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Alessandra Storm

Wilder Instinkt

Vertraute des Vargs





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Vertraute des Vargs II

 

 

 

 

 

 

Alessandra Storm

 

 

Vertraute des Vargs: Wilder Instinkt

Prolog

Oft ist es kein bisschen logisch, wie wir fühlen oder was wir wollen. Der Verstand sagt deutlich und völlig unmissverständlich, dass wir etwas nicht tun sollten. Und dennoch… tun wir es…

 

Rosa tapste den langen Flur im bereits dunkel werdenden Herrenhaus der Woods entlang. Gleich würde ihr Freund sie nach Hause fahren, doch sie musste nachsehen, wo der andere Typ hingegangen war… Ihre Turnschuhe machten kaum Geräusche auf dem polierten Parkett aus Ebenholz, das vermutlich teurer als das gesamte Haus ihrer Eltern gewesen war.

Sie konnte bereits die Tür zum Wohnzimmer sehen, in das er zuvor verschwand. Ihr Herz beschleunigte sich beinah schmerzhaft. Wieso hatte sie dieses unglaublich starke Gefühl, ihm nachgehen zu müssen? Rosa selbst konnte sich nicht erklären, was sie genau hier tat. Sie war gerne mit Cam zusammen, aber…

Fergus war der Adoptivsohn der ortansässigen, fast schon sagenumwobenen Familie Wood. Bis vor einem Jahr hatte Rosa keinerlei Berührungspunkte mit ihm gehabt und hatte keinen Gedanken an ihn verschwendet. Und eigentlich hatte sie auch in diesem einen Jahr, in dem sie mit Cameron, dem jüngsten Sohn des Hauses, zusammen war, auch nicht an ihn gedacht. Ihr war noch nicht einmal aufgefallen, dass sie Fergus nie zu Gesicht bekommen hatte, obwohl er hier im Haus lebte. Ihr erstes Treffen war vor… Sie zog erstaunt die Stirn kraus. Ihr erstes Treffen hatte tatsächlich gerade eben erst stattgefunden!

 

Als sie vorhin aus Cams Zimmer getreten war, hatte er wie ein Geist am anderen Ende des Flurs im ersten Stock gestanden. Ihre Blicke hatten sich gekreuzt und kurz hatte sie nach Cam rufen wollen, weil sie nicht gewusst hatte, wer der blonde, auf drahtige Art muskulöse Mann war, der da im Gang unheimlich rumstand. Aber dann hatte ihr gedämmert, wer das sein musste. Das Gerede der Leute hatte sie nie interessiert, aber immerhin lebte sie seit ihrer Geburt hier und wusste, wie er aussehen musste. Aber Rosa und er waren sich auch sicher ein oder zwei Mal über den Weg gelaufen… Also zumindest nahm sie das an, aber sie konnte sich nicht daran erinnern.

Jedenfalls hatten sie sich wortlos im schmalen Gang gegenübergestanden. Sie, mit dem Schulrucksack auf einer der Schultern und er, mit einer Autostoßstange in der Hand. Jedenfalls sah es für sie nach einer aus.

Fergus war über einen Kopf größer als sie und trug das dunkelblonde Haar schulterlang – und es sah so aus, als wollte er es entweder zu Dreadlocks verarbeiten oder abschneiden. Die hellgrauen Augen hatten sie finster angeblickt, so dass sie am liebsten einen Schritt zurück gemacht hätte.

Doch irgendetwas hatte sie stehen bleiben lassen, als wäre sie festgewachsen. Eine eigenartige Anziehung war von ihm auf sie ausgegangen, die sie tief verwirrt hatte. Ihre Augen waren zu seinem eckigen, ausdruckstarken Kinn gewandert, nur um dann wieder hoch zu dem verblüffend vollen Mund zu kommen. Dieser Mund war bei diesem Kerl reine Verschwendung. Klar, deswegen sind auch deine Knie weich gewesen?

Gewissensbisse waren zugeschnappt, als ihr klar wurde, dass sie den falschen Bruder auf unverhohlene Art anstarrte. Dieser war dann zu ihrem Entsetzen mit langen, aber sehr langsamen Schritten auf sie zugekommen. Die dichten, goldenen Augenbrauen ärgerlich zusammengezogen. Und Rosa war peinlich berührt klar geworden, dass vermutlich nicht nur ihr selbst aufgefallen war, dass sie ihn wie ein alberner, kopfloser Teenager anhimmelte, sondern auch ihm. Rosa hatte innerlich über sich selbst gestöhnt.

Schnell hatte sie es wieder gut machen wollen und ihm mit strahlendem Lächeln grüßend zu genickt. Aber er war bereits mit der Stoßstange an ihr vorbei gelaufen. Gekränkt hatte sie ihm nachgesehen, wobei sie überrascht ein Buch entdeckt hatte, das unachtsam in die Gesäßtasche seiner Jeans gestopft worden war. Er war um die Ecke gebogen, während sie fast das Gleichgewicht bei dem Versuch verloren hatte, den Titel des Buches zu lesen. Ein Ratgeber über das Koma mit dem Untertitel Die verlorene Zeit.

Neugierig hatte Rosa zu der Stelle gesehen, wo er verschwunden war, und eilig beschlossen, dass sie sehen musste, was er tat. Auch wenn ihr Verstand sie zunehmend daran hindern wollte. Rosa hatte den Rucksack von der Schulter gleiten lassen, ihr hüftlanges Haar zurückgeworfen und ihm nachgepirscht. Oben über die Brüstung gelehnt, hatte sie ihn unten im Erdgeschoss zum Wohnzimmer gehen gesehen.

 

Vor dessen Tür sie nun immer noch zögernd stand...

Das Ganze war dämlich. Wieso spionierte sie ihm nach? Wegen seinem rätselhaften Erscheinen? Oder eher wegen diesen Lippen in Kombination mit diesen hellen Wahnsinnsaugen? Rosa schob die Zunge konzentriert in den Mundwinkel und wollte wenigstens durch das Schlüsselloch sehen, als sie ein Räuspern hinter sich hörte.

Schreckhaft fuhr sie mit erhitzen Wangen herum. Es war Camerons Mutter, Paige, die sie nun amüsiert ansah. „Alles in Ordnung bei dir, meine Kleine?“

„Ja!“, sie winkte energisch ab und eiste sich von der Tür los. „Ja, ja!“ Sie lachte.

Himmel, Rosa! Wenigstens ein bisschen Haltung würde nicht schaden! Sie straffte die Schultern. „Ich wollte nur… äh, ich warte auf Cam“, schloss sie lahm und sagte somit zumindest die halbe Wahrheit.

„Komm, ich gebe dir etwas zu trinken, solange du wartest“, bot Paige warm lächelnd an.

Rosa glitt ein zerknittertes Lächeln über das Gesicht, weil sie Cams Mutter wirklich sehr mochte. Und sie mochte Cam sehr. Aber ihr Verstand hatte sich verabschiedet und alles, was sie wollte, war hinter dem schweigsamen, blonden Kerl herzulaufen. Doch sie zwang sich zum Besseren und ging in die Küche, um ein kaltes Glas Cola in die Finger gedrückt zu bekommen.

Wieso hatte sie das Gefühl, dass sie niemals bis ins verfluchte Wohnzimmer gelangt wäre? Und es auch niemals schaffen würde? Die Woods hüteten ihre Privatsphäre wie ein Staatsgeheimnis und ihr Haus schien von allen wie Fort Knox bewacht zu werden.

Kapitel 1

Ein Jahr später.

 

Noch einmal warf sie einen Blick auf die Armbanduhr, die auf ihrem Schreibtisch lag. Drei Minuten später als beim letzten Check. Sieben vor fünf.

Wenn sie jetzt sofort losfuhr, war sie zu früh da und würde jemandem in die Fänge gehen. Allerdings wenn sie zu spät losfuhr, würde sie gleichzeitig mit den anderen ankommen.

Kritisch sah Rosa noch einmal in den Spiegel. Gestern hatte sie sich ihre lange Mähne abschneiden lassen. Jetzt war ihr Haar so kurz wie noch nie. Es reichte vorne kaum bis an die Schlüsselbeine und ließ hinten etwas Nacken frei. Fast hätte sie geheult, als Mr. Servino, der seit ihrem dritten Lebensjahr ihr Frisör war, ihr weizenblondes Haar niedermähte. Lange Strähnen waren auf den weißen Umhang gesegelt. Und Ethan hatte sie gefragt, was zur Hölle in sie gefahren sei, als er sie gesehen hatte. Denn jeder wusste doch, dass sie ihre langen Haare liebt und dass Cameron es offenbar auch tat. Aber Cam war für etwa drei bis vier Wochen weg.

Rosa vermied auf das Foto auf der Kommode zu sehen.

Sie war seit zwei Jahren mit Cameron Wood zusammen. Anfangs waren sie nur zusammen in die Schule gegangen und hatten eigentlich kein einziges Wort mit einander gewechselt. Doch ein Auge hatte sie immer auf ihn geworfen. Sie hatte seine laute, selbstbewusste Art gemocht. Zusammen mit diesem frechen Grinsen und den schwarzen Augen. Und ihr war nicht entgangen, dass er entgegen aller Gerüchte und schlimmen Erzählungen sich nie etwas zu Schulden kommen ließ – auch wenn das irgendwie sonst keiner wahrnahm und er ein gepflegtes Bad Boy-Image hatte. Jedenfalls waren die Schmetterlinge in ihrem Bauch wie verrückt geflogen, als sie sich zum ersten Mal heimlich in der Schulbibliothek, hinter den Regalen hocken, geküsste hatten.

Auch jetzt gefiel Cam ihr. Er war früher schon einen Kopf größer gewesen als sie und war nun noch mehr gewachsen. Seine Körpergröße von fast zwei Metern bewirkte, dass sie sich neben ihm wie ein Winzling fühlte. Obwohl sie auch noch etwas gewachsen war, war der Abstand zwischen ihnen nur größer geworden. Sein Aussehen und seine bezaubernde Art führten dazu, dass sie nicht nur winzig, sondern vor allem beschützt und auf Händen getragen fühlte. Und die Tatsache, dass Cam einer der bösen Jungs aus der Familie Wood war, machte es gleich noch hinreißender. Denn mal ehrlich, wie alle Mädchen gefiel es auch Rosa, dass sie den bösen Jungen für sich alleine hatte. Aber hier lag auch das Desaster. Es war so perfekt, dass sie aus dieser Nummer einfach nicht mehr rauskam!

Sie schielte an ihrem sorgfältig geglätteten Haar vorbei zum Zifferblatt. Die kleinen goldenen Zeiger waren kaum weiter gewandert. Fünf vor fünf.

Aus Gewohnheit wollte sie sich auf den Daumennagel beißen, hielt aber inne, als sie ihre ordentlich pink lackierten Nägel sah. Stattdessen wanderte sie durch ihr Zimmer auf und ab. Zwischen Bett und Schreibtisch. Ein mulmiges Gefühl lag in ihrem Magen. Aber sie würde nicht kneifen. Um fünf Uhr würde sie auf ihr Fahrrad steigen und einmal quer durch die kleine Stadt fahren. Dann an der Waldgrenze musste sie dem langen Weg folgen, der fast soweit aus der Stadt im Nirgendwo von Maine führte, dass das Ziel eigentlich Mitten im Wald lag. Sie würde das Fahrrad abstellen und zu Fuß den langen Kiesweg zwischen den Zuckerahornbäumen entlanggehen. Aber, wenn das Haus, was viel mehr ein Schloss war, vor ihr auftauchte, würde sie abtauchen. Denn hinter dem Haus, fast vom Wald verschluckt, lag ihr ihr eigentliches Ziel.

Mit angespannten Schultern beugte sie sich über den Schreibtisch und starrte auf die Armbanduhr. Noch zwei Minuten. Dank der letzten Jahre, kannte sie die Gewohnheiten der Familie Wood bestens: In einer halben Stunde hatte Bekka Feierabend, aber sie würde auf ihren Mann warten und sie würden zu zweit zum Haus fahren, um mit den anderen zu Abend zu essen. Die beiden würden um kurz vor sechs Uhr ankommen… Rosa würde eine halbe Stunde mit dem Fahrrad brauchen. Dann hatte sie eine halbe Stunde Zeit, bis die beiden ankamen.

Der Zeiger rückte einen Strich vor. Eins vor fünf. Sie richtete sich gerade auf. Paige würde vermutlich jetzt losfahren, um Mia im Café zu helfen. Sie biss sich auf ihrer Lippe. Nur etwas Verschiebung am Zeitplan und sie würde Paige in die Arme laufen… Und wenn sie zu spät ankam, würde Bekka sie in die Küche zerren, damit sie Kuchen aß.

Ihr Herz raste, als sie in die neuen Lederstiefel schlüpfte. Die abgeschnittenen Jeans bedeckten kaum ihre Oberschenkel. Sie zeigte mehr Bein als sonst. Und mehr Ausschnitt. Allerdings gab es da auch nicht viel zu sehen. Klare Pluspunkte an ihrer platten Figur waren die Beine.

Es nicht mehr aushaltend, rannte sie aus dem Zimmer und die Treppe im kühlen Haus ihrer Eltern herunter. Draußen war ein heißer Augusttag.

„Rosa? Wo gehst du hin?“, rief ihre Mutter ihr aus dem Wohnzimmer nach.

„Nur in die Stadt. Ich brauche etwas.“

„Was denn?“ Rosa schluckte ein „Scheißegal“ herunter.

„USB-Stick“, rief sie zurück.

„Ok.“ Das war die einzige Möglichkeit gewesen, wegzukommen. Ihre Mutter hatte keine Ahnung von Technik. Alles andere wäre diskussionswürdig gewesen, da sie sonst über alles reden und streiten konnte. Typisch Zeitungsmensch.

Also schlüpfte Rosa aus der Haustür, bevor sie doch noch in ein Gespräch verwickelt würde. Sie beneidete ihre Brüder, die beide ausgezogen waren. Aber sie hatten auch bessere Jobs. Keiner verstand, wieso sie nicht aufs Collage wollte. Besonders, wo Cam doch auf eins gehen wollte. Aber sie wusste, dass Cam nicht wirklich aufs Collage gehen würde, sondern nur seinen etwas älteren Bruder Zayn begleitete, um die Großstadt zu sehen. Hinzukam, dass Rosa kein Bedürfnis hatte, in die Stadt zu ziehen. Sie liebte die Wälder und die Natur. So wie es auch Cam tat.

Das gab ihr einen Stich, als sie auf das Fahrrad stieg. Cam und sie hatten viel gemeinsam. Aber manchmal war Liebe nicht gleich Liebe. Und es konnte ja sein, dass jeder Cam und sie als das Traumpaar sahen, aber sie selbst sah das etwas anders.

Und ihr Gefühl sagte ihr, dass Cam das auch so sah. Sie hatte schon immer einen besonderen Draht zu Cameron Wood gehabt. Selbst, als sie mit fünfzehn kaum ein Wort gewechselt hatten, hatte sie zum Beispiel damals auf dem Schulgelände sofort gewusst, dass er liebend gerne mit zur dieser Party gekommen wäre, zu der er gerade spontan von Rosas Freundin Sunday eingeladen worden war. Ihre Freunde hatten ihn und seinen Bruder Zayn erwartungsvoll und fast herausfordernd angesehen. Aber er hatte für sie beide sprechend abgelehnt. Ohne Begründung. Alle anderen hatten gedachte, dass er sich für etwas Besseres hielt. Für cooler als sie oder als mehr erwachsen. Vielleicht wollte er mehr „Bad Guy“ als eben alle anderen Jungs sein. Aber Rosa hatte den neidischen Ausdruck in seiner Miene gesehen, als er sich mit seinem schweigsamen Bruder umgewandt hatte und einen bissigen Kommentar über seine Person mit einem tapferen Lächeln entgegengenommen hatte. Die anderen hatten es nicht gesehen und ihm noch einen böseren Spruch nachgerufen.

Bis heute war sie nicht dahinter gekommen, was die Familie Wood geheim hielt. Aber etwas war da. Denn sie ging seit zwei Jahren mit Cam, aber bisher hatte sie nie alleine oder unangemeldet beim dem Haus auftauchen dürfen. Und es gab Zeiten, wo er einfach nicht anzutreffen war.

Heute würde sie aber ohne Anmeldung erscheinen! Die Ironie war, dass Rosa dieses erste unerlaubte Erscheinen nicht für Cam wagte, sondern für den Typen, den sie eigentlich gar nicht kannte.

Mit schnellen Tritten fuhr sie die Straße entlang, die in das Zentrum der kleinen Stadt führte, in der keine zwei Tausend Menschen lebten. Fünf Bars, drei Restaurants und dem Café „Rabbits Place“, was Cams Schwägerin Mia gehörte. Und an dem sie nur vorbei fuhr.

Sie hob eine Hand zum Winken, als sie erleichtert Cams Mutter an der Tür entdeckte. Paige ging gerade hinein, wandte sich aber verwundert um, als sie Rosa auf den zweiten Blick erkannte. Die dunklen Augen musterten ihr neues Outfit verblüfft. Die grauen, dichten Haare wehten wild im Wind, als sie Rosa aber lachend zurückwinkte.

Perfekt! Camerons Mutter schien nichts zu ahnen. Sie war sogar früher hier gewesen, als Rosa geplant hatte. Aber so war es ideal! Hätte Rosa Paige weiter draußen vor der Stadt getroffen, hätte diese sie gefragt, wohin sie wollte. Was eine rhetorische Frage gewesen wäre, da der Weg nur in Richtung ihres eigenen Hauses führte. Und dann hätte sie vermutlich nur Schwachsinn geplappert oder wäre in Tränen ausgebrochen, anstatt gekonnt zu lügen. Ihre große und viel zu ehrliche Klappe teilte sie ebenfalls mit Cam.

Sie trugen ihr Herz auf der Zunge. Umso verrückter hatte sie es gemacht, dass sie es ihm nicht sagen konnte und dass er sie nicht darauf ansprachen.

Denn Cam hatte den siebten Sinn oder so, denn er spürte immer, wenn etwas nicht mit ihr stimmte. Und sie wusste, dass er wusste, dass etwas mit ihr nicht okay war. Aber er hatte nicht gefragt und das sagte ihr, dass er etwas ahnte. Und es nicht verhindern wollte.

Nur würde er nie drauf kommen, was es oder wer es war…

Den Berg runter ließ sie das Fahrrad rollen. Die Luft ließ ihr weites, fast durchsichtiges T-Shirt flattern und riss ihr nun kurzes Haar nach hinten. Aber es war ein berauschendes Gefühl und sie schloss genießerisch die Augen. Adrenalin pumpte durch ihren Körper.

Alles würde klappen!

Dass sie keinen Plan für den Fall hatte, dass sie ihn wirklich traf, verdrängte sie lieber.

 

Das Rad wurde langsamer und Rosa musste in die Pedale treten, um den gebogenen Weg entlang zu kommen. Der Teer wurde immer schlechter und der Weg holpriger. Nicht mehr lange und es war keine feste Straße mehr. Der Wind fuhr durch die Äste der Kiefern. Der Name Wood war Programm. So zurückgezogen wie die Familie wohnte, lebt sonst nur eine Handvoll Familien. Alle paar Wochen kamen diese Einsiedlerkrebse für Konserven in die Stadt. Die Woods allerdings waren ständig in der Stadt und kauften so viel zu essen, dass man sich schon fragte, ob sie Menschen in dem Haus gefangen hielten, die das ganze Essen verdrückten. Denn wieso brauchten acht Personen fast jeden zweiten oder dritten Tag zwei Autos voll Nahrung? Denn keiner von ihnen hatte auch nur einen Gramm Fett am Leib.

Der Weg hoch zum Haus kam in Sicht und Rosa stieg vom Rad runter. Ihr war heiß von der Fahrt, aber sie hatte für die Strecke nur zwanzig Minuten gebraucht. Schneller als sonst. Aber sie fühlte sich auch als wäre ein Motor in ihrer Brust. Ihre Aufregung war so gigantisch, dass sie vielleicht auch ohne Rad in der gleichen Zeit hier angekommen wäre. Mit Feuerspur auf der Straße hinter sich!

Die letzten Meter schob sie das Rad und versteckte es dann hinter einem Busch. Im Schatten blieb sie kurz stehen und sah den Weg entlang. Fast fünfzig Meter lang schlängelte sich der Weg zwischen den Bäumen, bevor man zum Haus kam. Absoluter Sichtschutz für die Bewohner. Man musste schon bis auf den großen Platz direkt vor dem Haus gelangen, damit man freie Sicht auf dieses hatte. Oder man konnte aus den Bäumen herüberspähen. Aber wer schlich sich schon aus dem Wald an?

Nervös ordnete sie ihr Haar. Strich es etwas glatt. Ja, sie würde aus dem Wald geschlichen kommen! Ihr Genie rieb sich freudig die Hände.

Nach ihrer Berechnung war Fergus alleine zu Hause. Er kam in der Regel früher von der Arbeit als die Anderen. Er entging so den Menschen in der Stadt. Dafür konnte man ihn bereits um fünf Uhr morgens in der Werkstatt antreffen. - Nicht, dass man in diese einfach so rein konnte. Es war immer abgeschlossen. Man musste klingeln. Dabei war in diesem Kaff sonst immer alles offen.

Rosa hatte den Fehler gemacht, dass sie einmal zur Werkstatt gefahren waren. Hatte versucht ihn dort zu treffen, aber sie hatte nur Seth gesehen, der sie äußerst irritiert herumgeführt hatte, als sie behauptete, sie interessiere sich für Autos. Fergus mied Kunden und war auch nicht da gewesen. Seth sprach mit den Leuten, die ihre Autos vorbeibrachten. Wobei das natürlich eh selten war. Die Menschen in der Stadt gaben ihr Auto lieber bei Uriel in Reparatur, wobei der Mann eigentlich die Poststelle leitete. Die Aufträge für die Werkstatt Wood Automobile kamen von außen. Sie hatten sich auf Oldtimer spezialisiert und waren anscheinend echt gut. Die Website und die Kommentare ließen sich sehen.

Rosa sah über ihre Schulter, als würde sie jemand beobachten. Ein Kitzeln saß ihr im Nacken. Was sollte sie ihm nur sagen?

Jedenfalls stapfte sie nun möglichst leise durch den Waldboden auf das Haus zu. Dann lief sie um den gigantischen Kasten aus grauem Naturstein herum, der zwei Stockwerke hatte und über zwanzig Zimmer. Rosas Traum war es mal hier in einem der Gästezimmer schlafen zu dürfen. Aber pünktlich zur Dämmerung wurde sie immer heimgebracht.

Als würde sie nicht merken, dass es immer vor Einbruch der Nacht war!

Ein Gehirngespinst hatte sich in ihren Kopf geschlichen. Wenn die Familie Wood etwas verbarg, dann nichts, was die anderen tuschelnden Einwohner vermuteten. Vielmehr schien es etwas Mythisches oder – ach, verdammt, sie hatte kein Wort dafür. Aber Rosa brannte der Verdacht unter den Fingernägeln, dass hier Hexenwerk im Gange war. Sie vollzogen Rituale. Oder waren sie verflucht? Eine Familie von einem tragischen Fluch befallen?

Waren sie… Aliens?

Hysterisches Lachen blubberte in ihr hoch, als sie um das Haus schlich. Der Pool auf der hinten liegenden Terrasse tauchte vor ihr auf und ihr Herz beschleunigte um noch mehr Umdrehungen. Mist. Gleich würde der Motor überhitzen. Sie verdrehte die Augen. Ganz eindeutig hatte sie im Internet zu viel über die Werkstatt und die Autos gelesen, an denen Fergus arbeitete. Sie dachte ja schon über Einspritzanlagen nach...

 

Die einfache Holzhütte lag vom Haus aus nicht sichtbar im angrenzenden Wald. Sie hatte sich einmal dorthin verirrt, als Cam sie am Pool hatte warten lassen. Schon als Kind hatte sie sich viel zu oft Ärger eingehandelt, weil sie nicht warten konnte und überall ihre Nase reinsteckte. Und so schließlich auch vor einem Jahr, als sie ungebeten im Haus herumirrte und auf Fergus stieß… Denn seit diesem Tag fühlte sie sich wie eine Lügnerin, auch wenn sie nicht einmal mehr mit ihm geredet hatte, war er ständig in ihrem Kopf.

Aber irgendwas musste sie ja auch von ihrer Mutter geerbt haben. Auch wenn ihr die klassische Sanduhrenfigur und das Talent zum Schreiben lieber gewesen wäre, als diese große Klappe und diese Neugier. Alles andere war von ihrem Dad. Große Füße und die Fähigkeit, überall schlafen zu können. Ihr Vater war ein prima Mann, aber im Vergleich zu ihrer Mutter eher normal. Zum Glück.

Äste und Nadeln knackten unter ihren besagt zu großen Füßen. Vorsichtig sah sie sich um. Es schien niemand in der Nähe. Ob Fergus in der Hütte war? Sie wusste von Cam, dass Fergus zwar ein Zimmer im Haus hatte, aber sich wesentlich öfters in der Hütte aufhielt. Über ihr schrie eine wütende Vogelmutter auf und sie stakste schnell weiter.

Es war noch hell, so dass es kein Wunder war, dass durch die Fenster kein Licht schien. Aber sie hörte auch keinen Fernseher oder ähnliches. Zögernd blieb sie vor der Holztreppe stehen. Noch einmal fummelte sie an ihrer frischen Frisur herum und ordnete ihren etwas zu langen Pony neu. Dann wischte sie sich die schwitzigen Hände an den knappen Jeans ab. Ärgerlich sah sie, dass die eine Schramme im hellbraunen Leder ihrer Halbstiefel hatte. Aber der Cowgirl-Look war trotzdem gesichert.

Rosa hob ihr Kinn, strafte die Schultern und schritt, wie sie hoffte, grazil und selbstbewusst die Stufen hoch. Oben angekommen hämmerte sie schon weniger damenhaft an die schwere Holztür.

Keine Regung. Frustriert starrte sie gegen das Holz, als könnte sie hindurchsehen.

Eigentlich hatte sie ja damit gerechnet, dass er nicht da war... Und neben der Enttäuschung war ein Hauch Erleichterung.

„Kann ich fragen, was du da machst?“, blaffte sie eine knurrige, tiefe Stimme an, die an ihr runterfloss wie heißer Honig.

Rosa fuhr zusammen und stolperte fast rückwärts über ihre Boots. Hektisch riss sie den Kopf herum und sah Fergus am Ende der schmalen Veranda stehen, die um die Vorderseite der Hütte führte. Er stand breitbeinig am anderen Ende und funkelte sie wütend, ohne sich zu bewegen an. Diese Familie ging zu leise! Vielleicht war ihr Geheimnis, dass sie sich teleportieren konnten.

„Ich wollte zu dir!“, sagte sie mit überraschend fester Stimme. Energisch kratzte sie ihre Fassung zusammen. Sie hatte nicht den ganzen Aufwand betrieben, um dann einzuknicken, wenn er wirklich vor ihr stand!

„Wolltest du nicht!“, damit kam er ihr mit langen Schritten entgegen.

Panisch weiteten sich ihre Augen und sie versteifte sich. Er wirkte verdammt angepisst.

Und was auch nicht half, war seine nackte Brust. Der Mann trug nur eine graue Arbeitshose und ein Hemd, was er eindeutig nur übergeworfen hatte. Das blonde Haar fiel über seine Schultern, wie immer im absoluten Chaos. Silbergraue Augen wurden schmal und fassten sie genau ins Visier.

Ihre langen, nackten Beine schienen ihn nicht abzulenken. Verstimmt stellte sie ein Bein zur Seite aus und stemmte eine Hand keck in die Hüfte. Sollte er doch besser genauer hinsehen!

„Ich denke nicht, dass du mir sagen kannst, was ich wollte! Mein Kopf funktioniert nämlich bestens. Und ich bin mir sicher, zu wissen, dass ich genau das gewollt hatte!“

Herzlichen Glückwunsch, Rosa. Das war nett zickig – und blöd. Sie hatte das Gefühl auf eine Zitrone gebissen zu haben. Aber Fergus hielt einen Meter vor ihr an.

„Ich bin mir da nicht so sicher, ob du das gerade weißt“, entgegnete er nur trocken.

Ihr Mund klappte vor seiner Unhöflichkeit runter: „Was?“

„Wie bitte?“, korrigierte er sofort.

Ihre Augen wurden schmal, weil er sie wirklich reizte. „Was soll das? Ich werde für meine Wortwahl korrigiert, aber du darfst mich beleidigen?“

„Ich habe dich nicht beleidigt, sondern ich bezweifle nur, dass dein Kopf gerade richtig funktioniert.“

Ihre Nasenflügel bebten und Schimpfwörter sammelten sich auf ihrer Zunge. Dieser….!

„Cameron ist mit Zayn in Boston. Und das weißt du auch. Also, was könntest du hier wollen?“

„Mit dir reden.“

„Kann ich mir nicht vorstellen!“ Und schon griff er nach ihrem Arm und ehe sie sich versah, wurde sie die Treppe wieder heruntergeschliffen.

„Warte!“, keifte sie und stemmte sich gegen den Boden.

Aber Fergus zog sie weiter, als wäre sie ein Pappaufsteller. Durch den Zug und ihre Gegenwehr kippte sie nach hinten und verlor fast das Gleichgewicht, aber er fing sie ab. Seine großen, starken Hände brannten auf ihrer Haut.

„Du lässt mich auf der Stelle los!“, zischte sie.

Schnaubend tat er genau das. Verwundert blieb sie stehen und rieb sich den Oberarm, wo er sie festgehalten hat. „Was ist das Problem, wenn ich mit dir reden will?“

„Es gibt Telefone“, murmelte er und ließ diese ungewöhnlich hellen Augen über den Waldrand schweifen. Sein eckiges Kinn gehoben, den Kiefer angespannt. Er sah wirklich noch verschlossener und angriffsfreudiger als sonst aus. Helle Bartstoppeln bedeckten seine hageren Wangen und ließen die hohen Wangenknochen noch mehr hervorstechen. Und dieser ausgeprägte Kieferknochen gab ihm beinah ein klassisches Profil. Hübsch war eindeutig das falsche Wort für Fergus. Aber er hatte etwas sehr Lebendiges, Männliches an sich, was sie nur als raubtierhaft beschreiben konnte. Und sie liebte den Kontrast von der goldgebräunten Haut zu den hellen Augen. Irgendwie erinnerte er sie immer an den jungen Clint Eastwood. Deswegen auch die Cowboystiefel, die sie gekauft hatte.

Sie trat von einem Fuß auf den anderen.

„Ich wollte nicht anrufen. Außerdem bin ich mir verdammt sicher, dass du niemals telefonierst.“

Er schielte zu ihr herab. „Rein zufällig kann ich es aber schon.“

Verwirrt blinzelte sie. „Was?“

Sie glaubte ihn wieder „Wie bitte“ murmeln zu hören, aber er fuhr sich dabei mit der Hand über den Mund.

„Nichts“, brummte er dann nur zurück und mustere einen Baum nahe der Hütte. Die Miene ließ sie erwarten, dass sich der Baum gleich unter seinem Blick wegduckte. Immerhin sah er sie so nicht an…

„Jedenfalls, da ich schon mal hier bin. Da kannst du auch mit mir reden. Andernfalls komme ich einfach demnächst wieder“, nutzte sie die Gunst der Stunde.

Als wäre das die perfekte Drohung, sah er nun mit voller Aufmerksamkeit auf sie nieder. Was allerdings bewirkte, dass ihre Nervosität wiederkam. Unter seinem Blick konnte man nur zappelig werden. Die grauen Augen starrten auf sie nieder. Die vollen, geschwungenen Lippen wurden hart und bar jeder Weichheit.

„Gut, Rosa Todd. Dann rede mal. Fang damit an, wieso du diese verflixt knappen Hosen anhast“, sagte er abfällig.

Feuer schoss in ihr Gesicht: „Die sind gerade modern. Alle haben kurze Hosen an.“

„Kurz heißt bestimmt nicht gleich Slip.“

Was?! Hinter welchem Mond lebte er? War er wirklich schon so alt?

„Rennen gerade alle nur in ihren Unterhosen draußen rum? Denn mehr Stoff ist das eindeutig nicht.“

Und dann tat er etwas, was sie nie geglaubt hätte. Er schob einen Zeigefinger unter die Kante der Shorts und zog mit dem Finger zum Haken gekrümmt dran. Der raue Finger streifte ihre Haut. Mit offenem Mund sah sie zu ihm auf. Flammen leckten ihr Bein weiter herauf, genau in die Mitte ihres Unterleibs.

Für eine Millisekunde hätte sie schwören können, dass sich Lachfältchen um seine Augen bildeten, aber dann sah er sie nur wieder verschlossen und streng an. „Also?“

„Reden wir immer noch über meine Hosen?“ Mürrisch strich sie ihren langen Pony aus den Augen. Das war noch ungewohnt, weil sie zuletzt mit sechs Jahren einen Pony getragen hatte.

„Nein, es sei denn, das ist der Grund, wieso du hier bist. Allerdings muss ich dir sagen, dass ich auf klassische Mode stehe.“

Ehe sie es verhindern konnte, prustete sie los. Als sie seine verengten Augen bemerkte, hielt sie eilig inne. „Das war nicht so gemeint…“, sagte sie schwach. Aber es war Fakt, dass Fergus nur Jeans, Arbeitshosen und schwarze T-Shirts besaß. Sie sah zu dem dunklen Jeanshemd, was er gerade offen trug. Das war eindeutig nicht seins, sondern Zayns. Weswegen er es auch nicht schloss. Fergus war zwar schlank gebaut, aber hatte breite Schultern und kräftige Oberarme und Brustmuskeln. Zayn war wesentlich weniger muskulös als Fergus. Das Hemd wäre nur notdürftig zu schließen gewesen, wenn überhaupt.

Er folgte ihrem Blick auf seine nackte Brust. „Ich hatte keine Zeit zum Anziehen.“

Wieso sagte er das? Sie sah zu ihm auf. Seine dunkel, goldenen Augenbrauen hoben sich. Fragend starrten sie nun einander an.

„Der wirkliche Grund deiner Anwesenheit?“, knurrte er.

Langsam wirklich tödlich beleidigt verschränkte sie die Arme. „Dieser Grund verflüchtigt sich zusehends, so wie du dich benimmst.“

„Freut mich“, sagte er knapp mit sardonischem Aufblitzen seiner weißen Zähne.

Das Ganze hier war lächerlich. Sie benahmen sich wie Kleinkinder, die sich mit Sand bewarfen. Wobei sie nicht ganz verstand, wieso er von Anfang an auf Ärger aus gewesen war. Okay, das Haus der Woods wurde nicht ungebeten betreten, aber er hatte ja fast Galle gespuckt. Und wieso war er halbnackt gewesen? Ihr wurde noch heißer unter der Sommersonne, als ihr auffiel, dass sie beide eigentlich kaum etwas trugen. Ein seltsam langer Moment entstand, als sie schluckend zu ihm aufsah und er sich zeitgleich zu ihr runterbeugte. Sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Ihre Lippen öffneten sich von alleine.

Sie beide verspannten sich, als sie ein Auto in die Einfahrt rollen hörten. Bekka und Connor waren also zurück. „Jetzt rede schnell, denn ich lasse Bekka dich zurückbringen.“

„Ich habe ein Fahrrad.“

„Ja, aber das kannst du nicht nehmen.“

„Ich wüsste nicht, wieso…“

Fergus fluchte irgendwas. Dann lehnte er sich zu ihr runter, was ihr bewusst machte, wie viel mehr er sie überragte, obwohl er kleiner als Cam war. Aber das Gefühl von gerade war verschwunden. „Du hast ein paar Minuten und jetzt rede endlich. Ich halte auch die Klappe. Versprochen.“ So viel wie heute hatte er zugebener Maßen noch nie gesagt, wenn sie dabei gewesen war…

„Das geht schnell: Ich will ein Date mit dir.“

Da, sie hat es gesagt. Befriedigt warf sie ihr Haar nach hinten. Auch wenn sie in der Geste erst bemerkte, dass es da nicht mehr viel zum Werfen gab.

Sein Gesicht schien jede Regung und Farbe zu verlieren. „Was?“

„Das heißt wie bitte“, äffte sie ihn nach. Was vermutlich nicht hilfreich war, wenn man jemanden um ein Date bat.

Er blinzelte nun verwirrt. „Ich bin zwölf Jahre älter als du.“

„Ja, ich war auf deinem dreißigsten Geburtstag vor einigen Wochen. Ich weiß.“

Befriedigt sah sie wie sich sein Adamsapfel sehr langsam hob und dann wieder senkte, als er schluckte. Offenbar war er überrumpelt. Und sie würde gerne über seinen festen, gebräunten Hals lecken. Rosa! Ermahnte sie sich eilig.

„Bist du irre?“, flüsterte er dann, so leise, dass sie ihn kaum hörte. Dabei beugte er sich wieder vor. Dieses Mal so nah, dass sein Atmen sie streifte und sie das Gefühl hatte, ihn gleich zu spüren.

„Du bist die Freundin von meinem kleinen Bruder.“

„Cam ist nicht dein Bruder. Und ich weiß das.“

Verächtlich sah er sie an. „Vergiss es. Das würde ich ihm nie antun und ich hätte das nie von dir gedacht.“

Schuld und Scham schwappten über. „Cameron weiß es.“

„Weiß was?“, hakte er unwillig nach.

„Das ich nicht so für ihn empfinde. Wir… äh… er ist mein bester Freund. Er kennt mich in- und auswendig. Immer, wenn ich irgendeine Sorge hatte, fühlte er es, bevor ich auch nur einen Ton von mir gegeben habe. Und seit fast einem Jahr, da… also… Er weiß, dass ich etwas habe. Aber er fragt nicht!“

„Das heißt, er weiß es nicht. Cam ist völlig vernarrt in dich. Als er abgereist ist, war er völlig fertig, weil er dich für einen Monat nicht sehen wird.“

Ihre Lippen wurden blutleer. „Du täuschst dich. Er interessiert sich nicht mehr für mich.“

Verächtlich sah Fergus weg: „Das ist es also? Du fühlst dich zu wenig beachtet? Hör zu, Rosa, ich werde keinen Ton über das hier sagen, wenn du nun brav nach Hause gehst. Heb dir diese Shorts für Cam auf und du wirst schon sehen, das alles gut wird.“

„Wegen den Shorts?“

Kurz verdrehte er die Augen. „Meinte ich nicht so.“ Dann griff er wieder nach ihrem Oberarm und zog sie Richtung Terrasse. Hinter der Tür konnte sie bereits Bekka sehen, die sie beide beobachtete. Die kleine, zierliche Frau Anfang dreißig trug einen Kapuzenpulli mit Smileys und eine goldene Jeans. Das schwarze, lange Haar und die Gesichtszüge ließen ihre Wurzeln bei den Inuits erkennen. Während sie ihnen nachdenklich und eine Spur besorgt entgegen sah, drehte sie ihren massiven, goldenen Ehering hin und her, der immer so aussah, als würde er nicht an ihre Hand passen, ohne sie wie ein Ambos auf den Erdboden zu ziehen.

„Fergus?“, fragte Rosa eilig, während sie auf Bekka zugingen. Gleich würde sie ihre Chance vertan haben. Dabei hatte sie das hier monatelang geplant.

„Was ist denn noch?“, seufzte er nur.

„Geh morgen mit mir Picknicken“, schlug sie es mehr als einen Befehl wie eine Bitte vor.

„Nein“, kam es ohne Zögern zurück.

„Doch, sonst werde ich mit Cam sofort Schluss machen.“

„Vielleicht besser – so wie du dich benimmst.“

„Ich will nur reden. Hör mir einfach zu. Vielleicht rettest du Cams und meine Beziehung.“ Verzweiflung lässt grüßen…maulte ihre innere Stimme. Diese Stimme sah Rosa schon lange, als ihre vernünftige Zwillingsschwester aus einer Spiegelwelt. Ihre Spiegelschwester.

Schmale graue Augen sahen sie an. „So ein Bullshit.“

„Also, ja?“ So armselig, höhnte die Spiegelschwester im Geiste weiter.

„Was klang dran, wie ja?“, erkundigte er sich offenbar ehrlich verwundert und genervt zu gleich. Die Glastür wurde aufgerissen und sie wurde durchgeschoben.

„Bekka, bring sie runter in die Stadt. Rosa fühlt sich nicht gut. Ihr Kopf funktioniert schon nicht mehr!“

Bekkas Gesichtszüge entglitten. Für eine Sekunde sah sie genauso vom Pferd getreten aus wie Rosa, als Fergus knurrend und laut auftretend den Raum verließ.

Und die beiden Frauen standen verlegen alleine in dem riesigen Wohnzimmer der Familie Wood, das neben der Wohnküche der beliebteste Raum im Haus war. Auch Rosa hatte hier schon oft ferngesehen und Karten gespielt. Und sie hatte auf dem Ungetüm von einem Sofa mit Cam zu Beginn ihrer Beziehung rumgemacht, als sie für wenige Sekunden alleine waren.

Übelkeit stieg in ihr auf. Ja, vielleicht klappte ihr Kopf nicht. Streich das Vielleicht, setzte ihr Verstand weiter ein.

Bekka sah sie entschuldigend, aber auch neugierig an. Ihre braunen, schönen Augen lächelten leicht, als sie Rosas Haar anfasste. „Sieht toll aus, Rosa. Richtig frisch und so viel erwachsener.“

Genau das hatte sie erreichen gewollt. Denn immerhin war Fergus zwölf Jahre älter. Tränen brannten in ihren Augen. Sie hätte wissen müssen, dass sie sich das hätte sparen können. Fergus hätte nie Interesse an ihr gezeigt. Und wenn, dann würden ihn keine modischen Frisuren interessieren. Der Mann wusste vermutlich nicht einmal, was ein Frisör war.

Und mit Sicherheit war er nicht an kleinen Mädchen interessiert, sondern mochte echte, weibliche Frauen. Mit wilden Mähnen, vollen Brüsten und feurigem Willen.

Toll, jetzt heulte sie echt fast. Sie hatte gerade mal ein A-Cup.

„Oh Rosa!“, schnell zog Bekka sie in die Arme. Die Frau, die mit Cams ältestem Bruder verheiratet war, reichte ihr gerade bis zum Kinn. Dabei war Rosa mit knapp über einem Meter siebzig nicht die größte. „Willst du mit mir reden? Ist etwas mit Cameron?“

Was sollte sie dazu sagen? Rosa schloss die Augen.

Hey, Bekka. Ich bin drauf und dran deinen Schwager mit deinem anderen Schwager zu betrügen. Dafür würde auch die mitfühlende Bekka kein Ohr haben. Kopfschüttelnd wischte sie sich über die Augen, die zum Glück trocken geblieben waren, und rückte ab.

„Nein, es ist alles gut. Cam hat mir geschrieben, dass sie bei Mias Haus in Boston angekommen sind. Es ist wohl ein total tolles Haus. Und er hat noch mal betont, wie cool das alles ist. Und das Mia, die beste Schwägerin der Welt ist, weil sie steinreich ist. Aber das soll ich dir nicht sagen.“

Bekka grinste strahlend: „Ich kenne den Idioten seit seiner Geburt. Und sobald er meine berühmten Kekse will, bin ich wieder die beste Schwägerin auf der Welt!“

Ja, das klang arg nach Cam. „Ich vermiss ihn“, gestand sie leise.

Und das war nicht gelogen. Aber das einzige Problem war, dass sie ihrem engsten Vertrauten ihr Problem nicht sagen konnte, weil er auch ihr fester Freund war, den sie versuchte zu betrügen. Oder eher sie hatte gerade damit angefangen, als sie wirklich und tatsächlich Fergus um ein Date gebeten hatte. Oder versucht hatte ihn zu erpressen. Eine neue Welle Beschämung überfiel sie, als sie an Fergus‘ entsetztes und enttäuschtes Gesicht dachte, als sie das Date vorschlug.