Sebastian Schoepp

DAS ENDE DER
EINSAMKEIT

Was die Welt von

Lateinamerika lernen kann

WESTEND

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Ebook: 978-3-938060-82-7

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2011
Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Para Paula

Inhalt

1   Gute Nachrichten aus Lateinamerika

2   Das verlorene Jahrzehnt

Argentinien zwischen Diktatur und Demokratie

Heimkehr in die Fremde

3   Der Geist des Che Guevara

Aufbruch im Land der Ankunft

»Lula Superstar«

Boli-Bourgeois

Griff nach den Sternen

Adiós Revolución

4   Zweihundert Jahre Einsamkeit

Bolívars Traum

Der Fluch des Überflusses

Der Weg des weißen Pulvers

Kinder einer Vergewaltigung

Sieger, die nicht tanzen können

5   Der lateinamerikanische Weg

Von Macondo nach McOndo

Abrechnung mit der Vergangenheit

Neue Macht im Süden

Nachwort: Blick von außen auf Lateinamerika

Von Roberto Herrscher

Anmerkungen

Literatur

1   Gute Nachrichten aus Lateinamerika

»Das nächste Jahrzehnt könnte das Jahrzehnt Lateinamerikas werden.«

Osvaldo Rosales von der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (Comisión Económica para América Latina) (Tagesspiegel, 25. November 2010)

 

 

Als der Befreier 1830 auf dem Weg zum Sterben den Río Magdalena an Bord eines Schiffes hinabfährt, ist er ein gebrochener Mann. Seine Träume von einem vereinten, fortschrittlichen Großreich ehemaliger Kolonien sind geplatzt. Verfolgt von seinen Feinden, vom Fieber geschüttelt, von Depressionen umnachtet, gibt Simón Bolívar seinen berühmten Stoßseufzer von sich: Seine Revolution sei nichts anderes gewesen als »Pflügen im Meer«.1

In einem jahrelangen Feldzug hat er die Heere der spanischen Kolonialherren in vielen Schlachten angegriffen, zurückgedrängt und geschlagen und ein riesiges Gebiet von Caracas an der Karibik bis La Paz in den Anden von der Fremdherrschaft befreit. Doch mit jedem Meter, den er vorrückt, werden hinter seinem Rücken alle seine Bemühungen um Einheit von egoistischen Nutznießern und Verschwörern zunichtegemacht: Großgrundbesitzer, Oligarchen, Plantagenbetreiber, Caudillos, Kirchenfürsten und Offiziere teilen die Beute untereinander auf, konspirieren und intrigieren mit- und gegeneinander. Die Landarbeiter, die Viehhirten, Bauern, Pflanzer, Handwerker und Bergleute, die Indios und Schwarzen bleiben so entrechtet und arm wie eh und je. Der Subkontinent zerfällt politisch in Bruchstücke. Am 17. Dezember 1830, kurz vor seinem Tod, zieht Bolívar angesichts der Trümmer seines Lebenswerks eine bittere Bilanz: »Jesus Christus, Don Quijote und ich, wir waren die drei größten Dummköpfe der Geschichte.«2

Und in der Tat bleibt der Subkontinent, für den sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Begriff Lateinamerika durchsetzt, weil dort romanische, also »lateinische« Sprachen gesprochen werden, ein Hort des Chaos, der Unordnung, der Staatsstreiche, Krisen, Katastrophen und Pleiten. Bis Ende des 20. Jahrhunderts produziert die Weltgegend zwischen Río Grande und Feuerland – abgesehen von Fußballsiegen – fast durchgehend schlechte Nachrichten. Die Bilder von Putschen und Massakern, von finsteren Diktatoren, von Elendsvierteln und Drogenbossen prägen die öffentliche Wahrnehmung der restlichen Welt.

Doch ziemlich genau zweihundert Jahre nach der Unabhängigkeit beginnt sich das Bild zu wandeln. In fast allen Ländern etablieren sich innerhalb weniger Jahre Demokratien, die nicht mehr so leicht ins Wanken zu bringen sind wie ihre Vorläufer. Die Wahlen verlaufen in der Mehrzahl fair und frei. Ja, mehr noch: Manche Regierungschefs erreichen Zustimmungsraten, von denen europäische Politiker nur träumen können. Die Wirtschaft, jahrhundertelang das Hauptproblem Lateinamerikas, boomt nicht nur, sie zeigt sich sogar krisenresistenter als die Europas und Nordamerikas. Die Armut, zwar immer noch das drängendste Problem, wird durch Sozialprogramme signifikant verringert. Der Mittelstand wächst.

Dazu kommen weitere Erfolge. Fremdenfeindliche Debatten, die anscheinend unausrottbare Seuche der Alten Welt, sind Lateinamerika fremd Nach einem jahrhundertelangen, konfliktreichen Integrationsprozess haben die verschiedenen Völker, die Kreolen3, Indigenen und Schwarzen gelernt, zusammenzuleben. Ja, manche leiten aus der gelungenen Mischung, dem Mestizentum, gar eine Vorbildfunktion ab, etwa der kolumbianische Schriftsteller und Essayist William Ospina in seinem Buch América Mestiza: »Die Mestizaje, die unsere große Schwierigkeit war, ist auch unsere große Chance auf der Bühne der derzeitigen Kultur, da die Tendenzen zur Vermischung eine der Hauptcharakteristiken der Modernität sind.«4

Selbst der Machismo scheint auf dem Rückzug zu sein: Im Jahr 2010 stehen in Lateinamerika vier Frauen an der Spitze großer oder wichtiger Staaten – im Gegensatz dazu gab es in den USA, Frankreich, Spanien, Portugal oder Italien zum selben Zeitpunkt noch nie eine Präsidentin. In Argentinien regiert Cristina Kirchner, im kleinen, aber einflussreichen Costa Rica heißt die Staatschefin Laura Chinchilla. In Chile scheidet Michelle Bachelet im März 2010 mit rekordverdächtigen Zustimmungsraten aus dem Amt. Im Giganten Brasilien gewinnt Dilma Rousseff im Oktober die Präsidentenwahl.

Der alte lateinamerikanische Minderwertigkeitskomplex scheint angesichts des Fortschritts zu schwinden. Brasilien, Schauplatz eines gewaltigen Wachstums, fühlt sich sogar stark genug, eine Neuverteilung der Machtverhältnisse in der Welt zu fordern. Ein Ruf, der auch in der reichen Welt von denen aufmerksam wahrgenommen wird, die der Alleinherrschaft einer Supermacht und ihres konfrontativen Verhaltens gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen müde sind.

Innerhalb Lateinamerikas sind es die Nachkommen der Ureinwohner, jahrhundertelang dezimiert, missachtet und unterdrückt, die nun ihre Rechte einfordern – und dafür nicht mehr mit Speer und Blasrohr kämpfen, sondern mit Laptop und Wahlplakaten. Die Indigenen greifen nach der Macht und erringen sie 2005 in Bolivien. Ja, die Weltsicht der Anden und des Amazonas gewinnt unter zivilisationsmüden Europäern Anhänger, weil sie das Prinzip »weniger ist mehr« verkündet und angesichts des Klimawandels Respekt im Umgang mit den Schätzen der Erde einfordert.

Der mexikanische Literaturnobelpreisträger Octavio Paz skizzierte 1950, wo die Stärke Lateinamerikas dereinst liegen könne: in der »Aktualisierung des europäischen Gedankens«. In seinem Essay »Das Labyrinth der Einsamkeit« fragte der Autor in Bezug auf Mexiko: »Können wir eine Gesellschaft entwickeln, die nicht in der Beherrschung des anderen begründet liegt?«5 Die Erfolge bei Völkerverständigung, Demokratisierung und Wirtschaftsentwicklung deuten darauf hin, dass Lateinamerika das kann. Geht von Lateinamerika also möglicherweise gar ein Impuls für die Welt aus, für ein Friedenszeitalter, wie es der mexikanische Philosoph José Vasconcelos in den 1920er Jahren formulierte? Das mag utopisch sein. Doch für sich selber scheint Lateinamerika eine Formel gefunden zu haben. Während alle Welt vor Terroranschlägen zittert, gibt es an lateinamerikanischen Flughäfen weder Nacktscanner noch Flüssigkeitsverbot. Ausgerechnet auf dem früheren Kontinent der Diktaturen kann man unbeschwert zwischen den meisten Staaten hin und her reisen.

Innerhalb der einzelnen Länder sieht das freilich anders aus. Noch immer ist Lateinamerika ein Hort der Gewalt und des Drogenhandels, direkte Konsequenz der Armut. Nirgendwo auf der Welt ist der Reichtum ungerechter verteilt – eine Folge des Kolonialismus, dessen Strukturen die Befreier des 19. Jahrhunderts wie Simón Bolívar nicht verändern konnten. Ihre Nachfolger wollten sie nicht verändern, weil die kleinen postkolonialen Eliten, die Clans, und die Caudillos von den Handelsströmen, die der Kolonialismus gegraben hatte, profitierten. In Europa und Nordamerika beförderten das Gold und Silber, Erze, Blei, Kupfer, Salpeter, Uran und Öl aus Lateinamerika die Industrialisierung. Die, die Reichtümer aus der Erde kratzen mussten, wurden auf einen Weg der Verdammnis geschickt, aus der es so leicht kein Zurück gab.

Doch vorbei scheint die Zeit, da Revolutionäre in blutigen – und meist erfolglosen Umstürzen – versuchten, die ungerechten Verhältnisse mit der Waffe in der Hand zu ändern, um dann in den Folterkellern und Verliesen grausamer Diktatoren zu landen. Lateinamerikas moderne Revolution verläuft demokratisch. Fast alle Länder haben sich ihrer Gewaltherrscher aus eigener Kraft entledigt, von denen viele abgeurteilt wurden – zumeist ohne Hilfe von außen, ohne Weltgerichtsbarkeit, Blauhelme und UN-Sicherheitsrat. Kommt es zu Rückschlägen im Demokratisierungsprozess, wie etwa beim Putsch in Honduras 2009, stehen die Länder in einer Weise zusammen, von der auch die ewig zerstrittene Europäische Union lernen könnte.

Träger des politischen Fortschritts seit 2000 sind in vielen Fällen die, die den Folterkellern und der Verfolgung der 1970er und 1980er Jahre entkamen: Michelle Bachelet in Chile, Dilma Rousseff und Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien, Néstor und Cristina Kirchner in Argentinien, José Mujica in Uruguay. Sie alle gehörten zum Kreis oder Umkreis der Verfolgten oder Verfemten. Ihre politische Renaissance, ihre auf Versöhnung ausgerichteten und in Rechtsstaatlichkeit wurzelnden Präsidentschaften wirken angesichts der blutigen Vergangenheit wie ein Akt von Weltgerechtigkeit. Ihr Aufstieg zeigt, dass eine andere Politik, die die Geschichte revidiert, offenbar möglich ist. Sie sind links orientiert – direkte Konsequenz des Rechtsrucks der vorhergehenden Jahrzehnte. Jedoch haben sie von klassenkämpferischen Maximalforderungen beizeiten Abschied genommen und sich auf den mühseligen Weg begeben, als gewählte Volksvertreter zweihundert Jahre schiefgelaufene Entwicklung mit marktwirtschaftlich orientierten, aber staatlich gesteuerten Modellen in eine andere Richtung zu lenken. Dass das nicht in ein oder zwei Amtszeiten bewerkstelligt werden kann, liegt auf der Hand. Doch ein vielversprechender Anfang ist gemacht. Wobei auch Machtwechsel zurück nach rechts – wie 2010 in Chile oder Panama – friedlich und geordnet verlaufen. Die neuen Präsidenten verzichten – anders als früher üblich – darauf, Errungenschaften ihrer Vorgänger im Handstreich zunichtezumachen.

Wie war das möglich? Hat Lateinamerika in seiner tragischen Geschichte vielleicht doch mehr Ansätze zu Selbstkorrektur und Gesundung aufzuweisen, als die ewig schlechten Nachrichten vermuten ließen? Hat es nicht gerade in Lateinamerika neben finsteren Diktatoren und rabiaten Revolutionären stets klarsichtige Denker gegeben, die – aufbauend auf einer Mischung aus europäischem geistesgeschichtlichem Erbe und neuweltlicher, indigener Vision – die Misere treffend analysierten und Vorstellungen einer bessere Zukunft entwarfen? Lateinamerikas Schriftsteller, Philosophen und Essayisten gehören seit jeher zu den besten der Welt, was die große Zahl von Literaturnobelpreisen zeigt, die nach Lateinamerika gingen.

»Die philosophische Betrachtung wurde zur heilsamen, dringenden Aufgabe, die (…) das Finden einer konkreten Lösung, die unserem Dasein Sinn zu geben vermöchte, zum Ziel hatte«, schrieb Octavio Paz.6 Literatur, Kunst und Musik sind in Lateinamerika stets Rettungsanker gewesen, psychologische Stützen in der Not und moralischer Ansporn. Und all das stets ein wenig mehr als in der technisierten Welt, die dazu neigt, kulturelle Leistungen als Zeitvertreib geringzuschätzen. Nicht umsonst sind so viele lateinamerikanische Schriftsteller als Politiker tätig gewesen, von Domingo Faustino Sarmiento im 19. Jahrhundert in Argentinien bis Mario Vargas Llosa im Peru des ausgehenden 20. Jahrhunderts.

Lateinamerikaner sind stets in der Lage gewesen, vermeintliche Nachteile in Vorteile zu verwandeln. Sie sind Miseren gewohnt – und sie erholen sich schneller davon als andere Völker. Und sie sind möglicherweise mit einem größeren Talent zum Glücklichsein ausgestattet. 2008 zitiert der Lateinamerika-Dienst der BBC eine Untersuchung der Interamerikanischen Entwicklungsbank und des Meinungsforschungsinstitutes Gallup über die Zufriedenheit der Menschen in den Ländern des Subkontinents.7 Die Studie stellt fest, dass die Zufriedenheit über das eigene Leben nicht etwa in den entwickelteren Staaten wie Uruguay oder Chile am größten ist, wo der Lebensstil am ehesten dem der nördlichen Industriestaaten ähnelt, sondern in Guatemala oder Kolumbien, dort also, wo kriegs- und krisenbedingt die Probleme am größten sind. Wachstum sei also nicht immer gleichbedeutend mit Glücksgefühl, bilanziert die Studie.

Die Autoren stellen weiter fest, dass gerade in den armen Ländern andere Faktoren wie vor allem die Familie, zwischenmenschliche Beziehungen und Religion für die Menschen einen großen Stellenwert besitzen. Der Wertekanon unterscheidet sich signifikant von dem der auf Fortschritt und Perfektion ausgerichteten protestantisch-puritanischen Gesellschaften des Nordens. Dort sind die Menschen laut Studie wesentlich weniger zufrieden mit ihrem Leben – trotz eines höheren Einkommens und mehr Sicherheit. William Ospina schreibt: »Im Kontrast zur reinen Botschaft der Produktivität, die keinen Platz lässt für das Leben oder für die Vorstellungskraft, oder im Kontrast zur schrecklichen Botschaft der Macht (…), haben unsere Völker zwei fundamentale Imperative aufzuweisen: den Imperativ zu überleben, so wie es die tiefen Gesetze der Natur vorschreiben und was auch beinhaltet, das natürliche Universum zu schützen, von dem wir abhängen; und den Imperativ der Suche nach Glück, nach Schönheit und nach Harmonie.«8

In letzter Zeit holt Lateinamerika sogar in Wissenschaft und Technik auf. In Brasilien wird erfolgreich in der Landwirtschaft experimentiert, um die Ernährung für die Zukunft sicherzustellen. Lateinamerikanische Mediziner sind führend in der Malariaforschung. Argentinien exportiert Atomtechnologie. 2010 rettet Chile 33 verschüttete Bergleute nach einem Grubenunglück in einer ausgefeilten Aktion, die mehr Fernsehzuschauer findet als die Mondlandung.

Die großen Gemeinsamkeiten bezüglich Kultur und Empfinden erlauben es übrigens, von Lateinamerika – trotz aller Unterschiede – als einer Einheit zu sprechen. Lateinamerikaner tun dies längst. William Ospina nennt Lateinamerika gar etwas kühn »El país del futuro« (das Land der Zukunft): »Es existiert eine kontinentale Kultur, wir sind kulturell eine einzige Nation, eine riesige Nation, die fähig ist, in Allianz zu arbeiten, ohne diese zu propagieren, nur durch Inspiration ihres tiefen Geistes.«9 Lateinamerika musste aus sich selbst heraus wachsen, das hat dem Subkontinent gutgetan. Nach der Unabhängigkeit fühlte man sich zunächst wie »die Vorstädter der Weltgeschichte, wie nicht eingeladene Tischgäste, die sich durch den Hintereingang des Westens« eingeschlichen hätten, schrieb Octavio Paz.10 Der lateinamerikanische Geisteszustand habe daher lange der »Einsamkeit stiller Wasser« geglichen. »Wir kamen spät an in der Geschichte (…), unsere Völker legten sich zunächst ein Jahrhundert lang schlafen, und während sie schliefen, wurden sie ausgeraubt.«11 Das daraus resultierende Misstrauen in die eigenen Fähigkeiten, die renitente Haltung gegenüber dem Fortschritt, das alles spiegelt sich wider im Begriff der »Einsamkeit«, der die Schriften lateinamerikanischer Denker von Octavio Paz über Gabriel García Márquez bis Jorge Volpi durchzieht. Aber vielleicht waren es ja genau diese Einsamkeit, dieser innere Zwang zur Eigentümlichkeit, dieser Hang zu friedlicher Irrationalität, zu Reflexion statt Aggression, zu Kontemplation statt Expansion, die Lateinamerika letztlich auf den richtigen Weg gebracht haben. Tatsache ist, dass der lateinamerikanische Weg zunehmend Beachtung verdient in einem Moment, da das Fortschrittsmodell der industrialisierten Welt an seine Grenzen stößt. »Lateinamerika ist überraschend zu einer politischen Werkstatt in der Weltzivilisation geworden«, schreibt der Anthropologe und Kulturwissenschaftler Constantin von Barloewen.12

Auffällig ist, dass der Betrieb in dieser Werkstatt nach einem Moment besonders großer Einsamkeit richtig in Gang kam. 2001 lag Lateinamerika nach fast zwei Jahrzehnten von außen induzierter, marktliberaler Experimente, die von Diktatoren und ihren nur mäßig demokratisch legitimierten Nachfolgern willfährig umgesetzt worden waren, wirtschaftlich und sozial am Boden, war der Paria des Weltwirtschaftssystems. Hunderttausende suchten das Heil in der Auswanderung, es kam zu Aufständen und Krawallen, Politiker wurden verjagt, Investoren zogen sich zurück. Die USA – bis dahin stets maßgebliche Hegemonialmacht im Süden – wandte sich nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 anderen Weltgegenden zu. Nicht mehr der schnurrbärtige Guerillero galt fortan als Bedrohung des American Way of Life, sondern Turbanträger und Taliban. Die nordamerikanische »Manifest destiny«13, der religiös motivierte Wille, andere mit dem eigenen Lebensmodell zu beglücken – und sei es mit Gewalt –, tobt sich seither im Mittleren und Nahen Osten aus. 2008 konstatierte der mexikanische Schriftsteller Jorge Volpi in seinem Werk El Insomnio de Bolívar (Die Schlaflosigkeit Bolívars): »Die Welt hat Lateinamerika vergessen.«

Doch gerade dieses Vergessen hat Lateinamerika gutgetan. Im Windschatten des neuen Desinteresses hat es sich aus eigener Kraft entwickeln können, hat die Gelegenheit genutzt, aus dem Scheitern der Vergangenheit eigene Schlüsse zu ziehen und Änderungen zu erproben, die mehr seinem Naturell entspringen als die auferlegten Modelle der ersten zweihundert Jahre. Lateinamerika begann, links zu wählen, als alle Welt rechts wählte. Die Regierungen, die zwischen 2001 und 2010 an die Macht kamen, pflegten zwar alle ihre jeweilige Agenda, waren sich jedoch in einem Aspekt einig: sich von außen nichts mehr vorschreiben zu lassen. Und sie begannen, im Kleinen aufzubauen, was andere im Großen demontieren: ein auf Umverteilung und Solidarität fußendes Gemeinschaftsmodell, das andere nicht bevormunden will. »Die Welt muss Lateinamerika als die dynamische und wachsende Region zur Kenntnis nehmen, die sie längst ist«, sagt US-Präsident Barack Obama im März 2011 bei einer Reise durch den früheren »Hinterhof« der Vereinigten Staaten.14 Die Demokratisierung in Staaten wie Chile und Brasilien preist er als Vorbild für den Nahen Osten, wo sich die Völker gerade gegen ihre Diktatoren erheben. Die Lektionen Lateinamerikas seien eine Anleitung für alle, »die ihre eigene Reise zur Demokratie beginnen«.15

Es gibt ihn also, den lateinamerikanischen Weg, doch er ist gewunden, ausgesetzt und beizeiten von blühendem Dickicht überwuchert. Eigentlich ist er eher ein Umweg. Doch nun scheint ein Ziel greifbarer denn je zu sein: Lateinamerika hat die Chance, ein reicherer, gerechterer Kontinent zu werden, wie der britische Economist feststellt.16 Lateinamerika wird weiterhin gute und schlechte Nachrichten produzieren. Aber vieles spricht dafür, dass es vorläufig mehr gute als schlechte sein werden.

»Wir sind nicht mehr das Problem, sondern Teil der Lösung«

Lateinamerika ist der einzige Kontinent, der eine gemeinsame Kulturcharta hat. Sie legt den Grundsatz fest, dass Iberoamerika17 ein Ensemble von Nationen darstellt, die gemeinsame Wurzeln besitzen und ein kulturelles Erbe teilen, das auf der Summe unterschiedlicher Völker verschiedener Herkunft und Glaubensvorstellungen gründet. Im Kern ist die Charta der Versuch, die kolonialen Gegensätze zu überwinden. Am 1. Oktober 2010 reiste der Chef des iberoamerikanischen Sekretariats und frühere Direktor der Interamerikanischen Entwicklungsbank, Enrique V. Iglesias, aus Madrid nach Frankfurt am Main, um die deutsche Übersetzung der Charta am Instituto Cervantes in Frankfurt vorzustellen. Eine Gelegenheit, um mit ihm über das wachsende Selbstbewusstsein Lateinamerikas zu sprechen.18

Señor Iglesias, welche Bedeutung hat die iberoamerikanische Kulturcharta in der Praxis?

Iglesias: Sie ist eine Navigationshilfe für unsere Zusammenarbeit. Sie betont die Bedeutung der Kultur bei der politischen und sozialen Entwicklung der Länder. Keine andere Weltregion besitzt etwas Vergleichbares. Lateinamerika ist längst eine kulturelle Macht. Eine Gesamtheit von Kulturen, die koexistieren in einem Völkergemisch aus Mestizen, Ureinwohnern, Weißen, Schwarzen, Asiaten, die auf einem Kontinent zusammenleben Jede dieser Kulturen ist sehr reich, sie haben gelernt, miteinander auszukommen und sich gegenseitig zu stärken. Das Erbe der Mestizaje ist in dieser Intensität einzigartig. Aus ihr besteht die Identität der Region.

Dass Lateinamerika eine kulturelle Macht ist, bezweifelt niemand. Aber was ist mit der Wirtschaftsentwicklung und vor allem mit der Armutsbekämpfung? Lateinamerika ist der Kontinent, auf dem die Reichtümer am ungerechtesten verteilt sind.

Iglesias: Die Kultur hat auch einen ökonomischen Wert, ist Instrument der Wirtschaftsentwicklung, schafft Arbeitsplätze, sie ist ein Motor der Entwicklung. Aber natürlich müssen wir weiter an sozialem Ausgleich arbeiten.

Kann Lateinamerikas Völkergemisch ein Beispiel für das Zusammenleben auf der Welt sein?

Iglesias: Es gibt derzeit so viele ethnische Zusammenstöße, man spricht sogar vom Clash der Zivilisationen. Lateinamerika mit seinen vielen Kulturen ist derzeit die friedlichste Region der Welt. Es gab Konflikte, klar. Heute ist es ein Vorbild für Koexistenz.

Wie nachhaltig ist die politische Stabilisierung Lateinamerikas?

Iglesias: Lateinamerika befindet sich in einem Moment, in dem die Chancen größer sind denn je. Die Konjunktur war nie so gut. Man muss bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgehen, um Vergleichbares zu finden. Wir haben Wachstumsraten von sechs bis sieben Prozent. Wir sind nicht mehr das Problem, sondern Teil der Lösung.

Inwiefern?

Iglesias: Lateinamerika war nicht der Ursprung der Weltfinanzkrise, sondern es waren die USA und Europa. Lateinamerika hatte mit den Gründen, warum sie ausgebrochen ist, nichts zu tun. Und wir kamen aus der Krise mit einer leichten Delle heraus. 2010 überstieg das Wachstum dann schon wieder die sechs Prozent. Dieses Wachstum trägt zur Lösung der Weltfinanzkrise bei. Wir sind direkt am Aufstieg Asiens beteiligt durch unsere Rohstofflieferungen. Und wir erzielen dafür viel stärkere Preise als in der Vergangenheit.

Was kann die Welt von Lateinamerika lernen?

Iglesias: Wir haben unser Lektionen gelernt in den letzten 25 Jahren, und es waren dramatische Lektionen schlechter Wirtschaftsführung. Heute wissen unsere Länder viel besser, wie sie ihre Wirtschaft lenken müssen. Die Mischung aus einer besseren inneren Verwaltung und guten internationalen Beziehungen führt dazu, dass wir von dem enormen Rohstoffreichtum viel besser profitieren können. Das stärkt auch den Konsum.

Aber ist die Abhängigkeit von der Rohstoff-Förderung auf die Dauer nicht ein Hemmnis für die Entwicklung?

Iglesias: Auf lange Sicht gibt es da Risiken. Man muss die Jahre der Bonanza, des Aufschwungs, nützen, um technologisch und in der Bildung weiterzukommen. Wir müssen eine Produktion, eine diversifiziertere Wirtschaft aufbauen. Heute glaubt niemand mehr, dass man Fortschritt nur auf den Verkauf von Rohstoffen gründen kann.

Wie sieht es mit der politischen Stabilisierung aus? Was sagen Sie zu den Unruhen in Ecuador 2010 oder dem Putsch in Honduras 2009? Waren das nicht Rückschritte in vergangene Zeiten?

Iglesias: Die Krawalle in Ecuador waren ein sehr bedauernswerter Zwischenfall, der aber keine Konsequenzen hat. In anderen Zeiten hätte so etwas in einem Staatsstreich enden können, das ist jedoch diesmal nicht der Fall gewesen. Die demokratischen Institutionen sind stärker geworden. Es gibt ein Klima, das Verstöße gegen die Demokratie nicht gestattet. Das hat die eindeutige Verurteilung des Putsches im Fall Honduras gezeigt. Die Demokratie in Lateinamerika ist stärker denn je.

Hat die Kulturcharta das Selbstbewusstsein der indigenen Völker befördert?

Iglesias: Es gibt eine Renaissance der indigenen Kulturen. Sie sind nicht unterentwickelt, sondern eine wichtige Quelle der Kreativität für die Welt. Natürlich werden in der Charta die ursprünglichen Kulturen erwähnt und ihre Rolle betont. Sie sind eine Quelle der Weisheit, des Wissens, entwickeln Medizin. Sie lehren den Respekt vor der Natur, das ist die religiöse Basis dieser Gesellschaften und kann eine historische Lektion sein in Zeiten des Klimawandels.

Bleibt die lateinamerikanische Einheit Utopie?

Iglesias: Sie ist nicht unmöglich, aber sehr weit weg und sehr schwierig. Es gibt ja bereits die Union Südamerikanischer Nationen Unasur. Man kann kooperieren, und zwar noch viel mehr.

Missachtet Europa Lateinamerika?

Iglesias: Ich verstehe, dass Asien und Afrika ein Magnet sind. Aber Lateinamerika ist ein dynamischer Wachstumsfaktor, der der Welt guttun kann.

2   Das verlorene Jahrzehnt

»Es war klar, dass das nicht funktionieren konnte, aber jeder, mit dem man darüber sprach, sagte nur: Nächste Woche mache ich Urlaub in Miami, dann sehen wir weiter.«

Marcelo Figueras, argentinischer Schriftsteller

(Gespräch mit dem Verfasser am 6. Oktober 2010)

 

 

Argentinien zwischen Diktatur und Demokratie

Von der Druckerei klang leise das Geräusch der stampfenden Maschinen in meine Wohnung und unterlegte die Musik im Radio wie eine Rhythmusmaschine, die schleppend einen falschen Takt schlug. Ich hörte Radio »FM Tango« und dürfte zu dieser Zeit einer der wenigen Mittzwanziger in Buenos Aires gewesen sein, die diese Musik mochten. Tango galt im Argentinien des Jahres 1990 als Musik der Großeltern, der Einwanderer, der Vergangenheit. Argentiniens Jugend wollte etwas anderes, sie wollte Michael Jackson und Prince. Das Land steckte tief in einer Krise, und es sah auch nicht so aus, als würde das bald besser werden. Der Norden war das Vorbild, Rettung, so die allgemeine Überzeugung, konnte nur von dort kommen. Argentinien wollte sein wie die USA.

Ich wohnte Calle Tucuman Ecke 25 de Mayo. Das Haus hatte – wie die meisten im Viertel – bessere Zeiten gesehen, war in den 1930er Jahren sicher mal repräsentativ gewesen. Jetzt sollte es verkauft werden, die meisten Wohnungen standen leer. Die Häuser, die den Hof umgaben, waren schmutzig und grau. Von Dächern und Balkonen hingen Kabelstränge herab, das Telefonnetz brach jedes Mal zusammen, wenn einer der subtropischen Regenschauer sich vom Himmel ergoss. Im Zentrum von Buenos Aires zu wohnen, galt nicht mehr als schick, wer Geld hatte, zog ins grüne Umland und mauerte sich dort in einem Country Club ein, einer bewachten Wohnanlage am Stadtrand. Fernhalten sollten die Zäune konkret die dunkelhäutigen Einwanderer aus Bolivien oder Paraguay, die mit dem Verkauf von Kugelschreibern und Taschentüchern zu überleben versuchten. Abends wurden sie von den Müllsammlern aus den Armenvierteln abgelöst, die mit Säcken und Karren durch die Straßen zogen und die Abfallberge vor den McDonald’s-Filialen und von US-amerikanischen Ketten aufgekauften Luxushotels nach Dosen, Glas und Pappe durchwühlten. Als letztes krochen die Schlepper der Bordelle aus ihren Löchern, die einem auf der Calle Florida, der »Blühenden«, nachliefen und ihre Ware anpriesen: »Señoritas und saubere Laken!«

Fast alltäglich waren apagones, Stromausfälle. Wenn der Kühlschrank ausfiel, brach ich die fetten Batzen gefrorenen Wassers aus dem Eisfach, bevor es meine Wohnung fluten konnte. Ich legte sie aufs Fensterbrett und sah zu, wie sich in der Januarhitze Tropfen um Tropfen aus der Masse löste und wie sie die sechs Stockwerke weit nach unten fielen und auf das Dach der Druckerei platschten. Wollte man nach unten, war es besser, die Treppe zu nehmen als den Aufzug. Einmal blieb ich bei einem Stromausfall im Lift stecken. Mein Nachbar hörte meine Hilferufe, eilte herbei, kniete sich auf den Boden, fingerte nach dem Hebel, der die Verriegelung öffnete und schob die Gittertür des schmiedeeisernen Käfigs beiseite. Dann streckte er die Hand aus und wuchtete mich aus der Kabine. Ich bedankte mich mit einem lauwarmen Quilmes-Bier aus meinem frisch abgetauten Kühlschrank. Man musste sich zu helfen wissen im Buenos Aires des Jahres 1990.

»FM Tango« spielte um Mitternacht häufig Astor Piazzollas »Buenos Aires Hora Cero« (Buenos Aires, Stunde null). Das passte, denn in der Tat schien sich Argentinien – wie ganz Lateinamerika – an einer »Stunde null« zu befinden, am Beginn einer Zeitenwende, die jedoch äußerst langsam anlief. Das Land hatte wie die meisten Staaten Lateinamerikas eine blutige Militärdiktatur hinter sich. Von 1976 bis 1983 hatte eine Junta geherrscht, die sich, was die Systematik der Verfolgung und des Tötens anging, an die Spitze des Kontinents gesetzt hatte. Der Schriftsteller Marcelo Figueras hat diese Jahre in seinen Romanen aufgearbeitet. Er nennt sie eine »Wasserscheide der argentinischen Geschichte«.1 Das Land hatte viele Diktaturen erlebt, manche konnten sogar mit einer gewissen Akzeptanz rechnen, weil das Militär den Menschen als einziger Hort von Stabilität und Ordnung im Dauerchaos erschienen war. Doch die tödliche Konsequenz, mit der die Junta von 1976 bis 1983 gewütet hatte, diskreditierte alles Militärische auf unabsehbare Zeit.

Jeder, der links oder sonst irgendwie kritisch gegenüber der Junta eingestellt war, musste damit rechnen, im Folterkeller zu landen. Gefangene wurden betäubt, in Flugzeuge gesetzt und ins Meer geworfen. Das traf nicht nur Guerilleros, Kommunisten oder Widerstandskämpfer, sondern Journalisten, Intellektuelle, Gewerkschafter, Künstler, Politiker, Priester, Arbeiter, Studenten, Unternehmer – Menschen, die in der Gesellschaft eine bedeutende Rolle gespielt hatten. Der Schriftsteller Rodolfo Walsh, einer der Begründer des literarischen Journalismus in Argentinien, trug stets eine Pistole bei sich, um den Folterern nicht lebend in die Hände zu fallen. Als die Geheimpolizei kam, schoss er zurück. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen sollen 30 000 Menschen der Vernichtung zum Opfer gefallen sein.

Dazu kam, dass die Generäle noch nicht mal in der Lage waren, wirtschaftlich Ordnung zu halten. Offiziere und ihre Clans gebärdeten sich wie eine Räuberbande. Milliarden wurden auf Konten ins Ausland transferiert. Kontrolle gab es ja nicht. Gleichzeitig begann die Demontage des Sozialsystems und der Industrie. Um von den inneren Problemen abzulenken, führte General Leopoldo Fortunato Galtieri 1982 einen Krieg um die Falkland-Inseln, die in Argentinien Malvinas heißen und deren Besetzung durch Großbritannien seit jeher ein Symbol nationaler Demütigung darstellt. Doch der letzte Versuch, das bankrotte System zu retten, misslang. Nach der Niederlage auf den Malvinas mussten die Generäle abtreten.

1983 fanden freie Wahlen statt, die der linksliberale Politiker Raúl Alfonsín gewann. Seine größte Leistung war, dass unter seiner Regierung den Junta-Generälen in einem weltweit beachteten Verfahren der Prozess gemacht wurde. Doch er scheiterte an der Wirtschaft. Alfonsín hatte von den Militärs zerrüttete Staatsfinanzen und eine galoppierende Inflation geerbt. Er schaffte es nicht, das Land zu stabilisieren. Ständig schwebte das Damoklesschwert eines Staatsstreiches über ihm. Er musste mehrere Putschversuche überstehen. Um Ruhe in den Kasernen zu schaffen, erließ der erschöpfte Präsident ein »Schlusspunktgesetz«, das die Verfolgung der Verbrechen der Diktatur beendete. Folterer durften sich nun auf »Befehlsnotstand« berufen. Der erste Versuch einer konsequenten Aufarbeitung der Geschichte war auf halber Strecke steckengeblieben.

Menem, der Musterschüler

1989 gewann Carlos Menem von der Peronistischen Partei die Präsidentenwahl. Er war ein Jahr im Amt, als ich nach Buenos Aires kam. Menem gehörte zu einem Typus von Politikern, wie er damals häufig anzutreffen war in Lateinamerika, eine Figur des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie. Er war wie viele seiner Kollegen in den Nachbarländern ein treuer Anhänger des Washington Consensus, der neuen wirtschaftspolitischen Leitlinie aus den USA. Die US-Regierung hatte 1990 unter dem Eindruck des Zusammenbruchs des kommunistischen Systems im Ostblock ihre Politik gegenüber den Entwicklungsländern neu definiert. Der Washington Consensus war der Versuch, die marktliberalen Lehren, die unter US-Präsident Ronald Reagan Mode geworden waren, auf die Dritte Welt anzuwenden und gewissermaßen am hilflosen Objekt zu erproben.

Gemäß dem Dogma der »Reagonomics« lässt sich die Armut am besten bekämpfen, indem man den Reichen mehr gibt. Gewährt man ihnen ausreichend »Incentives«, also Anreize zur Aktivität, etwa durch Steuererleichterungen, ein Minimum an staatlicher Kontrolle und Privatisierungen, so die Lehre, dann werde der positive Effekt schon irgendwann zu den Armen »durchsickern«, etwa in Form neuer Arbeitsplätze oder der durch mehr Konkurrenz verbilligten Waren. »Trickle down Theory« hieß das bei Reagans Strategen. Anfangs wurde die »angebotsorientierte Wirtschaftspolitik« von Kritikern wegen ihres bedingungslosen Glaubens an die Selbstheilung des Marktes als »Voodoo Economics« belächelt. In den 1990er Jahren jedoch trat sie unter dem Etikett »Neoliberalismus« ihren Siegeszug um den Globus an.

Der Washington Consensus forderte von den Entwicklungsländern strengste Haushaltsdisziplin, Abbau von Subventionen, Entbürokratisierung, Schutz des Privateigentums und vor allem eine Öffnung der Märkte. Letztere nutzte dabei vor allem den USA, die damit ihren Warenabsatz steigerten. Sie selber hielten sich nur in Maßen an die Vorgaben, behielten etwa die Subventionierung der Landwirtschaft bei, was ihren Produkten einen riesigen Preisvorteil verschaffte.

In den 1990er Jahren machten Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) die Grundsätze des Washington Consensus zur Bedingung für Kredite an Lateinamerika und andere arme Weltgegenden. Carlos Menem, ein backenbärtiger Politiker aus der argentinischen Provinz, der gern hohe Absätze trug, um größer zu wirken, war wild entschlossen, der Musterschüler des Marktliberalismus zu werden. Das neoliberale Jahrzehnt begann – in Argentinien wie auch in Venezuela, Ecuador, Peru, Nicaragua, Brasilien.

In Argentinien waren die ersten Anzeichen dafür 1990 unübersehbar. Die Diktatur hatte mit Privatisierungen begonnen. Menem machte weiter. Er nahm sich die Eisenbahnen vor, mit denen das Land einst erschlossen worden war. Die neuen Eigentümer verhökerten Schienen, Waggons und Loks an afrikanische oder asiatische Länder oder gleich als Alteisen, anstatt in teure Modernisierungen zu investieren. Manche waren Busunternehmer, und man wollte sich ja nicht selber Konkurrenz machen. In den 1950er Jahren hatte Argentinien ein Streckennetz europäischen Ausmaßes gehabt. Nun entvölkerten sich ganze Landstriche, weil viele Siedlungen entlang der Schienen entstanden waren. Das Transportsystem brach zusammen. In Tucumán, Argentiniens Obstgarten, verfaulten die Früchte an den Bäumen. Das Ende der Bahn hatte den erwünschten Nebeneffekt, dass damit auch die mächtige Eisenbahnergewerkschaft ihre Geschäftsgrundlage verlor.

Nach und nach ergriff die Privatisierungswelle Schulen, Ölindustrie, Rentenversicherung und die Aerolineas Argentinas, die unter ihren neuen spanischen Eignern zu einer traurigen Regionalfluglinie verkamen. In Buenos Aires standen Telefonzellen herum, die das Logo der neuen Betreiber, der spanischen Telefónica, trugen, jedoch selten funktionierten. Bei den Konsumenten waren Importprodukte aus den USA gefragt, vom einstigen Markenzeichen Industria Argentina blieb nur eine leere Hülle. Wer bei einem Staatsbetrieb arbeitete, galt als Verlierer. Anstatt die öffentlichen Verwaltungen der zweifellos nötigen Restrukturierung zu unterziehen, demontierte Menem sie bis zur Funktionsuntüchtigkeit. Damit stellte der peronistische Präsident Menem die Lehren seines eigenen Parteigründers auf den Kopf, ja, er demontierte alle Anstrengungen des Vorvaters, dem Land größere Autarkie zu verschaffen.

Juan Domingo Perón war 1946 als Präsident angetreten, um den ausländischen Einfluss aus Argentinien zu verdrängen und das Land wirtschaftlich selbständig zu machen. Dafür war ihm so ziemlich jedes Mittel recht, er heuerte beispielsweise geflohene Nazitechniker an, etwa um eine argentinische Luftfahrtund Atomindustrie zu begründen. Perón schuf auch das erste schlagkräftige Gewerkschaftssystem in der argentinischen Geschichte, damit mobilisierte er die bis dato politisch bedeutungslosen Arbeiter und Tagelöhner, die descamisados (»Hemdlosen«) als Wähler. Seine Frau Eva, bekannt unter dem Kosenamen Evita, war zuständig für Sozialgeschenke, die sie nach Gutdünken verteilte.

Perón regierte von 1946 bis 1955 so autoritär wie charismatisch. Manche Elemente seines Staatsaufbaus erinnerten an Benito Mussolini, und in der Tat war Perón in den 1930er Jahren Militärattaché an der Botschaft im faschistischen Italien gewesen und hatte sich dort einiges abgeschaut. Er war jedoch eher ein »politisches Chamäleon, das sich den veränderten Verhältnissen anzupassen wusste«, wie es der Dresdner Kulturwissenschaftler Norbert Rehrmann formuliert hat. Der Peronismus sei »keine kohärente Theorie, geschweige denn eine totalitäre, die ganze Gesellschaft umfassende Praxis« gewesen, eher eine »rigide Kommandodemokratie«.2

Peróns korporatives Gesellschaftsmodell bedeutete einen klaren Bruch mit der liberalistischen Tradition, der Argentinien sich im 19. Jahrhundert verschrieben hatte – und damit auch das vorläufige Ende der Vorherrschaft der aus Europa stammenden Einwanderungseliten. Ärmere Leute erinnern sich an die Perón-Jahre gern mit dem Spruch: »La Argentina era una fiesta« (Argentinien war ein Fest). Tatsächlich jedoch gab die Wirtschaftsleistung des chaotischen und von Korruption gezeichneten Einwandererlandes die Substanz für Peróns Wohltaten einfach nicht her. Argentinien, das in den 1940er Jahren zu den zehn reichsten Nationen der Welt gehört und zu Kanada aufgeschlossen hatte, versank in der Misere. 1955 stürzte eine von Bürgerkreisen unterstützte Militärjunta den Präsidenten. Perón floh ins Exil und hinterließ seinem Land eine tiefe Spaltung in Arm und Reich. Argentinien bekam lange keine stabile Regierung mehr, Wahlen und Putsche lösten einander ab, letztlich ging es den Besitzenden darum, die Peronisten von der Macht abzuhalten.

Unordnung und Niedergang, vor allem aber die ständige Auseinandersetzung mit den verpassten Möglichkeiten formten den argentinischen Charakter. Das Land lebte in dem Gefühl, der ewige Aspirant geblieben zu sein, so wie es in dem Tango »Cuesta abajo« (Abwärts) heißt: »So schleppe ich den Schmerz umher, etwas gewesen zu sein, und die Scham, es nicht mehr zu sein.«

Der Peronismus franste in den 1960er und 1970er Jahren ideologisch in alle Richtungen aus, wurde von seinen verschiedenen Protagonisten mal sozialrevolutionär, mal kryptofaschistisch interpretiert. Einziger gemeinsamer Nenner blieb der Name des Parteigründers, ein typisches Kennzeichen der stark personalisierten politischen Gruppierungen in ganz Lateinamerika. Sie folgen selten einer festgeschriebenen Ideologie, sondern ordnen sich dem Charisma eines Anführers, eines Caudillo, unter.

So weit wie Carlos Menem in den 1990er Jahren hatte allerdings noch keiner den Peronismus ausgelegt, er erweiterte seine Bandbreite bis hin zum Neoliberalismus. Die mühsam erarbeiteten Ansätze einer Industrialisierung wurden dem Umbau des Landes zum Rohstofflieferanten geopfert. Ein waschechter Peronist blieb Menem nur in einem einzigen Aspekt: der Korruption. Kulturell nahm Argentinien in diesen Jahren vorläufig Abschied vom europäischen Erbe. Menem, einem Nachkommen syrischer Einwanderer, bedeutete Europa nicht viel. In den Vorstädten breitete sich ein US-amerikanischer Lebensstil aus mit Shopping-Malls, Golfplätzen und streng abgeschirmten Ghettos der Reichen.

Die Präsidenten des 19. Jahrhunderts hatten Argentinien nach europäischem Vorbild formen wollen, es sollte eine Art kultureller Brückenkopf der Alten Welt an den Gestaden der Neuen werde. Für die gewollte dynamische Entwicklung waren Einwanderer nötig. »Gobernar es poblar« (regieren heißt bevölkern) lautete der Leitspruch jener Zeit. Zwischen 1880 und 1930 folgten Hunderttausende Europäer dem Ruf. Letztlich erwies sich der ideelle Rückgriff auf das Zurückgelassene jedoch als Webfehler im argentinischen Staatsmodell, der die Herausbildung einer eigenständigen staatsbürgerlichen Vision verhinderte. Es fehlte Argentinien die gemeinschaftliche Identität, die integrative Kraft, um ein melting pot wie die USA zu werden. Die Gesellschaft zerfiel in Einwanderergruppen, die ihre mitgebrachte Identität pflegten, manche über Generationen hinweg. Sie zogen sich in Kolonien zurück, trugen ihre Trachten, sprachen ihre Sprachen. In den 1930er Jahren erschienen in Buenos Aires Hunderte Publikationen auf Italienisch, Ungarisch, Englisch Französisch, Litauisch, Russisch, Jiddisch. Erst im Laufe der Jahrzehnte löste sich der Bezug zur Herkunftsnation auf, ohne dass jedoch etwas Neues an seine Stelle getreten wäre – ausgenommen vielleicht die Begeisterung für den Fußball.

Wo Staatsbürgerlichkeit fehlte und die landsmannschaftliche Nostalgie verblasste, blieb die Familie als ordnendes Element – auch das letztlich ein Erbe der südeuropäischen Leitkultur und ein Zustand, den Argentinien mit vielen Einwanderernationen Lateinamerikas teilt. Nur innerhalb des Clans traut man einander, weshalb Führungspositionen in Wirtschaft und Staat gern vererbt werden.

Was die Familie in Argentinien bedeutet, spürte ich, der Fremde, wenn ich bei Bekannten eingeladen war. Weihnachten 1990 etwa verbrachte ich bei großer Hitze in der Badehose vor riesigen Fleischbergen am Grill im Garten einer Großfamilie im Vorort Adrogué. Eine solche Festmahlzeit wird dort Asado genannt. Ich war der einzige Gast, der mit keinem der Anwesenden verwandt war, und wurde mit freundlicher Skepsis beäugt. Man verstand nicht recht, wieso ich zum Fest nicht bei meiner eigenen Familie saß. Länger ins Ausland zu reisen und dazu noch allein wurde weder als anständig noch als geschmackvoll angesehen. Es kostete mich beim Hausherrn den letzten männlichen Respekt, als ich nach dem Asado den Frauen in der Küche beim Abwasch helfen wollte. Die Emanzipation war ebenfalls noch nicht angekommen in Argentiniens Mittelschicht, die geborgte Modernität und der US-Lebensstil blieben eine Fassade.

Die schwindende Macht der alten Eliten

Buenos Aires glich zu jener Zeit der Kulisse eines längst abgesetzten Theaterstücks. Architektonisch ist die Stadt das Ergebnis der Verschmelzung vieler Elemente der Alten Welt zu einer neuen, eine verwirrend bunten Vielfalt, die mit Hilfe wohlgesinnter – oder tückischer, man weiß es nicht – Winde zu einem Ganzen zusammengefügt worden ist. Die Viertel heißen Palermo, Versalles und Montserrat, die Fußballmannschaften Newell’s Old Boys oder River Plate. Im Zentrum stehen verglaste Bankpaläste, die Wolkenkratzer sein wollen, und graue Bürotürme im faschistoiden Stil der Perón-Jahre neben verschnörkelten Gründerzeithäusern, die einen Hauch von Paris oder Madrid verströmen. All das verkam zu einem riesigen Trödelladen verstaubter europäischer Andenken – wie ein Dachboden, den lange niemand aufgeräumt hat. Schmuckstücke, Bilder, Reminiszenzen, Kitsch, Souvenirs und Leckereien türmten sich hinter fleckigen Schaufenstern auf. Die zerschlissenen Ledergarnituren der Cafés, die aus Wien oder Warschau oder sonst woher mitgebrachten Art-déco-Lampen, die Grammophone in San Telmo, die bunten, aus Schiffsplanken zusammengenagelten Bretterbuden des alten Seefahrerviertels Caminito, der stinkende Hafen, die ständig kreisenden Ventilatoren: Alles wirkte rückwärts, nach Übersee gewandt und wurde nach und nach durch importierten Plastiktand ersetzt.

Ich arbeitete als Volontär beim Argentinischen Tageblatt, einem besonders stark angestaubten Relikt der Einwanderungsgeschichte. Die deutschsprachige Zeitung war 1889 von Schweizer Einwanderern gründet worden, um, wie es im Zeitungskopf hieß, »mit echtem Freisinn und unerschütterlicher Überzeugungstreue die Deutschsprechenden im Lande auf den Weg des Fortschritts und der Freiheitsliebe zu führen«. In der Redaktion hieben alte Männer auf mechanische Olivetti-Schreibmaschinen ein und übersetzten Meldungen der Nachrichtenagenturen ins Deutsche. Diese ratterten auf Endlospapier aus einer Telex-Maschine in einem verglasten Nebenraum. Eine Klimaanlage kühlte den Raum auf gefühlte 15 Grad herunter, was einen heftigen Kontrast zu der mörderischen Hitze in meinem Zimmer unter dem Dach des Verlagsgebäudes darstellte, das man mir gewissermaßen als Bezahlung überlassen hatte. Arge tinisches Tageblatt stand draußen an der Fassade, ein »n« fehlte.

Die Zeitung wurde geleitet von den Erben des Gründers, der Familie Alemann. Die Alemanns gehörten zur Einwandererelite Argentiniens. Sie hatten die Geschicke des Landes stets mitbestimmt, anfangs eine gewichtige Rolle in der Einwanderungspolitik gespielt und sich später der Wirtschaft zugewandt. In den 1930er Jahren hatten die Alemanns mutig Widerstand gegen die Infiltrationsversuche der Nazis in der deutschsprachigen Kolonie geleistet und ihr Blatt Journalisten und Schriftstellern geöffnet, die vor Hitler nach Argentinien geflohen waren.

»Sie können sich nicht vorstellen, was das für uns bedeutete, hier am anderen Ende der Welt eine Zeitung vorzufinden, die in unserem Sinne schrieb«, sagte mir Chefredakteur Peter Gorlinsky, damals schon weit in den Achtzigern. Er hatte Berlin 1933 als 18-Jähriger verlassen müssen und war in Lateinamerika mit zehn Mark in der Tasche von Bord eines Dampfers gestiegen, das war alles, was jüdische Auswanderer aus Deutschland mitnehmen durften. Er fing als junger Mann beim Tageblatt an und war mit der Zeitung alt geworden. Mit Leuten wie ihm ging die europäische Einwanderungsgeschichte Argentiniens vorerst zu Ende.

Die Leserschaft war spärlich, sie bestand aus den Nachkommen deutscher Emigranten, die die Zeitung aus Dankbarkeit und Tradition abonnierten, ohne sie richtig lesen zu können. Einzig die wirtschaftspolitischen Analysen des Herausgebers Roberto Alemann auf der letzten Seite hatten ihren festen Leserkreis in den deutschsprachigen Unternehmerkreisen von Buenos Aires. Er wurde von allen nur »Dr. Roberto« genannt, war ein freundlicher Endsechziger mit Glatze, vollendeten Umgangsformen und der hintergründigen, leisen, aber keinen Widerspruch duldenden Autorität eines Karrierediplomaten, der einer Familie entstammt, die das Führen gewohnt ist. Sein karges Büro atmete die Austerität, die seinem wirtschaftspolitischen Credo entsprach. Seine Analysen waren inhaltlich gewichtig, aber in einem schwer verständlichen Deutsch abgefasst. Belgrano-Deutsch nannte man den Jargon der vor allem im Stadtteil Belgrano siedelnden deutschen Einwanderer, die gern spanische Wörter eindeutschten, »kobrieren« sagten für »den Lohn kassieren« von Spanisch cobrar, »präpotent« statt »arrogant« und »Protestanten« statt Demonstranten.

Roberto und sein Bruder Juan Alemann galten im Land als ausgewiesene Finanzfachleute. Sie waren Minister der letzten Militärdiktatur gewesen. Ich fand das schockierend, erfuhr jedoch erst davon, als ich schon in Argentinien angekommen war, googeln konnte man 1990 ja noch nichts. Die Verwicklung der Alemanns in die Junta schien im krassen Widerspruch zur antifaschistischen Familientradition zu stehen, hatte jedoch ihre innere Logik, die ich erst nach und nach verstand und die mit den chaotischen Ereignissen Mitte der 1970er Jahre zu tun hatte.

1973 war Juan Domingo Perón triumphal in Begleitung seiner dritten Frau Isabel aus dem Exil nach Argentinien zurückgekehrt. Der 78-Jährige wurde von den Massen wie ein Heiland bejubelt und gewann die Präsidentenwahl. Der alternde Caudillo war jedoch stark nach rechts gerückt, dem linken Flügel seiner Partei wies er die Tür. Die peronistische Bewegung spaltete sich, die Rechte folgte dem Präsidenten, die Linken verschwanden im Untergrund, aus ihnen ging die Guerillabewegung der Montoneros hervor. Die Montoneros kämpften für ein sozialistisches Argentinien, für die endgültige Machtübernahme der »Hemdlosen«, Kuba war ihr Vorbild, ein Teil von ihnen war idealistisch, ein Teil gewaltbereit. Guerilleros stürmten Kasernen und erbeuteten Waffen.

,