Alle wollen immer glücklich sein. Aber was ist das eigentlich, das Glück? Und wer war schon dauerhaft glücklich? Was ist dieses Leben, diese Reihe von so unterschiedlichen Augenblicken, die manchmal wirken, als hätte irgendein Gott zu seinem Vergnügen gewürfelt? Elke Heidenreich erzählt von sich, von Freunden und Feinden, von Liebe und Streit, von Begegnungen und Trennungen, von Müttern und Kindern, von Tieren, Büchern – und damit von uns allen. Sie zeigt in kurzen Geschichten, traurigen und komischen Szenen, all die unglaublichen und unvergesslichen Situationen, in denen jeder sich wiedererkennt – und die dann beim Lesen zusammenwachsen zu einem einzigen Roman jedes unwiederholbaren Lebens.

 

Hanser E-Book

 

Elke Heidenreich

 

Alles kein Zufall

 

KURZE GESCHICHTEN

 

 

Carl Hanser Verlag

 

ISBN 978-3-446-25199-1

© 2016 Carl Hanser Verlag München

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung von Lurchi

Satz: Satz für Satz, Wangen im Allgäu

 

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

 

Wenn eine Leidenschaft nachzulassen beginnt, ist es wichtig, sich sofort eine andere zu schaffen, denn die ganze Kunst, das Leben erträglich zu machen, besteht darin, sich an allem ein Interesse zu bewahren.

SUSAN SONTAG

 

 

INHALT

 

Friss, Vogel

 

Allein

Aushalten

 

Bahnhof

Balkon

Bankpost

Bill Haley

Blumen

Borsentranen

Briefe

Brieftrager

Bruder I

Bruder II

Buddhist

 

Chakra

Champagner

Corleone

 

Dallas

Demo

Desaster

Diebstahl

Don Juan

Drogen

 

Elienne

Englisch

Entdeckung

Entsetzen

Erben

Ernte

Erzahlen

Exotisch

Fenster

Fernreiki

Festlich

Ford

Frage

Freaks

Freund

Freundin

Fruhstuck

 

Geht doch

Gesichter

Gesprache

Gluck

Godot I

Godot II

Gold

Gott

Grosmutter

 

Haie

Handy

Haus

Heiligabend

Herzlos

Hoffnung

Holland

Hotel I 71

Hotel II

Hund

 

Irre

Isabel

It’s All Over

 

Kind

Kindergarten

Klangkorperbewegung

Klauen

Koffer

Kommunismus

Konzert

Krahe

Kussen

 

Lackschuhe

Lampions

Lebensretterin

Leon

Lesen

Lifta

Lottogewinn

Luge

Lulu

Luparetta

Lurchi

 

Mamma

Manner

Marotten

Martin Rutter

Martin

Maus

Mitte

Mops

Moral

Moskau

Musil

Mythen

 

Nachbarn

Nachts

Nachtschattengewachse

Navigiertes Gesprach

Nebenverdienst

Nie und Nimmermehr

Nietzsche

Notizbuch

Nurejew

 

Ohrfeigenkuss

Oktoberfest

Onkel Hans

Opern und Ohrfeigen

Osten

 

Parsifal

Passion

Paula

Pech

Perlen

Photos

Poesie

Politiker

Post

Probefahrt

Puschel

Putzfrauen

 

Radfahrer

Rauchen I

Rauchen II

Reigen

Reisegesicht

Rheinreise

Ring

Risse

Rollschuhe

Rosen I

Rosen II

 

Sargdeckel

Scala

Schminken

Schnarchen

Schnee

Schonheit

Sehen

Sehnse

Serienfinne

Shanghai

Silvester

Sophokles

Speicher

Spielen

Stall

Steffi

Steuerprufung

Student

Studentenmenu

Stur

Suizid

 

Tagebuch

Tages-Du

Tante

Telefon

Tisch

Touristengluck

Traum

Treffen

Trockenfutter

Tunnel

 

Vater

Versicherung

Verstand

Vogel

Vorsichtiger

 

Wagner

Wahrheit

Weihnachten

Weist du noch

Weiteratmen

Wert

Whisky

Wichtig I

Wichtig II

Wildganse

Wirtshausgeschichte

Wissen

Wohnwagen

Wunder

Wunderkinder

Wunsche

Wunschkind

 

Yannick

Zettel

Zu Unrecht

Zufall

Alles kein Zufall

 

 

FRISS, VOGEL

 

Die Urgroßmutter sah streng über ihre Brille und sagte: Friss, Vogel, oder stirb! In der Erinnerung an sie gibt es nur diesen einen Satz. Diesen Satz und ein dickes, sepiafarbenes Pappfoto, das sie als alte Frau zeigt, mit straffem, weißem Haar und kleinen, harten Augen. Sie sah aus wie ein General, der Widerspruch nicht duldet. Nur drei ihrer acht Kinder blieben am Leben: Lina, Moritz und Albert, mein Großvater.

Friss, Vogel, oder stirb! Um Zartes, Krankes konnte sich die Urgroßmutter nicht kümmern. Die Arbeit auf dem Feld war schwer, der Mann, ein jähzorniger Westerwälder Bauer, war früh gestorben an einer Blutvergiftung: Im Zorn hatte er sich einen Zeh abgehackt, als der neue Sonntagsschuh zum Kirchgang nicht passen wollte. Zwölf Jahre alt war Albert, der Älteste, und musste mithelfen, die Familie zu ernähren. Man war arm, es gab oft Schläge von der Mutter, Zärtlichkeit und Liebe kannte er nicht, und die konnte er auch selber nicht geben, als er später als Schweißer zu Krupp nach Essen ging. Er heiratete Gertrud, eine schmale, gottesfürchtige Frau, meine Großmutter, die heimlich Gedichte schrieb und die er schlug, wenn er dahinterkam. Sie schrieb mit zierlicher Schrift in ein Poesiealbum, und Albert grölte die Verse durch die dunkle, kleine Wohnung, denn wenn er getrunken hatte, konnte er singen:

 

Die zarteste, zugleich die reinste Blüthe,

die Leben spendend aus dem Herzen schwillt,

das ist die wahre, echte Herzensgüthe,

die alles um sich mit Behagen füllt.

Gleich einem Feuer, das an kalten Tagen

belebend Wärme giebt und Funken sprüht,

weiß Güthe stets mit zartem Wort zu sagen,

was wohlthut selbst dem wundesten Gemüth.

 

Sechs Kinder wurden Albert und Gertrud geboren, sechs Kinder, in dieser Enge und Armut. Eines starb mit ein paar Wochen, es war kränklich, wollte die Augen nicht recht öffnen, hatte der Vater es im Schlaf erdrückt – versehentlich? Zur Beerdigung ging er nicht, und er war still und trank ein ganzes Jahr keinen Tropfen. Den ersten Rausch hatte er erst genau ein Jahr nach diesem Todestag, und in der Nacht muss Paula gezeugt worden sein, meine Mutter.

Großmutter Gertrud verwahrte bis zu ihrem Tod eine vergilbte Zeitungsseite aus dem Essener Kirchenblatt, Nr. 44, 1913: »Das Kind in der Totenklage. Eine Allerseelenbetrachtung.«

 

Wie stirbt es schön sich in der Kindheit Tagen,

die Knospe welkt, bevor sie sich erschlossen,

es stockt das Herz, noch eh es recht geschlagen,

und nichts verliert es, das noch nichts genossen.

Zum Himmel kehrt die reine Seele wieder,

kein finstrer Tod macht sie beim Scheiden beben,

es beugt ein Engel sich zum Kinde nieder,

und von den Lippen küsst er ihm das Leben.

 

»Behüt dich Gott!« steht in blassblauer Tinte auf dem brüchig-gelben Papier, in Gertruds schmaler Schrift.

Im Kriegsjahr 1914 tat Albert ein Gelübde: Wenn er nicht in den Krieg müsse, werde er mit dem Saufen aufhören. Er musste nicht, Krupp brauchte Männer wie ihn zur Kanonenproduktion. Albert hielt sein Gelübde: Er trank fünf Jahre lang nicht, sang aber auch nicht.

Die Söhne von Albert und Gertrud kamen zu Krupp, die drei Mädchen – Sophie, Hedwig und Paula – lernten nähen: Paula nähte Wäsche, Sophie war Schneiderin bei feinen Herrschaften, Hedwig machte Hüte. Hedwig und Paula hingen stark aneinander, aber Hedwig starb sehr jung an der Schwindsucht, sie war gerade verlobt mit einem Friseur, der nach ihrem Tod Paula nachstellte. Hedwig vererbte Paula ihre Zither, aber die warf sie weg, weil sie sie nicht spielen konnte und weil sie immer alle Erinnerungen wegwarf, ihr Leben lang. Paula warf die Briefe ihres ersten Geliebten weg, der im KZ starb, sie warf die Briefe ihres Mannes weg wie nach der Trennung den Ehering, sie warf fast alles weg, was ihre Tochter ihr bastelte, schrieb, malte. Keine Erinnerungen. Nie ein Blick zurück, vorwärts wird geritten, sagte sie, mit zusammengebissenen Zähnen. Alles, was man nicht brauchte, wurde weggeworfen, Erinnerungen brauchte man nicht. Als die Tochter, dreizehnjährig, aus einem Ferienheim zurückkehrte, fand sie kein Spielzeug mehr – ihre Kinderbücher, Fritz, der Bär, Puppe Bärbel – nichts mehr da. »Du bist zu alt dafür, und für Sperenzchen haben wir keinen Platz«, sagte die Mutter.

Ihre Tochter wurde eine, die alles hortete – Fotos, Bilder, Briefe, Andenken, Erinnerungen, alles wurde in Kisten und Kästen verwahrt, und als sie alt war, versank sie in ihnen, murmelte und las und kramte und schaute.

 

 

ALLEIN

 

Ganz allein sein, irgendwo, wo man fremd ist, das ist einfach interessant. Man entdeckt Neues, ist offen, bereit für Überraschungen.

Ganz allein sein an Orten, an denen man glücklich war, das ist schwer. Da sitzt einer mit Hund – ich saß dort auch mal mit einem Hund, den es nicht mehr gibt. Nur jetzt nicht weinen, allein an diesem Tisch. Wem wollte man die Tränen erklären, und wie? Orte, an denen man glücklich war, darf man im Unglück nicht wieder aufsuchen. Sie erlegen einem »all die Flechtarbeit nicht abgestimmter Zustände« auf, so nennt Don DeLillo die Fülle der Erinnerungen. Sie erlegen einem zu viel auf. Glück darf man, ist es vergangen, nie wieder heraufbeschwören. Seine Zwillingsschwester heißt Kummer.

Ich kenne einen Mann, der mit jeder neuen Freundin an die Orte fährt, wo er mit seiner ersten Frau war, die er liebte und die ihn verließ. Er wundert sich, dass es nie mehr so schön ist wie damals. Er sollte allein fahren und überlegen, warum sie ihn verlassen hat. Er wäre dann dort zwar nicht glücklich, aber vielleicht einen Schritt weiter?

 

 

AUSHALTEN

 

Ich sitze im Speisesaal eines österreichischen Hotels. Zwei Tische weiter eine Frau, die immerzu lacht, laut, mit weit geöffnetem Mund, immer auf demselben dummen Ton, ein künstliches, ein freudloses Lachen. Es quält mich. Ich schreibe auf die Serviette: »Wenn Sie noch einmal lachen, bringe ich Sie um.« Ich würde ihr die Serviette gern durch den extrem blasierten Restaurant- oder Hotelchef zustellen lassen, der im Trachtenjankerl und mit Stechschritt von Tisch zu Tisch marschiert und schnarrt: »Gott!« oder »Zeit!«

Was meint er? Soll ich mir mehr Zeit für Gott nehmen? Hat Gott jetzt Zeit für mich?

Irgendwann versteh ich es, er meint »Grüß Gott!« und »Mahlzeit!«

Auf der Speisekarte stehen Breinwurst, Bohnschlotengulasch, Ganserl, Erdäpfelgnocchi, Sulzerl mit Kernöl, ich weiß nicht, was das ist und was davon ich essen könnte. Ein Schild mit Pudel drauf besagt: »Mein Platz ist am Boden!« Dürften Schäferhunde und Möpse auf die Tische und Bänke?

Der Nachtisch heißt »Mohr im Hemd« und ist eine Art warmer Schokoladenkuchen mit Sahne. Der Ober fragt: »War bei Ihnen der Schluss in Ordnung?« Was meint er? Mein Lebensende? Den Mohren?

Zwei alte Damen am Nebentisch: »Ich sag immer, es gibt Schmerzen, die man aushalten kann, weil man sie aushalten muss.«

Manche Restaurantbesuche kann man auch nur aushalten, weil man sie aushalten muss.

 

 

BAHNHOF

 

Lesung in Darmstadt, ich fahre mit dem Taxi zurück zum Bahnhof. Also sage ich: »Zum Bahnhof, bitte.«

Der Taxifahrer fragt: »Zu welchem?«

Ich sage: »Hat Darmstadt mehrere Bahnhöfe?«

Er sagt: »Es gibt Bahnhöfe in Darmstadt, Mainz, Frankfurt und Wiesbaden.«

Ich sage: »Aber wir sind doch hier in Darmstadt?«

Er antwortet: »Ja, aber man muss sich präzise ausdrücken. Könnte ja sein, dass Sie zum Flughafen müssen, und dann würden Sie zum Bahnhof in Frankfurt wollen.«

Ich schweige, aber ihn hat es nun gepackt, er lässt nicht locker.

»Außerdem gibt es Bahnhöfe in Kassel, in Köln, in Hamburg, in München …«

Ich hätte gern einen Schuss frei.

 

 

BALKON

 

Wir wohnten Altbau, zweiter Stock, das ist hoch. An unserer Küche, nach hinten raus zu einem Hof voller Müll und Dreck, gab es einen kleinen Balkon, der war unsere Speisekammer im Winter und unser Garten im Sommer. Ich war ein mageres Kind, schlechter Esser, viele Allergien, die man damals noch nicht kannte. Ich wusste nur: Esse ich Fisch, kriege ich keine Luft mehr. Meine Mutter hatte alles versucht, mir den Fisch reinzuzwingen: Ich musste stundenlang, am Stuhl festgebunden, vor dem Teller mit Fisch sitzen, ich musste Erbrochenes wieder essen, ich kriegte ein Pflaster auf den Mund, nachdem die Gabel mit Fisch drin war, ich erbrach durch die Nase, es half alles nichts. Dann stieg sie auf die Balkonbrüstung und sagte: »Wenn du den Fisch nicht isst, springt die Mutti jetzt runter.«

Nie werde ich meine abgrundtiefe Verzweiflung vergessen, in diesem schlimmsten Augenblick meines Kinderlebens. Aber ich konnte den Fisch nicht essen, ich konnte nicht, nicht mal um diesen Preis.

Sie sprang, aber nach innen, verhaute mich, und mit jedem Schlag wurde ich mehr zum Stein.

Noch heute, wenn ich Fisch rieche oder Menschen Fisch essen sehe, muss ich weggehen, um nicht zu zerbrechen.

 

 

BANKPOST

 

Mehrmals täglich ruft die achtzigjährige Mutter an.

»Ich war eben einkaufen«, »Heute ist es aber sehr heiß«, »Hast du gestern den Krimi gesehen?«

Bis die Tochter, etwas entnervt, sagt: »Mama, bitte ruf doch nicht dauernd wegen jedem Kleinkram an. Ich sitz hier auch an meiner Arbeit, und das bringt mich immer raus. Ruf nur an, wenn wirklich was los ist oder wenn wieder Post von der Bank kommt. Das besprechen wir dann zusammen.«

»Ist gut«, sagt die Mutter, leicht gekränkt.

Nach zehn Minuten ruft sie wieder an. Die Tochter reagiert heftig: »Ich habe dich doch eben gebeten …«

»Es ist Post von der Bank gekommen!«, triumphiert die Mutter. »Du hast gesagt, dann soll ich anrufen.«

Kleinlaut lenkt die Tochter ein. »Dann ist es gut. Was schreiben sie denn?«

»Ist nur Werbung!«, sagt die Mutter.

 

 

BILL HALEY

 

Als ich ein Teenager war, sang Bill Haley »Shake, rattle and roll« und »Rock around the clock«. Wir wussten nichts von Getto-Hits aus der Bluesszene, nichts von Gettos im Zweiten Weltkrieg, aber wir lebten im Nachkriegsgetto vermuffter Spießigkeit, in dem alles Störende verdrängt wurde. Hauptsache, Wiederaufbau, Hauptsache, wieder dazugehören.

Wir wollten nicht dazugehören. Wir waren dreizehn, fünfzehn. Wir sahen im Kino »Saat der Gewalt«. Unsere Eltern sahen Försterfilme. Was hätten wir mit ihnen reden sollen?

Als ich vierzehn war, kam Bill Haley mit seinen »Comets« nach Essen, und die Fans machten aus der Grugahalle Kleinholz. Die Zeitungen bezeichneten das als »Orgie der Unkultur«, und der Rheinische Merkur schrieb: »Ausgerechnet am Tag der Papstwahl so ein Komet der Triebentfesselung!«

Über den Papst im Dritten Reich schrieben sie noch viele Jahre lang nichts.

 

 

BLUMEN

 

Einmal ging ich etwas angeschlagen durch das schöne Villenviertel – so viele Prachthäuser, so riesige Gärten, so viel Geld, wo kam das her? Wie lebte man da drin? Mein kleines Leben in meinem kleinen Haus war gerade mal wieder zusammengekracht, ich hielt es draußen besser aus als drinnen, ging stundenlang durch die stillen Straßen, dachte mir Geschichten von anderen Leben aus.

Vor einer Villa in der Lindenallee hielt ein Jaguar. Ein Mann stieg aus mit einem großen Blumenstrauß. Er wickelte ihn aus dem Papier, hielt ihn in der Hand, sah ihn nachdenklich an. Dann sah er hoch, ich war gerade bei ihm angekommen, unsere Blicke trafen sich: seiner müde, angestrengt, ratlos, meiner wohl eher melancholisch, hoffnungslos, aber doch auch interessiert. Wir sahen uns etwas länger an als nötig. Dann reichte er mir den Strauß und sagte: »Nehmen Sie ihn. Sie freut sich sowieso nicht.« Gab mir die Blumen, warf das Papier auf die Rückbank, schloss das Auto, ging zum Tor, klingelte, stützte sich mit einer Hand an der Mauer ab, sah auf seine Schuhe, wartete, sah mich nicht mehr an. Ich stand da, bis das Tor sich hinter ihm schloss.

Ich bin jahrelang immer wieder an diesem Haus vorbeigegangen, habe ihn oder sein Auto nie mehr gesehen. Ich hoffe, er hat sich von einer Frau, die sich über solche Blumen nicht freut, getrennt und ist jetzt glücklich. Ich hätte gern seine Adresse, um mich zu bedanken.

Diese Geschichte ist mein Dank.

 

 

BÖRSENTRÄNEN

 

Der Mann im weißen Anzug hat nie erfahren, wie sehr ich ihn bewunderte und mich danach sehnte, so einen Mann neben mir zu haben. Sein Sohn, der ihm sehr ähnlich sah, verlas manchmal im Fernsehen die Börsenberichte. Dann saß ich da, hörte, wie der Dax gefallen war, und weinte.

Und mein Freund sah mich verblüfft an und vermutete heimliche Börsenverluste, von denen er nichts wusste.

Das, was er nicht weiß, ist aber viel schlimmer.

 

 

BRIEFE

 

Wenn meine Mutter Briefe schrieb, schrieb sie so sparsam, wie sie gern bei Aldi einkaufte:

»Lb. Elke,

lange nichts gehört. Schreib doch x. Frage wg. Weihn.: kommst du? + wenn, wann? Herzl. M.«

 

 

BRIEFTRÄGER

 

Unser neuer Briefträger begegnet mir in der Straße. Er ist sympathisch, abgeklärt, alt und raucht auf dem Fahrrad. Ich stelle mich vor, ich bin die mit der vielen Post. Er sagt seinen Namen: Wojciechowski, er grinst und buchstabiert. Ich sage: Aha!, und verabschiede mich schnell, denn ich will mir den Namen merken. Bis zu meiner Haustür murmele ich ihn vor mich hin. Wojciechowski, Wojciechowski, ich grüße die Nachbarin nur flüchtig, Wojciechowski, ich darf das nicht vergessen. Zu Hause notiere ich den Namen und hefte ihn an mein schwarzes Brett und vergesse ihn sofort.

Zu Weihnachten stecke ich eine Karte mit Dank und zwanzig Euro in einen Umschlag, den ich an den Briefkasten klebe. »Für Herrn Wojciechowski« steht drauf.

Es klingelt. Der Briefträger bedankt sich, und ich sage: »Das ist doch selbstverständlich.« »Nein«, sagt er, »dass Sie sich meinen Namen gemerkt haben, das hat in all den Jahren noch keiner.« »Ich bitte Sie«, sage ich, »ich arbeite ja, wie Sie wissen, mit Wörtern, mit Büchern, da ist das doch ein Kinderspiel!« »Trotzdem«, sagt er und geht.

Ich schließe die Tür, denke: Wie heißt er? Und gucke nach am schwarzen Brett.

 

 

BRÜDER I

 

Immer wieder war ich in Brüder verliebt. Meist lernte ich zuerst den Jüngsten kennen, den mir im Alter nächsten, und wir blödelten herum und alberten im Schwimmbad, wo dann der Ältere auftauchte, mit dem ich tanzen und ins Kino gehen konnte. Viermal ist mir das passiert, viermal habe ich für Kräche unter Brüdern gesorgt, aber das fünfte Mal war es am verrücktesten. Ich hatte mich in einen schönen Abiturienten verliebt, älter als ich, wir waren ein paar Wochen zusammen, aber er musste so viel fürs Abitur lernen, und eines Tages überreichte mir ein noch schönerer Jüngerer einen Zettel: »Mein Bruder muss lernen.« Und ich verliebte mich auf der Stelle in den noch schöneren Jüngeren. Als wir ein paar Monate und viele Küsse zusammen waren, beide siebzehn, nahm er mich mit zu sich nach Hause. Und da lernte ich den dritten Bruder kennen, den ältesten. Er studierte Medizin, nahm mich mit auf die frivolen Medizinerbälle und brachte mir einiges an Anatomie bei, was ich noch nicht wusste.

Mein Leben lang war ich leicht entflammbar, ein Erbe meines Vaters. Noch immer aber träume ich nachts von diesen drei wunderbaren Brüdern, möchte sie wiedertreffen, wissen, was aus ihnen geworden ist, heute nähme ich jeden von ihnen und wäre – vielleicht – treu.