8

Blaine Alexander trat an die Stirnseite des Tischs und riss mich damit aus den Erinnerungen an jenen Abend und an das Versprechen, das ich Heather gegeben hatte. »Nun«, wandte er sich an die Gruppe, »ich bin froh, bei dieser Sache mit meinem Lieblingsteam zusammenzuarbeiten.«

Diese Bemerkung brachte alle zum Lachen. Immer wenn er ins Spiel kam, hatte das Finale bereits begonnen, darum war jedes Team, mit dem er zusammenarbeitete, sein Lieblingsteam. Blaine und ich hatten schon bei mehreren Operationen in der Taskforce zusammengearbeitet. Er war immer up to date, politisch gerissen und taktisch auf dem Laufenden. Das musste er auch sein, um seinen Job zu behalten. Ehe er fortfahren konnte, hob ich die Hand: »Sir, ich muss mit Colonel Hale sprechen. Können Sie ohne mich anfangen? Dauert nur eine Minute.«

Er nickte, weil er wusste, worum es ging. »Ja, machen Sie nur!«

Ich verließ den Saal im Laufschritt, da ich Kurt vor der Einsatzzentrale mit seinem Deputy Commander, George Wolffe, reden sah. George hatte vom National Clandestine Service der CIA zu uns gewechselt. Ich kenne ihn nicht annähernd so gut wie Kurt, aber nach allem, was ich über ihn weiß, ist er ruhig und besonnen. Im Gegensatz zu vielen anderen bei der CIA stufte Kurt ihn als Fleischfresser ein, und das genügte mir. Er konnte ruhig hören, was ich zu sagen hatte.

»Colonel Hale! Hey, warten Sie! Ich muss mit Ihnen reden.«

»Was gibt’s?«

»Ich muss mit dem Team mit. Ich muss heute Abend fliegen.«

Kurt sah mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. »Was reden Sie da? Sie baten mich doch ausdrücklich, das Protokoll zu umgehen und Sie zum Geburtstag Ihrer Tochter nach Hause zu lassen. Ich habe mich über alle Regeln hinweggesetzt, um das zu ermöglichen. Wissen Sie, welche Verrenkungen die Verantwortlichen auf sich genommen haben, um Ihnen den Trip zu ersparen? Und jetzt wollen Sie doch mit nach Tiflis?«

»Sir, die Lage hat sich geändert. Die Reise wurde wegen unseres Einsatzplans vorbereitet. Aber jetzt wird das Team früher verlegt. Ich muss mit.«

»Sie müssen nach Hause zu Ihrer Familie. Kommen Sie, Pike, es wird schon nichts passieren, bis Sie dort eintreffen. Ihre Männer werden bloß Verhaltensprofile erstellen. Es dauert noch mindestens eine Woche, bis es wirklich losgeht.«

»Das kann man nie wissen. In 24 Stunden könnten wir bereits bis zum Hals in der Scheiße stecken. Ich muss mit. Es ist mein Team.«

»Pike, überlegen Sie mal! Sie sind derjenige, der mir erzählt hat, dass er seit ihrem ersten Lebensjahr bei keinem Geburtstag seiner Tochter anwesend war. Gehen Sie nach Hause. Azzam kann warten. Selbst wenn die Sache platzt, wird es noch andere Ziele geben. Nehmen Sie Ihren Urlaub.«

»Nein, und damit basta. Ich sagte es doch schon. Dies ist mein letzter Einsatz. Danach wird es für mich keine Zielpersonen mehr geben. Mein Team bricht auf. Ich muss mit. Wir sind fast auf Stufe Omega, um Himmels willen. Tun Sie mir das nicht an.«

Einen Augenblick lang sagte Kurt gar nichts. Er starrte mich nur an, während er über mein Gesuch nachdachte. »Okay! Sie können mit. Aber wenn Sie heute Abend fliegen, haben Sie keine Zeit mehr, über eine abhörsichere Leitung zu telefonieren. Heather erhält die übliche Mitteilung von unserem Alias-Laden, wenn Sie unterwegs sind.«

Heather hatte über unseren Innendienst schon zahllose dieser unpersönlichen Anrufe bekommen, die sie über meinen Status informierten. Diesmal würde es besonders schwer sein, aber ich wusste, sie würde es verstehen.

»In Ordnung. Sie wird darüber hinwegkommen. Sie weiß ja, dass es mein letzter Einsatz ist. Danach heißt es rund um die Uhr Pike für sie.«

Als ich in den Konferenzsaal zurückkehrte, sah Knuckles mich fragend an. Ich nickte, woraufhin er lächelte. Danach konzentrierten wir uns auf den Vortrag und erhielten während der nächsten vier Stunden ausführliche Informationen über unsere Zielperson, ihre üblichen Verhaltensmuster, das Umfeld in Tiflis und die Tarnung, die wir für den Auftrag benutzen würden.

Als wir hinterher im Umkleideraum im dritten Stock unsere Ausrüstung für den Flug zusammenpackten, schnitt Knuckles das Thema an. »Heather wird dich umbringen. Du hast es ihr versprochen. Das war der einzige Grund, aus dem sie dich in diesen Einsatz ziehen ließ.«

»Sie wird es schon verstehen. Der Kerl versucht an eine schmutzige Bombe ranzukommen. Deshalb bin ich doch da. Es ist ja nicht so, dass ich mir auf Hawaii die Sonne auf den Pelz brennen lasse.« Ich fing an zu packen und wiederholte noch einmal: »Sie wird es verstehen.«

Knuckles schloss seine Vorbereitungen ab und ging. »Dasselbe hab ich vor meiner Scheidung auch gesagt.«

»Du hast mit 19 eine Stripperin geheiratet!«, rief ich ihm nach. »Drei Monate später hat sie dich verlassen! Das kannst du doch nicht mit Heather vergleichen.«

Knuckles war bereits draußen. Ich war allein, darum wirkte mein Ausbruch eher, als wolle ich mich selbst überzeugen. Ich starrte auf meine Ausrüstung und fragte mich, ob ich im Begriff stand, einen Riesenfehler zu begehen. Knuckles war gut. Und bereit. Ich hatte ihn ohnehin schon in die engere Wahl genommen, nach diesem Einsatz das Team zu übernehmen. Ich hielt ihn wirklich für den Richtigen. Allerdings war mir klar, dass die Übergabe sechs Monate zu früh stattfand. Er verfügte zwar über Talent, hatte aber in der Taskforce noch nie ein Team geführt. Ein Omega-Einsatz stellte den denkbar schlechtesten Zeitpunkt dar, um herauszufinden, was alles dahintersteckte. Ich hielt das Risiko für zu hoch. Außerdem entwickelt das Team – jedes Team – ausgehend vom Teamchef eine eigene Identität. Man konnte die Männer nicht einfach irgendwohin stellen und erwarten, dass sie funktionierten. Dass es mit uns klappte, lag an meinem Führungsstil. Ich sage ja nicht, dass ich perfekt bin oder gar der Beste, das ist irrelevant. Die Männer hatten sich an mich gewöhnt und jetzt war nicht der Zeitpunkt, um den Kutscher zu wechseln. Nur noch ein Geburtstag wie dieser. Künftig würde ich bei jedem dabei sein.

95

Bakr wedelte mit den Armen, um eine Rauchwolke zu vertreiben, die einer der Stadtbusse beim Anfahren ausspuckte. Er scannte die Umgebung ab, um sich zu orientieren. Juka hatte ihm beschrieben, wie er in Sarajevo vom Busbahnhof zu dem Haus gelangte, und Bakr hatte die Stadt erkundet, während er auf Sayyids Antwort wartete. Doch die Vorstellung, die Bakr sich von der Stadt gemacht hatte, stimmte nicht mit den Gegebenheiten vor Ort überein. Als er an der Wand einen Netzplan hängen sah, fand er rasch eine Straßenbahn, die zurück in Richtung Zentrum fuhr.

Der Fußmarsch zurück zum Hotelzimmer war problemlos verlaufen; der Mann aus Guatemala und seine Handlanger hatten sich nirgends blicken lassen. Trotzdem beschloss er, sein Glück nicht überzustrapazieren, und hielt sich weniger als drei Minuten in seinem Zimmer auf, um in höchster Eile seine Sachen zusammenzupacken und den Zünder an sich zu nehmen. Die Fahrt hierher hatte er in einem klapprigen Bus unternommen, dessen Motor ständig mit Fehlzündungen kämpfte. Eigentlich hätte man das Gefährt schon vor Jahren aus dem Verkehr ziehen sollen, doch der Gedanke, bald das Versteck zu erreichen, lenkte ihn davon ab.

Auf der Straßenbahnfahrt entlang des sich durch Sarajevo windenden Flusses Miljacka sah man überall die Narben, die der Krieg in der Stadt hinterlassen hatte – Granateneinschläge, die die Straßendecke aufgerissen hatten, und Einschusslöcher, die sich wie Pocken an den Wänden älterer Gebäude ausbreiteten. Als die Tram sich dem als Baščaršija bekannten Teil der Altstadt näherte, fiel ihm die starke Präsenz von Sicherheitskräften auf. Als die Straßenbahn an seiner Haltestelle im alten Basarviertel hielt, hatte sich eine erdrückende Anzahl von Polizisten versammelt. Zu viele, um lediglich dem Schutz der Touristen zu dienen.

Sein erster Gedanke war, dass sie ihn bereits aufgespürt hatten und man ihn jeden Moment verhaften würde. Einen Moment lang stand er wie erstarrt da, während Panik ihn zu übermannen drohte. Bakr überlegte, ob er einfach weiterfahren solle. Jemand, der aussteigen wollte, riss ihn aus seinen Gedanken.

Auf Englisch fragte Bakr: »Was machen denn die ganzen Polizisten hier?«

Der Bosnier lächelte. »Große Feier heute. Es ist der 15. Jahrestag der Markale-Massaker während der Belagerung im Bosnienkrieg. Die Polizisten sind bloß hier, um für Ordnung zu sorgen.«

Bakr hoffte, dass man ihm seine Erleichterung nicht anmerkte. Gemeinsam mit dem Mann stieg er aus und hakte nach, was bei dem Massaker passiert sei.

»Während der Belagerung starteten die Serben zwei verschiedene Mörserangriffe auf den Markale-Markt, direkt da vorn. Viele Menschen kamen dabei ums Leben. Heute soll ein Denkmal errichtet werden. Etwas Feierlicheres als die Rosen von Sarajevo.«

Bakr dankte dem Mann und ging weiter. Er hatte zwar nicht gewusst, wie der Markt hieß, bei seinen Recherchen aber gelesen, was dort passiert war, und sich natürlich auch über die Belagerung informiert. Der Markale war der größte Marktplatz der Stadt. Bei den Angriffen waren Hunderte Zivilisten umgekommen, die eigentlich nur überleben wollten. Er wusste, dass man mit ›Rosen von Sarajevo‹ die Einschlagstellen der Mörsergranaten bezeichnete, die zur Erinnerung an den kaltschnäuzigen Überfall mit roter Farbe aufgefüllt worden waren. Davon abgesehen hatte man sie genau wie am Tag des Einschlags gelassen. Letztendlich hatte das den Ausschlag dafür gegeben, dass die westliche Welt sich in den blutigen Konflikt einschaltete.

Es ärgerte Bakr, dass die hiesigen Muslime den Westen als Retter betrachteten und sogar so weit gingen, ihrer Schwäche ein Denkmal zu setzen. Vielleicht hätten sie sich besser nicht wie die Ungläubigen benommen, dann wären sie auch nicht auf deren Hilfe angewiesen gewesen.

Er ging durch die Altstadt und gelangte in die engen Viertel nördlich davon. Mithilfe von Jukas Beschreibung näherte er sich dem Gebäude, das er für den geheimen Unterschlupf hielt. Mit Sicherheit ließ es sich nicht sagen, da hier alle Häuser gleich aussahen. Aber es war das einzige mit einem riesigen Pflanzkübel aus Beton im Vorgarten, der aussah wie eine mit Erde gefüllte Pferdetränke. Juka meinte, er sei aufgestellt worden, nachdem ein Mörsergeschoss im Asphalt eingeschlagen war, doch nun diente er dazu, die Leute von der Fassade fernzuhalten.

Bakr konnte jederzeit die Nummer anrufen, die Juka ihm gegeben hatte, um das leer stehende sichere Haus in der Nähe zu erreichen, wollte sich dies jedoch als letzte Reserve aufheben.

Bakr blickte sich um, bemerkte aber nur ein paar Fußgänger, die sich von ihm entfernten, und eine Frau, die ein Stück weiter die Straße entlang auf einem Balkon ihren Teppich ausklopfte. Er umrundete die linke Hausseite und sprang über die hüfthohe Betonmauer, die den Hof umgab, schlich in die nordöstliche Ecke des Grundstücks und nahm dort eine kauernde Stellung ein.

Den Blick zu Boden gerichtet, suchte er nach einem Stück Schnur, das aus einem vernachlässigten Blumenbeet ragte. Er zog leicht daran, folgte ihr etwa einen halben Meter weit und hielt schließlich einen Schlüssel in der Hand. Bakr lächelte. Es war das richtige Haus.

Bakr schloss die Hintertür auf und stieß sie auf, ohne hineinzugehen. 30 Sekunden lang stand er einfach nur dort und lauschte. Da er nichts hörte, trat er ganz langsam ein. Der süßliche, leicht modrige Geruch einer nur selten genutzten Unterkunft stieg ihm in die Nase. Mit gespitzten Ohren arbeitete er sich durch Erd- und Obergeschoss vor. Schließlich hatte er sich davon überzeugt, dass außer ihm niemand da war.

Er ging zur Vorderseite und spähte aus dem Fenster, das freie Sicht auf die Straße bot. Nichts Ungewöhnliches zu sehen. Die Frau klopfte weiterhin hingebungsvoll ihren Teppich aus. Staub umwirbelte ihren Kopf. In der Nachmittagssonne wirkte er fast wie ein Heiligenschein. Doch ansonsten regte sich nichts. Er fand die Kellertür und ging nach unten, tastete eine Sekunde lang blind herum, ehe er den Lichtschalter fand. Es dauerte einen Moment, bevor seine Augen sich an die gleißende Helligkeit gewöhnt hatten.

An der rückwärtigen Wand stapelte sich vom feuchten Fußboden bis circa 30 Zentimeter unter der Decke genügend Sprengstoff, um einen kompletten Häuserblock in die Luft zu jagen. Sprengkapseln, Kalaschnikows, abgepacktes Semtex, Kugeln aus Kugellagern, fernsteuerbare Flugzeugkomponenten, Baumwollwesten, Drähte, außerdem alles, was man brauchte, um einen Bombengürtel zu bauen. Es würde einige Zeit in Anspruch nehmen, seinen Spezialzünder zu integrieren, aber er verfügte über ausreichend Sachverstand, um diese Herausforderung zu bewältigen.

Lucas wartete vor der Zollkontrolle in Sarajevo auf seine Männer. Man hatte ihn als Ersten abgefertigt. Das Team musste sich keine Sorgen darüber machen, dass jemand ihr Gepäck durchsuchte. Sie reisten mit schwarzen Diplomatenpässen, die Harold Standish ihnen über Kontakte im Nationalen Sicherheitsrat beschafft hatte.

Schon zum dritten Mal legte er auf. Aus irgendeinem Grund konnte er Mason nicht länger erreichen. Masons Handy klingelte einfach, dann sprang die Mailbox an. Lucas nahm an, dass es an der armseligen Netzabdeckung lag. Der erste seiner Leute kam mit einem Seesack, auf dem unzählige Militäraufnäher prangten, aus der Zollabfertigung. Weiter so, 007! Total unauffällig. Zum wiederholten Mal ging ihm durch den Kopf, dass er es mit der zweiten Reihe zu tun hatte. Sie hatten zwar alle in Spezialeinheiten gedient, waren aber keine Top-Männer. Es reichte, um sie auf simple Aufträge anzusetzen, solange man ihnen genaue Anweisungen erteilte. Aber im Ernstfall oder wenn Improvisation gefragt war, konnte man diese Typen vergessen. Masons Team ist eindeutig das bessere. Verflucht, warum geht der Kerl nicht ans Telefon?

96

Beim Anflug auf Sarajevo herrschte reger Betrieb auf dem Rollfeld. Anstelle von Flughafenarbeitern in signalgelben Westen sah ich einen Haufen Kerle in Business-Anzügen, die alles inspizierten. Ich setzte das Headset auf und fragte den Piloten, was los sei.

»Die haben heute ’ne Feier in der Stadt. Würdenträger aus ganz Europa kommen her.«

»Großartig«, meinte Knuckles. »Dann müsste es ja umso leichter fallen, einen gekidnappten Terroristen illegal auszuschleusen.«

Ich grinste ihn an. »Komm schon! Was bringt’s denn, auf dem Vulkan zu tanzen, wenn man sich nicht mal ein bisschen über die Kante lehnt?«

Er schüttelte bloß den Kopf.

»Es könnte sich sogar als Vorteil für uns erweisen«, meldete sich der Pilot zu Wort. »Wir werden gerade umgelenkt. Wir sollen auf dem ehemaligen Militärbereich des Flughafens landen – weit weg von der ganzen Security. Dort können wir nach Belieben kommen und gehen.«

Während die Rotorblätter sich noch drehten und das Heulen der Turbinen allmählich schwächer wurde, stieg das Taskforce-Team aus der Bell 427. Ich konnte es kaum noch erwarten, dass es endlich losging. »Wir brauchen Fahrzeuge. Kennt jemand sich hier aus?«

»Ja, da drin gibt es einige Autovermietungen«, erwiderte einer der Piloten. »Das Terminal ist nicht allzu groß, dürften also nicht schwer zu finden sein.«

Ich wollte instinktiv loslegen und Befehle erteilen, hielt mich jedoch zurück und überließ Knuckles den Vortritt.

»Okay«, sagte er, »die Piloten bleiben hier, abflugbereit. Haltet den Hubschrauber in Bereitschaft, wahrscheinlich haben wir es eilig, wenn wir zurückkommen. Stellt euch drauf ein, nach Tuzla auszuweichen. Sollte das Sicherheitsnetz hier zu engmaschig sein, werden wir unser Paket von dort ausschleusen. Retro, du mietest mit Jennifer zwei Wagen. Groß genug für zwei Personen mehr, als wir es jetzt sind. Du weißt, worauf es ankommt.«

Jennifer und der Mann namens Retro setzten sich bereits in Bewegung, da rief einer der Piloten: »Wartet! Ich komme mit.« Mit dem Daumen über die Schulter deutete er auf Knuckles und sagte: »Er verlangt immer, dass wir ›in Bereitschaft‹ bleiben. Für gewöhnlich sitzen wir dann tagelang rum und betteln jeden, der vorbeikommt, um etwas zu essen an. Ich organisier noch ein zusätzliches Auto für uns.«

Nachdem sie verschwunden waren, fragte Knuckles: »Nun, was meint ihr? Wie sollen wir vorgehen? Sofort auf die harte Tour rein?«

Er machte alles richtig, hörte sich an, was jeder zu sagen hatte. Ohne konkreten Grund verspürte ich einen gewissen Stolz.

»Nein! Ich denke, wir sollten die Fahrzeuge besorgen und erst mal alles auskundschaften, um ein Gefühl dafür zu bekommen, womit wir es zu tun haben. Dann machen wir uns ans Finetuning.«

Knuckles nickte. »Ja, du hast recht.« Damit fing er an, Befehle zu erteilen. »Holt eure Helmkameras raus. Uns bleibt keine Zeit, alles klammheimlich zu erledigen, also spart euch die Mühe, sie allzu raffiniert zu tarnen.«

Keine 20 Minuten später kehrten Jennifer und Retro in zwei reichlich ramponierten Limousinen zurück, der Pilot kam direkt hinter ihnen. Kaum waren sie ausgestiegen, begannen die vier Männer, einen der Wagen für eine verdeckte Überwachung umzurüsten. Sie verbargen vier Kameras in Lippenstiftgröße in den Polstern und schlossen sie an ein digitales Aufzeichnungsgerät an. Die Kameras lieferten uns ein 360-Grad-Panorama, sodass wir detaillierte Planungen gegen die Zielperson in Angriff nehmen konnten.

Während die Männer den Wagen vorbereiteten, nahmen Knuckles und ich uns gemeinsam mit Bull – dem Mann, den er zum Auskundschaften eingeteilt hatte – eine Karte des Zielgebiets vor. Knuckles hatte sich für ihn entschieden, weil er äußerlich ohne größere Maskerade als Einheimischer durchging. Als zusätzliche Tarnung gab ich ihm die Lederjacke, die ich erstanden hatte.

»Bist du schon mal hier gewesen?«, wollte Knuckles wissen. »Wie sieht es in der Nachbarschaft aus? So wie in Falludscha, wo jeder sofort weiß, dass man nicht hierhergehört?«

»Ich war noch nie in der Gegend, aber die Stadt ist eine ziemliche Touristenattraktion, zumindest für bosnische Verhältnisse. Ich würde sagen, der Tourismus konzentriert sich hauptsächlich auf die Sehenswürdigkeiten im Zentrum, aber wahrscheinlich stolpert man überall in der Stadt andauernd über fremde Gesichter. Es wird bestimmt niemandem auffallen, wenn wir vorbeifahren, insbesondere wenn wir’s bei einem Mal belassen.«

Mir kam eine Idee. »Hey, warum nimmst du nicht Jennifer als Blickfang mit? Sie arbeitet ziemlich gut unter Druck, außerdem ist sie ja bereits angezogen wie eine Bosnierin. Wenn sie mit im Wagen sitzt, wird es noch unverdächtiger wirken. Sollten die Kerle tatsächlich über ein Frühwarnsystem verfügen, schöpfen sie bei einem Pärchen sicher keinen Verdacht.«

Knuckles ließ sich den Vorschlag durch den Kopf gehen. »Ja, das könnte funktionieren. Bull, hast du was dagegen?«

»Nein, wir sind ja nicht auf eine Schießerei aus. Ich halte das eher für einen Vorteil als für eine zusätzliche Belastung.«

Ich merkte Jennifer an, dass sie langsam wütend wurde, weil man über sie sprach, als sei sie gar nicht anwesend oder hätte nicht zumindest ein Wörtchen mitzureden.

»Kriegen Sie das hin?«, fragte Knuckles. »Sie müssen nichts weiter tun, als mitzufahren und die Augen offen zu halten.«

»Ja. Das schaff ich schon«, meinte sie. »Vielen Dank für die Nachfrage. Ich dachte schon, ihr fesselt mich kurzerhand an den Beifahrersitz, ganz egal, was ich sage.«

Knuckles sah mich an, als hätte er sie am liebsten rausgeworfen.

»Sie schafft das«, sagte ich, während ich sie mit einem Lächeln bedachte. »Sie hat nur gern das letzte Wort. Auf mich hört sie auch nicht.«

Jennifer ignorierte mich geflissentlich. »Sie sind Bull, richtig?«

»Ja.«

»Was soll ich tun?«

Bakr legte letzte Hand an sein Sprengstoffpaket, bemüht, es so unauffällig wie möglich wirken zu lassen. Normalerweise hätte er die Bombe in Kugellager und Nägel eingebettet, um so viel Tod und Vernichtung wie nur möglich zu bescheren. In diesem Fall jedoch ging es ihm lediglich darum, den Inhalt seiner todbringenden Tupperware-Schüssel großflächig zu verbreiten. Deshalb entschied er sich dagegen, einen Sprengstoffgürtel zu bauen. Stattdessen wollte er den Rucksack einsetzen.

Seine größte Herausforderung bestand darin, eine möglichst große Wucht zu erzielen, damit das Toxin sich über eine entsprechend große Fläche ausbreiten konnte, ohne vom Feuer und der Druckwelle der Explosion in seiner Wirkung eingeschränkt zu werden. Das erwies sich als heikle Angelegenheit. Verwendete er zu viel Sprengstoff, drohte die Detonation das Gift zu zerstören. Nahm er zu wenig, hielt sich die Zahl der Opfer in engen Grenzen. Zum Glück hatte er eine gründliche Ausbildung erhalten und wusste, wie man das Material in einer Bombe ideal platzierte, um es vor dem Feuer der Explosion zu schützen, ebenso wie man den Wind am besten ausnutzte, wenn der Inhalt freigesetzt wurde.

Während er die Sprengkapseln mit Klebeband fixierte, hörte er, wie sich auf der Straße ein Fahrzeug näherte. Er hielt sich seit über einer Stunde im Haus auf und hatte in dieser Zeit nicht ein einziges Auto gehört. Er unterbrach seine Arbeit und ging nach oben ans Fenster.

Als er eine ziemlich ramponierte Limousine vorbeifahren sah, in der ein Mann und eine Frau saßen, beides Bosnier, fiel die Anspannung von ihm ab. Sie schenkten dem Haus, in dem er sich befand, nicht die geringste Aufmerksamkeit. Er kehrte zu seiner Bombe zurück und verkabelte den Spezialzünder mit den Sprengkapseln.

97

Lucas fragte sich, inwieweit er sich auf sein zweitklassiges Team verlassen konnte. Er beschloss, auf die einzige echte Stärke der Männer zu setzen: schonungsloser Frontalangriff. Hoffentlich kam es nicht so weit. Immerhin ging er davon aus, dass Masons Team Pike auf den Fersen war und gerade zum entscheidenden Schlag ausholte. Er erkundigte sich bei dem für die Technik zuständigen Mann, weshalb die Ortung so lange dauere, nur um zum dritten Mal die Antwort zu erhalten, der Pager-Track-Download habe sich aufgehängt. Er holte tief Luft und stieß sie wieder aus. »Wie lange wird das noch dauern?«

»Fährt gerade wieder hoch. Nur noch ein paar Minuten.«

Lucas zog unruhig schmale Kreise, zwang sich körperlich dazu, ruhig zu bleiben. Die Männer kehrten mit einer Limousine und einem SUV von der Autovermietung zurück. Die beiden Fahrzeuge boten genügend Platz, um das Team samt Ausrüstung aufzunehmen und im Bedarfsfall noch eine weitere Person. Die Wagen reihten sich in den dichten Verkehr rings um den Flughafen ein. Lucas war zufrieden mit der Wahl, die seine Männer getroffen hatten. Ich dachte schon, sie kommen mit einem Mustang-Cabrio und einem zweisitzigen Porsche zurück. Vielleicht habe ich sie doch unterschätzt.

»Vor uns war schon jemand anders da«, sagte einer der Fahrer. »Das waren die einzigen Wagen, die sie noch dahatten, aber das sollte hinhauen.«

Innerlich verdrehte Lucas die Augen. So viel dazu, dass sie eine bewusste Entscheidung getroffen haben.

Als Knuckles das Video beim Schwenk auf unser Zielobjekt anhielt, sah er sich mit derselben zweigeschossigen Hinterhofbauweise konfrontiert wie überall sonst in der Gegend. Zur Straßenseite hin fanden sich keine Hindernisse, dafür aber ein angelegter Zugang zur Haustür. Es gab weder einen Zaun, um den wir uns Sorgen machen mussten, noch parkten Autos davor. Das Gebäude befand sich auf der Ostseite der Straße, daneben und dahinter standen weitere Häuser.

»Wie würdest du die Atmosphäre in der Umgebung beschreiben?«

»Ruhig«, meinte Bull. »Genau genommen ist uns nicht ein einziges Auto untergekommen. Ein paar Fußgänger und vereinzelte Leute, die in ihrem Garten arbeiteten. In der Gegend steppt eindeutig nicht der Bär.«

Knuckles starrte auf das Standbild. »In Ordnung. Ich möchte nicht per Fahrzeug angreifen. An der Hauptdurchgangsstraße im Osten steigen wir aus und nähern uns von Süden her zu Fuß dem Ziel, also aus der unserer Aufklärungsfahrt entgegengesetzten Richtung. Wir rücken in zwei Gruppen vor. Die eine sichert den rückwärtigen Teil gegen Flitzer ab, die andere dringt von vorn ins Haus ein.«

Knuckles gab seinen Leuten kurz Zeit, um Fragen zu stellen, bevor er weitersprach: »Vergesst nicht, wir haben keine Ahnung, was sich in diesem Haus befindet, also können wir nicht wie gegen feindliche Truppen vorgehen. Seht bei jedem Ziel ganz genau hin. Wir wollen nicht am Ende eine alte Oma auf der Liste der Opfer stehen haben.«

Knuckles beendete die Besprechung, indem er das Team aufteilte. Ich sollte hinten beim Sichern helfen. Wieder nicht im Kampfeinsatz. Ich widersprach nicht, schließlich wusste ich, dass es so besser war.

Ich trat ans Heck des vorderen Wagens und überprüfte meine Waffe und den Sitz des Ersatzmagazins, um mich darauf vorzubereiten, im Bedarfsfall innerhalb kürzester Zeit nachladen zu können. Jennifer kam zu mir. »Hey«, sagte sie zaghaft, »ich möchte dir ja nicht auf die Nerven gehen, aber ich hab eben kein Wort verstanden.«

Ich machte mich weiter an meiner Ausrüstung zu schaffen. »Ausgehend von dem, was ihr beide über den Verkehr in der Gegend berichtet habt, wollen wir nicht direkt bis zu unserem Ziel fahren. Wir parken an der Hauptverkehrsstraße östlich davon und gehen zu Fuß hin. So dürften wir nicht weiter auffallen. Ich und noch ein Mann laufen nach hinten in den Hof, um Flitzer einzukassieren – das ist bloß eine Bezeichnung für Leute, die fliehen wollen. Wir schirmen die Fluchtwege ab, während das Team vorne reingeht.«

Jennifer nickte gedankenverloren. Dass plötzlich alles ganz schnell ging, schien ihr nicht zu gefallen.

»Bleib locker!«, sagte ich. »Deine Aufgabe ist erledigt. Mach dir um uns keine Sorgen. Wir sind solche Einsätze gewohnt.«

Ich hörte, wie die anderen anfingen, die Fahrzeuge zu beladen. »Wir sehen uns in ein paar Minuten.«

Sie sah mir fest in die Augen. »Bitte sei vorsichtig. Wenn es hart auf hart geht, lass die anderen ran. Spiel bloß nicht den Helden. Und lass dich nicht von Carlos in die Luft jagen.«

»Hör auf mit dem Quatsch! Du solltest dir eher Sorgen um ihn machen.«

Ich machte Anstalten, in den Wagen zu steigen, doch sie packte mich am Arm. »Pike, ich mein es ernst. Mag sein, dass du neun Leben hast, aber du verhältst dich wie ein Kettenraucher. So viel Glück hat kein Mensch. Mittlerweile leben wir beide auf Kredit. Das spür ich. Versprich mir, dass du aufpasst.«

Ich blickte sie an und mit einem Mal wurde mir klar, dass sie wirklich Angst um mich hatte.

»Ich werde vorsichtig sein. Es wird schon alles klappen. Vertrau mir.«

»Ich vertrau dir doch«, erwiderte sie mit dem Anflug eines Lächelns. »Ein bisschen jedenfalls. Es ist nur so, dass du dich anders verhältst. Ich kann nicht den Finger drauf legen, aber es kommt mir vor, als ob du dich jetzt für unbesiegbar hältst. Vorher warst du furchtbar pingelig und hast immer geglaubt, dass alles schiefgeht. Jetzt benimmst du dich, als sei das nichts weiter als eine Achterbahnfahrt in Disneyland.«

»Hey, das ist mein Job. Ich leg Terroristen schon deutlich länger um, als wir uns kennen. Sorry, wenn ich Spaß daran habe, aber sag jetzt nicht, ich soll wieder in das Loch kriechen, in das ich mich für eine Weile zurückgezogen hatte. Es gefällt dir nicht? Okay, tut mir leid. Aber das bin nun mal ich.«

Sie wich zurück und mir wurde klar, dass ich über das Ziel hinausgeschossen war. Der Schmerz in ihrem Gesicht und der verletzte Ausdruck erinnerten mich an Heather an dem Abend, an dem ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Mir fielen meine Worte an Jennifer wieder ein, nachdem sie davon überzeugt gewesen war, Carlos werde sie im Hotel umbringen: ›Es gibt in solchen Fällen grundsätzlich jemand anderen, der darunter leidet. So ist das nun mal.‹

»Jennifer, hör zu. Carlos steht kurz davor, eine Menge Menschen zu töten. Wir sind die Einzigen, die ihn aufhalten können. Und damit meine ich uns, dich und mich. Du hast mir das Leben gerettet und ich rede dabei nicht bloß von heute. Es muss einen Grund dafür geben. Ich will nicht sterben, genauso wenig wie du. Aber ich bin nun mal hier und verfüge über die notwendigen Fähigkeiten, um dieses Arschloch aus dem Verkehr zu ziehen. Du weißt, ich kann dir nicht versprechen, dass ich heil aus der Sache rauskomme. Aber falls mir etwas zustößt, musst du wissen, dass es ein notwendiges Opfer gewesen ist. Okay?«

Sie seufzte. »Ja, okay. Mache einfach keine Dummheiten. Bitte! Denk dran, dass du nicht fliegen kannst, bevor du von einem Hochhaus springst. Kannst du das tun? Mir zuliebe?«

»Klar! Aber du brauchst einen besseren Vergleich. Ich kann nämlich fliegen.«

»Klugscheißer«, erwiderte sie. »Viel Glück!«

98

Der Techniker lenkte Lucas’ Aufmerksamkeit auf sich. »Er befindet sich direkt hier, in Sarajevo. Rund zwei Meilen vom Flughafen entfernt. Er bewegt sich nach Osten.«

Das wird aber auch Zeit. »Hört zu«, wandte Lucas sich an das gesamte Team. »Wir verzichten auf Experimente. Wenn wir zuschlagen, dann in Form eines simplen Frontalangriffs. Aber ich hoffe, dass es gar nicht erst dazu kommt. Masons Team ist bereits vor Ort und hat sich vermutlich an Pike drangehängt. Das Letzte, was ich will, ist, ihm eine Operation zu vermasseln, die bereits läuft.«

»Dann sind wir also bloß die Verstärkung für Mason?«, warf einer der Männer ein.

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich bekomme weder eine Verbindung zu Mason noch zu seinem Team und will die Zielpersonen nicht noch mal verlieren. Falls wir uns nicht mit ihnen kurzschließen können, orten wir das Peilsignal und greifen uns Pike und die Kleine selber.«

Er sah, wie sich ein Grinsen in die Gesichter der Männer schlich. Offensichtlich freuten sie sich schon darauf, die Beute zur Strecke zu bringen, und auf den damit verbundenen Bonus. »Kriegt mir jetzt bloß keinen Ständer. Ich habe euch erzählt, was in D. C. passiert ist. Vergesst das nicht. Das wird kein Kinderspiel. Wir umzingeln ihn und machen ihn aufgrund unserer Überzahl unschädlich. Das Risiko einer weiteren komplizierten Operation will ich nicht eingehen. Wir legen ihn und das Mädchen um. Danach kehren wir hierher zurück und steigen in den ersten Flieger nach Hause.«

Lucas gab dem Team eine Minute Zeit, die Waffen aufzunehmen und die Ausrüstung zu vervollständigen. »In Ordnung«, meinte er schließlich. »Vorwärts! Vergesst nicht, was ich euch gesagt habe. Ihr mögt euch für Killer halten, aber dieser Kerl ist wirklich einer.«

20 Minuten später wartete Lucas’ Team auf einem Restaurant-Parkplatz am nördlichen Ende von Sarajevo. Sie waren quer durch die gesamte Stadt gefahren, hatten sich verteilt und sowohl per Handy als auch über Funk versucht, Kontakt zu Mason und dessen Team herzustellen. Allerdings ohne Erfolg. Nun musste Lucas eine Entscheidung treffen. Ich kann meine Zeit damit verbringen, nach Mason zu suchen, oder ich kann mich darum kümmern, Pike umzulegen.

Da er keine Ahnung hatte, wie lange Pikes Peilsender noch durchhielt, beschloss er, die Mission mit dem Back-up-Team durchzuführen. Während ich hier rumsitze und Däumchen drehe, gibt der Akku womöglich den Geist auf. Wenn wir den Peilsender verlieren, war alles umsonst.

Über Mason konnte er sich später immer noch Sorgen machen. Oder auch nicht. Mason hatte versagt, und nun sah sich Lucas wie bereits in früheren Fällen gezwungen, die Sauerei aufzuräumen. Er machte sich gerne vor, seine Entscheidungen rein logisch zu treffen. Die simple Wahrheit lautete jedoch, dass er Pike unbedingt haben wollte, um ihm Salz in die Wunden zu streuen.

Eins stand fest: Pike erwartete kein leichter Tod. Jetzt nicht mehr. So wie Lucas die Umstände einschätzte, trug dieser Mann die Schuld an all seinen Problemen. Der Grund für die laufenden Ermittlungen, die ihn gezwungen hatten, die USA vorübergehend zu verlassen, bestand darin, dass dieses Arschloch ihm durch die Maschen geschlüpft war. Der Gedanke setzte ihm gewaltig zu. Machte ihn gierig nach der Jagd.

Er beobachtete die Bewegung des Peilsignals auf dem Notebook, das er auf dem Schoß hatte, und instruierte das Team.

»Die Zielperson ist in Bewegung. Er kommt hierher. Die Geschwindigkeit, mit der sich das Signal annähert, deutet darauf hin, dass er in einem Auto sitzt. Wir werden hier warten, bis er aussteigt. Sobald er zu Fuß unterwegs ist, geht es los. Dieser Wagen hier übernimmt die Führung und wird am Standort unserer Zielperson vorbeifahren. Der nachfolgende Wagen folgt mit geringem Abstand. Auf meinen Befehl hin – ich wiederhole: auf meinen Befehl hin – führen wir unseren Auftrag aus. Niemand schießt, bevor ich den Befehl dazu erteile, und zwar wirklich niemand. Sobald ich das Kommando gegeben habe, feuert ihr aus allen Rohren. Hat das jeder verstanden?«

Lucas wartete, bis er von jedem einzelnen Mann des Teams eine Bestätigung bekam. »Okay. Gut. Ich gebe Bescheid, sobald er anhält. Wir überprüfen das Gelände, planen kurz das weitere Vorgehen und schlagen zu.«

Das Ergebnis der Peilung wurde in ein Satellitenbild der näheren Umgebung eingeblendet. Lucas beobachtete, wie sich der Punkt langsam näherte und circa einen Kilometer von ihrem Standort entfernt zum Stillstand kam. Keine Minute später setzte er sich erneut in Bewegung, diesmal allerdings deutlich langsamer.

»Haltet euch bereit! Jetzt ist er zu Fuß unterwegs.«

Lucas merkte, wie die Anspannung in ihm wuchs. Sie näherten sich dem Finale. Pike war zwar ein gefährlicher Mann, jemand, vor dem man sich in Acht nehmen musste, aber er kam unmöglich gegen ein komplettes Einsatzteam an. Vielleicht tötet er ein, zwei Mann von uns, aber er hat nicht die geringste Chance, uns alle zu erledigen.

Das Signal stoppte im Hinterhof eines Hauses auf der Ostseite einer kleinen Straße. Es wurde ernst.

»Okay! Die Gruppenführer zu mir.«

Er zeigte ihnen das Haus, während er gleichzeitig Anweisungen gab, wo die Fahrzeuge halten und die Männer aussteigen sollten, damit sie sich ein freies Schussfeld suchen konnten.

»Wir warten, bis er rauskommt, die ganze Nacht, wenn’s sein muss. Sobald er im Freien ist, eröffnen wir das Feuer und legen ihn um. Ziemlich einfach. Noch Fragen?«

»Was ist mit dem Mädchen?«, fragte einer der Gruppenführer. »Gehört sie nicht auch zum Auftrag?«

»Yeah, tut sie. Allerdings wissen wir nicht genau, ob sie ihn begleitet. Falls das der Fall ist, legt sie um. Falls nicht, spüren wir sie im Nachgang auf. Ich hab die Schnauze voll davon, mich mit diesem Kerl rumzuschlagen.«

Retro und ich übernahmen die Sicherung der Hintertür und behielten ein Eckfenster des Hauses im Auge, während wir auf Knuckles’ Kommando warteten. In meinem Headset ertönte ein dumpfes Hallen gefolgt von Knuckles’ ruhiger Stimme: »Execute, Execute, Execute« – Ausführen. Der Funkspruch rief Erinnerungen an frühere Einsätze in mir wach. Ich spannte sämtliche Muskeln an, wartete ab, ob jemand versuchte, nach hinten zu fliehen. In Gedanken spielte ich durch, was im Haus geschah, sah vor meinem geistigen Auge das Team auf der Suche nach einer Bedrohung durch die Räume gleiten. Ich hörte keine Schüsse. Das konnte ein gutes, aber auch ein schlechtes Zeichen sein.

Fünf Minuten später kam die Entwarnung. Knuckles öffnete die Hintertür.

»Was habt ihr gefunden?«, fragte ich.

»Nichts, abgesehen von dem Handy, aber im Moment ist es das Einzige, was sich im Haus befindet. Keine weiteren Zielpersonen. Das Gebäude macht zwar einen bewohnten Eindruck, aber es ist niemand hier.«

»Großartig! Das hätt ich mir ja denken können.«

»Was meinst du? Legen wir einen Hinterhalt?«

»Ich weiß nicht. Ich nehme an, es ist die sinnvollste Vorgehensweise. Sonst haben wir ja nichts in der Hand. Ich könnte zurückbleiben, du stellst mir zwei Männer zur Verfügung und dann bringen wir die Sache zu Ende, wenn der Besitzer zurückkehrt. Wie klingt das?«

»Gut, aber wir sollten nicht überhastet handeln. Erst stellen wir hier alles auf den Kopf. Womöglich stoßen wir dabei auf etwas Interessantes. Gut möglich, dass der Besitzer des Handys nach Hause kommt, solange wir noch hier sind.«

»Dann an die Arbeit! Ich fang oben an.«

100 Meter weiter die Straße entlang hatte Bakr inzwischen seine Bombe fertiggestellt und saß vor einem Abendessen aus schimmligem Brot und Nüssen. Beim Geräusch eines Motors ruckte sein Kopf hoch. Es war erst der zweite Wagen, den er heute hörte.

Lucas fuhr am Zielobjekt vorbei und parkte an der Ostseite der schmalen Straße. Von dieser Position aus hatte er die rechte Straßenseite komplett im Blick und freies Schussfeld auf den Eingang. Auf dem Satellitenbild schwebte das Peilsignal direkt über dem Haus. Anscheinend war Pike reingegangen. Lucas wartete, bis das Begleitfahrzeug etwa 100 Meter entfernt auf der anderen Straßenseite zum Stehen kam, ehe er das Team anwies, auszuschwärmen und in Stellung zu gehen. Er beobachtete, wie ein Mann aus dem zweiten Wagen stieg, lässig zur Ecke geschlendert kam, an der er – Lucas – parkte, und hinter einem Pflanzkübel aus Beton Deckung bezog. Ein weiteres Mitglied des Back-up-Teams lief über die Straße, um die Rückseite des Gebäudes zu decken.

Bakr lugte aus dem Fenster. Ihm wäre beinahe das Herz stehen geblieben, als direkt vor seinem Haus ein Auto anhielt, in dem drei Weiße saßen. Da stimmte etwas nicht. Er behielt das Geschehen im Auge und redete sich ein, dass seine Paranoia falschen Alarm gab. Allerdings passte das nicht zum Adrenalin, das durch seinen Körper schoss. Ein Mann mit Gewehr pirschte heran, ging auf die Knie und spähte über den Blumenkasten im Vorgarten. Es gelang ihm nicht, die Waffe unter seiner Jacke zu verbergen. Der Lauf ragte verräterisch hervor. Bakr hatte genug gesehen.

Er stürmte in den Keller, nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal, schnappte sich eine AK-47 und vier volle Magazine und eilte zurück ins erste Obergeschoss. Als er diesmal aus dem Schlafzimmerfenster schaute, hatte er den Bewaffneten direkt unter sich.

Offensichtlich beabsichtigten der Mann und seine Begleiter, das Haus zu stürmen. Bakr war klar, dass er etwas unternehmen musste, und zwar schnell. Er hätte versuchen können, durch die Hintertür zu fliehen, befürchtete jedoch, dass dort bereits Männer Stellung bezogen hatten. Durch die Vordertür lief er mindestens drei Feinden geradewegs in die Arme. Beide Varianten versprachen allenfalls dann Erfolg, wenn er blitzschnell handelte, solange der Gegner noch Vorbereitungen traf. Langsam öffnete er das Fenster und betete, dass es nicht zu laut knarrte.

99

Als ich den Feuerstoß einer AK-47 hörte, warf ich mich auf den Boden. Was zum Teufel …? Das Geräusch kam nicht aus dem Haus, also schien es sich nicht unmittelbar gegen das Team zu richten. Ich versuchte durch die Scheibe zu erkennen, woher die Schüsse kamen. Da ich mich im Obergeschoss aufhielt, hatte ich einen guten Überblick über die Straße. Auf der anderen Straßenseite, zwei Türen weiter, lag ein Mann zusammengesunken im Vorgarten auf dem Rasen. Ich beugte mich vor, um mir ein genaueres Bild von der Lage zu verschaffen, während ich bereits rief: »Kontakt – Haus im Nordosten, circa 75 Meter entfernt. Ein Mann am Boden. Position des Schützen ist unbekannt.«

»Das hat mit uns nichts zu tun«, gab Knuckles zurück. »Cool bleiben! Wahrscheinlich ein Bandenkrieg oder lokale Streitigkeiten. Wir lassen uns da nicht reinziehen. 360-Grad-Rundumüberwachung. Gebt mir eure Position durch.«

Bull rief von unten: »Zwei Fahrzeuge haben vor dem Haus angehalten, in östlicher Richtung. Drei Männer. Einer am vorderen, zwei am hinteren Auto. Sie sind bewaffnet und scheinen sich auf uns zu konzentrieren. Sie setzen ihre Fahrzeuge als Deckung ein. Wie lautet der Befehl?«

»Bleibt in Bereitschaft«, antwortete Knuckles ruhig und sachlich. »Wartet ab, wie die Lage sich entwickelt! Wir haben keine Ahnung, ob es sich um Polizei, Kriminelle oder etwas ganz anderes handelt. Sobald sie feindliche Absichten zeigen, schaltet sie aus.«

Ich wollte gerade meine Position durchgeben, als ein Kugelhagel die Fensterscheibe direkt vor mir zersplittern ließ. Ich warf mich flach auf den Boden. »Kontakt, Kontakt! Nördliche Hausseite. Stehe unter Beschuss.«

Ich wälzte mich nach links und rappelte mich unter dem anderen Fenster wieder hoch.

Vorsichtig spähte ich hinaus und ließ den Blick zu dem anderen Haus schweifen. Kurz nahm ich wahr, wie ein Mann aus dem Hinterhof gelaufen kam und flüchtete. Ehe ich begriff, was ich da gerade beobachtet hatte, nahm ich direkt unterhalb von mir eine Bewegung wahr und konzentrierte meine Aufmerksamkeit darauf. Ein Mann lief geduckt in den Hof hinter dem benachbarten Gebäude. Ich funkte Knuckles an, während ich gleichzeitig meine H&K hob.

»Ein Mann, bewaffnet, sucht im Laufschritt Deckung. Nicht der ursprüngliche Schütze von gegenüber. Er trägt eine MP5, keine AK. Das ist der Kerl, der eben auf mich geschossen hat.«

Ich behielt ihn im Auge, bis er an der Hofmauer stehen blieb und Anstalten machte, hinüberzuklettern. Ich blendete Knuckles’ Funkkommandos aus und feuerte kurz hintereinander drei Schüsse ab. Der Mann brach zusammen.

»Nordseite ist sauber! Ein Flitzer aus dem ursprünglichen Haus hat sich nach Norden abgesetzt.«

»Roger! Bull, nach vorne raus noch nicht feuern, es sei denn, die schießen zuerst. Ich will nicht irgendeine durchgeknallte Bürgerwehr umbringen. Wie sieht’s auf der anderen Seite aus?«

Die Männer, die den Hinterhof deckten, meldeten sich. Nachdem die unmittelbare Bedrohung vorüber war, rief ich mir das Aussehen des Flüchtenden in Erinnerung. Ein Mann mit Rucksack. Carlos!

»Break, Break«, unterbrach ich die Lageberichte, die bei Knuckles einliefen. »Unser Flitzer ist die kostbare Fracht. Ich wiederhole, unser Flitzer ist die kostbare Fracht.«

Knuckles meldete sich sofort. »Ist er noch zu sehen?«

»Nein, er läuft Richtung Norden. Ich hab keine Ahnung, wer diese Clowns sind, aber wir müssen so schnell wie möglich hier weg!«

»Shit … Roger! An alle Einsatzkräfte, an alle Einsatzkräfte – ab sofort ist jeder, der eine Waffe in der Hand hat, als Feind zu behandeln. Feuer frei nach eigenem Ermessen!«

Lucas hörte die ersten Schüsse aus der AK-47 und sein Kopf ruckte herum. Der Mann an der Hausecke zwei Türen weiter vollführte einen makabren Tanz, während die Kugeln seinen Oberkörper durchsiebten. Er sah zwei Arme, die das Sturmgewehr aus einem Fenster im ersten Stock hielten. Es ruckte im Schnellfeuerbetrieb hin und her. Im ersten Moment war er wie gelähmt. Was ist denn jetzt los?

Er schüttelte seine Benommenheit ab und analysierte rasch, welche Möglichkeiten ihm blieben. Er entschloss sich zum Rückzug. Das Überraschungsmoment war dahin. Höchstwahrscheinlich rückte die Polizei bereits an. Sie mussten so schnell wie möglich von hier weg.

Er drückte die Sprechtaste seines Funkgeräts, wurde jedoch von weiteren Schusswechseln auf der Nordseite des Zielobjekts unterbrochen. Dem Klang nach handelte es sich um Maschinenpistolen.

»Feuer einstellen! Sofort! Wer ballert da rum?«

»Ich, Sir. Sanford. Ich hatte freies Schussfeld auf Pike im Zielobjekt. Ich glaube, ich hab ihn erwischt.«

»Ich sagte doch: Nicht schießen, bevor ich den Befehl dazu gebe! Mein Gott! Hört mal alle her! Wir verschwinden von hier. Zurück zu den …«

Bevor er den Satz zu Ende führen konnte, brandete auf der Nordseite des Hauses ein weiterer Feuerstoß auf. Diesmal keine Maschinenpistole.

Er fluchte leise. Das endet in einer verdammten Katastrophe. Was ist das bloß für ein Kerl? Es schien wie verhext.

»An alle Einsatzkräfte: Melden.«

Er sah, wie der Fahrer des Wagens hinter ihm den Daumen hob. Der Mann war in die Hocke gegangen und sicherte in Richtung des Hauses, aus dem der AK-Beschuss gekommen war. Lucas sah das letzte Teammitglied aus seinem Fahrzeug von der Südseite des Zielobjekts her zurück über die Straße rennen. In seinem Headset erklang die Stimme des Mannes: »Copfeld hier! Ich komm jetzt rüber.«

Jetzt fehlte nur noch Sanford.

»Sanford, hier spricht Lucas. Kannst du mich hören?« Er wartete einen Moment und probierte es erneut. »Sanford, Sanford, hier spricht Lucas. Hörst du mich?«

Als Copfeld ihn erreichte, sagte er zu ihm: »Wir müssen schnellstens abhauen. Ich möchte, dass du zurück zu dem anderen Wagen läufst und dir die Nordseite des Hauses vornimmst. Such nach Sanford. Aber auf keinen Fall über die Straße laufen, das ist zu riskant. Für den Fall, dass er dort ist, schaff ihn her. Solltest du ihn nicht sehen, muss er allein klarkommen. Und behalt das Haus da hinten im Auge. Verstanden?«

»Ja. Gib mir Deckung, solang ich in Bewegung bin.«

Bevor er loszog, packte Lucas ihn am Ärmel. »Wenn du dich nicht haargenau an die Anweisungen hältst, die ich dir gerade gegeben habe, bring ich dich persönlich um.«

Lucas’ Gesicht ließ keinen Zweifel, dass er es ernst meinte. Copfeld wich stolpernd zurück und rannte auf das Auto zu, so schnell er konnte. Er schaffte es gerade mal 20 Meter weit, bevor sein Schädel explodierte und der Körper zu Boden sank, zuckend von der Wucht zahlloser Treffer.

Kaum hatte Lucas registriert, dass der andere tot war, durchpflügten bereits Kugeln die Luft in seiner Umgebung. Versteckt sich da eine ganze Armee in diesem Haus? Er ging hinter dem Wagen auf Tauchstation, duckte sich so tief wie möglich, während die Projektile das Glas zersplittern ließen und Löcher in das Blech rings um ihn stanzten. Die Fahrer beider Fahrzeuge wälzten sich herum und richteten ihre Waffen auf die Männer, die sie vom Haus aus unter Beschuss nahmen.

Das Gefecht dauerte insgesamt nicht länger als 15 Sekunden. Die Fahrer erwiderten das Feuer, so gut sie konnten, vermochten jedoch nichts gegen die Schützen auszurichten, die sich gut verschanzt hatten und in sicherer Deckung befanden. Erst fiel der eine, dann der andere, während der Kugelhagel ihre Körper durchrüttelte wie ein unsichtbarer Fleischklopfer.

Nachdem die übrigen Ziele ausgeschaltet waren, konzentrierte sich das Feuer nun auf Lucas. Die Schüsse fetzten ganze Stücke aus dem Asphalt, aus dem Erdreich und dem Blech des Wagens. Ihm war klar, dass er nur noch wenige Sekunden zu leben hatte. Er spielte kurz mit dem Gedanken, das Feuer zu erwidern, die Deckung zu verlassen und mit der Waffe in der Hand zum Angriff überzugehen in dem heldenhaften Versuch, die Mission zu erfüllen. Eine Kugel streifte ihn am Arm, das gab den Ausschlag. Er spürte, wie ihn jäh der Zorn über seinen Misserfolg überkam. Standish hatte ihm wesentliche Informationen vorenthalten. Bloß irgendein Ex-Soldat, von wegen!

Lucas unterdrückte mühsam seine Wut. Wenn er jetzt die Waffen streckte, könnte er sich später dafür rächen. Er wollte leben, wollte eine Gelegenheit, dem ehrenwerten Harold Standish Schmerzen zuzufügen. Er nahm seine Waffe am Lauf und schwenkte sie über dem Kopf hin und her. Das Feuer wurde eingestellt. Er stand auf, legte die Waffe aufs Wagendach und hob die Hände.