Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel. Von einem Gewitter, welches schönen Flachs in die Erde schlägt, dagegen aus der Erde gute Leute
Zweites Kapitel. Der Sonntag nach dem Gewitter
Drittes Kapitel. Der Großmutter Vergangenheit
Viertes Kapitel. Des Sohnes Besuch und der Mutter Glück
Fünftes Kapitel. Vom Ährenlesen und Kräutersammeln, von Müllern und Apothekern
Sechstes Kapitel. Käthi erzeugt ein schreckliches Donnerwetter und ist doch keine Hexe
Siebentes Kapitel. Gott stellt eine Lebensfrage, da werden die Gelehrten sturm und die Unmündigen bange
Achtes Kapitel. Vom Verlauf der Frage, und wie es Käthi und andern dabei geht
Neuntes Kapitel. Volksdiplomatik und Volksjustiz
Zehntes Kapitel. Neuer Kummer und ein großer Entschluß
Elftes Kapitel. Käthi tut eine Reise und hat das Glück, wieder heimzukommen
Zwölftes Kapitel. Wie Käthi in Ehren und ohne jemand zu plagen mit Beten und Arbeiten sich durchzuschlagen sucht
Dreizehntes Kapitel. Wie Käthi die Weihnacht feiert und am Neujahr sich labet
Vierzehntes Kapitel. Was das neue Jahr Käthi Neues bringt
Fünfzehntes Kapitel. Käthi kriegt den Johannes ins Haus samt einem Prozeß, und wie der Prozeß ausläuft
Sechzehntes Kapitel. Wie es dem Grotzenbauer, dem neuen Helden, ergeht
Siebzehntes Kapitel. Johannes wird gesund am Herz, muß aber ins Bad wegen des kranken Arms
Achtzehntes Kapitel. Zwei erscheinen, eine alte Bekannte und eine neue: die Erdäpfelkrankheit und ein hübsches Mädchen
Neunzehntes Kapitel. Von einem Besuch und alten und jungen Gedanken
Zwanzigstes Kapitel. Käthi macht einen entschiedenen Fortschritt, beginnt Unterhandlungen, übernimmt eine Gesandtschaft
Einundzwanzigstes Kapitel. Die Emme bricht los, begräbt, was Käthi hoffte und hatte
Zweiundzwanzigstes Kapitel. Auf den Gräbern wachsen die schönsten Rosen, und wenn die Not am größten ist, ist Gott am nächsten
Jeremias Gotthelf

Käthi, die Grossmutter

Eine starke Frauengeschichte aus dem 19. Jahrhundert



e-artnow, 2015
Kontakt info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-4589-8

Erstes Kapitel. Von einem Gewitter, welches schönen Flachs in die Erde schlägt, dagegen aus der Erde gute Leute

Inhaltsverzeichnis

Wer dabei gewesen wäre, als die Erde die Berge gebar, als die ungeheuren Kinder der Erde Schoß sich entwanden, die, nackt geboren aus glühendem Schoße, erstarrten in der kalten Luft, welche über der Erde lag; wer dabei gewesen wäre, als lauere Lüfte kamen, die kalten Kinder auftauten in warmer Sonne, ihr eisig Gewand zu Wasser ward, die Wasser aus den Bergen brachen, Rinnen rissen, Gründe gruben, Täler schufen, die Schweiz ein ungeheurer Wasserfall ward – dessen Mund wäre verstummt im Schauen der Allmacht, seine Sinne wären erloschen, seine Seele ein ewig Gebet geworden.

Wer in tiefem Bergestale – Bergwände ringsum, über ihnen weiße Häupter, die gen Himmel starren, eine enge Rinne der einzige Ausgang – es erlebt hat, daß warme Winde über die weißen Häupter kamen, an die steilen Wände schwarze Wolken sich legten, Gottes Hand die schwarzen Wolken so preßte, daß sie Blitze sprühten, ihr donnernder Weheruf die Erde erschütterte, ihre Tränen über die Seiten der Berge rannen, zu Fluten wurden, welche zu Tale donnerten; wer so stand im engen Bergesschlund, wenn auch des Lebens sicher, von Blitzen umzuckt, alle Bergwände ein Wasserfall, das Tal ein schäumender Wasserkessel, verhallt im Donner der Wasser der Donner des Himmels: dessen Seele hat sich wohl in Demut gebeugt. Zum Gebete ward sein Bangen; es dämmerte ihm die Ahnung, wie die Erde die Berge geboren, wie Welten erzeugt worden sind.

Wer ganz hinten im Schächentale, im Lande Uri, im Boden, »im Äsch« genannt, vor sich die steile Balmwand, zu beiden Seiten himmelhohe Berge, Wasserfälle an jeder Wand, den 22. August gestanden wäre, der hätte erlebt, was oben angedeutet worden, über den wäre ein Beben gekommen wie das Beben des Todes. Gebet wäre sein Zittern geworden, auf die Knie wäre er gesunken und hätte seine Seele vor dem Allmächtigen gebeugt in unaussprechlicher Demut.

Wer nun aber auf einem runden Hügel steht in üppigem Grün, schöne Häuser sieht in den Talgründen und an den Bergwänden prächtige Bäume, ein lieblich, reich Gelände, dem wird es schwer, an den Graus und Kampf zu denken, in welchem diese lieblichen Täler und Hügel geboren oder gebildet wurden; und zwingt er sich, daran zu denken, so beugt er sich vor der Allmacht Gottes, die nicht bloß im Schaffen der Welten, im Aufruhr der Elemente sich kündet, die am größten ist im stillen, lieblichen Schaffen, im Wandel einer wilden Wüste zum freundlichen Garten.

Wer auf einem der freundlichen Hügel des Emmentales steht, die ersten schwellenden Gedanken überwunden hat, das Einzelne ins Auge faßt, der wird in einem schmalen Tale, welches die Emme sich gerissen hat, über welchem zu beiden Seiten eine Reihe fruchtbarer Hügel, die Dörfer trägt und das reichste Gelände, ein klein Häuschen sehen, aus Holz erbaut, mit Stroh gedeckt. Das Häuschen liegt gar lieblich in grünem Grunde, und gar manchem, der die Hütte sah und dem der Welt Getümmel zur Plage geworden ist, wünschte seufzend, dorthin sich retten zu können, aus der Welt Getümmel in die stille Ruhe des freundlichen Häuschens. Wen dieser Wunsch bewogen hätte, das Häuschen in der Nähe zu sehen, dem verging der Wunsch sicherlich nicht. Das Häuschen ist freilich alt, die meisten der kleinen Scheiben in den kleinen Fenstern sind blind; aber reinlich ist alles ums ganze Häuschen her, und in jedem Winkel, an jeder Seite hat es ein klein Bänklein, und vor dem Hause ist ein Gärtlein. Freilich ist der Zaun zerfallen, aber drinnen sieht es doch niedlich aus. Es ist nicht Kraut und Unkraut darin, sondern kein Unkraut, und statt dessen Nelken und Rosen nebst einigen andern lieblichen Blümchen. Und über das Gärtlein weg sieht man die gewaltigen Bernerberge so kühn und ehrenfest, auf der Erde die gewaltigen Füße, halb im Himmel die ehrwürdigen weißen Häupter. Wer auf das Bänklein vor dem Häuschen sich setzt, hat eine schöne Matte vor Augen; sittig und still fließt zu seinen Füßen ein Bach, aus dessen klarem Wasser Forellen nach Mücken springen. Auf dem Bänklein hinter dem Häuschen wäre es für manches Gemüt schöner noch. In tieferm Grunde zieht ein Streifen Land sich hin, eine ländliche Speisekammer, bepflanzt mit Flachs, Bohnen, Kartoffeln; auch Rüben, Möhren und Kohl hätte man bei genauerm Nachsehen gefunden. Das Land stößt an ein Gebüsch, und aus dem Gebüsche steigt ein herrlicher Vogelgesang, denn es ist der befiederten Sänger Lieblingsaufenthalt. Sogar die in der Schweiz so seltene Nachtigall soll hier sich hören lassen. Hinter dem Gebüsche rauscht tief und einförmig der Baß zum lustigen Gezwitscher; es ist die wilde Emme, welche das Tal gegraben hat und welche es von Zeit zu Zeit dem Menschen ins Gedächtnis ruft, daß sie des Tales Mutter sei, und zwar eine gewaltige und zornige.

Wer den 12. Brachmonat 1845 des Nachmittags diese Hütte besichtigt hätte, hätte hinter dem Häuschen im Kartoffelstück auch des Häuschens Bewohner gesehen, deren viere waren, ein alte Frau, ein Bub zwischen vier und fünf Jahren und zwei Hühner, ein schwarzes und ein weißes.

Die alte Mutter stand in den Kartoffeln und hackte darin das Unkraut aus; sie war ärmlich, aber sauber gekleidet, sie hatte Runzeln im Gesichte, aber auch zwischen den Runzeln war sie sauber. Glatt war des Knaben Gesicht und von Natur schön rot und weiß; aber man merkte es fast nicht, denn nicht so sauber war es als der Großmutter Gesicht. Aber daran war diese nicht schuld; denn wenn sie es ihm alle Viertelstunden abgewaschen hätte, so hätte sie allemal viel abzuwaschen gefunden. Es war ein hübscher Bub mit weißem Krauselhaar, der aber wohl viel Recht bei der alten Frau, seiner Großmutter, hatte, daher auch des Glaubens war, er könne mit seinen Händen anrühren, was er wolle, und dann mit den Händen fahren, wohin und worein er wolle, natürlich also auch in das eigene Gesicht. Kostbar war er nicht gekleidet, etwas besser als Eva ihre Buben gekleidet haben wird; jedoch hätte man ihm durchaus nicht angesehen, wie schwunghaft jetzt das Schneiderhandwerk betrieben wird. Er schnitzte an Schindeln zu einem Hühnerbauer und wollte alle Augenblicke von der Großmutter wissen, ob der Bauer groß genug würde, um ausgebrütete Hühnchen zu beherbergen. Unterdessen weideten traulich und friedlich das schwarze und das weiße Huhn in ihrer Nähe, besonders um die alte Frau herum, da sie dort in der aufgehackten Erde das beste Futter fanden. Zuweilen jedoch trat das eine oder das andere zum Buben und blinzte mit schiefem Kopfe dessen Treiben an. Eben dahin schaute auch sehr oft das alte Mütterchen mit sichtbarem Wohlbehagen, ohne die Hacke ruhen zu lassen deswegen. Sie konnte die Hände rühren und die Augen brauchen zu gleicher Zeit, was gar manche junge Dirne nicht kann. Ja es war allemal, wenn ihre Augen zurückkehrten vom Jungen zu den Händen, als ob sie neue Kraft brächten den Händen, die um so rüstiger sich rührten. Die Großmutter hatte nicht bloß große Freude an dem Großkinde, sondern es war ihr Leben, es war ihre Liebe, und weil es ihre Liebe war, so diente sie ihm auch mit voller Hingebung. Ihr Leben ging nicht bloß in seinem Leben auf, sondern ihr Leben hätte sie mit aller Freude zehnmal des Tages für sein Leben gegeben. Man sah es aber auch ihren Augen, wenn sie auf dem Buben ruhten, an, daß es also war.

Es war ein sehr schwüler Nachmittag, einzelne schwarze Wolken standen hier und dort am Himmel, Divisionen gleich, des Rufs gewärtig, zusammenzustoßen zur beschlossenen Schlacht. Die Hitze hemmte jedoch die alte Frau an der Arbeit nicht; selten stand sie an ihrer Hacke, frischen Atem zu schöpfen. Die Frau wußte, wie schnell der Abend kommt, wie rasch die Zeit von dannen eilt, die Nacht da ist, wo das Arbeiten ein Ende nimmt.

Wie viele die einzelnen Geldstücke erst dann bedächtig und besonnen ausgeben, wenn sie an den letzten sind, so haben es gar viele mit ihren Tagen. Die besten Tage verschwenden sie, lassen sie dahinrinnen wie Sand durch die Finger, solange sie noch eine unzählbare Menge derselben im Hintergrunde wähnen. Geht dann das Leben zur Neige, stehn unerwartet nur einzelne wenige Tage vor ihren Augen, dann soll auf einmal die Arbeit beginnen, mit Weisheit wollen sie diese Tage zählen; dann aber wissen sie gewöhnlich nicht, wie sie dieses machen sollen. So hatte es diese Frau nicht gemacht. Sie hatte treu gearbeitet immerdar, doch fleißiger, je älter sie ward, und heute mit ganz besonderm Fleiße; sie hatte ein Tagewerk, welches sie vollenden wollte, sie wußte nicht, war morgen Zeit dazu, sie wußte nicht, wie lange das Gewitter säumte. Sie freute sich im Herzen, wie die Leute dann sagen würden: Käthi sei doch immer die Fleißigste, sei fertig mit ihrer Sache, wenn die andern erst anfingen; wenn alle Leute so wären, würde es weniger arme Leute geben und die Zuchthäuser nicht mehr so voll sein.

Endlich war die letzte Reihe gehackt. »Gottlob, so wäre das auch gemacht«, sagte die Frau, welche also Käthi hieß, Käthi Harzig vollständig, strich und schabte sorgfältig die Erde von der Hacke und sagte: »Jetzt, Bubi, wollen wir heim, aber erst nach dem Flachs sehen, ob er bald blühen wird.«

Der sogenannte Flachsplätz war von den Kartoffeln nur durch zwei Reihen Bohnen getrennt, und wie man sich wohl denken kann, nicht sehr groß und doch gleichsam die Schatzkammer der alten Frau, denn derselbe gab ihr zumeist den besten Teil an ihre Miete. Sorgfältiger konnte wohl auch ein Flachsplätz kaum gepflegt werden als der ihre, der auch den Vorteil sehr günstigen Bodens hatte, eine sandige, durch die Emme angeschwemmte, wahrscheinlich mit etwas Mergel vermischte Erde. Käthi war berühmt ihres Flachses wegen. Es tat ihr auch nichts wohler auf der Welt, als wenn ihr jemand sagte, sie habe doch da das schönste Büebli und dazu den schönsten Flachs, den man sehen könne das Land auf und ab. Mit großem Behagen stand sie auch diesmal an ihrer Pflanzung und sagte für sich: Wenn es Gottes Wille ist, so habe ich ein gutes Jahr und brauche nicht zu sorgen, was essen und wo die Miete nehmen.

Wirklich gewährte das kleine Stück ein schönes Ansehen. Der Flachs stand wenigstens zwei Ellen hoch, blühte noch nicht, war dicht, fein und aufrecht durchaus in seinem Netze. In demselben standen nämlich, etwas mehr als einen Fuß voneinander, keiner eine Linie weiter als der andere, kleine Stäbe, und alle akkurat gleich hoch gesteckt, und von einem zum andern und dann übers Kreuz liefen grobe Fäden und bildeten kleine Felder oder Quadrate. In diese war der Flachs hineingewachsen, fand da Halt und Kraft, so daß der Wind ihn nicht beugte und übereinander warf, wodurch bekanntlich der Flachs krank wird, wenig und schwachen Stoff liefert. In Gedanken rechnete Käthi den Ertrag auf dem kurzen Heimwege, verglich ihn mit dem Bedarf, zog die Bilanz. So eine Frau trägt ihr Hausbuch im Kopf mit herum und rechnet auf Stegen und Wegen wie der erste Kaufmann, verrechnet sich kaum weniger und mehr als derselbe; nur klingen die Summen, um welche sie rechnet, anders.

Das Häuschen stand, wie erwähnt, etwas höher als der Grund, in welchem die Pflanzungen lagen, gewährte also eine freiere Aussicht. Noch im Rechnen vertieft, stellte Käthi die Hacke weg, ging vors Häuschen, Holz zu holen zum Kochen des Abendessens, und sah nun die zornige Gestaltung des Himmels. Über dem Jura, gegen Norden, lag eine schwarze Wolkenwand; nach Süden, an den Alpen, türmten sich Wolkenmassen, ragten, weißlich gezackt, hoch herauf am Himmel, neue Berge auf den alten Bergen. »Du mein Gott«, seufzte die Alte, »wie sieht das aus! Wenn uns nur unser Herrgott verschont mit Hagel und harten Wettern! Verdient hätten wir es wohl, aber wer wollte es aushalten, wenn er strafte nach Verdienen?«

Da kam das Bübchen gelaufen und sagte: »Großmüetti, komm und sieh, wie die Fische springen im Wasser, da soll es gut sein zu angeln, mußt mir geschwind eine Angel machen.« Die Großmutter sagte es dem lieben Kleinen nicht rund ab, sondern nur beziehungsweise, gab Gründe an, erkannte halb und halb den Gegenstand an sich für ganz recht, nur den Zeitpunkt dafür nicht passend; akkurat tat die Großmutter wie unsere Staatslaffen, durch deren Schuld die größten Dummheiten ins Staatsleben hineinlaviert und -bugsiert werden.

»Was wolltest du mit den Fischen anfangen«, sagte sie, »du wüßtest ja nichts damit zu machen.« »Verkaufen, Großmutter, verkaufen; des Wirts Mareili hat mir gesagt, die Fische gelten viel Geld, viele, viele Batzen.« »Ja, die großen«, sagte die Großmutter, »aber solche sind keine in dem Bach; nur kleine sind darin, nur ganz kleine, und die gelten kein Geld.« »Die backe man und esse sie selbst; sie seien gar grusam gut, hat Wirts Mareili gesagt, sie hätten oft solche, wenn der Vater nicht daheim sei«, entgegnete das Kind. »So, geht es dort so?« sagte die Großmutter. »Sie würden dir nicht schmecken, und die Fische haben Gräten, und daran erstickt man. Möchtest ersticken?« »Nein, Großmutter, das nit. Aber Wirts Mareili hat schon manchmal gegessen, und es lebt auch noch, und was es essen kann, das kann ich auch essen, und es wird mir schmecken, so gut als ihr.« »Sieh, Büebli, ich habe jetzt nicht Zeit, muß kochen, eine Erdäpfelrösti machen, denke, eine Rösti, wie du so gerne ißt.« »Mag nicht mehr Rösti«, sagte das Büebli, »mag keine Erdäpfel mehr, sie sind mir verleidet, Großmutter. Eine Angel will ich, eine Angel«, und zu heulen begann das Büebli: »Großmüetti hat mich nicht lieb, Großmüetti hat mich nicht lieb« (akkurat das Geheul der Staatslaffen, daß man das Volk nicht lieb habe, man liebe das Volk nicht).

Das Büebli wußte, das war der Kernschuß auf der Großmutter Herz, der nie fehlte, den Zweck immer traf. »Büebli, schweig doch, schweig«, sagte die gute Frau erschrocken, »schweig und versündige dich nicht. Die Erdäpfel verleidet! Du mein Gott, was willst du denn essen? Und was meinst, wenn jetzt der liebe Gott die Erdäpfel verhageln täte oder die Emme kommen ließe, was wolltest du essen, und was sollten wir essen? Dann würdest du wohl wieder Erdäpfel wollen, du weißt noch nicht, du guets Büebli, was Erdäpfel sind; bitt Gott, daß du es nie erfahren müssest wie ich im sechzehnten Jahr! Du arms Tröpfii, die roten Backen würden dir vergehen, wenn du von Fischen leben solltest und keine Erdäpfel mehr hättest.«

Während sie so dem Kleinen zusprach, machte sie ihm eine Angel zurecht, das heißt, sie band an einen langen Faden eine krumme Stecknadel. Jubelnd sah der Kleine zu, und wir zweifeln sehr, daß er ein Wort vom Zuspruch vernommen habe. »Sieh, da hast jetzt eine Angel, aber falle mir nicht in den Bach, sonst sieh, wie es dir geht!«

Ehe die Frau vollendet hatte, hing der Faden bereits im Bache. Nun erst konnte sie feuern, ihre Hacke recht waschen und den Hühnern ihr Abendbrot geben, welche darauf ängstlich ihren gewohnten Nachtsitz in der Küche suchten. »Du mein Gott«, sagte Käthi, welche zuweilen unter die Türe trat, nach dem Bübchen zu sehen, »wie das doch blitzt; ists nicht, als ob man ganze Körbe Feuer ausleere? Erbarme sich Gott der armen Leute, über welche das Wetter dahinfährt!« »Sieh, Großmutter, wie feurige Ketten herumfahren! Ja Tausend, wenn die ganz von Gold wären und ich hätte eine und du hättest eine, dann, Großmutter, wären wir reich genug, könnten es gut haben, und dann wollten wir einen Hahn kaufen und noch mehr Hühner und Schafe und Roß und Kühe, und dann würde ich auch ein reicher Bauer, nicht wahr, Großmutter?« »Du arms Bubi, was du nicht sagst, ei aber nein, was dir nicht alles in Sinn kommt! Komm du herein, hörst, wie es donnert in der Ferne? Kommt es hier durch, dann erbarme sich Gott unser!«

Die Großmutter hatte viel zu tun, ehe sie den Kleinen in der Küche hatte. Er war auf die Fische versessen, und es donnerte noch nicht sattsam verständlich, bloß so von ferne, als ob ein Wagen über eine hölzerne Brücke fahre. Wenn es weit ist, so sind Kinder und große Leute außerordentlich keck, und wenn es donnert von ferne oder hinter den Bergen, so stehen die Helden im Lande so dick als der Flachs in Käthis Pflanzung. Dann, wann Blitz und Donner über die Häupter brechen, die Flut um die Füße spült, der Augenschein da ist, daß, was ferne war, nahe kommen kann, dann werden die Helden dünn, und wer unter ihnen der größte schien, als das Wetter jenseits der Berge war, der ist verschwunden, wenn der Blitz über dem Haupte zischt. Umgekehrt geht es auch, daß die zu Helden werden in der Gefahr, welche vor ihr warnten und zu zittern schienen, als sie in der Ferne noch war und nichts schien als eine dunkle Nebelwolke im Traum.

So brachte die Großmutter an ihrem Kinde nichts ab, bis ein so recht blendender Blitz vorüberfuhr und ein ziemlich starker Donner folgte, ein verlorner Vorläufer. Da waren die Fische vergessen und die goldenen Ketten. Das Kind lief der Alten vorauf und bat sie, die Türe fest zuzumachen, daß Blitz und Donner nicht hinein könnten. Aber was zur Türe nicht hinein kann, findet oft durch die Fenster den Weg, und wie sie die Türe öffneten, zuckte ein roter Schein ihnen entgegen. Johannesli schrie laut auf: »Großmutter, es brennt!« und steckte seinen Kopf in ihre Schürze. Mit Mühe brachte die Großmutter den Kleinen hinter den Tisch, auf welchem ihr spärlich Mahl stand, Kaffee und Erdäpfelstücke in wenig, wenig Butter gebraten.

Der Kleine war ein kecker Bube und ein furchtsam Kind; was er fassen konnte, dem sah er kühn ins Gesicht, vor allem aber, was aus der unsichtbaren Welt in seine ragte, vor jeglichem Geiste, der erscheinen konnte, bebte und zitterte er, und weil Geister des Nachts erscheinen, so fürchtete er die Nacht. Wenn er im Stübchen saß an der Großmutter Seite, und sie erzählte von Geistern, oder er hörte Gott donnern in der Höhe, sah dessen Blitze feurig zur Erde fahren, so bebte er; aber es war keine Pein in dieser Furcht, sondern etwas Süßes, Wohltuendes, er war der Zuversicht, hier im Stübchen sei er sicher und wohl behütet und keine böse Gewalt habe Macht über ihn. »Bet, Johannesli«, sagte die Großmutter. Beide falteten die Hände.

»Speis Gott, tränk Gott
Alle arme Kind,
Die auf Erden sind«,

betete Johannesli.

Die Blitze wurden häufiger, dagegen fast Nacht über der Erde, obgleich die Sonne kaum untergegangen sein konnte. Aber es hatten tief die Wolken sich gesenkt, hingen schwarz und drohend über niedern Hügeln, einem Kriegsheere gleich, das sich erhebt und langsam in die Ebene steigt zur mordenden Schlacht. Die Vorboten des nahenden Gewitters brausten heran, einzelne Windstöße sausten durch die Bäume, beugten ihre Wipfel zur Erde, dumpf und mächtig rollte der Donner näher, und die Hütte bebte.

»Du mein Gott«, seufzte Käthi, »es wird Nacht, und hör, wie es toset, und die Wolken streichen ganz über den Boden. So schwarz habe ich es lange nicht gesehen. Was will unser Herrgott wohl mit uns? Bet, Johannesli, bet das Gebet vom Wetter! Wenns schon donnert und windet, unser Herrgott hört es doch.« Johannesli faltete wieder seine Händchen und betete:

»Behüt uns, Gott, vor aller Not,
Vor Wetter, Wasser und dem Tod,
Stell für uns Engel auf zur Wacht,
Die uns behüten diese Nacht,
Und wenn wir einstens müssen sterben,
So laß uns dann den Himmel erben. Amen.«

»Kannst das Vaterunser noch?« frug Käthi. Johannesli begann; da klopfte es an der hölzernen Wand des Häuschens und auf dem kleingehauenen Holze, das an der Wand aufgeschichtet war, scharf und seltsam. Da ward Käthi blaß, fuhr auf und rief: »Du mein Gott, das ist Hagel!« Stille ward es wieder draußen. »Bet, Johannesli, bet! Es ging viel zu übel, wenns noch hageln sollte; was sollte man essen, was sollte man machen!« Und kaum hatte die gute Frau dies gesagt, als es draußen wieder klopfte, rascher und rascher, bis endlich die Hagelstücke heftig an Wände und Fenster prasselten, Blitz um Blitz vom Himmel fuhr, die einzelnen Donnerschläge ineinanderflossen, in einem Donnerschlag die Erde bebte.

In grauser Macht und Pracht tobte ein Gewitter über die Erde, wie sie selbst im Berglande selten sind.

Es war ein Aufruhr, in welchem unwillkürlich Könige und Bettler ihre Ohnmacht zu Gemüte fassen, jede denkende Seele es fühlt in tiefer Demut, wie nichtig der Mensch ist: eine Blume des Feldes, die verwelket, wenn ein Hauch vorüberfährt; wo die Augen unwillkürlich aufschauen nach der Hand, welche die Welten gegründet hat, die Elemente ordnet, den Sturm zügelt und in Fesseln legt. Verstummt waren Großmutter und Kind im Donner der Elemente, gefaltet lagen ihre Hände auf dem Tische, und dicke Tränen rannen der guten Frau die Wangen nieder. Vor ihr standen ihre Pflanzungen, zermalmt, verschüttet, dahin die Frucht ihres Fleißes; was sie im Schweiße ihres Angesichtes erarbeitet hatte, das sollte sie weder erfreuen noch nähren. Über ihr Gemüt lagerte sich eine dunkle, schwarze Wolke. Es war nicht die Stimmung des Schiffahrers, wie sie ihn erfaßt, wenn auf weitem Ozeane Feuer ausbricht auf seinem Schiffe, ums Schiff die Wellen rauschen, kein rettend Segel das Auge sieht, der Schiffahrer sein Haupt verhüllt, in stillem Gebete des Versinkens gewärtig. Über Käthi kam die Stimmung des erschöpften Wanderers, der einen schweren, langen Tag gerungen hat mit des Weges Pein und Not, einen freundlichen Abend hoffte in traulicher Herberge, und auf der Höhe des Weges sieht er keine Herberge, sondern eine endlose Ebene, tief mit Schnee bedeckt, über welche eisige Winde wehen, und hinein in diese soll er, sieht kein Ende, kein Ziel; ein unaussprechlich Ermatten ergreift ihn, alle Gedanken fliehen, nur einer bleibt: Schlafen, o schlafen, ruhen, o ruhen, nur nicht weitergehen, nicht ringen mit Schnee und Weg! So kam es über Käthi, die siebenzig Jahre gewandert war in Treue und Ehrlichkeit auf schwerem Wege, und jetzt stand sie vor dem steilen Berge der Not im Gefühle ermatteter Kraft, und kein Weg führte um den Berg, freundlicher Ruhe zu, als der Tod.

Aus diesem Versinken in trostloses Ermatten wurde die Großmutter plötzlich gerissen durch des Kindes Stimme: »Großmutter, Wasser, Wasser, wir ertrinken!« Käthi fuhr auf aus dem trüben Sinnen; um die Füße plätscherte ihr bereits das Wasser, welches durch die gebrechlichen Fenster und die vom Hagel zerschlagenen Scheiben flutete, und durch die Fenster drang ein Rauschen und Tosen, wie Käthi es nie gehört. In größter Angst riß sie die Türe zur Küche auf, fand auch dort Zasser, riß die Küchentüre auf, welche ins Freie ging; da schlugen Blitz und Regen sie fast nieder, kaum daß sie die Türe wieder schließen konnte. Sie tappte zurück ins Stübchen; das Wasser war gestiegen, war so hoch als die Schwelle zwischen Küche und Stübchen. Sie nahm Johannesli, setzte sich auf das Bett, hielt ihn auf dem Schöße und bangte jetzt nicht mehr um ihre Pflanzungen, sondern ums Leben, nicht um ihres, sondern um das des armen Kindes. Sie wußte nicht, gings zum Leben, gings zum Tode. Es donnerte und brauste so gewaltig um das Häuschen her; das Wasser stieg, daß sie den Donner der Emme zu hören glaubte, die gewaltig die Dämme durchbrochen und sie dahinreißen werde samt dem Häuschen in ihren Wogen. In solchen Wettern war Flucht unmöglich, Rettung in Gottes Erbarmen allein. So harrte zwischen Hoffen und Fürchten Käthi bange lange Stunden auf das Erbarmen des Herrn, denn das Gewitter war von seltener Dauer. Schien es vorüber, so kehrte es wieder in erneutem Zorne, als ob zu zerstören es noch was vergessen hätte. Die Hand, welche in Fesseln legt die Elemente, schien erlahmt. Johannesli schlief, Käthi bangte und betete, begann endlich wieder zu hoffen, als die Blitze seltener wurden, der Donner schwächer, der Hagel ausblieb, der Regen nicht mehr so prasselnd an die Fenster schlug, das Wasser nicht mehr stieg. Dies war ein besonderer Trost, als Zeichen, daß das Wasser vom Regen komme und nicht vom Fluß, welcher zumeist erst recht ansteigt, wenn das Gewitter vorüber ist. Doch hörte sie in dem Maße, als der Donner schwieg, lauter des Wassers Tosen und Toben; über ihr blieb lange noch schweben wie ein zweischneidend Schwert die Gefahr des Todes. Endlich schien es Käthi, als sei die Gefahr vorüber; sie legte sachte das Kind aufs Bett, schob das Schiebfensterchen zurück und versuchte, sich umzusehen draußen. Aber finster war die Wolkenmasse, wogte noch unzerrissen am Himmel, und seltsam wars auf Erden, graulicht statt grünlicht, daß Käthi erst glaubte, es liege hoch übereinander der Hagel auf der Erde; aber seltsam rauschte es, und beweglich schien die Oberfläche, daß Käthi zweifelhaft wieder ward, ob es nicht Wasser sei, was so grau die Erde bedecke, und von ihm das seltsame Rauschen komme.

Sie plätscherte durchs Wasser bis zur Küchentüre; diesmal schlug kein Sturm sie zurück, sie konnte über die Schwelle, aber anfangs sah sie nichts. In der Rinne des Daches lag der Hagel, es rauschte und wogte ums Haus wie Wasserfluten, aber die Emme schien es nicht, ihr Donner war es nicht. Endlich riß die Wolkendecke, es schimmerte einige Augenblicke der Mond; Wasser war, so weit Käthis Augen sahen, es wogte wild und brauste mächtig, aber der Donner der Emme war es nicht. Es waren unbekannte Wasser, welche Käthi nie gesehen, darum ward es Käthi von neuem angst; was die wollten und konnten, wußte sie nicht. Sie schloß die Türe wieder, setzte aufs neue neben ihr Kind sich, zu beten und zu wachen über dasselbe. Aber stiller ward es draußen, leise zog das Kind den Atem, es zog Käthi neben dasselbe hin. Nur ein wenig die Augen zuzutun dachte sie, und als sie dieselben wieder auftat, schimmerte der Tag ins Stübchen, aber blaßgrau, einem Angesichte gleich, welches dem Grabe verfallen ist oder welches aus dem Grabe kommt.

Lange durfte die gute Frau den Kopf nicht heben, nicht nach dem Schaden sehen, den sie erlitten; es war ihr wieder so matt ums Herz, daß es sie dünkte, sie möchte sterben. So war es ihr, bis sie das Bübchen sah, welches so schön und süß neben ihr schlummerte. »Ach du arms Kind, wie wird es dir gehen«, seufzte sie und betete. Das stärkte sie; sie erhob sich, sah hinaus und sah Himmel und Erde grau, so weit sie sehen konnte. Sie sah nicht näher nach, feuerte, machte das Morgenbrot, Kaffee und geröstete Kartoffeln. Das Feuer prasselte, ein Huhn gackelte; darob erwachte das Kind, rief nach der Großmutter, wollte aufstehen, sah durchs Fenster den Wandel der Dinge draußen und konnte ihn nicht begreifen. Die Angst vor Geistern hatte es verschlafen, wußte nichts mehr vom Wetter. Es vergessen die Kinder vieles so leicht vom Abend bis zum Morgen, und anderes will nicht mehr aus der Seele, hat wie mit Widerhaken sich festgemacht, und gewöhnlich ist dies das Schlimmste von allem Schlimmen.

Als die Großmutter ihm erzählte mit Klagen und Jammer, daß der Flachs dahin sei, die Kartoffeln, alles, auf was sie gehofft, und sie nun arme, arme Leute seien, die nichts mehr zu essen hätten, nicht mehr wüßten, wo sie hin sollten, da sagte der Kleine: »Iß du, Großmüetti, es bessert dir dann schon bsunderbar, wenn du Kaffee gehabt hast.« »Und wenn es mir jetzt schon bessert, du arms Büebli, was hülfs, wenn wir nichts mehr zu essen haben? Hungers sterben ist doch grüslich, denk, Bubi, mys Bubi!«

»Großmüetti, so grüslich wird es nicht sein; es ist keine Schlacht so groß, daß nicht ein paar übrig bleiben, sagst du ja sonst. So wirds auch Kartoffeln geben; an den Kirschbäumen rötelen die Kirschen, die Bäume hängen voll Äpfel, und dann, Großmüetti, gebe es immer gute Leute, sagst du ja, und der alte Gott lebe noch. Und obendrein denke an meine Hühner, die legen fast alle Tage; an denen hätten wir ja fast genug, und wer weiß, wenn ich sie recht füttere, ob sie mir nicht zweimal legen des Tags!« Und damit streichelte er die beiden Tiere, welche zu seinen beiden Seiten standen, fast wie der schwarze und der weiße Engel, mit dem Unterschied, daß sie es beide gleich gut meinten, beide Brosamen aus ihres Herrchens Hand gewärtig.

Es klingt uns anfangs wunderlich, wenn die Worte, mit welchen wir sonst andere trösten, uns wiederkommen aus fremdem Munde, uns zu trösten; wir sind zuweilen geneigt, sie als Spott aufzunehmen, böse zu werden darüber. Aber wenn sie uns kommen aus dem Munde eines Großkindes, absonderlich wenn wir ein Großmüetti sind, werden sie ihre Wirkung nicht verfehlen. Im traurigsten Herzen wird es blitzen wie Freude, wenn aus dem lieben kleinen Mund Trost uns träufelt, unsere eigenen Worte als Balsam auf unsere Wunden gelegt werden. Es ist wohl nichts weiser, als wenn Großeltern die Herzen ihrer Großkinder zu ihren Schatzkammern machen, aus denen sie dann, wenn die Tage kommen, von denen man sagt, sie gefallen mir nicht, schöpfen können Trost, Freude, Hoffnung, Glaube, Liebe, alles, was sie bedürfen.

So gings auch Käthi. Alsbald blitzte ihr Licht ins Herz, doch sagte sie, wenn der Flachs verhagelt sei, die Kartoffeln verwässert, so seien sie dahin, und weder Gott noch gute Leute könnten da helfen. »Aber Großmüetti, versündige dich nicht! Bei Gott seien alle Dinge möglich, sagst du ja, und warum können gute Leute dir nicht Flachs geben oder Erdäpfel, oder vielleicht noch was Bessers, wenns gute Leute sind? Darum, liebs Müetti, weine nicht und iß; dann wollen wir hinaus, wenn es dir gebessert hat.«

Es besserte Käthi; obs der Kaffee machte oder des Büeblis Zuspruch, wissen wir nicht, denken aber, es werde beides geholfen haben.

Als sie hinauskamen, war das Wasser bis auf einige Pfützen verlaufen, und Käthi sah nun, daß es wirklich nicht die Emme gewesen, von welcher das viele Wasser gekommen war. Ein unerhörter Wolkenbruch, teilweise mit Hagel vermischt, hatte sich ergossen über die Umgegend und einige Seitentäler, deren jedes einen Bach zur Emme sendet. Diese Bäche waren zu Strömen aufgeschwollen, hatten entsetzlichen Schaden angerichtet, ehe das weite Bett der Emme sie aufnahm, wo sie wieder unschädlich wurden. Brücken waren gebrochen, Straßen zerrissen und vieles Land mit Sand und Kies überschüttet. Was der Hagel übrig gelassen, hatte das Wasser verdorben. Für Käthi namentlich sah es schrecklich aus. Der Flachs war zerhackt, die Trümmer im Sande begraben, das Laub der Kartoffeln hatte Löcher, der Sand war mehrere Zoll hoch herbeigetragen, in den Furchen stand noch Wasser, und trat Regenwetter ein, so gab es faule Kartoffeln. Während zerschlagen im Gemüte Käthi den Schaden betrachtete, der unermeßlich für sie war, so wenig er für einen Reichen zu bedeuten gehabt hätte, kickerten lustig um sie herum die Hühner. Das Gewässer hatte ihnen überschwengliches und zartes Futter gebracht, wie sie es nie gefunden hatten, Würmer und Gramseltiere von allen Sorten, welche Gelehrten unbekannt gewesen wären, geschweige Hühnern. Aber bekannt oder nicht bekannt, was gramselte, das fraßen sie. Was andern Schlimmes gebracht, brachte ihnen Gutes; sie genossen es unbedenklich, doch auch ohne Bosheit und Schadenfreude, was man leider in ähnlichen Fällen nicht allen Menschen nachrühmen kann.

Versunken in ihrem Jammer, achtete Käthi der Hühner nicht; aber als das Bübchen neben ihr aufjauchzte: »Sieh, Großmüetti, sieh!« und einer Pfütze zustürzte, sah sie auf und sah eben, wie, plumps, kopfüber der Kleine in die Pfütze fiel, daß Schlamm und Wasser hoch aufspritzten. Er hatte Bewegung im Wasser gesehen, an Fische gedacht und lag nun selbst als ein kleines Wasserungeheuer mitten im Wasser. Nun vergaß Käthi plötzlich Flachs und Kartoffeln, stürzte mit lautem Aufschrei dem Liebling nach, und plumps, wäre sie beinahe an seiner Seite gelegen. Mit Mühe zog sie den Buben, einem kleinen Seehund ähnlicher als einem Menschen, aus dem Loch, jammerte und wimmerte, ihn halb oder ganz tot glaubend, da derselbe den Mund zu voll hatte, um ordentlich schreien zu können.

Es war ihr ein großer Trost, als er wieder schreien konnte, als ob man ihn am Spieße hätte, und statt wie sonst zu sagen: »Schweig doch, mein Bübchen, schweig!« sagte sie: »Ei gottlob, daß du wieder schreien kannst! Schrei nur recht, so laut als du magst, so kömmt raus, was dir in Hals gekommen!« Mit dem Schreien kam auch das Zappeln, er wollte durchaus von Großmutters Armen weg, den Fischen nach; sie hatte Mühe, ihn festzuhalten, da ihr der Schreck noch in allen Gliedern lag, sintemalen er in alten Gliedern länger liegen bleibt als in jungen, aber aus dem Kopfe brachte sie ihm die Fische nicht. Er mußte sich reinigen lassen, mußte was Warmes zu sich nehmen, denn was Warmes hielt die Großmutter als das beste Mittel gegen jeglichen Schaden an Leib oder Seele. Essen und Trinken ließ begreiflich Johannesli sich gefallen, sobald es aber vorüber war, war es aus mit dem im Bette Bleiben; die Großmutter mußte ihn anziehen, ja mußte einen Kessel nehmen und mit dem Bübchen aufs neue ans Fischen gehen, denn es seien Fische dort, behauptete der Kleine, ganz schrecklich viel und große.

Der Kleine hatte allerdings recht; in einigen Pfützen rührte sich was, und es waren wirkliche Fische, wie es bei plötzlichen Wasserstürzen, wo die Fische nicht Zeit haben, sich zu sichern, zu geschehen pflegt; da müssen die armen Fische aus ihrer schönen, klaren Heimat plötzlich weg, bleiben gleich anderm Gerolle auf verwüsteten Feldern liegen und sterben eines elenden Todes, wenn nicht eine mitleidige Hand ihnen ein rasches Ende schenkt oder ein scharfblickender Vogel ihnen ein Grab gestattet in seinem hungrigen Magen. Es war aber kein Leichtes, diese Fische zu fangen; sie trieben ein boshaft Spiel mit den steifen Händen der Alten, den schwachen des Bübchens. Und während der wilden, verwegenen Jagd jammerte Käthi in einem fort, wie das keine Art habe, daß es in seinem Alter noch fischen müsse; wenn nur kein Mensch es sehe, sie glaubten sonst, sie sei ein Narr geworden, und täten sie in den Kalender. So komme es, wenn Kinder so zwängisch würden in der heutigen Welt, ehemals sei das nicht so gewesen, wohl, sie hätte ihrer Mutter so was zumuten sollen, die hätte ihr würden! Und jetzt sei es so, es gehe witzigem Leuten, als sie sei, auch so, es werde so sein sollen, und da werde man sich in Gottes Namen darein schicken müssen, wie dumm dasselbe auch sei.

So jammerte die gute Großmutter, jedoch mit aller Ergebung, bis endlich die Fische bezwungen waren und im blechernen Kesselchen wild schwaderten, sieben ganze Stücke, als der Junge jauchzend und die Großmutter mit einem gewissen Behagen sie zählten. Aber mörderlich sahen die beiden Fischer aus; als die Großmutter es endlich merkte, ging ihr Jammer neu an. Das Kind jedoch hatte keine Teilnahme für sie; ein Held, der sieben Länder bezwungen, sieben Kronen erobert hatte, fühlte kein stolzeres Selbstgefühl. Man denke sich aber auch sieben ganze Fische, einige freilich von der Sorte, welche niemand essen mag, aber das wußte das Kind nicht, einige eßbare und endlich einen großen, großen, er kam Johannesli wie ein Walfisch vor, war ungefähr acht Zoll lang und hatte so schöne rote Punkte, wie Johannesli nie gesehen hatte und also auch nach der Schlußweise junger Weisheit nie gesehen und erlebt worden waren.

Nun entstand, wie bei allen Helden nach der Eroberung, die große Frage: Was jetzt? Vor allem, meinte Johannesli, solle die Großmutter ihm dieselben kochen; Wirts Mareili habe gesagt, wie sie so gut seien. Auf den Einwurf der Großmutter, sie könne nicht Fische kochen, meinte Johannesli: »Aber Großmüetti, nicht Fische kochen! Feuern mußt, und dann brav Sachen dran, was du hast, so sieh dann, obs nicht gut kömmt!« »Du einfalts Kind, jetzt, wo wir nichts mehr haben, nicht wissen, was essen, sollen wir anfangen Fische essen; ich brächte kein Stücklein hinunter.« Da nahm Johannesli sichtlich sich zusammen und sagte, wenn die Großmutter nicht möge, so möge er auch nicht; sie wollten die Fische verkaufen, da lösten sie viel, viel Geld und könnten damit Brot und Erdäpfel kaufen, viel, viel, für manche Dublone. »Du arms Kind«, sagte Käthi und weinte fast, »was hast du für einen Verstand vor der Sach! Es wäre wohl gut, wenn wir zu vielem Gelde kämen, aber solche Fische kauft kein Mensch.« »Wenn du sie nicht kochen willst und nicht verkaufen, warum hilfst sie fangen, Großmüetti?« sagte das Kind. »Aber probiere und komm ins Dorf, da kaufen viele Leute sie uns ab. Aber zu wohlfeil gib sie nicht, und sag den Leuten, ich hätte sie zuerst gesehen und die meisten gefangen!«

Die Großmutter wollte ablenken mit mancher Einwendung und namentlich, wie sie jetzt aus ihrem Lande das Wasser ableiten, das Gröbste wegräumen müsse; aber es half alles nichts, sie war nicht mehr Meister, sie mußte versprechen, die Fische zum Verkauf auszutragen. Nur wollte sie es verschieben bis zum Abend, am Abend dann bis zum Morgen, nach Art vieler Eltern, die verspechen und nicht halten, durch Verschieben betrügen.

So was ist kein Laster fromme Leute treibens; aber es ist ärger als ein Laster, es ist eine höllische Mode. Die Kinder nehmen daran ein Exempel, und nach der Eltern Treiben schneiden sie sich den himmlischen Vater zurecht, halten dafür, er verspreche auch und halte nicht, verschiebe von einem Morgen zum andern Morgen, und nie komme der Morgen, an dem er das Verheißene erfülle, diesseits nicht und jenseits erst recht nicht, das Jenseits sei bloß erfunden, um die diesseitigen Täuschungen zu bemänteln.

Johannesli wollte aber davon nichts wissen; vielleicht hatte er bereits Erfahrungen in diesem Punkte, jedenfalls hatte er es wie größere Kinder, welche auch nicht warten mögen, bis ihre Heldentaten und namentlich ihre ersten bekannt werden, und wenn niemand es tut, sich selbst dran machen, und wenn sie eben keine Heldentaten getan, ihre Kindereien oder Schelmereien zu Heldentaten stempeln und die Welt vollbrüllen damit. »Jetzt, Großmüetti«, sagte er, »jetzt muß es sein. Die Fische könnten sterben, und dann könnten wir sie nicht essen und andere Leute auch nicht, und dann lösten wir kein Geld und hätten umsonst Mühe gehabt. Jetzt, Großmüetti, komm, jetzt ist es gerade am besten, jetzt sind die Fische noch fett, und wenn sie nichts zu fressen haben, so magern sie.«

Sie mußte, die gute Frau, und schämte sich gewaltig. Alle Leute würden sie auslachen, dachte sie, »Der alt Narr«, würden sie sagen, und wahrscheinlich war dabei das Gewissen in etwas im Spiele, welches ihr sagte, die Leute könnten merken, wie sie was Närrisches zu tun imstande sei, wenn Johannesli es wolle. Es war ihr, als wären ihre Beine Blei, und als sie von weitem den ersten Menschen sah, kam es über sie wie über gewisse Tiere, wenn sie plötzlich ein neues Tor erblicken; die alte Käthi hätte Seitensprünge versucht, wenn ihre Beine leider nicht alt und obendrein wie von Blei gewesen wären. Die Augen durfte sie nicht aufschlagen, bis der Mann sie freundlich anredete, sie frug, wie es ihr ergangen; er habe mitten im Wetter an sie denken müssen, da sie so nahe am Auslauf des Baches in die Emme wohne. Als Käthi, erqickt durch die freundliche Teilnahme des angesehenen Mannes, ihre Not erzählt hatte, frug er, was sie da habe in dem Kesselchen. Da schämte sich Käthi wieder und sagte: »Ach was!« und erzählte, was wir wissen, und mit offenen Augen und offenem Munde paßte Johannesli auf die Rede des Mannes. Die Erben eines reichen Mannes sperren bei Eröffnung seines Testamentes ihre Augen sicherlich nicht weiter auf, als Johannesli es tat. Jetzt machte der Mann den Mund auf und rühmte den Buben, daß er begehre, der Großmutter zu helfen und auch was zu verdienen; das gebe einmal einen tüchtigen Kerl, es wäre gut, es wären alle so. Aus den Fischen lösten sie allweg Geld, und wenn auch wenig, so sei es doch besser als nichts.

Das machte Käthi guten Mut, und der kam ihr wohl, denn sonst wäre sie trotz Johannesiis Zerren und Protestieren wahrscheinlich umgekehrt. Heute waren alle Menschen vor den Häusern, selbst Kranke verließen ihre Betten und wankten herum; alle wollten den Schaden sehen, die Zerstörungen an eigenen und fremden Sachen, und während die einen wehklagten und jammerten, lobten und priesen die andern Gott, weil es noch viel übler hätte gehen können, und was man hätte anfangen wollen, wenn auch die Emme groß geworden und losgebrochen wäre! Das Gefühl der Ohnmacht, und daß der der Herr sei, der da Licht schafft und Finsternis, Regen gibt und Sonnenschein, taucht doch noch an solchen Morgen auf, wo der Mensch die Wirkungen einer Macht vor Augen hat, welche augenscheinlich keine Grenzen hat. Dieses Gefühl, Schlechten eine Pein, tut guten Gemütern wohl, ist ein kühler Balsam in heiße Wunden. Allenthalben wurde Käthi mit Teilnahme angesprochen, allenthalben erhielt sie freundliche Worte. Im Donner Gottes, da fühlt man es, daß wir alle gleich sind; der Donner Gottes sprengt Herzen auf und macht sie weich, welche gegen alles menschliche Gerede eine Steinwand waren. Dieses Aufgehaltenwerden tat ihr wohler als den Fischlein, welche alle auf dem Rücken lagen, als ein freundlicher Mann sie aufmerksam gemacht hatte, sie bringe die Fische nicht lebendig an den Mann, wenn sie dieselben nicht tränke mit frischem Wasser. Aber der alten Frau, die sich auf Fische nicht verstand, war diese Unaufmerksamkeit zu verzeihen in einer Stunde, wo der reichste Bauer ihr Verstand zeigte und daß er es begreife, wie es ihr, welche alles eingebüßt, viel übler gegangen als ihm, welcher noch gar manche Jucharte unbeschädigtes Land hatte, einen gefüllten Speicher, einen gut besetzten Stall und einen nicht schlecht versehenen Geldsäckel. Endlich schlugen sie sich durch bis ins Dorf; da ging das Schämen von neuem an und zugleich das Überlegen, wo sie ihre Fischlein zuerst feilbieten sollten, ob im Pfarrhaus oder im Wirtshaus oder beim Krämer oder beim Schreiber oder beim Doktor oder bei irgend einer Frau, welche gerne etwas Gutes aß, doch so, daß nicht bloß niemand was davon kriegte, sondern auch niemand was davon wissen sollte. Wenn Johannesli nicht dabei gewesen wäre, Käthi hätte die Fische ausgeleert ins erste beste Gräbchen. Da trat das Pfarrhaus ihr vor Augen, dorthin steuerten sie. Pfarrers lachten sie am wenigsten aus und verstünden sich am mindesten auf die Sache, dachte Käthi, und Käthi hatte nicht unrecht. Freilich lächerte es die Pfarrerin fast, als sie die Fischlein sah; indessen begriff sie den Zusammenhang der Dinge alsbald, gab einige Batzen für die Fische, freundliche Worte beiden und sagte Käthi, wenn sie ins Dorf komme, so solle sie zu ihr kommen und erzählen, wie es ihr auch gehe.

Die gute Alte wußte fast nicht, wie ihr war, als sie so manchen Batzen in der Hand hatte und so guten Bescheid obendrein; sie hörte fast die Freude des Kindes nicht und wie er ihr vorhielt: »Großmüetti, gäll gäll, hab ichs nicht gesagt, gäll, Großmüetti, wenn ich nicht gewesen wäre, so viel Geld hättest du nicht!«

Wer aus dem Pfarrhaus kömmt, wird gerne angesprochen, besonders wenn Weiber in der Nähe wohnen, die vor Neid ganz gelb sind, daß nur Gott allwissend ist und sie nicht auch; so geschah es auch Käthi. Sie mußte an gar manche Küchentüre treten, erzählen, wie es ihr gegangen, was sie im Pfarrhaus gemacht und was die Pfarrerin gesagt. Dann wurde noch mehr als ein Herz weich, und eine Bäurin reinigte ihren Kessel, gab ihr Milch darein, eine andere steckte ihr ein halbes Brot unter den Arm, eine dritte hieß sie das nächste Mal vorbeikommen, sie wolle ihr was zurechtmachen, so daß die gute Käthi einen ihrer glücklichsten Gänge gemacht hatte und hatte ihn doch so ungern angetreten. Sie brachte sie Hände voll Sachen heim, das Herz voll Dank und Hoffen, und was will der Mensch mehr?