Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Buches sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Originalausgabe Dezember 2015

© 2015 dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH, Stuttgart

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Mein Reich komme APPETIZER
ISBN 978-3-945298-24-4

Gesamtausgabe 

BLUE EDITION (ISBN 978-3-945298-23-7)
GREEN EDITION (ISBN 978-3-945298-30-5)
RED EDITION (ISBN 978-3-945298-31-2)

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maja Schollmeyer (cross media redaktion, Buchholz)

Mein
Reich
komme

Alexander Burger

Über den Autor

Alexander Burger lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Koblenz. Durch seine 25-jährigen Tätitgkeit bei der Kriminalpolizei kann Burger auf Erfahrungen und Erkenntnisse aus verschiedensten Bereiche der Mordkommission, Drogenfahndung und Computerkriminalität zurückgreifen. Seine daraus gewonnen Erkenntnisse fließen in sein Erstlingswerk ein „Mein Reich komme“ und versetzen den Leser realitätsnah und glaubwürdig in die Handlung seines Thrillers.

Über dieses E-Book

Mark van Groth ist als verdeckter Ermittler beim Landeskriminalamt tätig. Während eines Einsatzes muss er mit ansehen, wie ein Freund bei einem Schusswechsel getötet wird. Tief traumatisiert lässt sich der achtunddreißig Jahre alte Kriminalbeamte auf eine ruhige Landdienststelle versetzen. 

Nachdem es in der kleinen Stadt zu einer grausamen Mordserie kommt, stoßen die Ermittler am Tatort auf einen Cyberhelm, Teil eines streng geheimen Forschungsprojektes einer Softwareentwicklungsfirma. Noch ahnt Mark nicht, dass ihn die Ermittlungen in die tiefsten Tiefen der Computerkriminalität und der virtuellen Welten des Cyberspace führen, an deren Ende er sich erneut seiner bereits verdrängten Vergangenheit stellen muss.

1

Sonntag

Die kalte Abendluft umfing Ewens wie ein schwarzer Schleier. Er blieb reglos im Schatten stehen. Vom Balkon aus konnte er die ganze Stadt überblicken. Auf dem Festgelände hinter dem Hallenbad waren die Stände des Maimarktes aufgebaut. Für jeden gut sichtbar standen sie in der Dunkelheit: rostzerfressene, bunt und grell beleuchtete Möglichkeiten, dem Alltag zu entkommen.

Er schwenkte sein Glas und blickte in die bernsteinfarbene Flüssigkeit.

Der nervtötende Singsang der Fahrgeschäftbetreiber mit ihren Heliumstimmen und den näselnden Lockrufen konnte er bis hier oben hören. Wie jedes Jahr wollte die Zuckerwatte schleckende Menge nur eins: Amüsement, Nervenkitzel und Zerstreuung! Und so warfen die Leute Bälle auf Dosen, Pfeile auf Luftballons und ihr Geld zum Fenster hinaus.

Brot und Spiele , dachte er bei sich. Gebt ihnen Brot und Spiele.

Der Himmel war sternenklar.

Er atmete tief ein und spürte die Wirkung des Alkohols. Die angenehme Taubheit verstärkte das Gefühl der Macht, an der er jetzt Teil hatte. Nichts mehr war unmöglich.

In der Nähe fuhr ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit vorbei. Der Motor heulte auf. Die laute Musik war durch das geöffnete Fenster zu hören.

In der Parkanlage unterhalb seines Hauses erkannte er die schemenhafte Gestalt einer älteren Frau, die ihren Hund ausführte. Ein Retriever. Das helle Fell reflektierte den Schein einer Straßenlaterne. Die Frau ging jeden Abend an seinem Haus vorbei. Auch sie wusste nicht wer er war. Auch sie war ahnungslos. Genau wie der Autofahrer. Wahrscheinlich wieder einer von diesen Junkies, dachte er, bis unter die Kinnlade zugedröhnt mit Amphetamin. Sinnlose Vergeudung.

Sie hatten keine Ahnung vom wirklichen Leben. Diese ganzen grauen Zombies, die verzweifelt versuchten, dem, was sie Leben nannten, irgendetwas abzuringen, das Sinn, oder was auch immer, mit sich bringen sollte. Sie wussten nichts, erkannten nichts, waren blind geboren und würden blind sterben.

Er war anders.

Es war der Moment seiner Wiedergeburt, in dem alles einen Sinn ergab. Vor fast einem Jahr hatte er sich zum ersten Mal im System eingeloggt. Wie ahnungslos er doch gewesen war. Wie hatte er dieses öde Dasein nur ertragen können? Jetzt hatte er seinem Leben eine Bedeutung gegeben.

Er hatte sie gesehen. Die goldene Stadt. Nein, er hatte sie zum Leben erweckt, mit der schöpferischen Kraft seiner unsterblichen Seele. Er war wiedergeboren und erlöst. Er war auserwählt. Er war jetzt bereit, sein Erbe anzutreten, und Anteil an dem unendlichen Reichtum dieser neuen Weltordnung zu haben.

Er legte den Kopf in den Nacken und ließ seinen Blick über den Nachthimmel gleiten.

Realität? Was ist real? Was ist wahrhaftig? Die Sterne? Das Licht, das sie abstrahlen, ist seit Millionen Jahren unterwegs. Schon vor der ersten Eiszeit hatten sich die Strahlen auf ihren Marsch durch den Kosmos gemacht. Wie soll man wissen, ob diese Sterne wirklich sind? Vielleicht sind sie nur eine Imagination von etwas, das mal war. Was also ist real? Was ist wahr?

Es gibt nur ein wahres Leben, dessen Nährboden durch zwei Flussläufe getränkt und zum Leben erweckt wird. So wie das Heilige Land im Altertum von Euphrat und Tigris genährt wurde. Nur hießen die beiden Flüsse der Moderne, oder die beiden Sprachen, wenn man so wollte 1 und 0. Positiv und negativ. Strom an und Strom aus. Und es ging nur darum, aus diesen beiden Flüssen zu schöpfen, sich zu laben, sich daran satt zu trinken und darin einzutauchen.

Zukünftige Generationen würden sich diesen beiden Wegen, diesem zentralen Lebenskonflikt gegenüber sehen. Jeder Mensch würde seine eigene Entscheidung treffen müssen. Virtuelles Glück - oder ein fades Leben in einer Realität voller unerfüllter Sehnsüchte?

So gesehen war er ein Vorbote, ein Prophet, ein Heilsbringer.

Angesichts der tiefen Verzweiflung, mit der dieser Weg begonnen hatte, erschien es ihm rückblickend wie ein unverdienter Segen. Er erinnerte sich genau an den Tag, an dem gleichermaßen Ende und Anfang eingeläutet worden waren.

„Wir haben ein Pankreaskarzinom festgestellt“, hatte der Arzt geschäftsmäßig verkündet. Sein Blick: eine Mischung aus Bedauern und Ernsthaftigkeit. An der Wand prangten die Röntgenbilder, skurril angestrahlte Knochengebilde auf schwarzem Grund.

„Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass es sehr ernst ist.“ Der Doktor hatte seine Stimme noch etwas gesenkt, vermutlich, um diesem Moment grausiger Enthüllung noch mehr Dramatik zu verleihen. „Aber es gibt Methoden, die helfen können.“ Der Zusatz „ aber das ist leider sehr, sehr unwahrscheinlich“, blieb wie das Schwert des Damokles in der Luft hängen.

Er hatte ihn nur verständnislos angesehen. Pankreaskarzinom? Was um Himmels willen bedeutete das?

In den Wochen danach lernte er schnell, dass sie eine eigene Sprache, ein eigenes Vokabular hatten, auf den weißen, sterilen Fluren des Leids.

Endoskopische, retrograde Cholangieopankreatographie. Oder perkutane, radiologische Gallengangprothese. Als könne man sich die Hässlichkeit der Sache mit ein paar klinisch sauberen Namen vom Leib halten.

Die Metastasen hatten gestreut. Sie mussten ihm erst ein und später auch das andere Bein abnehmen. Wider Erwarten zeigte die Chemotherapie nach Monaten tatsächlich Wirkung.

Die Ärzte waren wieder optimistisch. Sprachen von einem Wunder. Er sei dem Tod im letzten Moment von der Schippe gesprungen. Nachdem die herzlichen Worte verklungen, das allgemeine Schulterklopfen beendet, alle gutgemeinten Glückwünsche heruntergeleiert, und der Nüchternheit des tristen Alltags gewichen waren, stellte er fest, dass ihn dieses Wunder als Krüppel zurückgelassen hatte. Nichts anderes als einen nutzlosen Krüppel, für immer gefesselt an einen Rollstuhl. Ein Leben, das keines mehr war.

Das Schicksal wendete sich zum Guten, als der Zauberlehrling in sein Haus und sein Leben kam. Er wollte etwas verkaufen. Eine andere Welt. In einer anderen Galaxie. Es hatte einiges gekostet, aber der Zauberlehrling hatte Wort gehalten.

Ihn fröstelte und er rollte zurück ins Haus.

Ein Blick auf den Monitor verriet ihm, dass das Programm immer noch auf seine Bestätigung wartete.

Einen kurzen Moment ließ er den Finger reglos über der Eingabetaste schweben.

Nur eine kleine Bewegung und das Herunterdrücken der Taste würde eine ganze Kette von Ereignissen auslösen, an deren Ende seine Wiedergeburt stehen würde. Die ganze Welt, oder zumindest der Teil davon, der für ihn von Bedeutung war, würde ihm huldigen. Wie einem Gott. Ja, das war es. Er war jetzt göttlich. Und seine Gemeinde würde ihn anbeten.

Er wollte diesen Triumph, den Rausch des Sieges, mit allen Sinnen auskosten.

Zugegebenermaßen war er auf den Zauberlehrling angewiesen. Er brauchte den Zauberlehrling, ohne ihn würde es nicht funktionieren. Und: ohne sein Geld ebenfalls nicht.

Er bestätigte die Anfrage und fühlte sich augenblicklich wie elektrisiert. Ein kurzer Rauschzustand, begründet durch die Tatsache, dass es kein Zurück mehr gab.

Die Transaktion war in Gang gesetzt. Der Ladebalken trat seinen geduldigen Marsch über den Monitor an. Nur noch ein kurzer Moment und das unsichtbare Visier wäre heruntergeklappt. Eine Flutwelle würde über die virtuelle Welt hinwegrollen. So massiv und so gewaltig, dass sie alles unter sich begraben würde. Er spürte die Erregung, die dieser Gedanke in ihm erzeugte. 1 und 0. Der Zauberlehrling hatte seine Arbeit gut gemacht.

Strom an, Strom aus. Virtuelle Realität. Er schenkte sich noch einen Whiskey ein, betätigte den Hebel seines elektrischen Rollstuhls und verließ das Büro.

Als er leise ins Schlafzimmer rollte, sah er seine Frau mit offenem Mund daliegen. Sie war beim Lesen eingeschlafen. In der Hand hielt sie noch das Buch, die Nachttischlampe brannte. Ein Bein lag auf der Decke.

Er hielt inne und betrachtete sie einen Moment. Sie war immer noch eine bemerkenswert gut aussehende Frau. Sein Blick wanderte langsam über ihren Körper. Der Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus ihres Atems. Ihre immer noch glatten Beine und der straffe Bauch waren das Ergebnis unzähliger Operationen, Beauty-Behandlungen und Privatstunden bei ihren Fitness-Coachs.

Sie war ihm nicht treu, das wusste er. In der letzten Zeit hatte sie sich nicht einmal besondere Mühe gegeben, es zu verbergen. Aber das hatte keine Bedeutung mehr. Sie war schon immer eine Lebefrau gewesen. Das Schweigen stand wie eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen ihnen. Ein Pakt, der vor peinlichen Auseinandersetzungen und gestammelten Halbwahrheiten schützen sollte.

So sollte es wohl sein. Sie hatte immer genug Geld, um sich das Leben leisten zu können, nach dem sie strebte. Im Gegenzug kümmerte sie sich um das Pflegepersonal und wärmte seinen verkrüppelten Leib und seine schlaffen Glieder in kalten Nächten. Letztlich nur eine andere Form der Prostitution und somit auch Teil dieser ereignislosen, langweiligen Leere.

Er verachtete sie, ihr hohles Getue: gesellschaftliche Verpflichtungen, geheucheltes Interesse, aufgewärmte Freundlichkeiten, dieses ganze belanglose Bla, Bla, Bla. Wie satt er all das hatte.

Als er sie so betrachtete, wurde ihm bewusst, dass er sich ekelte. Ja, das war das richtige Wort. Es war Ekel, den er empfand. Ekel vor seiner Frau. Und vor seiner eigenen Scheinwirklichkeit. Vor all dem, was ihn täglich umgab, und dem, was er diesen ganzen grinsenden Halbtoten, die in Wahrheit sein Leben beherrschten, vorgegaukelt hatte.

Er wandte sich ab. Der kleine Elektromotor summte ärgerlich auf, als er seinen Rollstuhl ins Badezimmer dirigierte. Er zog sich aus und ließ die Badewanne volllaufen. Als er seinen Oberkörper und die nutzlosen Stümpfe, die einmal seine Beine gewesen waren, an den Haltegriffen in das warme Wasser gleiten ließ, ächzte er vor Anstrengung. Er tauchte unter und genoss die angenehme Wärme, die seinen Körper umspülte. Einige Minuten blieb er einfach nur reglos liegen und starrte gedankenverloren auf die weißen Fliesen. Plötzlich spürte er seine volle Blase und ärgerte sich, dass er so in Gedanken gewesen war.

Dann begann er seinen Körper einzuseifen, als könne er all den Schmutz, all den Ekel aus seinem Leben waschen.

Das Geräusch, das er hörte, kam völlig unerwartet.

„Was zum Teufel …?“

Er stellte die Brause ab und lauschte einen Moment. Dann legte er den Kopf schief, um das Wasser aus dem Ohr laufen zu lassen. Er griff nach dem Handtuch. Nachdem er sich das Gesicht abgetrocknet hatte, verharrte er noch einen Moment.

Nichts.

Dann hörte er es wieder.

„Liebling - bist du wach?“ Seine Stimme zitterte. Er rubbelte sich mit dem Handtuch über den Kopf und hievte sich langsam und mühevoll in den Rollstuhl. Erneut lauschte er in die Stille. Dann legte er sich das Badetuch über die Hüfte und öffnete die Tür.

Auf das, was er sah, war er nicht vorbereitet.

Blut! Überall Blut!

Seine Frau lag blutüberströmt auf dem Bett. Die Augen blickten starr und leblos an die Zimmerdecke.

Benommen rollte er vorwärts. Dann nahm er eine Bewegung am Rand seines Sichtfeldes wahr. Eine Gestalt. Sie war maskiert. Ihm stockte der Atem.

Das Wesen war mit einer Art weißem Maleranzug bekleidet. Es war ein massiger Körper. Aufgeplustert und unwirklich. Es dauerte einen Augenblick, bis er weitere Einzelheiten registrieren konnte. Über die Füße waren Plastiktüten gestülpt. Auf dem Kopf saß eine schwarze Motorradhaube, aus dem Visier blickten stahlgraue Augen bewegungslos auf ihn herab. Die Hände steckten in Gummihandschuhen. In der einen ein Messer.

Blut. Es tropfte auf den Boden.

Als sich die Gestalt wie in Zeitlupe auf ihn zu bewegte, entrang sich seiner Kehle ein dünnes Wehklagen. Tief in seinem Inneren begann er zu begreifen, dass er unterlegen sein würde, dass das Blut gleich aus ihm herauslaufen würde. Er sollte recht behalten. Es war ein kurzer Kampf. Dann bohrte sich die Klinge unbarmherzig in seine Brust. Mit unglaublicher Klarheit nahm er den glühenden, alles versengenden Schmerz wahr.

Als er an sich hinunterblickte, sah er den Schaft des Jagdmessers wie einen Schandpfahl aus seinem Leib ragen.

Dann blickte er wieder auf. Die Augen seines Mörders waren immer noch vollkommen reglos auf ihn gerichtet. In dem Blick lag jetzt etwas Neugieriges, so, als wolle er ihn noch etwas fragen, etwas von ihm wissen. Die Gestalt neigte den Kopf leicht zur Seite und erinnerte an den traurigen, hoffenden Blick eines Hundes, der mit seinem Herrchen spielen möchte.

Kurz vor dem Ende dachte Peter Ewens, wie bedauerlich es doch sei, dass gerade jetzt, auf dem Zenit seines Erfolges, so ein Unglück geschehen musste. Wie durch einen trüben Nebel bemerkte er, dass starke Arme ihn packten, über den Boden schleiften und zurück in die Badewanne legten. Der letzte klare Gedanke, den der erfolgreiche Geschäftsmann und Firmengründer in seinem Leben hatte, war, dass irgendjemand diese ganze Sauerei auch wieder wegmachen musste. Vielleicht die Putzfrau?

Dann wurde er von einem Dunkel umschlossen, das von allen Seiten gleichzeitig kam.

2

Montag

Benommen blieb Mark van Groth noch ein oder zwei Minuten im Bett liegen, sammelte seine Gedanken und wehrte sich gegen den Drang, wieder einzuschlafen. Dann tastete er im Dunkeln nach dem Lichtschalter. Als er ihn gefunden hatte, gab seine Frau ein unwilliges Grunzen von sich und vergrub die hellen Locken noch tiefer im Kopfkissen.

Er nahm alle Kraft zusammen, schwang sich aus dem Bett, ging ins Badezimmer, klatschte sich Wasser ins Gesicht und zog sich an.

Der Morgen hatte schlecht angefangen. Nachdem ihn das schrille Klingeln des Telefons aus dem Schlaf gerissen hatte, hatte sich Lora, seine Kollegin gemeldet: „Hast du schon gefrühstückt? – Solltest du auch nicht … es gibt Arbeit!“

Mark rubbelte sich mit dem Handtuch durchs Gesicht und blickte in den Spiegel. Auf der neuen Polizeidienststelle sollte es doch ruhiger werden, dachte er. Danach sah es jetzt nicht aus.

Sie hatte ihm eine Adresse im Nobelviertel der Kleinstadt genannt, dann das Gespräch beendet.

Nachdem der erste Kaffee durchgelaufen war, tat das Koffein seine Wirkung. Die Autoschlüssel fand er in der Tasche seiner Jeans. Während er durch die Straßen der Kleinstadt fuhr, warf die Sonne ihre ersten Strahlen an den Himmel.

Mark fuhr durch das offene schmiedeeiserne Tor. Die Zufahrtsstraße war auf beiden Seiten mit Ulmen gesäumt, die wie grüne Zinnsoldaten Spalier standen. Der weiße Kies knirschte unter den Reifen. Eine Steinmauer umschloss das Grundstück; die parkähnliche Gartenanlage erinnerte Mark an eine Spielzeugeisenbahn. Er hatte keine Ahnung, wie all diese ordentlich gestutzten Pflanzen hießen. Waren das Buxbäumchen? Oder Rhododendren? Sein Vater hätte jetzt gesagt: Von Computern verstehst du was, Junge, aber von „Bloemen und Planten“ hast du keinen Schimmer. Recht hatte er.

Der Kiesweg mündete in ein Rondell, an dessen Spitze eine Steintreppe zum Eingangsportal des Hauses führte.

Vor der Treppe stand Lora und sprach mit einer Frau. Als er ausstieg, blickte seine Kollegin kurz zu ihm herüber. Die Frau stand mit dem Rücken zu ihm. Ihre ausladenden Hüften und der breite Rücken erinnerten ihn unwillkürlich an den Kofferaufbau eines Sattelschleppers. Er steckte sich eine Zigarette an. Als er näher trat, ließ er den Blick über die Fassade der Stadtvilla gleiten.

Die Frau hatte eine krächzende, fast heisere Stimme. Sie redete schnell. Viel zu schnell für einen schlechten Morgen.

„Das ist Frau Raditzki“, erklärte Lora und unterbrach damit deren Redeschwall. Mark reichte der Frau die Hand. „Sie ist Haushälterin der Familie Ewens. Heute Morgen wollte sie, wie üblich, im Haus putzen. Nachdem ihr niemand öffnete, bemerkte sie den Haustürschlüssel, der vor der Eingangstür lag. Anschließend sah sie das …“, Lora deutete auf den Boden.

Mark folgte ihrem Blick. Kleine rot-schwarze Kringel zeichneten sich unheilverkündend auf den Treppenstufen ab. Er zog an seiner Camel.

Die Haushälterin nickte eifrig: „Genau. Ich habe geklingelt und geklopft. Aber es hat niemand aufgemacht. Dann sah ich das Blut. Zuerst wollte ich reingehen, um nach dem Rechten zu sehen. Aber ich weiß, dass Herr Ewens nicht will, dass ich alleine im Haus bin. Also habe ich die Polizei angerufen. Es wird doch nichts passiert sein, oder?“

Mark kniete sich und betrachtete die Kleckse genauer. Sie waren schon leicht schwarz verfärbt und an der Oberseite rissig.

„Hast du dich schon umgesehen?“, murmelte er in Loras Richtung gewandt.

„Ich bin selbst gerade erst angekommen.“

„Dann drehe ich mal eine Runde ums Haus.“

Lora nickte nur stumm, öffnete ihren Notizblock, und wandte sich wieder der Zeugin zu.

Als Mark um die Hausecke bog, hörte er in einiger Entfernung lachende Kinder. Vermutlich waren sie auf dem Weg zu Schule. Er musste an seine dreizehnjährige Tochter Meira denken, die heute schon früher aus dem Haus gegangen war. Jetzt schrieb sie gerade eine Mathearbeit. Im Hause van Groth immer ein Grund großer Aufregung. Meira war, gelinde gesagt, nicht gerade ein Ass in Mathe. Eine Tatsache, die sie mit regelmäßiger Beständigkeit quittiert bekam.

Er trat an eines der Fenster und schirmte die einfallenden Sonnenstrahlen mit der Hand ab. Das geräumige Büro, in das er blickte, war mit Holzdielenboden ausgelegt. An den Stellen, an denen keines der gewaltigen Bücherregale aufragte, war die Wand mit dunklen Paneelen verkleidet. An der einen Seite war einer dieser altmodischen Kamine mit verschnörkelten Verzierungen in das Mauerwerk eingelassen. Auf der anderen Seite des Raumes thronte ein Schreibtisch aus dunklem Holz. Darauf sah Mark drei große Monitore. Der dazugehörige PC musste sich irgendwo im Bauch des hölzernen Ungetüms befinden. Das irritierte ihn. Solche Systemaufbauten kannte er eigentlich nur von PC-Gamern, die dieses Multi-Monitoring nutzten, um bei ihren Computerspielen zeitgleich mehrere Fenster geöffnet und zugriffsbereit zu halten. Die glatten, mattschwarzen Bildschirmflächen glotzten wie riesige Insektenaugen umher und wollten sich nicht so recht in das Bild der konservativen Büroeinrichtung einfügen.

Dann bemerkte Mark noch etwas. Hinter dem Schreibtisch hing ein gerahmtes Gemälde. Es zeigte einen Jungen, der an einer Kommode lehnte und einen bestimmten Punkt im Raum zu fixieren schien. Das Leinenhemd hing aus der Hose heraus und beulte sich am Bauch nach vorne. Der Blick des Jungen wirkte befremdend. Unergründlich.

Mark stellte sich auf die Zehenspitzen. Da war noch etwas anderes, das sein Interesse weckte. Es war ihm nicht gleich aufgefallen, aber jetzt sah er es. Die einfallenden Sonnenstrahlen warfen einen unsymmetrischen Schatten hinter den Bilderrahmen. Das Bild hing im Vergleich zur beträchtlichen Raumhöhe unverhältnismäßig tief. Gleichzeitig schien es seitlich leicht abgekippt.

Ungewöhnlich war auch, dass in dem Büro nicht die Ordnung herrschte, die er in Anbetracht des gepflegten Gesamteindrucks des Hauses erwartet hätte. Überall lagen Bücher, Blätter, Zeitungen und Schreibutensilien herum. Alles wirkte schmuddelig. Mark war sich sicher, dass es in diesem Büro muffig roch.

Unaufgeräumt und chaotisch. Er ging weiter und musste wieder an seine Tochter und die Schule denken.

Es ist auch einfach dieses blöde System, in das die Kinder mit aller Gewalt gepresst werden.

Arbeit ist nun mal Leistung auf Zeit , hatte die Klassenlehrerin mit ihrem süß-sauren Lächeln erklärt. So ist das nun mal.

Schön und gut, aber Meira hatte eben ihre Stärken in anderen Bereichen. Sie war kreativ, erfinderisch, hatte Fantasie. Und wenn man ihr Zeit ließ, entstand immer etwas Wunderbares. Ihre produktivsten Zeiten waren immer die, in denen sie gerade nichts tat. Vor allem war sie ein freundlicher Mensch, der es verdiente, glücklich zu sein.

Mark fand sich, in seine Grübeleien versunken, plötzlich auf der Terrasse wieder. Er ließ den Blick über das Grundstück gleiten. Ein paar Bäume. Eine Teichanlage. Das Wasser war trüb. Seerosen schwammen zwischen Algen und grünem Schlick. Am Rand tummelten sich Wasservögel. Er drehte sich um. Neben der Terrassentür stand ein Fenster offen. Mist!

Als er näher herantrat, sah er, dass die Scheibe beschädigt, aber nicht zersplittert war. Mark wusste wie schwierig es war, eine doppelt verglaste Scheibe zu zertrümmern. Unerfahrene Einbrecher stellten sich das oft zu leicht vor.

Die Risse zogen sich wie ein Spinnennetz über die Doppelverglasung. Das Corpus Delicti lag unterhalb der Fensterbank: ein handballgroßer Steinbrocken. Ein Blumenbeet war mit weiteren dieser Steine eingefasst. In der weichen Erde daneben bemerkte Mark einen Fußabdruck.

Er sah sich das Fenster genauer an. An der Zarge und am Rahmen erwartete er die üblichen Hebelmarken als deutliches Zeichen eines Einbruchs. Verblüfft musste er nun feststellten, dass die Plastikteile völlig unberührt waren. Das Fenster selbst war mit Pilzkopfbeschlägen zusätzlich gesichert.

Aber warum stand es offen? Warum hatte jemand einen Stein dagegen geworfen? Neugierig schob er den Vorhang zur Seite. Ein spartanisch ausgestatteter Raum. Vermutlich ein Gästezimmer. Ein Bett, ein Schrank und eine Holztruhe. Die Möbelstücke waren wie unnütze Gepäckstücke lieblos abgestellt worden.

Als er zurückkehrte, lehnte Lora am Wagen und tippte etwas in ihr Handy. Sie hatte die Haushälterin inzwischen nach Hause geschickt.

Lora Woischny war fünf Jahr jünger als er. Vor einigen Wochen hatte sich Mark auf eigenen Wunsch auf die Landdientstelle im Hunsrück versetzen lassen. Dort gab es im Kriminaldienst mehrere Ermittlungsteams. Da alle, außer Lora, einen fest zugeordneten Kollegen hatten, hatte sie ihn jetzt eben an der Backe. Die anfänglichen Schwierigkeiten hatten sich zwischenzeitlich gelegt. Am Anfang war Mark Loras überpenible Art und ihr Hang immer alles genau und ordnungsgemäß machen zu wollen ziemlich auf den Nerv gegangen. Mit ihren langen, schwarzen Haaren die immer akkurat zum Zopf gebunden waren und der schwarzen Hornbrille erinnerte sie ihn irgendwie an die Super Nanny.

Daneben war ihm aber auch klar, dass sie mit seiner eigenbrötlerischen, manchmal laissez-fairen Art mindestens genauso viele Schwierigkeiten hatte.

Wahrscheinlich hatte das Verständnis für die Macken des anderen schließlich dazu geführt, dass sie inzwischen recht gut miteinander klarkamen.

Ihm war bewusst, dass sie von seiner Vergangenheit beim LKA wissen musste. Er hatte bei einem Undercover-Einsatz mitansehen müssen, wie ein Freund und Kollege von ihm erschossen worden war. Später hatte ihm sein Chef Vorwürfe gemacht und ihm die Schuld gegeben. Aber was spielte all das für eine Rolle? Trotz Therapie, Medikamenten und Alkohol – zu viel Alkohol – schleppte er die Last dieses Traumas mit sich herum, und er rechnete es Lora hoch an, dass sie ihn nie darauf angesprach. Mit Sicherheit hatte sie das Hintenrumgerede und all die kursierenden Halbwahrheiten gehört.

Mark öffnete den Kofferraum und nahm zwei paar Latexhandschuhe und Gummiüberzieher für die Schuhe aus seiner Tasche. Er reichte Lora auch ein Paar.

Sie blickte ihn fragend an.

„Vermutlich ein Einbruch, vielleicht steckt aber auch mehr dahinter“, verkündete er kurz angebunden. Dann erzählte er ihr, was er gefunden hatte.

Nachdem sie die Schutzbekleidung übergezogen hatten, um nicht selbst irgendwelche Spuren zu hinterlassen, nahm Lora den Schlüssel, den die Putzfrau vor der Haustür gefunden hatte. Mark drückte seine letzte Kippe aus und überlegte kurz, sie wegzuschnippen. Dann steckte er den angekokelten Stängel aber zurück in die Schachtel, was ihm ein wohlwollendes Kopfnicken seiner Kollegin einbrachte. Bloß keine Spuren verursachen.

Sie betraten das Haus. Das ovale Foyer war an beiden Seiten von breiten Treppen eingefasst, die bogenförmig ins Obergeschoss führten. An einer Seite war ein Treppenlift montiert. Die zweiflüglige Eichentür an der Stirnseite der Eingangshalle war mit aufwendigen Holschnitzereien verziert. An den Wänden entlang der Treppe hingen Bilder von streng blickenden Männern in altertümlichen, schwarzen Anzügen. Mark hatte den Eindruck, dass sie sich aus ihren Rahmen nach vorne beugten, um drohend und grimmig auf etwaige Besucher herabzuschauen. Der Boden war mit Solnhofener-Platten ausgelegt. Von der Decke hing ein schwerer Kronleuchter.

Mark fröstelte. Alles wirkte so kalt.

Die kleinen Kleckse geronnenen Blutes bemerkten sie gleichzeitig. Im Gegensatz zu dem Blut vor der Haustür war dieses hier weniger eingetrocknet und noch nicht rissig. Die Spur verlief über den rechten Treppenaufgang und führte nach oben.

In diesem Moment hörten sie ein lautes Poltern aus dem Obergeschoss. Mark und Lora zogen ihre Dienstwaffen und drückten sich mit dem Rücken an die Wand. Einige Augenblicke standen sie reglos da und lauschten. Nichts.

Mark spürte das vertraute, starke Gefühl der Ruhe, den dieses kalte Stück Metall, das er jetzt mit beiden Händen vor sich auf den Boden richtete, vermittelte. Es war, als hätte er wie in der Nibelungensage in Drachenblut gebadet. Wie ein unsichtbarer Schutzmantel.

Sie bewegten sich die Treppe hinauf: langsam und leise. Der Aufgang mündete auf einer Empore, von der mehrere große Holztüren in unterschiedliche Räume führten. Sie positionierten sich rechts und links der ersten Tür, die Waffen im Anschlag.

Mark öffnete leise die Tür und beide drehten sich wie zwei Tangotänzer zeitgleich, mit der nach vorne gerichteten Pistole, in den Raum.

Die Ursache des Rumpelns entpuppte sich als vorwitziger Fensterladen, der in eben diesem Moment erneut gegen die Außenseite der Hauswand schlug. Lora atmete vernehmlich aus. Mark verzog das Gesicht. Böser Fensterladen!

Die erste Leiche fanden sie im Schlafzimmer. Der Anblick war grotesk und verschlug ihnen den Atem. Die Frau lag mit dem Rücken auf dem Bett, der Kopf war auf dem Kissen leicht nach hinten abgeknickt, so dass die toten Augen ausdruckslos an die Zimmerdecke glotzten. Die Kehle, eine einzige klaffende Wunde. Sie war mit mehreren Schnitten vollständig durchtrennt worden. Mark hörte Lora aufkeuchen.

Das geronnene Blut bedeckte die weiße Haut unterhalb des Halses mit einer schwarzen Kruste. Der gesamte Torso war mit Einstichstellen übersät, die den jetzt blutleeren Leib in eine skurrile Mondlandschaft mit kleinen roten Kratern verwandelte. Der rechte Arm lag ausgestreckt neben dem Körper. Der linke angewinkelt auf der Brust. Die Hand bedeckte den Mund. Mark trat näher. Auf ihrer Stirn befand sich eine Schnittwunde. Nein, da war etwas eingeritzt. Eine Zahl. Jemand hatte ihr eine 1 in die dünne Haut geritzt.

Die Leiche schien in einer Lache aus sämig-roter Pampe zu schwimmen, die nicht vollständig von der Matratze aufgesogen werden konnte. Die Wand war übersät mit Blutspritzern. Auf dem Boden, an den Möbeln, überall Blut! Der Geruch des Todes lag schwer in der Luft.

„Da war wohl jemand stinksauer“, entfuhr es Mark. Lora antwortete nicht.

Im angrenzenden Bad stand ein Rollstuhl. Eine Blutspur wies den Weg zur Badewanne. Ein roter See, aus dessen Mitte der Griff eines Messers aufragte - wie eine Kirchturmspitze aus einer versunkenen Stadt.

„Was ist das?“ Lora blickte fassungslos auf die Szene.

„Da liegt einer drin.“

„Und was jetzt?“

„Schauen wir nach.“

„Quatsch. Lass das.“

„Wieso?“

„Die Spurensuche wird dich verfluchen.“

„Tun die doch sowieso immer.“

Mark machte sicherheitshalber ein Bild mit seinem Handy. Dann zog er den Stöpsel, der an einer silbernen Kette befestig war, aus dem Abfluss. Wasser und Blut verschwanden mit protestierendem Geblubber in die Kanalisation. Stück für Stück wurde ein grauenhaftes Bild freigelegt.

Zuerst tauchte ein massiger Fleischberg auf. Die käsige Haut von Bauch und Brust war aufgedunsen. An den Armen waren mehrere Schnittwunden. Sie waren nicht tief. Ganz anders als die Einstichstelle in der Brust. Das Jagdmesser war bis zum Heft in den Körper gerammt worden.

Dann tauchte der Kopf auf. Das teigige Gesicht war kalkweiß und aufgebläht. Die Augen waren weit aufgerissen und glotzten die beiden in stummer Klage an. Dann kam der Mund. Unwillkürlich wendete Lora sich ab, angewidert von dem, was sie sah. Die Lippen waren mit einem Faden zusammengenäht und sahen aus wie eine hässliche Narbe. Auf der Stirn prangte eine blutrote 0.

Das Wasser war jetzt zur Hälfte abgelaufen.

Da wo Beine hätten sein sollen, ragten zwei Stümpfe aus dem Leib. Im ersten Moment sah es so aus, als wäre die Leiche auf diese Weise verstümmelt worden. Dann bemerkte Mark die angewachsene Haut auf der Unterseite, die auf eine medizinische Amputation der Beine hindeutete.

Als das Wasser abgeflossen war, trat Lora näher. Vorsichtig hob sie die Leiche an der Schulter etwas an. Dann bohrte sie ihren Daumen in den Rücken des Toten.

„Leicht wegdrückbar, Leichenstarre ist bereits voll ausgeprägt“, sagte sie, während sie vorsichtig versuchte, das Ellenbogengelenk des Opfers zu bewegen. „Vielleicht sechs bis sieben Stunden tot. Was meinst du?“, sie klang geschäftig. Ihre Art, mit diesem grauenvollen Szenario fertig zu werden, dachte Mark.

„Könnte gut sein. Wobei die Leichenflecken auch täuschen können. Die Anziehungskraft verringert sich im Wasser.“

Er verließ das Schlafzimmer. Im Flur setzte er sich auf die Treppe und holte sein iPhone aus der Tasche. Lora, die ihm gefolgt war, sah ihn fragend an: „Rufst du auf der Dienststelle an?“

„Nein, ich ruf meine Frau an, und sag ihr, dass es heute Abend später wird.“

„Mark!“ Lora schüttelte energisch den Kopf und bedachte ihn mit einem finsteren Blick. „Ich kann manchmal nicht glauben, dass wir die gleiche Ausbildung durchlaufen haben.“ Wütend stampfte sie an ihm vorbei. Dann hielt sie inne und fügte etwas ruhiger hinzu: „Gib mir bitte mal den Autoschlüssel, ich hol schon mal die Kamera und sag selbst Bescheid.“

Er ging zurück ins Schlafzimmer. Einen Moment blieb er stehen und überlegte. Er wollte die Bilder, die Atmosphäre, einfach alles ungefiltert auf sich wirken lassen.

Jeder Tatort hat eine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte über die Opfer. Eine Geschichte über den Täter. Nie wieder würde er diesen Raum so sehen wie gerade jetzt in diesem Moment. In einer Stunde würden die Kollegen der Spurensicherung hier ihre Scheinwerfer aufstellen, Gegenstände mit Rußpulver abpinseln, Karteikarten verteilen und Umrisse der Leichen einzeichnen. Der Raum würde mit Leben gefüllt werden.

Jetzt war er kalt und tot. So ursprünglich und unverfälscht gab es das nur jetzt. Er blieb im Türrahmen stehen und ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Er wollte, die Eindrücke mit allen Sinnen in sich aufnehmen. Alles einzusaugen wie ein Schwamm. Er wollte sich Einzelheiten einprägen, das finden, was die Augen nicht sehen können.

„Was ist hier passiert? Was hast du gemacht?“, murmelte er leise vor sich hin. Er versuchte, sich das mögliche Szenario des Tatablaufs vorzustellen. Eine Methode, die er während seiner Zeit bei der Mordkommission bei einem älteren Kollegen beobachtet hatte. Es ging um das intuitive Erfassen der Umgebung, der Umstände und der Tathandlung. Ein Ansatz, der im Ergebnis keine zählbaren Fakten lieferte, aber dem Ermittler eine besondere Beziehung zur Tat geben konnte. Mark wusste, dass man das nicht erklären konnte. Von vielen wurde es nur belächelt. Es war etwas, das nur emotional aufgenommen werden konnte.

Er blickte auf die Leiche der Frau. Es sah so aus, als würde sie den Zeigefinger über die Lippen legen, und den Beobachter zum Schweigen auffordern. Warum hatte der Mörder sie so übel zugerichtet? Das war nicht nur ein Mord. Das war eine Zurschaustellung. Dann blickte er auf die klaffende Halswunde. Wollte ihr Mörder sie mundtot machen? Wollte er selbst gehört werden? Eine Aussage machen? Es geht um die Stimme. Den Mund. Um Worte, um Sprache.

Die andere Hand deutete direkt auf Mark. Nein, sie deutete ins Badezimmer. Plötzliche wusste Mark was er suchte.

„Die Spurensicherung wird mich nicht nur verfluchen, die werden mich lynchen.“

In dem Hängeschrank über dem Waschbecken fand er, was er brauchte. Eine kleine Fingernagelschere. Er fixierte den Kopf des Toten mit der linken Hand und durchtrennte vorsichtig den roten Faden, der den Mund verschloss. Durch die geöffneten Lippen konnte er erkennen, dass sich etwas im Mund befand. Es sah aus wie ein Stück Plastik.

Mark wusste, dass die Totenstarre im Kieferbereich am stärksten ausgeprägt war und er musste seine ganze Kraft aufwenden, um den festgewachsenen Kieferknochen nach unten zu drücken. Als die Öffnung groß genug war, bohrte er Zeigefinger und Daumen an den Schneidezähnen vorbei in die Mundhöhle. Ein kleines Plastiktütchen kam zum Vorschein. Jemand hatte ein Stück Papier darin eingeschweißt. Er öffnete das Plastik vorsichtig und entfaltete einen kleinen Zettel. Die Nachricht war mit Blut geschrieben.

Mark starrte fassungslos auf das, was er sah.

In diesem Moment bewegte sich die Leiche und stieß ein gurgelndes Geräusch aus.

***

Logbucheintrag - Die Anfänge –

ΔΑΙΜΩΝ, ΕΛΠΙΣ, ΑΝΑΓΚΗ, ΕΡΩΣ, ΤΥΧΗ

Wir haben beschlossen, uns von Ihnen zu trennen.“

Die Worte treffen mich wie eiskaltes Wasser. Sie hallen in meinem Kopf nach.

Die Firma ist Ihnen zu Dank verpflichtet für Ihren engagierten Einsatz. Dennoch sehen wir uns zu diesem Schritt gezwungen. Natürlich werden Sie eine beträchtliche Abfindung erhalten. Die Firma ist immer fair zu ihren Mitarbeitern.“

Jetzt blickt er auf seine Uhr. Ich bin eine lästige Verpflichtung. Er nickt mir freundlich zu. Er wünscht mir das Beste für meine Zukunft. Elegant hat er mich aus seinem Terminkalender, seinem Leben und aus der Firma entfernt.

Wut! Sie wallt in mir auf. Entsetzliche, alles vernichtende, todbringende Wut. Weiß er denn nicht, wer ich bin? Wie kann er es wagen! Ich habe ein heiliges Anrecht. Das ganze Projekt ist mein Kind. Mein geliebtes Kind! Mein Erstgeborenes. Sie wollen es mir entreißen. Niemals! Niemand hat ihm so viel gegeben wie ich. Ich habe es unter Schmerzen geboren, habe es groß gezogen. Ich habe es an meine Brust gedrückt. Ich habe dieses Leben programmiert. Ich habe Tencity den Atem der Ewigkeit eingehaucht. Oh nein, sie werden mich nicht von meinem Kind trennen. Ich lasse es nicht zu.

Niemals!

Ich schlage zu. Treffe seine Nase. Ich schlage wieder zu. Die Lippen platzen auf. Und wieder. Blut kriecht aus seinen Nasenlöchern. Härter, wilder, fester, wütender. Überall Blut. Sein schönes weißes Hemd: voller Blut. Blut und Schleim. Dann umklammere ich seinen Hals. Und drücke zu. Drücke fester. Er ringt nach Atem. Der Todeskuss. Wir tanzen … und tanzen …

Jemand zerrt an meinem Arm. Stimmen. Sie rufen etwas. Ich höre es aus weiter Ferne. Trüber Nebel. Nein, ich kann jetzt nicht mehr aufhören.

Auslöschen. Vernichten. Töten. TÖTEN!

Das letzte, was ich spüre - kühle Elektroden - an meinem Hals. Böse Männer vom Sicherheitsdienst. Böser Taser! Es klickt. Summt. Elektrischer Strom fließt wie heiße Lava durch meinen Körper. Nimmt mir den Willen. Nimmt die Kontrolle.

Schwärze.

***

3

„Was ist, hast du einen Geist gesehen?“, Lora versuchte sich an Mark vorbeizuschieben um ins Badezimmer zu gelangen.

„Die Leiche hat sich eben noch mal mit mir unterhalten. Mist! Für einen Moment sind alle Zombi-Filme an mir vorbeigezogen, die ich jemals gesehen habe.“

„Ja, ist immer wieder gruselig, wenn die Toten noch mal zum Leben erwachen.“

Lora hatte dieses Phänomen selbst schon oft beobachtet: Wenn eine Leiche nach dem Auffinden bewegt wird, geschieht es häufig, dass die in der Lunge verbliebene Luft nach oben, in Richtung Luftröhre gepresst wird und sich den Weg in die Freiheit sucht. Das kann von einem rülpsenden Geräusch begleitet werden. Eben das war geschehen, als Mark die Leiche des männlichen Opfers in der Badewanne untersucht hatte. Mark stand immer noch wie versteinert da.

„Na komm, jetzt beruhig dich mal wieder. Hast doch sonst Nerven aus Stahl.“ Lora drehte an den Knöpfen der Kamera herum. „Ich hab übrigens Bescheid gesagt, die anderen kommen gleich. Die Spurensuche aus Koblenz wird in einer Stunde hier sein und den Tatort übernehmen und …“ Sie hielt inne, als sie bemerkte, dass Mark etwas in seinen Händen hielt und wie gebannt darauf starrte.

„Was ist das?“

Mark hielt ihr den Zettel hin und sie las laut vor:

Der Zauberlehrling

Walle, walle, manche Strecke,

daß zum Zwecke BLUT fließe,

und mit reichem, vollem Schwalle

zu dem Bade sich ergieße!

J. W. von Goethe

23.42

„Wo hast du das her?“

„Aus seinem Mund.“

„WAS?!“

„Das war in seinem Mund.“

Jetzt erst bemerkte Lora die durchtrennten Fäden.

„Bist du wahnsinnig?“, fauchte sie ihn an. Dann gewann die Neugier wieder die Oberhand. Sie richtete ihren Blick erneut auf den Zettel: „Und was bedeutet das?“

„Keine Ahnung. Ich vermute, dass da jemand ein Spielchen mit uns spielen will.“

„Ich dachte, so was gibt's nur im Fernsehen.“

„Anscheinend gibt's das auch hier“, murmelte Mark.

„Das ist von Goethe.“

„So steht's da jedenfalls.“

„Nur, das mit dem Blut stimmt nicht.“

„Was meinst du?“

„Kennst du den Zauberlehrling denn nicht?“

„Doch schon, ich hab als Kind sogar mal bei einer Theateraufführung mitgespielt.“

„Normalerweise soll Wasser fließen, nicht Blut.“ Sie deutete auf den Text.

„Sieht so aus, als hätte unser Mörder den Text etwas verändert“, Mark zeigte auf die blutverschmierte Badewanne. „Er war sich mit dem Blut jedenfalls sehr sicher – hat sein kleines Gedicht auch mit Blut geschrieben.“

„Echt?“ Lora blickte erneut auf den Zettel.

„Es sieht jedenfalls so aus.“

„Und was bedeutet 23.42? Soll das eine Unterschrift sein?“

„Ich habe keine Ahnung.“

„Und den Zettel hat er im Mund gehabt? Wie ging das denn?“

„Der war hier drin.“ Mark hielt das aufgerissene Tütchen hoch.

„Die Spurensicherung wird dich nicht verfluchen. Nein, die werden dich umbringen! Mist, die kommen gleich.“

Ich weiß , dachte Mark. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Er war auf der Suche nach einer Antwort – oder war es die richtige Frage? Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum. Lora schnitt eine Grimasse hinter seinem Rücken.

Es war der andere Raum, der Raum, den er durch das Fenster gesehen hatte, der ihn am meisten interessierte. Als er die zweiflügelige Tür öffnete, stellte er als erstes fest, dass er recht gehabt hatte. Es roch muffig.

Er ließ den Blick durch den Raum schweifen. Auf dem Boden waren Krümel, im Regal standen Essensreste und der Papierkorb quoll über.

Er ging zu dem Schreibtisch. In einem Fach unter der Arbeitsplatte steckte der PC. Mark zog den blechernen Kasten heraus. Er war kein Experte für Computer-Hardware, aber er wusste, dass er hier einen High-End Gaming PC der Extraklasse vor sich hatte. „Was hast du damit getrieben, alter Mann?“

Er drehte sich um und zog am Rahmen des Gemäldes, das er zuvor schon betrachtet hatte. Seine Vermutung bestätigte sich. Der Bilderrahmen hob sich weiter von der Wand ab und gab den Blick auf einen wuchtigen Safe aus dunklem Stahl frei. Das Drehrad für die Zahlenkombination befand sich in halber Höhe. Ein Code erwies sich als entbehrlich. Die Stahltür war nur angelehnt.

Vorsichtig öffnete Mark sie. Im oberen Bereich befand sich ein Ablagefach. Mit der Hand tastete er hinein und entdeckte eine kleine Dose. Sie enthielt fünf längliche Tablettenkapseln. Die eine Seite war hellblau, die andere durchsichtig und darin konnte er winzig kleine, grünliche Körner erkennen. Er tastete erneut in das Innere und holte ein dunkelrotes Tuch und eine blond gelockte Perücke hervor. Er entfaltete den Stoff. Abendgarderobe aus Seide. Ein Damenkleid. Darin eingewickelt ein breiter, beigefarbener Gürtel mit runder Messingschnalle.

Plötzlich rumpelte es in dem Safe. Er wich unwillkürlich einen Schritt zurück und stieß gegen den Schreibtisch. Etwas Großes, Schwarzes kam ihm entgegengerollt. Noch nie im Leben hatte Mark so etwas gesehen. Bedrohlich polterte dieses Etwas auf die Holzdielen. Es bewegte sich noch einige Male wippend hin und her und verharrte dann reglos. Es sah aus wie ein riesiger Tintenfisch mit überdimensionalen Tentakeln, die sich nach ihm ausstreckten.

***

Logbucheintrag – Die Anfänge -

ΔΑΙΜΩΝ, ΕΛΠΙΣ, ΑΝΑΓΚΗ, ΕΡΩΣ, ΤΥΧΗ

Es weiß kein Mensch, was ich tue und mit wie vielen Feinden ich kämpfe, um das Wenige hervorzubringen!

Ich schreibe diese Zeilen. Ich bin geführt. Die Menschheit darf ihre Geschichte nicht vergessen.

Sie darf meine Geschichte nicht vergessen. Ich muss von den Anfängen erzählen. Aber wo ist der Anfang? Mein Leben ist vorherbestimmt. Es scheint, dass jeder Atemzug, jeder Gedanke einem tiefen, unergründlichen Plan dient.

Wo also beginnen?

Jetzt, da ich mich als würdig erwiesen habe, werde ich alles aufschreiben, damit künftige Generationen begreifen, was es mich gekostet hat, mein Leben als Opfer hinzugeben.

Im Grunde begann es in Verzweiflung – wie so oft. Ich erinnere mich noch genau.

Tencity – meine Schöpfung - mein geliebtes Kind.

***

Sie hatten den Tatort an den Erkennungsdienst übergeben. Alle Fragen waren beantwortet und alle nötigen Erklärungen abgegeben worden. Jetzt standen die Ermittler des Kriminaldienstes vor dem Haus des ermordeten Ehepaares. Während des normalen Arbeitsalltags hatte jeder der Mitarbeiter seinen eigenen Fachbereich: Betäubungsmittelkriminalität, Vermögensdelikte und Internetkriminalität. Bei schwerwiegenderen Verbrechen mussten die alltäglichen Arbeiten zurückgestellt werden. Nur durch das Gründen einer Soko konnten letztlich alle anstehenden Aufgaben abgearbeitet werden.

Mark wirkte etwas zerknirscht, hatte er doch zuvor die erwartete Schelte wegen seines eigenmächtigen Handels über sich ergehen lassen müssen. Die Kriminaltechniker hatten geflucht.

Trotz allem hatte er die Schwarze Krake, wie er das Monstrum aus dem Safe nannte, und den PC noch schnell ins Auto geladen. Die forensischen Auswertungen würde er keinem anderen überlassen. Er hatte schließlich nicht umsonst jahrelang im Bereich der Internetkriminalität gearbeitet.

Während Lora den anderen kurz erklärte, was sie bisher wussten, war er mit den Gedanken schon im Internet. Er hatte einige gute Ideen, wie er etwas zu der Krake herausbekommen könnte. Vermutlich würde das einiges an Recherchearbeit mit sich bringen. Mark war sich sicher, dass der Tod der beiden irgendwie mit den Sachen aus dem Safe zusammenhing.

Warum hatte der Safe offen gestanden? So, als sollte man dort etwas finden … Und dann war da noch die Sache mit dem Zauberlehrling. 23.42. Irgendeine Bedeutung musste das haben.

„… vielleicht könntest du dazu etwas sagen. Mark?“ Der Klang seines Namens riss ihn aus seinen Grübeleien. Alle blickten ihn an, während sich seine verklärten Augen langsam wieder scharf stellten und er zurück ins Hier und Jetzt driftete.

„Genau, es ist so, dass wir hier einen äußerst brisanten Fall haben. Wichtig scheint im Moment vor allem, dass wir so schnell wie möglich mehr Informationen erlangen, um weitere Ermittlungsschritte in Angriff nehmen zu können, und …“

„Mark!“ Lothar Köhler, Inspektionsleiter der Polizei Simmern war ebenfalls an den Tatort gekommen, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Jetzt unterbrach er ihn scharf.

Das Verhältnis zu seinem Chef war für Mark nicht immer ungetrübt. Lothar Köhler war ein Gendarm von der alten Sorte. Ein bärbeißiger Griesgram, dessen konservative Ansichten einen krassen Gegensatz zu Marks laissez-faire Art darstellten. Im Grunde war es nur eine Frage der Zeit, bis die beiden aneinander gerieten – wobei natürlich außer Frage stand, wer am längeren Hebel saß.

„Ich weiß, dass du nicht zugehört hast. Die Frage war, was das für eine komische Kugel war, die du eben im Kofferraum verstaut hast.“

Mark wusste, dass Köhler sowieso stinksauer war, weil er den Tatort, und vielleicht auch wichtige Spuren eigenmächtig verändert hatte.

„Ich hab im Moment nur so eine Ahnung, was dieses Ding sein könnte. Ich meine, etwas Ähnliches schon mal in einer Computerzeitschrift gesehen zu haben. Wenn sich mein Verdacht bestätigt, haben wir es hier aber mit einem äußerst brisanten Fall zu tun. Deshalb scheint es im Moment vor allem wichtig, so schnell wie möglich mehr Informationen zu erlangen, um weitere Ermittlungsschritte in Angriff nehmen zu können.“

So ziemlich alle in der Runde verdrehten genervt die Augen. Einige lächelten auch still vor sich hin. Köhler blieb beunruhigend ernst.

Ist ja mal wieder typisch , dachte Mark. Kann nicht lachen, wenn er mal auf die Schippe genommen wird. Das war ihm schon öfter bei Leuten aufgefallen, die permanent auf dienstlichen Modus geschaltet hatten.

Es war, als ob ihre Persönlichkeits-Computer nur ein sehr begrenztes Programm hätten. In diesem Fall hatte Köhler, nachdem er „Mark hat einen Witz gemacht“ eingetippt, und auf den Suchknopf gedrückt hatte, auf seinem geistigen Bildschirm eine Meldung erhalten, die lautete: „UNGÜLTIGE ANWEISUNG“: „DATEI NICHT GEFUNDEN“: „MARK HAT EINEN WITZ GEMACHT“ NICHT GEFUNDEN: „FÜR HILFE „F1“ DRÜCKEN“.

Köhler wandte sich an Lora: „Was wissen wir bis jetzt über die Ermordeten?“

„Wir haben bereits eine Komolettrecherche des LKA vorliegen. Die Daten wurden uns eben zugesandt. Peter Ewens ist 1951 in Frankfurt a. M. geboren. Er stammt aus einer Lehrerfamilie und hat nach seinem Schulabschluss Chemie studiert. Mit vierundzwanzig gründete er die Ewens Comp GmbH. Die Firma expandierte rasch und es gibt bis heute mehrere Tochterfirmen in Deutschland, der Schweiz und den USA. 2009 wurde bei Ewens ein Krebsgeschwür diagnostiziert. Die Ärzte mussten ihm beide Beine abnehmen. Seitdem saß er im Rollstuhl. Da er die Firma aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr weiterführen konnte, verkaufte er 2010 an die ContiTeverLife GmbH. Wir können also davon ausgehen, dass Ewens sehr vermögend ist.“

Unwillkürlich wandten sich die Köpfe in Richtung des villenähnlichen Anwesens. Die Blicke glitten über die imposante Fassade.

„Außerdem war er Jagdpächter. Er hat ein eigenes Jagdhaus im Soonwald.“ Lora sah mehrere Bilder auf ihrem Pad, die Peter Ewens im grünen Rock, mit Jagdhorn, Gewehr und grünem Filzhut mit Feder zeigten. „1978 heiratete er seine dreizehn Jahre jüngere Frau, Katharina Ewens, geborene Monschauer. Nach drei Jahren Ehe kam der einzige Sohn auf die Welt, Bernhard Ewens. Katharina war sozial sehr engagiert. Sie war Vorsitzende in verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen. Außerdem war sie in etlichen Vereinen als Mitglied registriert.

Der Junge, Bernhard, wurde von den Ewens im Alter von zehn Jahren in ein Kinderheim für Hochbegabte abgegeben. Anscheinend eine Folge familiärer Schwierigkeiten. Bernhard arbeitet in der ehemaligen Firma seines Vaters.