Alte Träume – Neue Pläne

Roman

 

 

 

von

Monika Heil

 

 

 

 

 

 

Impressum

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2015

EPUB ISBN 978-3-95865-748-9

MOBI ISBN 978-3-95865-749-6

 

 

 

Urheberrechtshinweis

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

 

 

 

Kurzinhalt

 

Alexander Wulfen kommt gerade aus seinem Urlaub aus Las Vegas zurück, als ihn zuhause am Flughafen seine Vergangenheit einholt. Ronaldo Ortega, alias Roland Otte, war tot aufgefunden worden. Schnell ist klar, er ist nicht auf natürlichem Weg gestorben und es hat irgendetwas mit dem mysteriösen Todesfall des Hamburger Unternehmerpaares von Straaten zu tun. Denn Ronaldo war nicht nur deren Chauffeur, sondern auch der Begünstigte einer Lebensversicherung, die von Alexander über die Elbe-Weser-Versicherung ausbezahlt wurde. Vier Millionen Euro. Und die sind nun verschwunden und mit ihnen die Witwe Ronaldos – Mona, die Geliebte Alexander Wulfens, der von ihr eine stattliche Provision aus der Versicherungssumme erhielt. Nun steht Wulfen unter Generalverdacht. Einzig Kommissar Wegener, der damals im von Straaten-Fall ermittelte, und Rolf Burmeester, Alexanders engster Kollege, sind von der Unschuld Alexanders überzeugt. Die Ereignisse überschlagen sich und während Mona versucht einen Weg zurück in die Heimat zu finden, ohne verhaftet zu werden, muss Alexander um seine Zukunft kämpfen.

 

„Alte Träume-Neue Pläne“ ist die Fortsetzung des erfolgreichen Romans „Einfacher Einsatz-Doppeltes Spiel“ um den Chefermittler der Elbe-Weser-Versicherung Alexander Wulfen.

 

Über die Autorin

 

Ich bin 1945 in Wippra/Südharz geboren, verbrachte meine Schul- und Jugendzeit in Wetzlar. 1968 heiratete ich. Wir lebten und arbeiteten bis zu unserem Ruhestand in Oberursel/Taunus. Ich bin ausgebildete Anwaltsgehilfin und war in diesem Beruf über vierzig Jahre tätig. Nach meinem langen Berufsleben und gleichzeitig großem Engagement im Ehrenamt – politisch, sozial, kulturell – begannen mein Mann und ich 2004 einen neuen Lebensabschnitt, der auch in einer neuen Umgebung stattfinden sollte. So zogen wir von Oberursel im Taunus in das schöne Stade, nahe dem Alten Land.

 

Bereits erschienene E-Books: „Am Strand“, „Sommer auf der Insel“, „Bruno und andere Gestalten“, „Einfacher Einsatz-Doppeltes Spiel“

 

 

 

 

 

 

 

1. Kapitel

 

 

1.

 

30.Oktober

 

Sein Flug dauerte sieben Stunden. Viel Zeit, mit offenen Augen vor sich hin zu träumen. Alexander holte sich ein zufriedenes Lächeln aus seinen Erinnerungen und es schien, als wolle er dies nie wieder aufgeben. Sein Sitznachbar schlief, während Alexander Wulfen in Gedanken Pläne schmiedete.

Ob Mona seine Ansichtskarte inzwischen erhalten hatte? Wann würden sie sich wiedersehen? Er beschloss, sie gleich morgen anzurufen und sie genau das zu fragen. Er glaubte, ihr helles Lachen zu hören, während er sich ihr noch nicht geführtes Telefonat in immer neuen, lebhaften Varianten ausdachte.

»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« Erschrocken blinzelte er die Stewardess an. Auch sein Nachbar war erwacht und setzte sich kerzengerade auf. Beide lächelten wie verabredet, und baten um einen Whisky. Wenn ihn so seine Mitarbeiter sehen würden - Kollege Wulfen trinkt Whisky, er, der bekennende Milchtrinker. Tja, Kollegen, die schöne Mona hat mir die Augen geöffnet. In Zukunft weht ein anderer Wind. Jetzt wird gelebt! Er hob sein Glas, als stünde die Schar der Kollegen vor ihm. Irritiert tat es sein Nachbar ihm nach, weil er die Geste missverstanden hatte. Und so kamen sie ins Gespräch. Alexander stellte sich namentlich vor und erwähnte, dass er bei einer Versicherung arbeite und dies seine erste Amerikareise war. Und das ausgerechnet im Spielerparadies Las Vegas. Hätte er die Gedanken dieses Dr. Kühn lesen können und nicht schon sein drittes alkoholisches Getränk vor sich stehen gehabt, wäre er vielleicht weniger redselig geworden. Der fand seinen Gesprächspartner nämlich ziemlich blass und fad, schätzte ihn auf Ende fünfzig, Anfang sechzig und mutmaßte, dass dieser Wulfen noch nicht sehr oft geflogen sei. Das würde zu dem Eindruck passen, den der Mann vermittelte. Spießig. Ein anderes Wort fiel ihm nicht ein.

»Dann ist das wohl Ihr erster großer Ausflug?«, erkundigte sich Dr. Kühn ohne Neugier.

»Das nicht. Geschäftlich bin ich viel und oft unterwegs. In ganz Europa. Ab und zu fliege ich auch mal. Das ist schließlich schneller und bequemer, als wenn ich mit dem Auto quer durch Deutschland fahren müsste. Das ist halt der Nachteil, wenn man im schönen Norden wohnt«, antwortete Wulfen. Ihr Gespräch plätscherte dahin mit nutzlosen Erörterungen über die schönsten geografischen Gegenden Deutschlands, Wetterprognosen und ähnliche uninteressante Dialoge.

Dr. Kühn unterdrückte ein Gähnen und schielte mehrfach auf die Zeitungen im Ablagefach vor ihm. Zwei Tageszeitungen hatte er geschafft, flüchtig durchzublättern. Die Börsenzeitung wartete noch darauf, ausführlicher gelesen zu werden. Vergeblich. Dieser Wulfen schien keinen Alkohol zu vertragen, denn er wurde immer lebhafter, schwärmte von einer Frau, die sein Leben umgekrempelt habe, von einem vorzeitigen Ruhestand, den er plane, kurz - von einem ganz neuen Leben. Rechtsanwalt Dr. Franz Kühn gähnte verstohlen. Das alles interessierte ihn herzlich wenig und so ließ er den anderen reden, gab so selten als möglich einen Kurzkommentar ab und überlegte dabei, was er morgen mit seinem Freund und Mandanten Markus Zeller besprechen werde.

Endlich kam die Durchsage des Kapitäns, dass sie sich im Landeanflug auf Frankfurt befänden. Es folgten Temperaturangaben und der Hinweis auf Windstille und herbstlichen Sonnenschein. Alexander Wulfen packte aufgeregt seinen ungelesenen Kriminalroman „Der Falschspieler“ von Anton Mehler in seine schmale Ledertasche. Er kannte den Schriftsteller persönlich, war er doch der Ehemann von Michaela van Straaten. Und die wiederum war der Auslöser zu seinem jetzigen Glück. Ohne diese Frau säße er heute nicht hier und hätte er auch Mona Berger nie kennengelernt. Jetzt strahlte er, als sei er wegen guter Führung vorzeitig aus der JVA entlassen worden, während er die Zucker- und Salztüten einpackte, die er während des Fluges nicht verbraucht hatte. Dr. Kühn schüttelte unmerklich den Kopf, während er seine Zeitungen ordnete und - bis auf das Börsenblatt - wieder in das Fach vor sich stopfte. Menschen gab es. Und der hier schwärmte von einer selbständigen Geschäftsfrau der Hamburger Gesellschaft. Sogar ein zerknittertes Foto hatte er ihm gezeigt. Die Linke war offenbar seine Angebetete. Er hatte die zwei unbestritten attraktiven Damen an einem Swimmingpool betrachtet. Auf dem Grundstück ihrer Villa, wie sein Gesprächspartner betont hatte. Naja, wenn die Dame meinte, diesen Langweiler zu mögen.

Kühn vergaß den anderen augenblicklich nach dem Ausstieg in Frankfurt. Als er im Anschlussflieger nach Hamburg saß, erkannte er Wulfen sofort an seiner Kombination wieder, deren Farbe und Karogröße vor mehreren Jahren modern gewesen war. Der gelbe Pullunder zur blauen Jeans waren noch das Schickste an ihm. Er saß jetzt am Fensterplatz auf der anderen Gangseite und hatte offenbar ein neues Opfer für seine Schwärmereien gefunden und Dr. Kühn konnte sich endlich seinem Börsenblatt widmen.

 

 

 

2.

 

Als Alexander Wulfen in Hamburg-Fuhlsbüttel zum Ausgang kam, entdeckte er zu seinem Erstaunen einen Bekannten. Kommissar Herbert Wegener schien auf einen der ankommenden Passagiere zu warten. Freudig ging er auf ihn zu.

»Hallo, Herr Wegener, Sie wollen mich doch nicht etwa abholen?«, versuchte er zu scherzen.

»Richtig. Genau deshalb bin ich hier. Kommen Sie, ich fahre Sie nach Hause«, erwiderte Wegener überraschend ernst und nickte. »Guten Flug gehabt?«, fuhr er gleich fort.

»Wie jetzt?« Wulfen hielt das für einen Scherz, als er schräg hinter Wegener Rolf Burmeester entdeckte, den Sicherheitsbeauftragten seines Unternehmens, dem er eifrig zuwinkte. »Nicht nötig, lieber Wegener, dort steht ein Kollege von der Elbe-Weser-Versicherung. Der will mich wahrscheinlich wirklich abholen.« Wie unlogisch die Anwesenheit zweier Bekannter war, ging ihm nicht auf. Burmeester schloss zu den beiden Männern auf.

»Hey Alexander. Guten Flug gehabt?«, fragte auch er. Jetzt stutzte Wulfen. Merkwürdig. Der Urlaub war vorbei. Sein rational denkender Verstand schob alle privaten Gedanken beiseite und wurde dienstlich.

»Kann mir bitte mal jemand erklären, wie dieses Empfangskommitee zu verstehen ist?« Irritiert sah er die beiden Männer an. Eine Gruppe Japaner marschierte an ihnen vorbei, schweigend und in Zweierreihen, wie gut erzogene Internatsschüler einer vergangenen Epoche. Alles Männer, alle in dunkelblauen Anzügen. Nur Burmeester hatte einen flüchtigen Blick für sie übrig. Wegener beachtete sie nicht. Er heftete seinen Blick auf Wulfen, nah, direkt, unmittelbar. Ein mitleidiger Unterton schwang in seiner Stimme, als er antwortete:

»Gleich, Herr Wulfen, lassen Sie uns erst mal fahren. Ich erkläre Ihnen alles im Auto.« Sie nahmen ihn in ihre Mitte, während sie zum Parkplatz gingen. Hoch über ihren Köpfen zog ein Schwarm Wildgänse in perfekter Pfeilformation am wolkenlosen Herbsthimmel dahin. Niemand beachtete sie, zumal ihre Rufe der Flughafen- und Straßenlärm verschluckte.

 

Burmeester war mit einem Fahrzeug des Unternehmens gekommen. Er setzte sich ans Steuer. Wegener und Wulfen nahmen im Fond Platz. Seit sie das Flughafengebäude verlassen hatten, hatte keiner ein Wort gesprochen. Langsam wurde die Situation ungemütlich. Wulfen bekam Herzklopfen und Schweißausbrüche.

»Wohin fahren wir?« Seine Stimme klang rau.

»Zuerst einmal in deine Wohnung, das Gepäck abstellen und später in die Firma«, lautete Burmeesters kurze Antwort.

»Was geht hier vor?«, fragte Wulfen erneut. Seine Stimme war einen Ton zu hoch. Er merkte selbst, wie sehr er sich zusammenreißen musste. Endlich berichtete ihm Wegener, der fast schon ein Freund für ihn war, die neuesten Ereignisse.

 

 

 

3.

 

»Tja, mein Lieber, hier haben sich in den letzten Wochen die Ereignisse quasi überschlagen. In Kurzform: Punkt eins, Ronaldo Ortega hieß in Wirklichkeit Roland Otte.«

»Aha. Und wie heißt er jetzt?« Wulfen versuchte, scherzhaft zu klingen.

»Immer noch Otte. Aber Punkt zwei, er ist tot.«

»Aha. Und warum?« Er merkte selbst, dass er nicht sehr sprachbegabt klang, brachte dennoch keine gescheiteren Fragen heraus.

»Ob es ein Unfall oder Mord war, ist noch nicht geklärt. Die Frankfurter Polizei ermittelt in alle Richtungen.«

Wegener schwieg kurz und überlegte. Nein, es hatte keinen Sinn. Er musste es aussprechen. In möglichst sachlichem Ton fuhr er fort: »Es gibt noch Punkt drei. Er hat wenige Tage vor seinem Tod Mona Berger geheiratet.« Diese Information schien Wulfen endgültig die Stimme zu rauben. Verwirrt starrte er den Kommissar an. Seine schöne Mona. Er hatte ihr doch aus Las Vegas eine Ansichtskarte geschrieben! Er registrierte, dass Wegener das seltsamerweise wusste, denn er erwähnte es bei seinem Bericht über die polizeilichen Ermittlungen und behauptete sogar, seine schöne Mona sei abgehauen. Aufenthalt unbekannt. Außer einem sich immer wiederholenden Kopfschütteln brachte Alexander noch immer keine Reaktion zustande. Unsicher lachend fragte er endlich:

»Was bedeutet das alles? Ich verstehe einfach nicht, was Sie mir sagen wollen.«

»Wie gesagt, wir ermitteln in alle Richtungen. Auch wegen eines Mordverdachtes.«

»Mona Berger eine Mörderin? Ausgeschlossen, ganz ausgeschlossen! Wie können Sie so etwas auch nur denken?« Alexanders Stimme klang laut und zornig. Burmeester klinkte sich ein.

»Das kannst du alles in Ruhe in den Zeitungen lesen. Übrigens, von den Lebensversicherungen weiß die Presse noch nichts. Dafür haben Remmers und wir beide gesorgt.« Wulfen seufzte und strich sich müde über die Augen, eine Geste, mit der er ihm fehlende Worte ersetzte. Er wusste, was er getan hatte und die anderen wussten es offenbar auch. Kurze Zeit schwiegen alle drei bis Alexander, scheinbar unmotiviert fragte:

»Woher kennt ihr beiden euch eigentlich?«

»Ich wollte Sie in Ihrem Unternehmen aufsuchen. Nachdem ich die Nachricht aus Frankfurt bekommen hatte und Frau Berger nicht zu Hause antraf, hoffte ich, von Ihnen Näheres zu erfahren.«

»Zum Glück stand ich gerade am Empfang und nahm ihn mit in mein Büro«, ergänzte Burmeester.

»Warum?«

»Das kann ich dir nicht mal beantworten. Instinkt vielleicht. Auf jeden Fall habe ich sofort erkannt, dass Herr Wegener dich schätzt und wir einander vertrauen konnten.«

»Er hat schneller als ich zwei und zwei zusammengezählt und gemeinsam haben wir versucht, Ihnen zu helfen.«

»Was habt ihr unternommen?« Seine Worte klangen so hohl, als hätte ein Mann in einem Fass gesprochen. Burmeester bremste und fuhr in eine Parkbucht.

»Wir sind da. Das erzähle ich dir nachher auf dem Weg in die Firma. Okay?«

 

Kurz darauf betraten sie gemeinsam Wulfens kleine Zwei-Zimmer-Wohnung im Norden Hamburgs. Nach drei Wochen Abwesenheit roch die Luft muffig. Alexander ließ seine Koffer in dem schmalen, schlecht beleuchteten Flur einfach stehen. Seine Begleiter mussten darüber steigen, als sie auf seine einladende Handbewegung hin in das Wohnzimmer gingen. Auch hier war die Luft schlecht. Wegener kannte die Wohnung nicht. Nachdem Wulfen die Jalousien hochgezogen, die Fenster geöffnet und wortlos das Zimmer wieder verlassen hatte, schaute Wegener sich daher interessiert, dennoch professionell unauffällig um. Burmeester kannte sich offensichtlich dort aus. Er verschwendete keinen Blick auf die Einrichtung, sondern steuerte direkt auf die schmale, dunkelbraune Ledercouch zu, die eindeutig schon bessere Zeiten erlebt hatte. Er warf sich in die Ecke, zog ein eierschalenfarbenes Wollkissen hinter seinem Rücken hervor und schleuderte es in die andere Ecke. Auf dem Tisch lagen veraltete Illustrierte. Burmeester sah sich nach einem Aschenbecher um, fand keinen. So unterdrückte er sein Verlangen nach einer Zigarette und griff missmutig nach einer Zeitung. Uninteressiert blätterte er sie durch. Reden mochte er nicht. Herbert Wegener hatte seine Inspektion beendet und setzte sich jetzt in den einzigen Sessel, der offenbar Wulfens Stammplatz war, denn die Federung war völlig durchgesessen. Das Zimmer wirkte, als hätte es sich mit seiner Hässlichkeit abgefunden. Der Glastisch war blind vor Staub, der langhaarige Flokati darunter hätte sich wahrscheinlich über einen Staubsauger gefreut. Der Nussbaumschrank, der eine gesamte Wandbreite einnahm, erinnerte Wegener an die Wohnung seiner Eltern zu einer Zeit, als er selbst noch ein kleiner Junge gewesen war. Die gesamte Einrichtung vermittelte den Eindruck, dass der Wohnungsinhaber entweder keinen Geschmack oder kein Interesse an schöner Wohnkultur hatte. Am Geld kann es nicht liegen, überlegte Wegener. Als Chefermittler der Elbe-Weser-Versicherung verdiente Wulfen mit Sicherheit gut.

»Wie lange wollen wir noch warten?«, murrte Rolf Burmeester.

»Lass ihm Zeit. Er muss das erst mal verdauen. Ich möchte ihn nicht drängen. Wann soll das Gespräch mit dem Vorstand stattfinden?«

»Ich habe uns für vierzehn Uhr angemeldet.« Synchron blickten sie auf ihre Armbanduhren.

»Wollen wir mit ihm essen gehen?«, überlegte der Kriminalbeamte, der sich hier allerdings nur in der Rolle des guten Bekannten sah.

»Besser, wir fahren in sein Büro. Da kann ich uns allen etwas aus der Kantine kommen lassen«, schlug Rolf vor. Sie hörten die Wasserspülung im nahen Bad. Alles sehr hellhörig hier, registrierte Wegener.

 

 

 

4.

 

Noch gab es keine offizielle Anzeige. Niemand in der Firma wusste, mit welchem Flieger Alexander Wulfen nach Hamburg zurückkommen wollte. Nur Burmeester hatte sich die Mühe gemacht, das abzuklären.

»Eine alte Erfahrung. Es lohnt sich, stets gute Beziehungen in alle Richtungen zu pflegen«, hatte er Kommissar Wegener auf dessen erstaunte Frage, wie ihm das gelungen sei, geantwortet. Näher erklärt hatte er es nicht. Sie kannten sich erst seit ein paar Tagen. Die Sorge um Alexander Wulfen hatte sie zusammengeführt und gemeinsam handeln lassen. Als erstes hatten sie sich seinen Computer vorgenommen. Sobald das Betriebssystem bereit war, durchforsteten sie mehrere Dateien. Ein paar gezielte Klicks hatten den erfahrenen Männern genügt, sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Wulfen hatte vier Millionen Euro auf das Konto von Mona Berger angewiesen. Diese Summe überstieg ganz klar seine Kompetenzen. Seine Vollmachten waren auf eine Million begrenzt. Und was hatte der Unglücksrabe getan? Er hatte vier Mal eine Million angewiesen. Burmeester verstand das alles nicht. Das würde eine Revision doch ganz schnell bemerken und Wulfen musste das wissen. Wegener, der Zugriff zu den entsprechenden Programmen des Polizeicomputers hatte, war ein paar Tage später erneut und gut präpariert bei der Versicherung erschienen. Verdeckte Ermittlungen hatte er auf der Dienststelle vorgeschoben, als er von dem Vorgang ´Korruptionsverdacht Alexander Wulfen` hörte. Er war der Ermittlergruppe bis dahin zwar nicht zugeteilt, hatte dennoch alle Auskünfte erhalten, die er im Augenblick benötigte. Eine Million Euro waren von einer Person mit dem unglaublich dilettantischen Decknamen ´Lisa Lächeln` auf Alexander Wulfens Konto eingezahlt worden. Das wiederum rief die Bankenaufsicht auf den Plan. Zeitgleich war das Konto von Mona Berger und Roland Otte leergeräumt worden. Schnell konnten die beiden Herren eins und eins zusammenzählen und waren sich einig, dass ihr gemeinsamer Bekannter Hilfe brauchte und so hatten sie versucht, eine Strategie zu planen, die Alexander Wulfen aus seiner Misere holen sollte.

Als Alexander Wulfen endlich ins Wohnzimmer zurückkam, hatte er sich einigermaßen gefasst. Noch immer blass bis in die Lippen, rang er sich ein mühsames Lächeln ab.

»Leider kann ich Ihnen nichts zu trinken anbieten. Nach drei Wochen Abwesenheit habe ich nicht einmal Milch im Haus.« Beide Angesprochenen winkten ab. »Wann wollen wir los?«

»Am besten gleich. Dann kannst du vorher noch alle Zeitungsausschnitte lesen, bevor du ins Himmelreich fährst.« Burmeester biss sich auf die Zunge. Wegener runzelte die Stirn. Wulfen lächtelte. »Entschuldige, das war wohl eben daneben«, entschuldigte sich der junge Kollege. Wulfen lächelte weiter, als sei seine Mimik mit Pattex aufgeklebt. Der Vorstand saß im obersten Stock und deshalb wurde dessen Büroetage im Firmenjargon ´das Himmelreich`genannt.

Kurz darauf brachen alle drei auf. Die Koffer waren weggeräumt. Sie griffen nach ihren Jacken, die an der schmalen Flurgarderobe hingen. Jeder versuchte, dem anderen den Vortritt zu lassen. Endlich standen sie wieder auf der Straße und gingen zum Auto. Wulfens Lächeln war verschwunden. Beim Verlassen seiner Wohnung versuchte er, seine Gedanken über die unglaublichen Geschehnisse der letzten Wochen in der Ecke abzustellen und dort zurückzulassen. Doch er wusste, bei seiner Rückkehr würde er sie wieder vorfinden und erneut schultern müssen.

 

 

 

5.

 

Nach drei Stunden war Alexander wieder zu Hause. Er schloss seine Wohnungstür von innen ab. Jetzt wollte er nur noch allein sein. Burmeester hatte ihn gefahren. Er hatte gewartet, bis der junge Kollege an der nahen Kreuzung rechts abgebogen und nicht mehr zu sehen war. Dann hatte er sich zu Fuß zur nächsten Tankstelle aufgemacht. Der Tankstellenpächter Gerd Kremmers, der ihn seit Jahren kannte, begrüßte ihn freudig überrascht.

»Lange nicht gesehen. Urlaub gehabt?« Wulfen nickte, gab keine Antwort. Mit aufmerksamem Blick ging er an den Regalen entlang, die er früher nie beachtet hatte. Da - schottischer Whisky. Er stellte die Flasche auf die Verkaufstheke. Diesmal war das Erstaunen des Verkäufers noch intensiver. Dann hatte Kremmers eine Erklärung parat.

»Lassen Sie mich raten. Sie müssen auf einen Geburtstag und haben das Geschenk vergessen.« Wieder nickte der Angesprochene, zahlte wortlos und ging. Gerd Kremmers sah ihm kopfschüttelnd nach.

 

Alexander Wulfen saß auf seinem Bett und trank. Zu viele Stunden hatte er sich jetzt zusammengerissen. Nun wolle er nur noch betrunken werden und vergessen. Es klappte nicht. Immer wieder liefen die Dialoge in seinem Kopf ab. Erst Wegener, der ihm erzählt hatte, dass dieser Ortega, der angeblich auch Otte hieß, tot sei und dass er drei Tage vorher Mona Berger geheiratet hatte. Seine schöne Mona. Dass sie sich - wahrscheinlich - mit ziemlich viel Geld ins Ausland abgesetzt hat. Inzwischen hatte er begriffen, dass Wegener nicht scherzte. Die Wahrheit war bitter. Und unverständlich. Wie konnte sie ihm das nur antun? Er dachte an ihr letztes Gespräch. Wenn er geahnt hätte, was sie plante! Hätte er es verhindern können? Wohl kaum. Mona Berger tat offenbar immer nur, was sie für richtig hielt. Ohne Rücksicht auf Verluste. Alexanders Stimmung schwankte zwischen Zorn und Traurigkeit. Seine Gedanken wanderten weiter zu Burmeester. Der hatte es für angebracht gehalten, Wegener über Wulfens kleine Schwäche zu informieren. Er war einer der wenigen, die über seinen Hang zum Glückspiel wussten. Gemeinsam hatten sie später Dr. Remmers aufgesucht. Er war der Justiziar im Unternehmen und Mitglied im Vorstand. Mit ihm hatte sich Alexander in all den Jahren gut verstanden. Nicht zuletzt deshalb versuchte Remmers, laut Burmeesters Einschätzung, offensichtlich zu vermeiden, dass der Fall so frühzeitig an die Öffentlichkeit kam. Der Imageschaden wäre - auch für das Unternehmen - beträchtlich. Eine plausible Begründung. Er hatte sofort den zuständigen Kollegen der Bankenaufsicht angerufen, den er gut kannte, und tatsächlich erreicht, dass auch dort »der Ball erst einmal flach gehalten wurde«, wie er sich ausdrückte. Schließlich hatten die drei Herren ein Gespräch mit Alexander Wulfen für den Nachmittag vereinbart. Und das lag inzwischen auch hinter ihm. Es war nichts Abschließendes dabei herausgekommen. Ein weiteres Gespräch im ´Himmelreich` sollte in den nächsten Tagen erfolgen. Solange war Wulfen mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert.

»Ich begreife das alles nicht«, teilte Alexander der leeren Whiskyflasche mit und rollte sie unter sein Bett. Er schickte ihr ein paar Flüche hinterher, verwünschte Wegener und Burmeester für ihr Handeln, entschuldigte sich in Gedanken sofort wieder bei ihnen und landete - immer und immer wieder - bei Mona Berger. Sie war die Böse, nicht seine beiden Bekannten. Sie sollte er verfluchen. Das allerdings brachte er nicht fertig. Seine Gedanken drehten sich in einer Endlosschleife bis ihm ganz schwindelig wurde und er rücklings in die Kissen fiel. Emotional völlig erschöpft schlief er endlich ein. Die aufregenden Ereignisse verfolgten ihn in seine wirren Träume.

 

 

 

6.

 

Dr. Franz Kühn war Mitglied einer Sozietät, die aus fünf Anwälten verschiedener Fachrichtungen bestand. In seine Zuständigkeit fiel unter anderem internationale Wirtschaftskriminalität. Alle schätzten sein enormes Fachwissen, aber auch seine außergewöhnlichen Computerkenntnisse. Man kannte ihn als Liebhaber guter Weine und als Skandinavien-Fan. So entsprach er absolut dem Klischee des modernen, dynamischen Akademikers, unabhängig, ehrgeizig, ledig. Mit seinem Äußeren war er ganz zufrieden. Mit einem Meter und fünfundsiebzig war er nur fünf Zentimeter größer als seine Freundin Sandra. Das fand er okay. Er hatte eine sportliche Figur, bewegte sich leicht und kraftvoll, was auf viele Tennismatches, Joggen und nicht zuletzt auf sein regelmäßiges Golfspielen deutete. Letzterem hatte er im Sommer auch seine frische Gesichtsfarbe zu verdanken. Im Winter kam sie vom Skilaufen. Seinen konservativen Haarschnitt trug er mit hanseatischer Gelassenheit. Es war eine Geste, mit der er Rücksicht auf die Vorstellungen der Kanzleikollegen zeigen wollte. Der Älteste dort hatte das übliche Rentenalter längst überschritten. Franz Kühn war mit achtunddreißig Jahren der Jüngste. Nur sein Name gefiel ihm nicht.

Sie hatten ihn Franz genannt, nach seinem Vater und seinem Großvater. Das war damals so üblich, hatte ihm seine Mutter mehr als einmal erklärt. Er fand es gedankenlos, einen so veralteten Namen in eine moderne Zeit mitnehmen zu müssen. Das nahm er seinen Eltern, die als Obstbauern im Alten Land lebten, schon als Kind übel. Allerdings äußerte er sich weder dazu, noch zu allem, was ihm an seinem Elternhaus nicht passte. Sie pflegten die Traditionen genau so strikt wie ihre Nachbarn. Als Erwachsener war er seinen Eltern aus dem Weg gegangen, so lange sie lebten. Ab und zu brach der angesammelte Gefühlsstau explosionsartig auf. Dann wütete er gegen alles, was sich in seinem Dunstkreis befand. Am meisten gegen sich selbst. Wenn er wieder zur Vernunft kam, taten ihm seine Reaktionen regelmäßig leid. Das allerdings konnte er nicht und niemanden gegenüber zugeben. So zerstörte er flüchtige Bekanntschaften, langjährige Freundschaften, einmal auch die Beziehung zu einer Frau, die er wirklich zu lieben glaubte. Er verschanzte sich hinter einer Mauer, aus der Sarkasmus tropfte, wie Wasseradern aus einer Felswand.

Seine Mutter hatte diese Neigung frühzeitig erkannt. Gegengesteuert hatte sie nie. Später fand sie keinen Zugang mehr zu ihrem verschlossenen Sohn. Er mied sein Elternhaus in den letzten Jahren ihres Lebens. Als beide Elternteile bei einem Autounfall ums Leben kamen, trauerte er mehr um seine verlorene Kindheit und um die verpassten Gelegenheiten, mit seiner Mutter zu sprechen, als um ihren Tod.

Aus früheren Erzählungen wusste er, dass zumindest der Großvater ein ähnlich schwieriger Charakter gewesen war. Man munkelte, er habe sogar mehrfach wegen diverser Prügeleien tageweise in Arrest gesessen. Sein eigener Vater war ein harter, unnahbarer Mann gewesen. Franz erinnerte sich nur ungern an dessen strenges Regiment, das auch die Mutter nicht mildern konnte. Es war ihm ein Rätsel, wie diese beiden Menschen es über fünfzig Jahre miteinander ausgehalten hatten. Dr. Franz Kühn war sicher, dass das großväterliche Erbe bei ihm nicht wirklich durchschlagen würde. Er war sich der drohenden Gefahr durchaus bewusst, glaubte aber, mit seinem kühlen Sachverstand dem entgegenwirken zu können. Er nahm, was das Leben ihm an Positivem zu bieten hatte. Ab und zu hatte er mehr oder weniger lang anhaltende Beziehungen. Sandra Hamann hieß die aktuelle. Das alte, reetgedeckte Backsteinhaus in der Nähe von Stade hatten ihm seine Eltern vererbt. Das war jetzt fast zehn Jahre her. Es hatte lange gedauert, bis er selbst dort einzog. Vorher hatte er möglichst viele Spuren der früheren Bewohner gelöscht, das Haus modernisiert und neu möbliert. Eine Putzfrau kam zweimal die Woche. Sie kümmerte sich auch um seine Wäsche, die sie mit nach Hause nahm.

Sandra Hamann besaß eine Eigentumswohnung in einem angesagten Viertel in Buxtehude. Sie war leitende Angestellte einer kleinen, alt eingesessenen Firma, die ihre Geschäftsräume im Industriegebiet zwischen Hamburg und dem Alten Land hatte. Zwei Brüder leiteten das Unternehmen. Der eine die Werft - und das schon in der fünften Generation - der andere die Reederei, die ihr Vater aufgebaut hatte. Sandra Hamann war in beiden Geschäftsbereichen firm. Für die tägliche Fahrt ins Büro hatte sie zwar keine langen Wege zu fahren, geschäftlich kam im Laufe eines Jahres allerdings eine stattliche Anzahl von Kilometern zusammen.

Heute war sie mit Rezzo Santini verabredet. Sie kannten und schätzten sich seit einigen Wochen. Der gut aussehende Geschäftsmann hatte Verbindung zu Kunden, die ins Containergeschäft einsteigen wollten. Ihr Unternehmen stellte kleiner Containerschiffe her, obwohl es in der Branche hieß, die großen Pötte würden immer interessanter. Sie hatten sich auf eine Marktlücke der kleinen, wendigen Schiffe spezialisiert, Schiffe, die auch Häfen anlaufen konnten, die andere ihrer Größe wegen meiden mussten. Eine Zeitlang hatte sie gemeint, auch Kohleschiffe hätten eine Zukunft. Dann hatte sie in der Presse die Diskussionen um die zu bauenden Kraftwerke entlang der Elbe verfolgt. Das Thema wurde emotional aufgeladen und sehr kontrovers behandelt. Sie hatte schon einen dicken Ordner mit Fachaufsätzen, Presseberichten, aber auch vielen gegensätzlichen Leserbriefen gesammelt. Ihre anfängliche Euphorie war schnell geschwunden. Offensichtlich waren Kohlekraftwerke in größerer Anzahl weder umwelt-politisch noch gesellschafts-politisch durchzusetzen. Dann also besser die kleinen Containerschiffe.

Kürzlich war sie gemeinsam mit Rezzo Santini in Frankfurt gewesen. Sie hatten mit der Bahn wegen eines lukrativ klingenden Auftrages verhandelt. Nicht nur Schiene und Straße würden für die Wirtschaft in Zukunft interessant sein. Auch die Verbindung von schienengebundenen Containern und der weltweiten Schifffahrt würde noch weit mehr zunehmen, als es in den letzten Jahren bereits der Fall war. Rezzo Santini vertrat einen Kunden, der die Schiffe kaufen wollte, die einer der beiden Brüder auf seiner Werft baute. Bei jenem Gespräch war es um Frachtkapazitäten gegangen. Seit einem gemeinsamen Abendessen mit zwanglosem Abschluss in der Hotelbar waren sie per Du.

Rezzo war - wie immer - auf die Minute pünktlich. Frau Redlich, Sandras Sekretärin, öffnete die Tür.

»Herr Santini ist da, Frau Hamann.«

»Ich lasse bitten.« Sofort stand sie von ihrem Schreibtischsessel auf und ging ihrem Besucher entgegen.

»Hallo Rezzo, schön, dass du da bist. Nimm bitte Platz. Ich bin sofort bei dir. Die Verträge liegen auf dem Tisch.« Sie wies lächelnd auf die hellbezogene Couch, die unter lebhaften, farbenprächtigen Bildern die rechte Wand einnahm. Bevor Frau Redlich die Tür wieder schließen konnte, bat Sandra um Kaffee.

»Kommt sofort.« Weg war sie. Sandra ging noch einmal zurück zu ihrem Schreibtisch, der am Fenster stand, tippte ein paar Notizen in ihren Laptop, ohne sich zu setzen. Dann klappte sie ihn zu und kam mit schnellen Schritten in den Teil ihres weitläufigen Büros, der ihren Besuchern vorbehalten war. Rezzo Santini hatte einen Vertragsentwurf vorgefunden und sofort begonnen, ihn zu lesen. Nun legte er die Blätter beiseite.

»Gut siehst du aus«, strahlte er Sandra an und stand auf. Erst, als auch sie Platz genommen hatte, setzte er sich wieder. Sie registrierte es, denn sie mochte Männer, die gutes Benehmen zeigten. Leider war das nicht sehr oft der Fall. Viele der jungen Manager, die viel zu früh in verantwortungsvolle Positionen gekommen waren, kämpften sich mit Rücksichtslosigkeit und Arroganz an die Spitze. Fingerspitzengefühl und Benehmen ging ihnen dabei oft ab. Gut, sie wollte nicht verallgemeinern, aber Männer wie Rezzo Santini waren eben aus anderem Holz geschnitzt. Ihr Vater war genauso gewesen.

»Kaffee kommt gleich«, versprach sie. »Ich würde den Vertrag gern mit dir Seite um Seite durchgehen. Ist das für dich okay? Hast du so viel Zeit? Oder willst du ihn mit nach Hause nehmen und in Ruhe durchlesen?«

»Ich habe den ganzen Vormittag für dich und den Vertrag Zeit. Lass uns das gemeinsam durchgehen.«

»Fein.« Sie sprang wieder auf, holte den Laptop vom Schreibtisch und rief den Vertrag auf.

Die nächsten Stunden arbeiteten sie konzentriert und routiniert. Sie hatten dieselbe Wellenlänge. Mit Franz war das manchmal viel schwieriger. Der war nicht so geduldig. Viel zu aufbrausend und manchmal auch rechthaberisch. Das Telefon klingelte und holte sie aus ihren gedanklichen Vergleichen zwischen den beiden Männern, die sie zur Zeit am meisten interessierten, zurück. Frau Redlich meldete sich.

»Dr. Kühn ist am Telefon, Frau Hamann.« Wenn man vom Teufel spricht, dachte sie sarkastisch.

»Stellen Sie durch.«

Rezzo tat, als höre er nicht zu, auch wenn das unmöglich war. Schließlich hielten sie sich im selben Zimmer auf. Offenbar sprach sie mit ihrem Bekannten, wie sie es ihm gegenüber einmal ausgedrückt hatte. Offenbar lebten die zwei wohl doch zusammen. Er hörte Satzschnipsel, die wie Telegrammstil klangen: »Keine Zeit, ... das ist schließlich dein Anzug ...Baguette reicht ... ist noch da ... ich dich auch.« Na, der letzte Satz war doch recht aufschlussreich gewesen, auch wenn er nicht überaus liebevoll geklungen hatte. Rezzo dachte, er sollte sich wohl besser keine Hoffnungen machen. Aber Mona hatte ihm ja auch vorgegaukelt, ihn zu mögen und gleichzeitig hatte sie ihre Hochzeit mit Ronaldo vorbereitet. Reflexartig kochte seine Wut hoch. Schnell versuchte er, sich wieder auf den Vertrag zu konzentrieren.

»Können wir mal ein Fenster aufmachen?«

»Na klar. Wir sollten auch mal eine kleine Pause einlegen. Magst du etwas Kaltes zu trinken? Sekt, Wasser, Orangensaft?« Sie ging, um das große Panoramafenster zu öffnen. Die Seide ihres Kleides raschelte. Es klang wie unterdrücktes Kichern. Er sah ihr nach und vergaß zu antworten. Ihr Gang wirkte federleicht, obwohl sie sich auf irrwitzig hohen Absätzen bewegte. Ihr Rücken und ihr Kopf bildeten eine gerade, sehr aufrecht wirkende Linie. Ihre Haltung strahlte Selbstbewusstsein aus. Er fand diese Frau mehr als attraktiv.

»Hallo Rezzo, ich habe dich was gefragt.«

»Entschuldige, Sandra. Ich war ganz wo anders. Ein Wasser wäre gut. Sekt erst, wenn alles in trockenen Tüchern ist, denke ich. War das dein Lebensgefährte?« Den letzten Satz hatte er gar nicht aussprechen wollen. Er war ihm einfach herausgerutscht.

»Nun, sagen wir so: Er ist ein großartiger Jurist, wir haben viel Gemeinsames und sind uns einig, dass wir einen mehr oder weniger langen Lebensabschnitt miteinander verbringen wollen. Wie lang der sein wird, weiß ich im Augenblick nicht.« Sie reichte ihm das Wasserglas und sah ihm ruhig und fast emotionslos in die Augen. Rezzo hielt ihrem Blick eine Zeitlang stand.

»Interessant«, murmelte er. »Sag Bescheid, wenn du es weißt.« Er hob ihr lässig das Glas entgegen. Dann setzte er sich wieder. Nun erst lächelte Sandra.

 

Eine Stunde später hatten sie den Vertrag durchgearbeitet, einige unklare Passagen bereinigt. Rezzo versprach, den Vertrag seinem Kunden zur Unterschrift zu empfehlen.

»Ich melde mich, wenn er sein »okay« gibt. Dann kommen der Geschäftsführer und ich wieder her. Und dann können wir Sekt trinken.«

Die Verabschiedung verlief kollegial freundlich.

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Kapitel

 

 

1.

 

30. November

 

Sie hatte deutsche Zeitungen besorgt und stellte fest, dass der Rummel um ihre Person langsam abebbte. Irgendwann war auch die reißerischste Schlagzeile Schnee von gestern. In unserer schnelllebigen Zeit ist das auch nicht anders zu erwarten, dachte Mona Berger. Und das ist gut so, schloss sie ihre Gedanken ab. Ihre Flucht war einerseits der Bruch mit allem Realen, lange Aufgebauten. Je mehr sie an Bodenhaftung verlor, desto größer waren die Flügel ihrer Fantasie geworden, die sie eine Zeitlang zum Fliegen brachten. Dann kam der Absturz und der war abrupt.

 

Sie hatte sich ein kleines Appartement unter dem Namen Ronja Burger gemietet. In Sao Paulo fragte niemand nach Pass und Kreditkarte, wobei sie letztere sowieso nicht mehr benutzen konnte. Was immer sie erstand, sie zahlte jetzt bar. Das Gebäude war riesig, anonym und lag im Herzen der Stadt. Genau das, was Mona zur Zeit brauchte. Bernhard, ihren Exmann, hatte sie bisher nicht aufgesucht, obwohl er ein Büro in der Stadt unterhielt. Sie war mehrfach daran vorbei gegangen, hatte die goldenen Tafeln am Eingang gelesen, sich bisher jedoch gescheut, durch die große Glastür des protzigen Bürogebäudes zu gehen. Warum war sie nicht in Buenos Aires geblieben? Es hatte ihr dort nicht gefallen. Das war als Begründung zu wenig. Eine bessere wusste sie nicht. Warum war sie ausgerechnet nach Sao Paulo weitergereist, wenn sie nicht die Absicht hatte, sich bei Bernhard zu melden? Auch das konnte sie nicht erklären. Ein Reflex. Ein unbewusster Wunsch nach Schutz? Den würde Bernhard ihr nicht bieten. Sie vermutete, dass er über die Ereignisse auf dem Laufenden war. Das konnte gar nicht anders sein. Er hatte ein Büro in Hamburg und damit ständigem Kontakt zu Deutschland. Vermutlich hatte sich auch die deutsche Polizei inzwischen bei ihm gemeldet. Außerdem würde er sich wahrscheinlich um die durch ihre Flucht unbewohnte Villa kümmern wollen. Wenn sie jetzt Kontakt zu ihm aufnähme, würde er mit Sicherheit die Polizei informieren. Sie seufzte. Alles war anders gelaufen, als sie es sich vorgestellt hatte. Mona musste sich eingestehen, dass sie zu überstürzt gehandelt hatte. Bei allem Ärger über ihre jetzige Situation musste sie in Gedanken an ihre Flucht plötzlich grinsen. Es war wirklich zu einfach gewesen! Sie hatte alle ausgetrickst – die nette Dame am Schalter der Fluggesellschaft, den Zollbeamten, der ihren Pass mehr als flüchtig angeschaut hatte, und zuletzt auch die Sicherheitsbeamten. Sie hatte zwei Koffer aufgegeben und problemlos einen Haufen Bargeld nach Südamerika schleusen können. Wenn sie früher Artikel über gleichartige Situationen in der Zeitung gelesen oder in den Fernsehnachrichten gesehen hatte, konnte sie nur ungläubig darüber lächeln. Jetzt erst wusste sie, wie einfach das ging. Trotzdem, sie hätte nicht so spontan reagieren dürfen. Andererseits wäre wahrscheinlich mit Rolands Tod sowieso alles aufgeflogen. Rolands Tod. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Ob man sie am Ende vielleicht sogar verdächtigte, etwas damit zu tun zu haben? In den Zeitungen konnte sie keinen Hinweis darauf finden. Vielleicht war das Absicht, um sie in Sicherheit zu wiegen. Andererseits hatte sie ja wirklich nichts damit zu tun. Sie war erschüttert gewesen, als sie lesen musste, dass Roland tot war. Unfall oder Mord? So spekulierte die Boulevardpresse. Normalerweise wäre ihr Mann mit seinem Ableben überhaupt nicht in die Schlagzeilen geraten, wäre nicht das ganze Drum und Dran so mysteriös gewesen. Die Polizei hatte seine zwei Pässe gefunden und hatte herausgefunden, dass er nur wenige Tage zuvor geheiratet hatte. Schnell waren sie den leeren Konten auf die Spur gekommen und hatten festgestellt, dass sie - Mona Berger – ins Ausland geflohen und mit ihr das ganze Geld verschwunden war.

Was würde Alexander zu dem ganzen Schlamassel sagen? Der nette, brave Alexander Wulfen von der Elbe-Weser-Versicherung. Wenn sie herausbekämen, dass er bei dem Deal eine nicht unerhebliche Provision kassiert hatte, könnte es auch für ihn eng werden. Die Ereignisse hatten sich einfach verselbständigt. Was wäre gewesen, wenn sie nicht gerade an diesem Tag ihren Abschied von Deutschland genommen hätte? Säße sie dann heute in einem deutschen Gefängnis in Untersuchungshaft? Das wollte sie sich lieber nicht vorstellen. Immer wieder führte sie solche Selbstgespräche. Es war sonst niemand da, mit dem sie hätte reden können.

Mona stand auf und ging hinaus auf den winzigen Balkon vor ihrem Fünfzehn-Quadratmeter-Wohnzimmer. So groß war in Hamburg ihr Bad gewesen. Die Mittagshitze hatte ihren Tageshöchststand erreicht, der Straßenlärm brandete zu ihr herauf wie ein fauchendes wildes Tier. Zu Hause lag möglicherweise bereits der erste Schnee. Hier kletterte das Thermometer auch im November auf angenehme fünfundzwanzig Grad am Tag. Nachts kühlte es meist auf sechzehn, siebzehn Grad ab. Sie ging wieder zurück in die schützende Kühle ihrer Wohnung und schloss die schallisolierte Tür. Zum Glück hatte das Appartement eine Klimaanlage. Sie lief in die winzige Küche, holte sich eine eiskalte Cola aus dem Kühlschrank und kehrte zurück in den Wohnraum. War es das wert? Sie schaute sich in ihrem trostlosen Quartier um, starrte auf ihr Handy, das sie nicht benutzen konnte. Wen sollte sie auch anrufen? Die Trostlosigkeit ihres derzeitigen Alltags machte sie rasend. Sie konnte niemandem die Schuld dafür zuschieben. Sie ganz allein hatte sich in diese Situation manövriert. Sie war eine reiche Frau und hauste hier in diesem Loch in dieser unerträglichen Stadt. Wieso hatte Bernhard am Telefon immer von Sao Paulo geschwärmt? Hatte sie sich deshalb entschieden, hier unterzutauchen? Warum hatte sie nicht nüchtern überlegt, dass es ein Unterschied war, ob man als angesehener, wohlhabender Bürger in einem schönen Haus in Brooklin Paulista lebte, einem Stadtviertel, in dem sich bevorzugt Deutsche angesiedelt hatten und ob man geachtet in der Gesellschaft seinem Beruf nachging oder sich in einem anonymen Hochhaus versteckte? Gut, sehr viel kannte sie bisher nicht von der Riesenstadt. Sie war gleich in den ersten Tagen die Avanida Paulista entlang gegangen, von der sie wusste, dass dies die älteste Prachtstraße Sao Paulos war, in der einst die Großindustriellen, die Kaffeebarone und der Geldadel ihre Paläste errichtet hatten. Das musste aber wirklich schon sehr lange her sein. Sie hatte eine Hochhausschlucht angetroffen, in der sich Banken und Versicherungen sowie bekannte internationale Handelskonzerne angesiedelt hatten. Das ist der heutige Geldadel, überlegte sie. Sie empfand die Stadt als laut und schmutzig. Die dichte Bebauung und die hohe Verkehrskonzentration führten zu enormen Umweltproblemen. Das hatte sie sehr schnell erkannt. Lärm und Gestank gingen ihr in kürzester Zeit auf die Nerven. Ein paar schöne innerstädtische Parks sorgten nicht wirklich für Abhilfe. Der interessanteste war der Parque do Ibirapuera. Central Park nannten ihn die Einheimischen. Er war offenbar ihr Hauptausflugsziel am Wochenende. Solche Menschenmassen hatte Mona in Deutschland noch nie beobachten können.

Sie musste hier raus. Ganz schnell, sonst würde sie verrückt werden. Sie rief ein Taxi. Dann ging sie in ihr Bad, um sich frisch zu machen, auch wenn das nur ein paar Minuten etwas nützte. Ihr Ziel waren die Markthallen, in denen man nicht nur Früchte, Gemüse und Gewürze kaufte, nein der Mercado Central war auch ein wichtiges Zentrum für Zeitvertreib und Kommunikation.

 

 

 

2.

 

Am nächsten Tag hatte er einen fürchterlichen Kater. Alexander Wulfen war Alkohol nicht gewöhnt. Was war nur über ihn gekommen, dass er sich gestern so hatte volllaufen lassen? Mit schmerzendem Kopf und erbarmungslosem Lärm in den Ohren tauchte er aus dem Schlaf auf.

»Ich grüße alle Morgenmuffel mit einem fröhlichen guten Morgen und einem fetzigen Muntermacherstück von ...«, sagte der Lärm und dann glaubte er, in seinem Schlafzimmer bräche die Hölle los. Mühsam ordnete er seine Gedanken. Die Automatik seines Radioweckers war angesprungen. Wann hatte er diese unerträgliche Lautstärke einprogrammiert? Sein Hirn verweigerte eine Zusammenarbeit. Seine Finger reagierten automatisch. Sie tasteten sich zu seinem Nachttisch und stellten den Ton leiser. Vorsichtig öffnete Alexander die Augen. Die Sonne blendete. Wie spät war es? Was für ein Tag war heute? Um Gotteswillen! Er musste zum Dienst!

Schlagartig kam die Erinnerung. Er war suspendiert. Ganz vorsichtig, als seien seine Knochen aus Glas, erhob er sich. Ihm wurde schwindelig. Tief durchatmen!, befahl er sich. Langsam wankte er ins Bad. Entsetzt starrte er sein Spiegelbild an. Die Augen lagen in tiefen Höhlen, seine Gesichtshaut war aschgrau. Stöhnend griff er sich an die Stirn. Er ließ kaltes Wasser laufen, um seinen trockenen Mund auszuspülen. Der schlechte Geschmack blieb. Alexander suchte eine Kopfschmerztablette, stellte fest, dass das Haltbarkeitsdatum abgelaufen war. Er schluckte sie dennoch. Stöhnend legte er sich kurz darauf wieder in sein Bett. Der Tag war gelaufen. Aber was machte das schon. Er war ja sowieso arbeitslos und hatte nichts zu tun. Ehe er sich weitere Gedanken um seine Zukunft machen konnte, war er wieder eingeschlafen.