stirn mit feuchten Tüchern kühlten und ihm den Kopf hielten, wenn er sich erbrach. Er erbrach sich praktisch ohne Pause. Als er nach einer guten Stunde noch immer nicht damit aufhörte, sich zu erbrechen, schlug ich vor, ihn in ein Hospital zu fahren. Katya Baba hob daraufhin für einen Moment seinen Kopf von dem Eimer, den ihm ein Schüler vor den Mund hielt, und öffnete, während ein anderer Schüler seinen Bart mit einem Tuch zu säubern begann, kurz die Augen, und wieder war es derselbe Blick. Wie frisch verliebt. Katya Baba blickte alle in seinem Zelt so an.

Seine Schüler boten einen repräsentativen Querschnitt durch das Jahrzehnte währende Trainingsprogramm, das ein Sadhu durchlaufen muß, um selbst einmal Guru genannt zu werden. Da war der, den ich „Das Huhn“ zu nennen begann, weil er nicht schwebte, sondern sich flatternd bewegte. Er war ein Nadu, ein Anfänger unter Asketen. Nadus müssen zwei Jahre ständig nackt leben, ihren Körper mit Asche bedecken und tagelang in einem Kreis aus brennendem Kuhmist meditieren. Die Nacktheit dient als Beweis ihrer Konsequenz, die Asche als Schutz gegen Hitze und Kälte. Und der brennende Kuhmist? Der erhobene Arm des bösen Amrit Giri Baba zählt zu den höher entwickelten Selbstkasteiungen der Sadhus. In einem Feuerkreis zu meditieren (gern auch unter Indiens brennender Mittagssonne), gehört zu den Anfängerdisziplinen. Schwieriger werden dann schon das Stehen im knietiefen eiskalten Wasser, das Schlafen auf Dornen oder Nagelbrettern, monatelanges Fasten und die Nummer mit dem Penis. Fortgeschrittene Sadhus sollen jeden Muskel ihres Körpers kontrollieren und sogar mit ihren Genitalien Gewichte bis zu fünfzig Kilogramm heben können. All diese Übungen werden „Tapes“ genannt, und die Schmerzen, die sie bereiten, sollen eine innere Hitze erzeugen; so wie ein Ofen, auf dem die Suppe kochen kann.

Für die Sadhus um Katya Baba war das Kumbha Mela eher eine Art Feriencamp, eine Zeit der Kommunikation, des Kiffens, ein Treffen der Wege, ein ständiges Hallo und Tschüs, denn Katya Baba ist so beliebt wie bekannt und residierte während des Festes in einem der größeren Zelte des Sadhu-Camps. Dauernd schauten Gurukollegen, deren Schüler, alleinlebende Asketen oder Heilige aus dem Westen vorbei. Die merkwürdigsten Vögel schneiten in sein Zelt.

Am schönsten und wohlduftendsten waren die Mitglieder der Sakhi-Samp-Radaya-Sekte. Grundlage ihrer Philosophie ist die Überzeugung, daß sich die menschliche Seele in ihrer Beziehung zu Gott immer weiblich verhält. Nach ihrem Gelöbnis ziehen sie Frauenkleider an, bewegen sich wie Frauen, reden wie Frauen, parfümieren sich wie Frauen, und an drei Tagen im Monat nehmen sie frei, weil sie dann ihre Periode haben. Diese Sadhus wirkten auf mich weder schwul noch wie Transvestiten oder Drag Queens. Sie erinnerten eher an den früheren Prince, als er noch Purple Rain sang und in Damenwäsche auf der Bühne stand.