image1
Logo

 

KinderStärken

Herausgegeben von Petra Büker

Band 5

Die Reihe im Überblick

Band 1:

Petra Büker (Hrsg.): Kinderstärken – Kinder stärken. Erziehung und Bildung ressourcenorientiert gestalten

Band 2:

Petra Völkel: Entwicklung, Lernen und Förderung der Jüngsten

Band 3:

Renate Niesel & Wilfried Griebel: Übergänge ressourcenorientiert gestalten: Von der Familie in die KiTa

Band 4:

Dagmar Kasüschke: Kinderstärkende Pädagogik und Didaktik in der KiTa

Band 5:

Melanie Eckerth & Petra Hanke: Übergänge ressourcenorientiert gestalten: Von der KiTa in die Grundschule

Band 6:

Susanne Miller & Katrin Velten: Kinderstärkende Pädagogik in der Grundschule

Band 7:

Julia Höke, Agnes Kordulla & Petra Büker: Bildungsdokumentation stärkenorientiert gestalten

Band 8:

Birgit Hüpping & Petra Büker: Kulturelle Vielfalt. Kinderstärkende Pädagogik

Band 9:

Charlotte Röhner & Kathrin König: Kinder stärken in Sprache(n) und Kommunikation

Band 10:

Katja Koch: Übergänge ressourcenorientiert gestalten: Von der Grundschule in die weiterführende Schule

Melanie Eckerth
Petra Hanke

Übergänge ressourcenorientiert gestalten: Von der KiTa in die Grundschule

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

 

 

 

 

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-024243-2

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-024244-9

epub:    ISBN 978-3-17-024245-6

mobi:    ISBN 978-3-17-024246-3

 

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Vorwort der Herausgeberin

 

Das Kind als Gestalter und als kompetenter Akteur seiner Lebens- und Bildungsbiografie: Diese im Sozial-Konstruktivismus verankerte Sicht auf das Kind steht aktuell im Fokus pädagogischer, psychologischer und soziologischer Diskurse sowie in Bildungsplänen für Kinder im Elementar- und Grundschulbereich. Kinder verfügen für die Gestaltung ihrer pluralen, komplexen Lebenswelten über enorme Stärken, die es durch Familie, Peers sowie pädagogische Fach- und Lehrkräfte als kompetente Mit-Akteure zu erkennen und zu stärken gilt. Diese Grundidee wird in der neuen Fachbuch-Reihe KinderStärken aufgegriffen und entlang der Lebensspanne von der Geburt bis zum Übergang in die weiterführende Schule in zehn Bänden kritisch und differenziert beleuchtet. Ein interdisziplinäres Autorenteam, bestehend aus Expertinnen und Experten aus dem Bereich der Früh-, Elementar- und Grundschulpädagogik sowie der Entwicklungspsychologie, widmet sich in jeweils einem Band ausführlich einer spezifischen Lebensspanne, wissenschaftlich fundiert und nah an der pädagogischen Praxis.

Der vorliegende fünfte Band der Reihe thematisiert den Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule, der als gesellschaftlich initiierte Entwicklungsaufgabe Kinder und ihre Bildungsbegleiter vor besondere Herausforderungen stellt. Petra Hanke und Melanie Eckerth setzen im Rekurs auf einen ökosystemischen Transitionsansatz auf die Kompetenz des Kindes für die Bewältigung dieses besonderen Überganges (im Sinne von »Kinderstärken«) und zugleich auf die Kompetenz des sozialen Systems (im Sinne von »Kinder stärken«). Auf der Grundlage aktuellster Studien, bedeutsamer Theorieansätze und praktischer Beispiele arbeiten die Autorinnen auf sehr systematische Weise Schutzfaktoren heraus, die für eine erfolgreiche Bewältigung des Übergangs in die Grundschule als erste Schule des Kindes relevant sind. Insbesondere die Kooperation von KiTa und Grundschule und die Neugestaltung der Schuleingangsstufe rücken als Gelingensbedingung und neue Professionsanforderung in den Fokus einer Kinder stärkenden Transition. Der Band besticht durch seine gut recherchierte, ausgesprochen übersichtliche Darstellung des aktuellen Forschungs- und Entwicklungsstandes zur Übergangsthematik und hält sowohl für wissenschaftlich Interessierte, für pädagogische Fach- und Lehrkräfte als auch für Eltern interessante Diskussionsimpulse bereit.

Petra Büker

Inhaltsverzeichnis

 

  1. Vorwort der Herausgeberin
  2. Einleitung
  3. 1 Der Übergang von der KiTa in die Grund- schule
  4. 1.1 Die Einschulung in die Grundschule im Kontext eines veränderten Schulfähigkeits- verständnisses
  5. 1.2 Der Übergang von der KiTa in die Grundschule als Transition
  6. 1.3 Anschlussfähigkeit im Übergang von der KiTa in die Grundschule
  7. 2 Herausforderungen an Kinderstärken im Rahmen der Bewältigung des Übergangs von der KiTa in die Grundschule
  8. 2.1 Entwicklungsaufgaben für Kinder im Übergang von der KiTa in die Grundschule im Sinne des Transitionsansatzes
  9. 2.1.1 Entwicklungsaufgaben für Kinder auf individueller Ebene
  10. 2.1.2 Entwicklungsaufgaben für Kinder auf interaktionaler Ebene
  11. 2.1.3 Entwicklungsaufgaben für Kinder auf kontextueller bzw. institutioneller Ebene
  12. 2.2 Vorstellungen von Kindern bezogen auf den Übergang in die Grundschule
  13. 3 Kinder individuell stärken für eine erfolgreiche Bewältigung des Übergangs von der KiTa in die Grundschule
  14. 3.1 Merkmale eines von Kindern erfolgreich bewältigten Übergangs von der KiTa in die Grundschule
  15. 3.2 Schutzfaktoren für eine erfolgreiche Bewältigung des Übergangs von der KiTa in die Grundschule durch Kinder im Sinne des Transitionsansatzes
  16. 3.2.1 Schutzfaktoren auf individueller Ebene
  17. 3.2.2 Schutzfaktoren auf interaktionaler Ebene
  18. 3.2.3 Schutzfaktoren auf kontextueller bzw. institutioneller Ebene
  19. 4 Kinder stärken im Übergang durch eine Kooperation von Familie, KiTa und Grundschule
  20. 4.1 Zentrale Zielstellungen und Merkmale einer Kooperation von Familie, KiTa und Grundschule
  21. 4.2 Ausgewählte Formen der Kooperation von KiTa, Grundschule und Familie
  22. 5 Kinder stärken durch Maßnahmen zur bildungsstufenübergreifenden Förderung
  23. 5.1 Zentrale Zielstellungen und Merkmale bildungsstufenübergreifender Bildungs- und Erziehungspläne
  24. 5.2 Ausgewählte Projekte zur bildungsstufenübergreifenden Förderung von Kindern
  25. 6 Kinder stärken durch Maßnahmen zur Neugestaltung der Schuleingangsphase
  26. 6.1 Zentrale Zielstellungen und Merkmale einer Neugestaltung der Schuleingangsphase
  27. 6.2 Ausgewählte Modellversuche zur Neugestaltung der Schuleingangsphase
  28. 7 Den Übergang von der KiTa in die Grundschule ressourcenorientiert gestalten – Fazit und Ausblick
  29. Literaturverzeichnis

Einleitung

 

Der Übergang von der Institution KiTa in die Institution Grundschule stellt ein zentrales Ereignis im Lebensverlauf eines Kindes dar. Im Sinne des Transitionsansatzes wird dieser Übergang als ko-konstruktiver Prozess verstanden, den das Kind, die Familie, die KiTa und die Grundschule, wenngleich auch in unterschiedlichen Rollen, gemeinsam gestalten (vgl. Kapitel 1.2). So weisen die pädagogischen Akteure beider Einrichtungen primär eine moderierende und unterstützende Funktion auf, während Kinder im Übergangsprozess zahlreiche Entwicklungsaufgaben aktiv bewältigen müssen (vgl. Griebel & Niesel, 2011). Den Eltern kommt wiederum eine gewisse Doppelfunktion zu. So haben sie auf der einen Seite ebenfalls die Aufgabe, ihre Kinder im Prozess der Übergangsbewältigung zu begleiten. Auf der anderen Seite müssen sie aber auch selbst den Übergang und die hiermit verbundenen Herausforderungen aktiv bewältigen (vgl. Hiebl & Niesel, 2012).

Im vorliegenden Band steht die Übergangsbewältigung durch Kinder im Fokus (vgl. Kapitel 2) und die Frage, wie der Übergang von der KiTa in die Grundschule für sie ressourcenorientiert gestaltet werden kann. In den Blick genommen wird beispielsweise, wie Kinder selbst den Übergang bewältigen (vgl. Kapitel 2) und wie sie in diesem Prozess unterstützt und im Übergang von der KiTa in die Grundschule in ihrer Entwicklung anschlussfähig gefördert werden können (vgl. Kapitel 3 bis Kapitel 6). Dies erscheint von besonderer Relevanz, da Forschungsbefunde in den letzten Jahren verstärkt auf die Bedeutung einer möglichst früh beginnenden, kontinuierlichen Förderung von Kindern für ihren weiteren Bildungserfolg verweisen. Ergebnisse der IGLU-Studie verdeutlichen z. B., dass ein früher Besuch einer KiTa in einem Zusammenhang mit höheren Lesekompetenzniveaus in der Grundschule steht (vgl. Bos et al., 2007; Hasselhorn & Kuger, 2014). Befunde des Forschungsprojektes »Kinder von 4 bis 8 Jahren – Zur Qualität der Erziehung und Bildung in Kindergarten, Grundschule und Familie« machen wiederum auf die Bedeutsamkeit der Qualität der pädagogischen Arbeit für die Entwicklung von Kindern aufmerksam (vgl. Tietze, 2004). Diese Befunde verdeutlichen somit sowohl die wichtige Position des elementarpädagogischen Bereichs als eigenständiger Bildungsphase als auch ihre Relevanz für das weitere Lernen der Kinder, z. B. im Primarbereich (vgl. Hanke & Hein, 2010). Daher stellt sich u. a. die Frage, wie der Übergang von der KiTa in die Grundschule anschlussfähig gestaltet werden kann (vgl. Kapitel 1.3). Mit Blick auf die Kinder geht es beispielsweise darum, im Sinne einer bildungsstufenübergreifenden, individuell anschlussfähigen Förderung, in der Grundschule an ihre individuellen (Vor-)Erfahrungen und (Lern-)Voraussetzungen aus der KiTa anzuknüpfen und sie hierauf aufbauend in ihrer weiteren Entwicklung zu begleiten und zu unterstützen, sowohl was die Entwicklung lernbereichsspezifischer und -übergreifender Kompetenzen als auch die Bewältigung des Übergangs selbst anbelangt. Als Grundlage für das pädagogische Handeln der beteiligten Akteure (aus KiTa und Grundschule, aber auch aus dem Elternhaus) erscheint in diesem Kontext eine kompetenz- und ressourcenorientierte Perspektive auf das Kind elementar, die sich u. a. in einem veränderten Schulfähigkeitsverständnis widerspiegelt (vgl. Kapitel 1.1) und die Förderung aller Kinder vorsieht; ein Grundgedanke, der sowohl dem Auftrag der Grundschule inhärent ist (vgl. u. a. MSW NRW, 2008) als auch in der aktuellen Inklusions-Debatte noch einmal verstärkt Bedeutung erfährt (vgl. u. a. Siedenbiedel, 2014).

In diesem Sinne werden im vorliegenden Band aus einer kompetenz- und ressourcenorientierten Perspektive heraus auf der einen Seite »Kinderstärken« bzw. mögliche individuelle, interaktionale und kontextuelle Ressourcen von Kindern für die Bewältigung des Übergangs von der KiTa in die Grundschule in den Blick genommen. Auf der anderen Seite werden zugleich unterschiedlichste Maßnahmen thematisiert, die z. B. von Seiten der beteiligten (pädagogischen) Akteure und Institutionen dem Ziel dienen können, »Kinder« für eine erfolgreiche Übergangsbewältigung zu »stärken«. In diesem Kontext wird im Band neben der Erörterung theoretischer Grundlagen auch ein Einblick in nationale und internationale Forschungsbefunde zum Thema gegeben. Zudem werden ausgewählte Praxis- bzw. Fallbeispiele sowie Modellprojekte vorgestellt.

Insgesamt gliedert sich der vorliegende Band wie folgt: In Kapitel 1 wird zunächst ein erster Überblick über das (aktuelle) Schulfähigkeitsverständnis, über die mit dem Übergang bzw. der Transition von der KiTa in die Grundschule verbundenen Herausforderungen und Charakteristika und über Möglichkeiten der Gestaltung eines anschlussfähigen Übergangs gegeben. Diese in Kapitel 1 thematisierten Aspekte werden im weiteren Verlauf des Bandes immer wieder aufgegriffen und weiter vertieft. So stehen die aus theoretischer und empirischer Sicht mit dem Übergang von der KiTa in die Grundschule verbundenen individuellen, interaktionalen und kontextuellen Entwicklungsaufgaben für Kinder bzw. herausgeforderten Stärken von Kindern sowie ihre Vorstellungen selbst bezogen auf den Übergang im Fokus des 2. Kapitels. Diese Ausführungen bilden eine wichtige Basis dafür, um in Kapitel 3 näher in den Blick zu nehmen, welche individuellen, interaktionalen und kontextuellen bzw. institutionellen Schutzfaktoren Kinder wiederum für eine erfolgreiche Bewältigung des Übergangs stärken können. Eine Kooperation von KiTa, Grundschule und Elternhaus erscheint in diesem Kontext elementar. Daher werden in Kapitel 4 zentrale Zielstellungen und Merkmale einer entsprechenden Zusammenarbeit sowie mögliche Formen der Kooperation unter Berücksichtigung der verschiedenen am Übergangsprozess beteiligten Akteursgruppen (Kinder, Eltern, pädagogische Akteure aus beiden Institutionen) noch einmal zusammenfassend thematisiert und bezogen auf ihre Potenziale für eine anschlussfähige, ressourcenorientierte Übergangsgestaltung reflektiert. In den beiden nachfolgenden Kapiteln werden weitere Möglichkeiten zur Gestaltung eines anschlussfähigen Übergangs von der KiTa in die Grundschule vertiefend vorgestellt, die stärker noch auf einer systemischen Ebene verankert sind. So werden in Kapitel 5 sowohl zentrale Zielstellungen und Merkmale bildungsstufenübergreifender Bildungs- und Erziehungspläne als auch ausgewählte (Modell-) Projekte zur bildungsstufenübergreifenden Förderung von Kindern dargestellt, während in Kapitel 6 Maßnahmen und Modellversuche zur Neugestaltung der Schuleingangsphase thematisiert werden. In einem abschließenden Fazit (Kapitel 7) werden zentrale Gedanken des Bandes noch einmal zusammengefasst und es wird ein Ausblick auf weitere Themenfelder im Kontext einer ressourcenorientierten Übergangsgestaltung gegeben.

 

 

 

 

 

1

Der Übergang von der KiTa in die Grundschule

Der Übergang von der Institution KiTa in die Institution Grundschule stellt, wie zuvor erwähnt, ein zentrales Ereignis im Leben eines Kindes dar. Wann ein Kind in die Schule eintritt, ist sowohl von gesetzlichen Grundlagen als insbesondere auch vom jeweils vorherrschenden Schulreife- bzw. Schulfähigkeitsverständnis abhängig. Daher wird in Kapitel 1.1 zunächst ein Verständniswandel von der Schulreife zur Schulfähigkeit thematisiert, um schließlich zentrale Charakteristika einer aktuellen Auffassung von Schulfähigkeit herauszuarbeiten und die damit verbundenen Konsequenzen für die Schuleingangsdiagnostik und Einschulungspraxis aufzuzeigen. Der Übergang selbst ist wiederum aus Perspektive der Kinder und auch Eltern als Transition zu verstehen, d. h. als Veränderungsprozess, der mit massiven Umstrukturierungen einhergeht und intensive Lernerfahrungen notwendig macht. Auf das diesem Verständnis zugrunde liegende Transitionsmodell und seine Hintergründe wird in Kapitel 1.2 eingegangen, bevor in Kapitel 1.3 ein Überblick über Maßnahmen zur Gestaltung eines anschlussfähigen Übergangs von der KiTa in die Grundschule gegeben wird, die im Verlauf des Buches immer wieder aufgegriffen werden.

1.1       Die Einschulung in die Grundschule im Kontext eines veränderten Schulfähigkeitsverständnisses

Das Verständnis von der Schulreife bzw. Schulfähigkeit eines Kindes hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. Hiermit geht auch eine Veränderung der Schuleingangsdiagnostik und Schuleintrittspraxis einher sowie der Vorstellungen darüber, wie Kinder bezogen auf die Entwicklung von Schulfähigkeit unterstützt werden können und welche Kontextbedingungen hierbei von Bedeutung sind (vgl. im Folgenden Hanke, 2007; Kammermeyer, 2005; Kammermeyer, 2014; Knörzer, Grass & Schumacher, 2007).

So wurde in den 1950er und 1960er Jahren auf der Grundlage der Reifungstheorie nach Kern davon ausgegangen, dass Schulreife als Resultat eines endogen gesteuerten Entwicklungsprozesses des Kindes anzusehen ist, auf den eine Förderung in Elternhaus, KiTa oder Schule keinen Einfluss nehmen kann. Vielmehr wurde angenommen, dass die Fähigkeiten eines Kindes sich nach einem »inneren Bauplan« (Knörzer, Grass & Schumacher, 2007, S. 117) entwickeln und jedes Kind somit irgendwann automatisch schulreif wird. Ziel der Schulreifediagnostik war es daher, im Sinne einer Selektion zu überprüfen, ob ein Kind diesen Status bereits erreicht hat oder ob zunächst noch eine Zurückstellung vom Schulbesuch erfolgen sollte. Zugleich wurde die Auffassung vertreten, dass unterschiedliche Fähigkeiten des Kindes in etwa gleichschrittig heranreifen und somit vom Reifestand einer Fähigkeit auf andere geschlossen werden kann. Daher konzentrierte sich die Schuleingangsdiagnostik in der Regel lediglich auf ein Merkmal, wie die visuelle Gliederungsfähigkeit des Kinders oder auch sein körperlicher Entwicklungsstand. Im Rahmen der Philippinerprobe wurde beispielsweise geschaut, ob ein Kind mit dem Arm über dem Kopf bereits das linke Ohr erreichen kann. So sollte überprüft werden, ob sich die für die ersten Lebensjahre charakteristische relative Unproportionalität des Körpers, mit einem großen Kopf und kurzen Gliedmaßen, bereits hin zu einer stärkeren Proportionalität, d. h. einem längeren Körper und längeren Armen und Beinen, gewandelt hat (vgl. ebd.). Das zuvor skizzierte Verständnis von Schulreife gilt heute allerdings als eindeutig widerlegt (vgl. Hanke, 2007; Kammermeyer, 2014).

Als ebenfalls widerlegt gelten eigenschaftstheoretische Vorstellungen, im Kontext derer davon ausgegangen wurde, dass ein Mensch über »ein ganzes Bündel von relativ stabilen Fähigkeiten und Eigenschaften« (ebd., S. 295) verfügt, die ihn von anderen Menschen unterscheiden. Schuleingangsdiagnostik berücksichtigte demnach nicht länger nur ein Kriterium, sondern wurde durch weitere Kriterien ergänzt wie z. B. Gedächtnis- und Wahrnehmungsleistungen, feinmotorische Fähigkeiten und die Fähigkeit zur Mengenerfassung. Sie diente allerdings weiterhin der Selektion der Kinder, bei denen bestimmte, für den Schulbeginn als notwendig erachtete Kompetenzen und Eigenschaften noch nicht ausreichend gereift bzw. entwickelt waren (vgl. ebd.; Kammermeyer, 2005).

Ein Paradigmenwechsel in der Entwicklungspsychologie in den 1970er Jahren führte schließlich dazu, dass aus einer lerntheoretischen Perspektive heraus ein Verständnis von Schulfähigkeit als einer naturgegebenen Eigenschaft des Kindes verworfen wurde. Entwicklungs- und lernpsychologische Studien hatten gezeigt, dass die Entwicklung von Kindern durch Förderung gezielt unterstützt werden kann. Als Konsequenz wurden Kinder z. B. mit Vorschulmappen und Trainings intensiv auf die Schule vorbereitet. Das Verständnis von Schulfähigkeit orientierte sich nun an den Anforderungen der Schule und daran, was ein Kind zu Schulbeginn können muss, um im weiteren Verlauf den Lehrzielen gerecht werden zu können (vgl. Hanke, 2007). Schuleingangsdiagnostik sollte daher Einblicke in die Stärken und Schwächen sowie die Lernbedingungen von Kindern ermöglichen (vgl. ebd.; Kammermeyer, 2005).

Der Blick auf die Kontextbedingungen kindlicher Entwicklung wurde seit den 1980er Jahren im Rahmen eines ökologisch-systemischen Verständnisses von Schulfähigkeit, welches maßgeblich auf Nickel zurückzuführen und auch heute noch von Bedeutung ist, stark erweitert. Schulreife, wie Nickel es nun wieder nannte, bzw. Schulfähigkeit wird in diesem Zusammenhang als ein »interaktionistisches ökopsychologisches Konstrukt« (Kammermeyer, 2014, S. 296) verstanden, welches von vier Teilkomponenten abhängig ist, die wiederum in enger Wechselwirkung zueinander stehen (vgl. im Folgenden Knörzer, Grass & Schumacher, 2007; Nickel, 1988; Plehn, 2012). Eine Teilkomponente stellt die Schule mit ihren spezifischen Strukturen (z. B. Stellung und Aufgaben der Grundschule im Schulsystem), ihren Anforderungen (z. B. im Kontext von Richtlinien und Lehrplänen) und Lernbedingungen (z. B. Unterrichtsorganisation, praktizierte Methoden, Unterrichtsatmosphäre, Handeln der Lehrkraft) dar. Hinzu kommt die Teilkomponente der einzelnen Schülerinnen und Schüler mit ihren individuellen körperlichen, geistigen, sozial-emotionalen und motivationalen Voraussetzungen etc. Diese ist wiederum u. a. in Wechselbeziehung zur Teilkomponente Ökologie zu betrachten, zu der neben der familiären Ökologie (z. B. sozioökonomischer Hintergrund, häusliche Anregungen) auch die vorschulische Ökologie (z. B. Struktur und Ausstattung der Vorschuleinrichtung, pädagogische Qualität) und erneut die schulische Ökologie (z. B. räumliche, materielle und personelle Ausstattung) gezählt werden kann. Das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Komponenten ist wiederum eingebettet in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext, welcher z. B. durch gewisse soziale und ökonomische Strukturen, gesetzliche Rahmenbedingungen, allgemeine Ziel- und Wertvorstellungen oder auch eine spezifische gesellschaftliche Leistungskultur geprägt wird. Schulfähigkeit hängt demnach nicht nur vom einzelnen Kind und seiner Familie ab, sondern auch von den jeweiligen Institutionen, wie die abgebende KiTa und die aufnehmende Grundschule, und vom gesellschaftlichen Kontext.

Ein Beispiel für ein Diagnoseverfahren im Sinne eines ökologisch-systemischen Verständnisses von Schulfähigkeit ist das »Kieler Einschulungsverfahren« (Fröse, Mölders & Wallrodt, 1986). Dieses beinhaltet u. a. ein Elterngespräch zur sozialen, emotionalen und motivationalen Entwicklung der zukünftigen Schulanfänger. Ebenso ist das Einholen von Informationen aus der vorschulischen Einrichtung vorgesehen, z. B. in Form eines Berichtes, was heute über eine Bildungsdokumentation möglich wäre. Mit den Kindern selbst wird in Gruppen ein Unterrichtsspiel durchgeführt, welches der Diagnose verschiedener Entwicklungsbereiche dient, z. B. Gliederungsfähigkeit, Grob- und Feinmotorik, Auge-Hand-Koordination, Verständnis von Anweisungen und freies Erzählen. Bei Bedarf können weitere Einzeluntersuchungen folgen. Kritisiert wird an dem Verfahren, dass die klassischen Testgütekriterien (Objektivität, Reliabilität und Validität) nicht berücksichtigt werden und somit das Ergebnis stark an die subjektive Einschätzung der durchführenden Lehrkraft gebunden ist (vgl. Kammermeyer, 2014; Knörzer, Grass & Schumacher, 2007). Dennoch findet das Verfahren auch heute noch vielfach Anwendung und dient teilweise als Grundlage für weitere, z. B. von Schulen selbst entwickelte informelle Verfahren der Schuleingangsdiagnostik (vgl. ebd.). Kammermeyer weist als Kritikpunkte am Verfahren bzw. Weiterentwicklungspotenziale beispielsweise darauf hin, dass eine stärkere Einbindung der KiTa denkbar wäre ebenso wie eine stärkere Berücksichtigung spezifischer Übergangsbewältigungs- und lernbereichsspezifischer (Vorläufer-)Kompetenzen (vgl. Kammermeyer, 2014). Zwei Beispiele für neuere Verfahren, die stärker noch als das Kieler Einschulungsverfahren lernbereichsspezifische Vorläuferkompetenzen von Kindern untersuchen, wären »Die Diagnostischen Einschätzskalen (DES) zur Beurteilung des Entwicklungsstands und der Schulfähigkeit« (Barth, 2012) und »Handreichungen Schulstarter. Screening zum Erfassen der Lernvoraussetzungen für Klasse 1« (Ullmann, 2008).

Insgesamt zeichnet sich ein aktuelles Verständnis von Schulfähigkeit dadurch aus, dass im Sinne eines ganzheitlichen Verständnisses eine Vielzahl kindlicher Entwicklungsbereiche in den Blick genommen werden, z. B. die körperliche und motorische Entwicklung, die Entwicklung personaler, emotionaler und sozialer Kompetenzen ebenso wie die Entwicklung allgemeiner kognitiver und (lern-)methodischer Kompetenzen und die Entwicklung lernbereichsspezifischer Vorläuferkompetenzen, z. B. im schriftsprachlichen und mathematischen oder auch natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Bereich (vgl. u. a. MSW & MFKJK NRW, 2011). Aus ökosystemischer Sicht ist nicht nur das einzelne Kind in den Blick zu nehmen, sondern es gilt auch die jeweiligen familiären, institutionellen und gesellschaftlichen Kontextbedingungen seiner Entwicklung zu berücksichtigen. Die Entwicklung von Schulfähigkeit wird demnach auch nicht allein als Aufgabe des Kindes angesehen, sondern vielmehr als gemeinsame Entwicklungsaufgabe bzw. gemeinsamer Entwicklungsprozess von KiTa, Schule, Kind und Familie, der weit vor dem Schuleintritt beginnt und auch darüber hinaus noch andauert. Ziel der Schuleingangsdiagnostik ist demnach keine Selektion, sondern eine prozessorientierte, ganzheitliche Erfassung der individuellen Voraussetzungen eines Kindes unter Berücksichtigung der jeweiligen Kontextbedingungen seiner Entwicklung, um diese Informationen für eine anschlussfähige Förderung im Übergang von der KiTa in die Grundschule nutzen zu können (vgl. Hanke, 2007). Jürgens schlägt in diesem Zusammenhang beispielsweise vor, den Begriff der Schulfähigkeit durch den Begriff der »Kindfähigkeit« (Jürgens, 2013, S. 5) von KiTa und Grundschule zu ersetzen, um den Blick auf diese Weise »weg von der ›Bringschuld‹ des künftigen Schulkindes, hin zur systemischen Betrachtung und gemeinsamen Verantwortung von Kita, Eltern und Grundschule in der Kind-Umfeld-Beziehung« (ebd., S. 5) zu lenken, was z. B. eine stärkenorientierte Förderung der Kinder anbelangt.