Das Tarot

Schmutztitel

Fabienne Siegmund (Hrsg.)

© 2013 by Verlag Torsten Low,
Rössle-Ring 22, 86405 Meitingen/Erlingen
Alle Rechte vorbehalten.

Illustrationen:
Elke Brandt, Tatjana Kirsten, Chris Schlicht

Coverillustration: Tatjana Kirsten
Umschlaggestaltung: Chris Schlicht

Lektorat und Korrektorat:
Maria Blömeke

eBook-Produktion:
Cumedio Publishing Services - www.cumedio.de

ISBN (Buch) 978-3-940036-20-9
ISBN (mobi) 978-3-940036-92-6
ISBN (ePub) 978-3-940036-88-9

Inhalt

Vorwort

Anthologien wie diese beginnen immer mit einer vagen Idee, die einem zunächst noch still und leise, dann immer lauter im Kopf herum geistert – und irgendwann wird sie so laut, dass man sie schließlich jemandem erzählen muss.

Im Fall des Tarots kam dieser Moment am 10.12. 2011 in Speyer – und somit möchte ich der illustren Runde danken, mit der ich zu diesem Zeitpunkt zusammen saß – Diana Kinne, Veronika Bicker, Ann-Kathrin Karschnick, Susanne Bonn, Thilo Corzilius und Sven I. Hüsken – für Zuspruch und Zusage und einen unvergesslichen Tag.

Ebenso danken möchte ich meinen Agentinnen Julia Abrahams und Natalja Schmidt, die zum einen zu jenem wunderbaren Treffen in Speyer einluden und zudem mit einer kleinen Mail halfen, alle Karten zu verteilen.

 

Nun sollte das Verteilen der Karten nicht einfach willkürlich geschehen – schließlich geht es hier um die großen Arkana des Tarot – und so entschloss ich mich, den Autoren ihre Karten zuzulosen – etwas, das mir sehr viel Freude gemacht hat und mir oft ein Schmunzeln auf die Lippen legte, denn so manches Mal fand ich, dass Karte und Autor sehr gut zusammen passten.

Tanya Carpenter sagte dazu ein halbes Jahr später zu mir: »Na, wenn beim Tarot das Schicksal nicht seine Rolle spielt, wo denn dann?« und ich kann ihr hiermit nur Recht geben.

Und so machten sich im Januar 2012 die 22 Karten unter dem Motto »Schicksal sind die Karten, die uns das Leben gibt, Geschick ist das, was wir aus diesen Karten machen« auf den Weg zu ihren Autoren – im Fall von Oliver Plaschka führte das wohl zum makabersten Moment dieser Anthologie, als er ausgerechnet an einem Freitag, dem 13. den Tod aus seinem Briefkasten fischte.

Ihm gebührt genauso wie all den anderen Autoren, die sich auf das Abenteuer der Karten einließen, mein größter Dank – es war jedes Mal eine riesige Freude, die Geschichten im Postfach zu finden, sie zu lesen und zu sehen, auf welch unterschiedliche Art und Weise ein jeder mit seiner Karte umgegangen ist.

In manchen Geschichten ist es die Karte selbst, die eine Rolle spielt, in anderen nur ihre Bedeutung und in wieder anderen beides zugleich. Mal liegen die Karten offen, mal sind sie verdeckt.

 

Mara Laue danke ich für das Teilen ihres Wissens um die Karten, Elke Brandt, Tatjana Kirsten und Chris Schlicht für ihre wunderwunderwunderbaren Bilder, die den Geschichten – und damit den Karten – neues Leben einhauchten.

Abermals und immer wieder geht mein Dank auch meinen Verleger Torsten Low. Es ist mir stets Ehre und Vergnügen. Ich freue mich auf weitere Abenteuer zwischen Buchdeckeln.

 

Ihnen nun viel Spaß beim Aufdecken der Karten.

 

Fabienne Siegmund

Im Januar 2013

Der Tarot – Ein Instrument zwischen Psychologie, Ideologie und Mythos

»Tarot [ta’ro:; italien.-frz.] das oder der, dem Tarock ähnl. Kartenspiel, das zu spekulativen Deutungen verwendet wird.«

(Meyers großes Taschenlexikon in 26 Bänden;

Band 23, 9. Auflage, Mannheim 2003)

 

Herkunft

 

Entgegen dem, was manche tarotbegeisterte und vom Tarot überzeugte Menschen immer noch propagieren, ist seine genaue Herkunft nicht bekannt. Fakt ist, dass Spielkarten als solche erstmals im 14. Jahrhundert urkundlich erwähnt in Europa auftauchten. Der Dominikanermönch Johannes von Rheinfelden lieferte 1377 in einer Schrift »De moribus et disciplina humanae conversationis id est ludus cartularum« (kurz »Ludus cartularum moralisatus«) eine detaillierte Beschreibung der damals gebräuchlichen Spielkarten und Spielregeln. Vermutlich wollte er damit den immer häufiger verhängten Verboten des »Gebetbuch des Teufels« entgegenwirken, wie die Karten schon bald genannt wurden, da das Spiel mit ihnen angeblich den Charakter verdarb und die Menschen zur Sünde verleitete. Für Johannes von Rheinfelden stellten sie jedoch »eine Offenbarung« dar, die seiner Meinung nach »zur Verständigung und als Mittel zur Erklärung der Welt eingesetzt werden könnten«[1]. Möglicherweise legte er damit den/einen Grundstein zu ihrer späteren Nutzung als Orakel.

Kartenspiele als solche stammen nach bisherigem Stand der Kenntnisse aus China und kamen über Indien und Ägypten nach Europa. Woher der Tarot letztendlich ursprünglich stammt, ist bis heute nicht geklärt, obwohl es inzwischen eine Unmenge Behauptungen gibt, die teilweise auch mit Quellen belegt werden. Wie zuverlässig diese Quellen sind, sei dahingestellt. Die verbreitetste These nennt Ägypten als Ursprungsland. Da die Spielkarten als solche dort bereits bekannt waren, ehe sie nach Europa gelangten, ist das zumindest plausibel. Kartenspiele, die ihrer Beschreibung nach den divinatorischen Tarotdecks heutiger Tage ähneln (!), sind seit dem 15. Jahrhundert belegt.

Der Begriff Tarot entstand jedoch erst sehr viel später. Das Wort selbst ist definitiv französischen Ursprungs und bezeichnete zunächst nur den Namen eines normalen Kartenspiels (wie z. B. Skat, das man auch nicht übersetzen kann). Das gleiche Kartenspiel wurde im Deutschen Tarock genannt, im Italienischen Tarocchi. Deshalb wurden Tarock und Tarot zunächst synonym für dieselbe Art von Kartenspiel gebraucht. War der Tarot zunächst nur ein normales Kartenspiel, erlangte er ab Ende des 18. Jahrhunderts zunehmende Bedeutung als Wahrsageinstrument. Interessanterweise wurde er umso weniger als Spiel genutzt, je mehr er zum Orakel avancierte.

Der Rider-Waite-Tarot, dessen Deutungen den Geschichten dieses Buches vorangestellt sind, wurde im Jahr 1910 von Arthur Edward Waite geschaffen, einem Mitglied des esoterischen »Order of the Golden Dawn«. (Rider war der Verleger, der es publizierte.) Dieses Deck teilt sich wie fast alle modernen Tarotdecks auf in 22 »Große Arkana« (arcanum = Geheimnis) und 56 »Kleine Arkana«. Dieses Buch widmet sich ausschließlich den Großen Arkana. Während die Kleinen Arkana den Grundstock moderner Kartenspiele (mit den Farben Kreuz, Pik, Herz, Karo und Joker) bilden, blieben die Großen Arkana dem Orakel vorbehalten.

 

Psychologie

 

Ein Orakel sagt, entgegen weit verbreiteter Fehlannahmen, nicht die Zukunft voraus, sondern offenbart lediglich durch Interpretation seiner Symbole und freier Assoziation den eigenen inneren Gemütszustand bzw. macht dadurch die Dinge bewusst, die im Unterbewusstsein bereits vorhanden sind. Folgendes Orakelgebet verdeutlicht das:

 

»Ich gebe dir Orakel

aus deiner eigenen Weisheit.

Siehe mich an,

und erkenne dich selbst.

Ich bin das Orakel.

Du bist die Antwort.«[2]

 

Anders ausgedrückt: Der Anblick eines Kartenbildes löst eine emotionale und daraus folgende gedankliche Verknüpfungen aus, die dem Fragesteller helfen, die Antwort auf seine Frage zu finden bzw. die Erkenntnis zu gewinnen, nach der er sucht. Aus diesem Grund funktionieren auch keine Fragen, die etwas betreffen, auf das der Fragende keinen Einfluss hat oder deren Antwort er nicht wissen kann. So wird die Frage danach, ob jemand einen begehrten Job bekommen wird, nicht beantwortet werden können, da er die Entscheidung der Personalabteilung nicht beeinflussen kann. Die Frage, ob er diesen Job wirklich haben will und ob er glaubt, damit glücklich zu werden, kann dagegen zuverlässig beantwortet werden, da er diese Antwort in seinem Unterbewusstsein bereits kennt.

Einige durchaus seriöse Psychotherapeuten verwenden inzwischen Tarotkarten in ihren Therapiesitzungen, um ihren Patienten zu helfen, Zugang zu ihrem Unterbewusstsein zu finden. Bei denen, die auf Bilder ansprechen, funktioniert das sehr gut, auch wenn diese Art der Nutzung mit herkömmlichen Orakeln nichts oder nur sehr wenig zu tun hat.

Auf welche Weise kommt aber das Phänomen zustande, dass man immer die richtigen Karten zieht, die einem die gesuchte Antwort liefern, auch wenn man ihr Bild nicht sehen kann, weil die Karten verdeckt liegen? Lassen wir die Erklärung »Das ist Magie!« einmal beiseite, denn vieles, das uns »magisch« anmutet, ist nichts anderes als Psychologie. Ganz abgesehen davon, dass eine (!) Definition von Magie (im weitesten Sinn) »Kommunikation mit dem Göttlichen/Gott/ den Göttern« lautet.

Die rationale Erklärung heißt Intuition. Unsere Intuition sagt uns, welche Karte uns die Antwort liefert. Dieselbe Intuition zeigt uns auch, wo in einem Stapel verdeckt liegender Karten sich diese befindet. Andere sprechen von der Wirkung des »göttlichen Selbst«, was jedoch nur eine spirituelle Bezeichnung für die Intuition ist. Selbst wenn die Karte für einen Fragesteller von der Kartenlegerin/dem Kartenleger gezogen und ohne dessen Kenntnis vom Inhalt der Frage interpretiert werden, spielt die Intuition eine gewichtige Rolle.

Die echten Orakeldeuter/-innen – ganz gleich, welches Orakel ihr Metier ist – sind allesamt hervorragende Psychologen, die anhand nonverbaler Signale ihrer Klienten erkennen und erspüren, »wo der Schuh drückt«, wenn sie den Rat des Orakels suchen. Deshalb ist es für diese Profis nicht erforderlich, im Vorfeld zu erfahren, wonach der Ratsuchende fragt. Ihre Intuition in Verbindung mit ihrer Erfahrung sagt ihnen, welche Karten die richtigen für die gesuchte Antwort sind und welche ihrer möglichen Bedeutungen auf die Person zutreffen. Zusammen mit dem, was sie auf dieser Basis zu den Kartenbildern assoziieren, hat ihre Interpretation eine Trefferquote von ungefähr 80 bis 90 %.

Warum das so funktioniert, hat die Wissenschaft bisher noch nicht herausgefunden. Fakt ist: Es funktioniert. (Und wer »heilt«, hat sowieso recht.)

Kritiker dagegen behaupten, dass die bildhafte Darstellung der Karten so allgemein gehalten sei, dass man in jede nahezu alles hineininterpretieren könne und deshalb jede beliebige Karte als Antwort für jede beliebige Frage herhalten könne, besonders wenn demjenigen, der die Karten deutet, die Frage bekannt ist. Das stimmt jedoch nicht, wie jeder erkennen kann, der sich die Karten einmal anschaut und seinen Assoziationen dabei freien Lauf lässt.

Das zweite Geheimnis des Tarots ist, dass seine Bilder (ganz besonders die Großen Arkana) Archetypen darstellen, die jeder Mensch weltweit versteht. Mit einem Magier/Zauberer assoziieren wir alle jemanden, der »zaubern« kann, also okkultes Wissen besitzt, und zwar völlig unabhängig davon, zu welcher Kultur wir gehören. Ein Magier hat in Europa dieselbe Bedeutung (Varietékünstler ausgenommen), wie bei afrikanischen, asiatischen, uramerikanischen, indischen, australischen und arktischen Kulturen, auch wenn er dort jeweils einen andere Bezeichnung hat (z. B. Schamane, Boko, Mahutsukai, Gladrakarl, Drabarni usw.). Eine Herrscherfigur symbolisiert für jeden Menschen weltliche Macht, ein Hohepriester spirituelle Autorität, und die Liebenden sind rund um die Welt der Inbegriff der Liebe. Sogar der Teufel steht weltweit für einen, der es nicht gut mit den Menschen meint. Obwohl es Kulturen und Religionen gibt, in denen eine Figur des personifizierten Bösen nicht existiert, haben sie alle eine Gestalt oder eine Gruppe von Gestalten, die sie mit einer dem Teufel vergleichbaren negativen Macht assoziieren.

Deshalb funktioniert der Tarot zumindest in unserem Kulturkreis bei fast jedem Menschen. Vorausgesetzt, dass die Darstellungen auf den Karten den ursprünglich für den Tarot verwendeten Archetypen entsprechen. Denen gemäß symbolisieren die 22 Großen Arkana zusammengenommen in herkömmlichen Tarotdecks die Entwicklung eines Menschen – physisch und psychisch – vom Kind zum Erwachsenen bis hin zum Tod und der Existenz danach.

Der NARR ist das Kind, das seine Reise ins und durch das Leben beginnt. Der MAGIER verkörpert die sich mit zunehmendem Alter entwickelnde Verbindung von Bewusstsein und Unterbewusstsein. Die HOHEPRIESTERIN steht für die Intuition. Der HERRSCHER und die HERRSCHERIN symbolisieren die Eltern. Der HIEROPHANT (Hohepriester, Papst) ist der Lehrer in der Schule. Mit ihm endet die Kindheit und tritt der junge Mensch in die Phase der Jugend ein.

Die LIEBENDEN sprechen für die ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Der WAGEN symbolisiert die Erweiterung des Horizonts. Die GE-RECHTIGKEIT und die KRAFT sind auf dem Weg ins Leben erworbene wichtige Fähigkeiten. Der EREMIT kommt als Mentor oder väterlicher Freund und Ratgeber daher, kann aber auch für das Gewissen stehen. Das RAD DES SCHICKSALS symbolisiert die mannigfaltigen Wendepunkte, die das Leben bereithält. Der GEHÄNGTE steht für die schweren Prüfungen, die einem im Lauf des Lebens auferlegt werden und die es zu meistern gilt. Für den jungen Menschen beinhaltet das auch Abschlussprüfungen in Schule und Beruf. Hier endet die Jugend.

Der TOD ist die Initiation, der »Ritus des Übergangs« von Jugend zu Reife. Der Mensch ist erwachsen geworden, das Kind, der Jugendliche, der er war, ist »tot«. Verantwortung ist jetzt angesagt. Dazu gehört die MÄSSIGUNG, die Selbstbeherrschung. Verstand einsetzen statt wie bisher in jugendlichem Ungestüm gedankenlos drauflos zu stürmen und alle Fünfe gerade sein zu lassen. Der TEUFEL sitzt nicht nur im Detail, sondern ist auch die Versuchung und die Illusion, die mit der Zerstörung und dem Sturz vom TURM vernichtet bzw. geahndet wird. Dem folgt der STERN als Symbol für das innere Gleichgewicht und/oder gewonnene Erkenntnisse. Der MOND zeigt die innere Reise, die psychische Entwicklung im weiteren Verlauf des Lebens an, auf dem Weg zur Erleuchtung, die durch die SONNE dargestellt wird. Zum Schluss folgt am Ende des Lebens das Jüngste GERICHT – die Rückschau auf das gelebte Leben – und das Eingehen ins Jenseits, symbolisiert durch die WELT, wo der Mensch mit sich selbst, der Schöpfung und dem Göttlichen vereint wird.

Unabhängig von der Bedeutung in diesem Zusammenhang, hat jede Karte noch ihre eigene individuelle Aussage, die zu den einzelnen Geschichten erläutert wird.

 

Ideologische und mythologische Varianten

 

Mit der in der westlichen Hemisphäre ab ca. Mitte der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts immer populärer werdenden Esoterik in allen Varianten, wurde auch der Tarot von manchen Strömungen vereinnahmt und ideologisch umgedeutet. Manche Tarotbegeisterten entwickelten eigene Karten, die mit den herkömmlichen Decks kaum noch etwas gemeinsam haben. Außerdem kamen alle möglichen Varianten auf, die den Tarot mit Mythologien in Verbindung brachten, die ursprünglich nichts mit ihm zu tun hatten, u. a. Kelten, Druiden, nordische, japanische, chinesische Mythen, Drachen, Bäume, Pflanzen und alles mögliche andere.

Eine besonders gravierende Wandlung erfuhr er im Zuge des zeitweilig radikalen Feminismus’. Manche Künstlerinnen und Autorinnen einschlägiger Decks und Bücher merzten jeden Mann im Tarot aus und ersetzten ihn durch ein weibliches Pendant. Sogar Wagen, Tod, Turm, Mond und Stern wurden verwandelt in eine Wagenlenkerin, Todin, Turmwächterin, Mondin und Sternenfrau. Ebenso interpretierten sie auch die Bedeutungen der einzelnen Karten um. Bei einigen wurde der Herrscher zum autoritären und in der Erläuterung zur Karte frauenfeindlichen Unterdrücker-Patriarch, der Teufel dagegen zum alten Fruchtbarkeitsgott oder sogar zu einer Naturgöttin oder Befreier/in von der Unterdrückung und Symbol für weibliche Leidenschaft (»Wimin’s Moon Tarot«).[3]

Andere ließen durch den Tarot die alten Mythen der germanischen Götterwelt auferstehen (»Das germanische Götterorakel«) oder unternehmen in »Der Mythen-Tarot« eine »Reise durch die Welt der erotischen Sagen und Mythen«. Und der »Arcus Arcanum Tarot« hält sich zwar an die Archetypen, aber die verwendeten Bilder stammen aus der Feder des Zeichners der alten »Sigurd«-Comics von Hansrudi Wäscher und zeigen Sigurd und andere Figuren aus diesen Comics in die entsprechende Bedeutung der einzelnen Karten eingebunden. Der Fantasie waren und sind keine Grenzen gesetzt. Ganz modern: »Gothic Tarot of Vampires« aus dem Jahr 2003. Jedem das Seine.

Gegen solche Umdeutungen und Verwandlungen ist nichts einzuwenden, denn es gilt grundsätzlich das Prinzip der künstlerischen und dichterischen Freiheit und kann jeder sich seine eigenen Tarotkarten malen, seine eigene Deutungssysteme darum herum entwerfen. Da das Ziel des Tarots die Gewinnung von Erkenntnissen ist, ist es völlig unerheblich, mit welcher Methode oder in diesem Fall mit welchem Kartendeck dieses Ziel erreicht wird, ob mit einer ursprünglich »authentisch reinen Lehre« oder mit einer Fantasie-Ideologie, in der z. B. Druiden und Hexen fröhlich mit Hexagramm, Pentagramm (das kannten die Druiden überhaupt nicht) und Feenmythologie gemixt werden.

Problematisch wird es, wenn die Fantasiedarstellungen nicht mehr den Archetypen entsprechen. Dann verliert der Tarot seine Wirkung dahingehend, dass das verwendete Kartendeck nur noch bei »Eingeweihten« funktioniert, die mit der veränderten Symbolik vertraut sind und sie für sich übernommen haben.

Nehmen wir an, der Mond, der herkömmlich als Intuition und das Verborgene gedeutet wird, würde plötzlich als Symbol für Gefahr und Täuschung umgemünzt (z. B. beim »Tarot of the Witches«). Nehmen wir weiter an, ein Ratsuchender fragt das Orakel nach etwas, dessen Antwort sinngemäß lautet, er solle in sich hineinlauschen und seiner Intuition vertrauen. Aufgrund der allgemeingültigen Archetypen würde er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Mondkarte ziehen. Gerät er nun an jemanden, der ein Tarotdeck mit umgemünzter Symbolik benutzt, zieht er zwar die Mondkarte, erhält aber vom Orakeldeuter die Antwort, er befände sich in der Gefahr, einer (Selbst-) Täuschung zu unterliegen – was völlig falsch wäre.

Auch aus solchen ursprünglich gut gemeinten Neuschöpfungen und den damit einhergehenden Fehlinterpretationen erwuchs und erwächst der pauschale Vorwurf, »alle« Orakeldeuter wären Scharlatane.

 

Die Geschichten in diesem Buch, mit denen die Großen Arkana sich Ihnen vorstellen, folgen weitgehend der herkömmlichen Deutung nach den Archetypen. Die Deutung nach A. E. Waite ist jeder Story vorangestellt. Jedes Ding hat seine zwei Seiten, und so haben auch die einzelnen Tarotkarten jeweils eine positive und eine negative Bedeutung. Diese hängt davon ab, ob sie nach dem Ziehen/Auslegen aufrecht oder auf dem Kopf zu liegen kommen. Auf dem Kopf deutet auf die negativen Aspekte hin.

Da aber jede Karte individuell zu ihrem Betrachter, ihrer Betrachterin spricht und jedem eine eigene Geschichte zu erzählen hat, dürfen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, gespannt sein, zu welchen Geschichten die Tarotkarten die Autorinnen und Autoren dieses Buches inspiriert haben.

 

Viel Spaß beim Lesen!

 

Mara Laue lebt als freie Schriftstellerin und Künstlerin am Niederrhein. Ihre Hauptgenres sind Krimis, Science-Fiction-, Fantasy- und Gruselroman sowie Lyrik. Sie ist Mitglied der »Mörderischen Schwestern – Vereinigung deutschsprachiger Krimiautorinnen« und im »Syndikat – Autorengruppe deutschsprachige Kriminalliteratur«. Weitere Infos unter www.maralaue.de

Der Narr

0 – DER NARR

Er symbolisiert die Unschuld der Kindheit. Er ist unbefangen, neugierig, sorglos, spontan und leicht zu begeistern. Mit Enthusiasmus stürzt er sich ins Abenteuer, übersieht dabei aber oft die Gefahr, die er – Kind, das er ist – noch nicht einschätzen kann. Man sieht ihn als »Hansguckindie-Luft« am Abgrund wandeln und bangt, ob er nicht im nächsten Moment hineinstürzt. Der Narr spricht aus, was er denkt, ohne darüber nachzudenken. Im Mittelalter war der Hofnarr die einzige Person, die den Herrscher straflos kritisieren durfte, indem er die Kritik in einer Narrenposse verkleidet hat. Somit verkörpert der Narr auch die sprichwörtliche »Weisheit des Kindes«: Kindermund tut Wahrheit kund.

 

Fabienne Siegmund liebte schon von klein auf Geschichten und irgendwann begann sie, selber zur Architektin von Luftschlössern, Traumgebilden und anderen fantastischen Stoffen aus Buchstaben zu werden, die man hier und da in Büchern, Anthologien und Magazinen finden kann.

Gespiegelte Sterne

We have loved the stars too fondly to be fearful of the night.

John Alfred Brashear (1840- 1920)

 

Solitaire.

Der Name hing wie ein Schatten über dem verlassenen Jahrmarkt und färbte den klaren Nachthimmel noch ein Stück dunkler. Ein silberner Mond lächelte auf ihn hinab, wie er da reglos vor dem gusseisernen Tor stand, eine Hand schon auf der verrosteten Klinke.

 

Warum drückte er sie nicht hinunter? Warum trat er nicht unter dem Bogen hindurch, der sich wie ein in Schatten getauchter Regenbogen über das Tor spann?

Es würde nichts geschehen. Es geschah doch nie etwas, und doch stets alles auf einmal.

 

Solitaire.

Die Luft roch noch nach ihr, wie sie manchmal nach Nebel riecht, den man schon nicht mehr sieht. Kein Stern stand am Himmel. Vielleicht hatte sie sie alle vom Himmel gepflückt, vielleicht war ihre Suche von Erfolg gekrönt gewesen, am Ende. Ohne ihn, der ihr blindlings hinterher gestolpert war, ein Blinder, der der Blinden gefolgt war.

Solitaire hatte nichts gesehen. Ihr Blick war stets in den Himmel gerichtet gewesen, und er hatte ihr Ziel nie in Frage gestellt, obwohl er alle Antworten gewusst hatte.

Er hatte sie in ihren Augen gesehen.

Und in seinem Herzen gespürt, als wäre sein Herz der Spiegel ihrer Augen gewesen.

Der Gedanke an den Spiegel ließ ihn schmunzeln.

Er war ein Spiegel, und er sah sich selbst nur in anderen Spiegeln.

 

Seine Hand drückte die Klinke herunter und er betrat den dunklen Jahrmarkt, wo die Karussells und das Riesenrad nicht mehr als schwarze Konturen vor dunkelblauem Grund waren und die Buden ihm ihre leeren Auslagen wie hungrige Mäuler, die gefüttert werden wollten, entgegenstreckten.

Er würde ihnen nichts geben können. Nichts sonst trug er mehr bei sich, nur jene eine mondsilberglänzende Münze, und die war für etwas anderes bestimmt. Früher, früher hatte er den Regen mit seinen Tränen gefüttert und nicht einmal bemerkt, dass er weinte.

Früher war Solitaire bei ihm gewesen.

Solitaire, die Kreidesterne auf den Asphalt malte, um den Himmel auf die Erde zu holen.

Solitaire, die stets nur dem einen Traum, dem einen Ziel gefolgt war.

Einen Stern zu fangen.

Und er? Er war mit ihr gegangen.

 

Die Schritte, die er jetzt machte, ging er allein.

Er passierte das alte Kettenkarussell, das Solitaire in den Himmel getragen hatte, damals, Nacht für Nacht, damit sie die Hände nach den Sternen ausstrecken konnte. Zwischen den Ketten hörte er ihr Lachen, als hätte es sich darin verfangen.

Die Tränen hörte er nicht. Aber auf ihrer Reise, da hatte er sie gehört.

In der Dunkelheit, wenn sie neben ihm gelegen und gedacht hatte, er würde schlafen.

Aufgefangen hatte er jeden Tränentropfen, und ihr gezeigt, in der Frühe, wenn das Licht zurückgekehrt war.

Aber Solitaire hatte sie nur weggelacht, war aufgesprungen, und in ihren grünen Augen hatten goldene Punkte geleuchtet, als wären ihre Iriden eine grüne Nacht voller Sterne.

Und sie hatten weiter gesucht.

Nach dem Stern.

Eine Suche nach dem Regenbogen war es gewesen, und keiner von ihnen hatte bemerkt, dass sie nur den Regen fanden, der auf sie herabfiel - denn selbst aus hoffnungsblauverfärbten Himmeln konnte es regnen.

Einzig, sie hatten die Tropfen genauso wenig beachtet wie die Tränen in ihren Augen. Er hatte sie weggelacht, und sie ebenso, denn er war ein Spiegel, der sich nur in ihr gespiegelt hatte.

 

Seine Schritte führten ihn weiter, zu der Bude, an der man einst für eine Münze drei sich an der Rückwand drehende Teller hatte mit einem Ball zerbrechen müssen, um zu gewinnen. Solitaire hatte damals drei Bälle von dem alten Mann gekauft.

»Wenn alle drei Treffer sind, dann gehen wir«, hatte sie gelacht und den ersten Ball geworfen. Der Mond hatte ihr schwarz glänzendes Haar in silbernes Licht getaucht und für einen Moment weiß gefärbt, wie ein Bild von Zukunft.

Sie hatte drei Teller zerbrochen. Sie waren frei gewesen und ihr Lachen teilte die Nacht wie einen Vorhang, der aufging.

 

Er lächelte, obwohl er wusste, dass er hätte weinen sollen, doch er hatte vergessen, wie das ging.

Solitaire.

Sie hatte ihn über Abgründe geführt, er war nicht gefallen.

Und war er gefallen, so hatte er weder Fall noch Aufprall gespürt.

Sorgen waren stets nur eine Lüge gewesen, die die Wahrheit ihrer Suche verborgen hatte.

Ein Stern.

Ein Stern, nichts weiter, weil die Kreidesterne am Asphalthimmel nicht mehr ausgereicht hatten, obwohl sie einst genug gewesen waren.

 

Da war das Zelt, in dem sie einst getanzt hatten, auf dem Rabenball, auf dem alles begonnen hatte. Seiltänzer waren über ihre Köpfe balanciert und Artisten hatten sich von Trapez zu Trapez geschwungen.

Solitaire hatte ein Kleid aus Dunkelheit, Schatten und Rabenfederschillern getragen und die Nacht war um sie geflattert.

Er war in ihre Nacht hineingetaumelt, wie eine Motte, die das Licht gesehen hat.

Sein Lachen verwandelte sich in ein Grinsen, als er die Schatten sah, die im Licht des Mondes auch heute noch tanzten, zu einem Lied, das ihm auf den Lippen lag, ein Lied, das er nie hatte vergessen können.

Nach Freude hatte es geklungen, von der Sehnsucht gesprochen und das Glück verheißen.

Und sein Herz hatte den Rhythmus dazu geschlagen.

Dummdummdummdumm.

 

Einen Namen hatte er damals noch gehabt, aber er war in seinen Erinnerungen längst verblasst, denn heute war er niemand und jedermann zugleich, hielt jedem, der in seine Augen sah, einen Spiegel aus Worten und Taten vor, den keiner sehen wollte.

 

Zu jener Zeit, als der Jahrmarkt noch voll von tanzenden Lichtern und Lachen gewesen war, hatte sich nur Solitaire in ihm gespiegelt und er sich in ihr.

Wie sie hatte er die Sterne gesehen und sich nach ihnen gesehnt.

Doch am Ende waren die Sterne nur fallende Blätter gewesen, die der Wind im Herbst von den Bäumen geweht hatte und ihre Versprechen waren zerfallen wie die Nacht in jeder Abenddämmerung den Tag zerbrach.

 

Als er weiterging, lief er auf die kleine Manege zu, in der einmal am Tag ein Clown mit Seifenblasen getanzt hatte.

Eine jede von ihnen war zerplatzt, irgendwann, nach einem kurzen Moment regenbogenbunten Schillerns.

Der Clown hatte sie mit einem zu einem Lachen geschminkten Gesicht beweint, als wären sie Träume gewesen.

Er hatte seine Träume niemals beweint.

Hatte stets nur mit Solitaire gelacht und nach Sternen gesucht.

Dass die Flügel seiner eigenen Sehnsucht zerbrochen waren, hatte er schlichtweg übersehen.

Und es machte doch auch nichts, oder? Weil am Ende nichts etwas machte.

 

Aber er war hier.

Weil er einen neuen Versuch wagen wollte, ein neues Leben.

Er ging weiter, und dann stand er vor dem kleinen Kasten aus Glas, der einst von blinkenden Glühbirnen eingerahmt gewesen war wie ein Gemälde.

Der Automat, der die Zukunft versprach.

Der Wissen verhieß.

Und doch nur Karten ausspuckte.

 

Solitaire hatte ihn hierher gezogen, nachdem die Scherben der zerbrochenen Teller sie befreit hatten.

»Lass uns nach dem Weg fragen.«

Gelacht hatte sie bei diesen Worten, doch in ihren Augen war der Glaube gewesen, dass es mehr als ein Spiel, mehr als ein Scherz war.

Für ihn war es nur das gewesen, und jeder von ihnen hatte eine Münze in den Automaten geworfen.

Mondsilberglänzend.

 

Ihr hatte der Automat den Stern gegeben, und natürlich war das in ihren Augen ein Zeichen gewesen. Ein glücklicher Wink.

Dann war er an der Reihe gewesen.

Hatte die Münze in den Schlitz gesteckt, seine Karte gezogen und sie betrachtet.

Lange und eindringlich.

Hatte versucht, wie Solitaire ein Zeichen darin zu sehen, doch da war nichts gewesen außer einer geflüsterten Warnung.

Er hatte sie in den Wind geschlagen.

Nicht geglaubt, dass die Karten mehr als Papier waren.

Auch heute glaubte er es noch nicht.

Und doch war er hier.

Weil Solitaire fort war.

 

Der alte Automat stand vor ihm.

Die Glasscheibe, hinter der die Puppe saß, die als Wahrsager mit sternenbesetzter Mütze und Kristallkugel in der Hand dargestellt war, war mit Rissen übersät und ließ das angemalte Porzellangesicht dahinter aussehen, als wäre es von Spinnweben überzogen, aber es war nur die Farbe, die abblätterte.

 

Die Scheibe spiegelte auch sein Gesicht, zerriss es in Abermillionen kleine Stücke, und niemand war da, um ihn zusammenzufügen wie ein Puzzle.

Er war allein, doch mit Solitaire war er einsam gewesen.

All die Jahre hatte er es gewusst, aber wie über all die anderen Dinge hinweggeschaut.

Auch jetzt sah er nicht hin, obwohl er alles genau sah.

 

Solitaire war es, die damals gegangen war.

Einfach so, ohne ein Wort, während er in den Himmel geschaut hatte, um Krähen zu zählen, eine für die Sorge, zwei für die Freude und weiter.

Sieben waren es gewesen, er wusste es noch, und sieben standen für Geheimnisse, die niemals gelöst werden.

Die Krähen hatten gekrächzt, und als er sich nach Solitaire umgeschaut hatte, war sie schon fort gewesen, eine graue Gestalt am Horizont, denn von ihrem Kleid aus Dunkelheit, Schatten und Rabenfederglanz war längst jeder Zauber abgefallen.

Sie hatte nichts mehr, außer dem einen Traum, und er, er hatte noch weniger.

 

Seine Hand holte die Münze aus der Tasche seiner viel zu bunten Hose hervor. Immer trug er Dinge, die zu bunt, zu grell, zu fröhlich waren.

Er war voll von Farben, die in den Augen des Betrachters starben.

 

Die mondsilberglänzende Münze verschwand im Schlitz des Automaten, wie es eine andere schon vor so vielen Jahren getan hatte.

Er würde eine neue Karte ziehen. Ein neues Leben.

Die Münze fiel klirrend in den Auffangbehälter, traf dort auf andere.

Der Automat ratterte.

Mechanisch ruckelnd bewegte sich die Puppe. Schlug die Augen auf.

Blassblaue Glasaugen sahen ihn, aber er beachtete den Blick nicht, der ihn scheinbar traurig musterte. Er sah nur zu der Öffnung, aus der die Karten kamen.

 

Eine Karte erschien.

Umgedreht, so dass erst seine Hand sie aufdecken würde.

So wie früher.

 

Er drehte sie.

Betrachtete das vertraute Bild.

Lachte.

Lachte laut und lang.

Hörte abermals das geflüsterte Wort, das ihm den Namen stahl und ihn gleichzeitig benannte, das Wort, das die Karte war, so wie er nicht mehr als ein Spiegel war, der sich in anderen Spiegeln reflektierte.

 

Narr.

 

Er drehte sich um, wieder das Lied von Fröhlichkeit, Sehnsucht und Glück auf den Lippen.

Wie von selbst trugen seine Schritte ihn weiter, auf Abgründe zu, die er nicht sehen würde, hin zu Stürzen, die er nicht spüren würde und vielleicht zu einem neuen Traum, in dem es noch Sterne gab, die Solitaire ihm nicht gestohlen hatte, Sterne, die nicht zu Irrlichtern werden würden.

 

Unter seinen Füßen wirbelte Kreidestaub auf, der einst einen Himmel gemalt hatte. Er sah die Sterne auf dem Asphalt nicht und wusste doch, dass sie da waren.

Der Magier

 

1 – DER MAGIER

Um Magie zu wirken, bedarf es großer Geschicklichkeit, einer gesunden Portion Selbstvertrauens, vor allem aber eines profunden Wissens um die »magischen« Zusammenhänge der Dinge. Der Magier verbindet das Bewusstsein mit dem Unterbewusstsein. Er symbolisiert die Kraft des Geistes. Gleichzeitig warnt er aber auch vor dem Missbrauch des Wissens und übertriebenen Selbstbewusstseins, das zu Schmerz und Verlust führen kann.

 

Thilo Corzilius lebt in Münster und sammelt dort kuriose Hobbys, wie zum Beispiel eine Leidenschaft für Regenwetter. Außerdem schreibt er für sein Leben gern Songs und Gedichte und phantastische Romane.

Er

Das Einzige, was am Ende unwiderruflich und unverrückbar feststand war, dass Er der Letzte war.

Der Letzte.

Es war eine interessante Welle von Gefühlen gewesen, die Ihn überkommen hatte, als Er diesen Gedanken das erste Mal auf diese Weise formuliert hatte – als Ihm zum ersten Mal wirklich die Bedeutung dessen bewusst geworden war.

Weder heiß noch kalt waren diese Gefühle gewesen. Sie waren ebenso frei von jeder Euphorie, wie von allem vernichtenden Hass.

Im Grunde war es ja der Moment gewesen, auf den Er eine für Menschen nahezu unermessliche Zeit lang hingearbeitet hatte. Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte. Das Ergebnis unvorstellbarer Mühen und einer grotesken Menge an Kreativität.

Doch die Euphorie war es, die ausgeblieben war. Jene überschwängliche, funkelnde Freude. Jenes verheißende Glücksgefühl. Es wollte sich einfach nicht einstellen. Keine Fanfaren in Seinem Verstand, keine roten Teppiche, keine goldenen Bilderrahmen für die Welt Seiner Gedanken. Kein Feuerwerk, kein Rausch der Sinne.

Nichts.

Nein, »Nichts« war möglicherweise der falsche Ausdruck, denn es war keine Leere, die Ihn erfüllte. Es war eher als sei Sein Geist wie ein undichtes Gefäß: Man konnte noch so viel hineinfüllen, es füllte sich zwar stetig, wurde jedoch niemals voll.

Konnte man einem Gefäß denn abgewöhnen, voll zu werden?

War Er derart stumpf geworden im Laufe der vergangenen Jahrhunderte?

Er besann sich zurück, wie Er angefangen hatte und die Bilder kamen in Ihm empor:

 

Er erinnerte sich an eine ärmliche Klosterschule, von Schatten und Schneegestöber umtost. Die freundlichen Brüder dort hatten Ihn aufgenommen, Ihn gefüttert und hochgepäppelt. Alles was diese Männer an Liebe hatten erübrigen können, hatten sie ihm gewährt. Später, als er alt genug geworden war, hatten sie Ihn das Lesen und das Schreiben gelehrt.

Er erinnerte sich an die Bibliothek, jenen Raum, der mit Wissen förmlich vollgestopft gewesen war. Langsam hatte Er die mit Aufzeichnungen gefüllten Regale für sich entdeckt, hatte lange Abende im Sommer wie im Winter hier zugebracht. Beinahe alles hatte Er studiert, beinahe jeden Fetzen an Wissen, mit dem der Raum bis unter die Decke angefüllt gewesen war. Das Erlaubte hatte Ihn damals interessiert ... viel mehr jedoch noch das Verbotene.

Er erinnerte sich an die erste Liebe – güldenes Haar und ein Lächeln, das eine Welt aus eisigen Gletschern hätte schmelzen lassen können, wenn es so bestimmt gewesen wäre. Wie Er jeden Schritt angebetet hatte, den diese junge Frau getan hatte. So viel Schönheit, wie sie nur für Ihn geschaffen worden sein konnte. Doch ebenso schnell wie die erste Liebe, war die erste Enttäuschung dahergekommen, als sich herausstellte, dass sie sich selbst einem Anderen versprochen hatte.

Er erinnerte sich an den ersten Racheschwur, den Er just in diesen Tagen ausgesprochen hatte.

Er erinnerte sich an die Entdeckung des geheimen Wissens – an die Entdeckung der Magie.

Er erinnerte sich an die ersten Formeln, die Er behutsam vor sich ausgesprochen hatte. Zaghaft hatte Er erste Versuche des Runenzeichnens im Sand gemacht. Das Meer hinter dem Strand hatte Ihm Kraft verliehen. Das Rauschen der Wellen hatte die Ströme der Energie in Ihm gestärkt. Die unendliche Weite des Ozeans waren Ruhe für die Unendlichkeit Seines eigenen Geistes gewesen. Und über allem stand seit jeher der Hass, jene nie versiegende Quelle, aus der Er Kraft schöpfte – der Hass stachelte Ihn an, machte Ihn unverwundbar, ja gar unantastbar.

Er erinnerte sich an die Vielzahl der Tiere – die Krähen, die Tauben, die Ratten. Sie hatten Ihm für so viele weitere und grausame Versuche herhalten müssen. Mit Wonne hatte Er halbierte Kröten allein mittels Seiner Magie am Leben gehalten, während die Tiere vor Qual geschrien hatten. Ganze Schafsherden hatte Er mit einigen wenigen Worten der richtigen Formeln ausgelöscht, am Schlag sterben lassen. Sein Feuer hatte so viele streunende Katzen heimgesucht. So herrlich viel Blut hatte Er vergossen, allein, weil Er die Macht dazu besessen hatte.

Er erinnerte sich daran, wie die Brüder des Klosters Ihn eines Tages zur Rede gestellt hatten. Sie hatten es nicht gutheißen können, was Er allein zu tun vermochte, hatten Ihn gar zu hindern versucht. Doch was hatten sie Ihm schon entgegenzusetzen vermocht? Begeistert hatte Er die Brüder also dahingeschlachtet, hatte vielen von Ihnen Qualen bereitet, die über Tage, manche gar über Wochen anhielten. Kreativ war Er schon immer gewesen, das hatten die Brüder Ihm stets lobend und voller Stolz bescheinigt – nun zahlte sich all jene Kreativität aus. Für jeden Bruder hatte er sich eine andere Art des Sterbens ausgedacht. Welch famoses Werk der Machtdemonstration. Und nachdem Seine Arbeit getan war, hatte Er nichts als ein verbranntes Stück Land zurückgelassen, wo einst ein Kloster gestanden hatte.

Er erinnerte sich, wie Er bald darauf in die große Stadt gekommen war. Wie Er all die Gebäude bestaunt hatte. Die Kathedralen und Paläste. Das viele Kunsthandwerk.

Er erinnerte sich, wie Er Seine Kunst vorgeführt hatte und dafür gefangen genommen worden war – von Männern, die mächtiger, stärker und schneller gewesen waren als die Brüder im Kloster.

Gepeinigt, weggesperrt hatte man Ihn.

Er erinnerte sich, wie ein einzelner Mann Ihn aus Wochen der Kerkerhaft befreit hatte und Ihn in die Akademie entführt hatte. Dort hatte Er so viele Gleichgesinnte getroffen – zumindest hatte es zunächst so gewirkt. Doch sie hatten lediglich dasselbe Talent, nicht jedoch den starken Willen besessen, der Ihm eigen war.

Er erinnerte sich an die zweite, größere Bibliothek, ein Palast des Wissens, nur dem Wissen selbst zur Huldigung erbaut. Bücher, die in ihren Regalen Säulen bildeten, als wollten sie den Himmel damit stützen. All das Wissen. All die Worte der Macht. Wie viele Wochen und Monate Er dort zugebracht und studiert hatte, um Seinen Wissensschatz beinahe ins Unermessliche getrieben.

Er erinnerte sich an die zweite Liebe – dunkles Haar, schwarz wie das Gefieder der Raben und ein geheimnisvolles, begehrenswertes Lächeln, das die Lippen umspielte.

Und Er erinnerte sich auch an die zweite Schmähung, wie sie es gewagt hatte, Ihm ins Angesicht zu sagen, dass Seine Fantasien pervers und grausam seien. Machtgier sei für die geistig Armen, hatte sie gesagt. Und so kam es zu Seiner zweiten Rache – blutig und grausam. Die Perfektion der Kunst, jemanden lange, lange leiden zu lassen. Es war Ihm erstaunlich vorgekommen, wie viele Gliedmaßen und Organe ein Mensch unter langer Folter einzubüßen vermochte und immer noch zu leben und atmen imstande war.

Er erinnerte sich daran, wie Er schließlich den Abschluss an der Akademie gemacht hatte und Sein Leben offiziell in den Dienst der Forschung gegeben hatte. Doch hatte Er selbstverständlich ein zweites, geheimes Leben abseits aller Öffentlichkeit geführt.

Er erinnerte sich an die Habilitation und daran, wie Er für den Posten des Dekans kandidiert hatte.

Und Er erinnerte sich an den damaligen tatsächlichen Dekan, der Ihn seine Stelle nicht hatte übernehmen lassen wollen. Der arme Tropf ...

Wehmütig dachte Er an all die Hochgefühle zurück, die jeder seiner Triumphe Ihm fortan beschert hatte. Hatte Er die Magieschaffenden doch zur Herrschaft über das Menschengeschlecht aufgefordert und sie zur Ausübung ihrer Macht aufgerufen. Wie sie sich die Erde Untertan gemacht hatten in kürzester Zeit. Und schließlich hatte Er Zwietracht und Neid unter ihnen gesät. Und diejenigen, die sich nicht gegenseitig umgebracht hatten oder Ihm zum Opfer gefallen waren, versteckten sich fortan gut vor dem Antlitz der Menschheit.

Er war es gewesen, der sich zum obersten Herrscher aufgeschwungen hatte. Er allein.

Ein Mann an der Spitze einer ganzen Welt.

 

Doch hatte Ihn keine Befriedigung erfüllt.

Die Politik war Ihm schon bald zuwider gewesen, Seine Berater unfähig.

Und so hatte Er die Politik der Menschenreiche wieder sich selbst überlassen und hatte sich damit begnügt, von nun an die Systeme zu seinen Gunsten zurechtzubiegen.

Er hatte Häuser besessen. Villen. Paläste.

Er hatte die schönsten und teuersten Kleider sein Eigen genannt, nie zweimal dasselbe getragen. Die edelsten und seltensten Speisen hatte Er servieren lassen und ausschließlich die erlesensten Getränke. Orchester und Chöre von Hunderten hatten Sein Anwesen beschallt und die Luft war geschwängert gewesen vom wohlriechendsten Räucherwerk der Welt. Die schönsten Frauen hatten Seine Hallen bevölkert und Ihm sinnliche Freuden bereitet, wann immer Ihm danach gewesen war.

Doch all dies war Ihm nicht genug gewesen und der Überdruss war stets auf dem Fuße gefolgt.

So war Er gereist. In die fernsten Länder und zu den sagenhaftesten Orten. Er hatte die Nordlichter gesehen und die dunstigen Wälder des Südens. Er hatte die trockenen Ebenen um das Salzmeer gerochen und war auf das Dach der Welt gestiegen.

Doch nichts mehr hatte Sein Herz berührt.

Schließlich hatte Er die Verbliebenen gejagt. Er wollte der Einzige sein, der sich der magischen Kunst zu bedienen vermochte.

Und so hatte Er sie aufgetrieben. Einen nach dem anderen. Eine gefühlte Ewigkeit der Suche ... bis an die Enden der Welt.

 

Viel Zeit war seitdem vergangen und Er verfolgte nebenbei mit Interesse die Ambitionen der Menschen, sich ihr eigenes magisches Reich zu schaffen. Sie bauten Häuser aus Stahl, mit spiegelnden Fassaden, höher als in jedem Märchenbuch der Welt beschrieben. Sie flogen mit Maschinen durch die Luft und ließen sich von anderen Maschinen durch die Gegend fahren. Sie waren faul geworden. Aber sie waren auch faszinierend geworden. Nicht mehr nur ging es dem einfachen Volk ums Überleben und die Ernährung der nächsten Angehörigen. Nein, das Volk war genusssüchtig geworden. Immer neue Spielereien vereinnahmten die Menschen.

Und langsam überlegte Er, ob dies noch die Welt war, die Er einst kennengelernt hatte. Wandelte Er immer noch auf demselben Boden, der Ihn auch vor hunderten von Jahren getragen hatte? Wo waren der Zauber, die Götter, das Abendrot? Wo war der Schleier zwischen den Welten, hinter den man in manchen Nächten hatte schauen können, wenn man nur lang genug dorthin geblickt hatte, wo ein Fluss ins Meer mündete.

Ach ja, das Meer, sein Rauschen, seine unendliche Weite ...

 

Sein Gegenüber sagte, sein Name wäre Cormac.

Ein schöner junger Mann. Blondes, halblanges Haar, wehte ihm um die Stirn. Hier im Park haschten noch einige laue Brisen nach sich selbst und die Vögel bewachten ihre Nester eifrig vor dem drohenden Unwetter. Leichter Regen setzte ein.