Cover

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Danksagung von Bengar ... und Denise Valentin

 

 

 

 

 

 

 

LYS

 

 

 

Wildes Erbe

 

 

Ein Fantasy-Roman von Denise Valentin

Impressum

 

Denise Valentin

Lys - Wildes Erbe

 

ISBN eBooks:

978-3-946376-02-6 (ePub)

978-3-946376-03-3 (mobi)

 

ISBN Print:

978-3-946376-06-4

 

 

Copyright: 2015, Lysandra Books Verlag

(Inh. Nadine Reuter),

Overbeckstraße 39, 01139 Dresden

www.lysandrabooks.de

 

Coverfoto: jozefklopacka - Fotolia

Coverdesign / Lektorat: Lysandra Books Verlag

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Lysandra Books Verlags ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische und sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung - auch auszugsweise - durch Film, Funk, Fernsehen, elektronische Medien und sonstige öffentliche Zugänglichmachung.

 

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1. Kapitel

 

„Einst lebte ein Mädchen im Seenland. Kaum mehr als sechzehn Winter alt. Groß gewachsen und von schlanker Gestalt. Eine Stimme klar wie das Plätschern der Bäche. Dunkles Haar wie feinste Seide. Sie war des Vaters wertvollster Schatz. Ihr Lächeln überstrahlte jedes Geschmeide. An einem Maitag nach der Mittagsstunde durchschritt sie blutverschmiert auf dem Markte die Runde. Zum Brunnen hin, als wenn sie schliefe. Und stürzte sich lautlos in die Tiefe.“

„Aber Großmutter, warum hat sie das getan?“

„Weil ihr Vater gestorben war.“

„Oh wie traurig! Das arme Mädchen!“

„Man erzählt sich, dass die Seele des Mädchens als Schmetterling hinfort geflogen sei. Ihr Leichnam wurde nie geborgen und der Brunnen mit Geröll zugeschüttet. Hin und wieder – so sagen die Leute – erklingt in klaren Vollmondnächten an diesem Ort ein wehleidiger Gesang.“

„Aber Großmutter, wie kann das sein, wenn sie doch fortgeflogen ist?“, drang das aufgeregte Stimmchen von Fynn aus der großen Stube.

„Geschichten werden manchmal zu sehr ausgeschmückt. Wenn viele Erzähler sie weitertragen, kann es leicht passieren, dass ihr Inhalt verfälscht wird.“ Das sanfte Lachen von Gevatterin McDougall erfüllte den benachbarten Raum. „Oder, was meinst du: Kann sich ein Mensch in einen Schmetterling verwandeln?“

„Und wenn sie gar kein Mensch war", stellte der Kleine nach einem Moment der Überlegung mit kindlicher Sorglosigkeit fest, „sondern ein verzauberter Schmetterling?“

Seine Vermutung ließ mich schmunzeln und auch die Gevatterin lachte wohlwollend. Der Bursche hatte eine blühende Fantasie. Zu gern hätte ich dem Gespräch weiter gelauscht. Doch war ich mit dem Schrubben der Holzdielen im Esszimmer neben der Stube fertig. Vor dem Abendessen galt es, noch andere Aufgaben zu erledigen. Also erhob ich mich und trocknete die Hände an meiner Schürze.

Wie oft hatte ich in den vergangenen Monaten die Geschichte vom Brunnenmädchen gehört! Kaufleute und Händler hatten sie auf ihren Reisen von den südlichen Küsten des Seenlandes bis tief ins Landesinnere getragen. Wann immer sie mir zu Ohren kam, war ihr Wortlaut ein wenig anders. Vom ursprünglichen Hintergrund, dem gewaltsamen Tod eines Schmiedes und dem ungeklärten Verschwinden seiner Kinder, war nicht mehr viel geblieben. Inzwischen klangen die Erzählungen fast grotesk. Vermutlich war das bizarre Eigenleben einer der Gründe, warum sich die Geschichte so hartnäckig hielt.

Ich nahm den Holzeimer mit dem Schmutzwasser und huschte unbemerkt an der angelehnten Stubentür vorbei auf den Flur hinaus. Vor einigen Monden hatte ich während meiner Anstellung in einer Schankwirtschaft ein paar Meilen südlich eine wirklich fragwürdige Abwandlung gehört. Ein zwielichtiger Trunkenbold hatte die Gäste mit abenteuerlichen Erzählungen seiner Reisen unterhalten. Er berichtete von plündernden Barbaren aus dem Eismeer und dem maßlosen Zorn der Götter auf die Gier und Verderbtheit der Menschen. Die Zuhörer hingen wie gebannt an seinen Lippen. Mit abfälligem Tonfall hatte er auch die Geschichte des verlorenen Mädchens aus Flensfurt erzählt. Mir war beinahe der Krug mit dem Ale aus der Hand geglitten, als jener Vagabund behauptete, der Vater sei mit Luferus persönlich im Bunde gewesen. Ihren verzweifelten Sprung in den Brunnen wertete er als Vereinigung mit dem bösen Geist. Bis heute hatte ich nicht entschieden, ob ich über so viel Dummheit lachen oder mich wegen der Leichtgläubigkeit der Leute ärgern sollte.

Mir gefiel die kinderfreundliche Fassung mit dem Schmetterling weitaus besser – auch wenn sie ebenso erfunden war wie all die anderen. Weshalb ich das wusste? Weil ich eben jenes Mädchen war.

Mit einem Seufzer goss ich das Schmutzwasser in die modrige Rinne hinter dem Haus. Dann holte ich zwei Holzeimer aus dem Verschlag, fädelte die Henkel auf die hölzerne Tragestange und lief zum Brunnen. Dort angelangt, ließ ich die schwere Stange zu Boden gleiten. Ich strich eine widerspenstige braune Strähne unter das zwanglos gebundene Kopftuch und lockerte die Schnürung des derben Mieders. Hinter dem Gehöft im Schatten der hohen Pappeln ließ sich die schwüle Spätnachmittagshitze ertragen. Bis zum Vortag hatte es unaufhörlich geregnet. Anschließend setzte eine merkwürdige Hitze ein, die Menschen und Tiere ruhelos zurückließ.

Ich schloss die Augen und genoss den seichten Luftzug aus dem angrenzenden Pappelwald. Während ich dem Rauschen der Blätter lauschte, verlor ich mich in Gedanken. Vor zwei Wochen war mir Gevatterin McDougall mit ihrem Mündel Fynn auf dem Markt in Orsa begegnet. Neue Gesichter fielen in kleinen Siedlungen schnell auf und als sie hörte, dass ich Arbeit und Unterkunft suchte, bot sie mir ohne Vorbehalt eine Anstellung an. Ihre Tochter und deren Gatte waren verreist und die Gevatterin für jede helfende Hand dankbar. Wahrlich keine komfortable Anstellung, doch ich hatte schon schlimmere Arbeiten verrichtet. Außerdem war mein Aufenthalt ohnehin zeitlich begrenzt. Im Gegenzug erhielt ich einen trockenen Schlafplatz, Verpflegung und einen kleinen Lohn.

Mein Verstand riet mir weiterzuziehen. Ich musste an anderer Stelle nach meinen Brüdern suchen, anstatt meine Zeit mit Hausarbeit zu verschwenden. Doch ein Teil von mir wehrte sich zu akzeptieren, dass es in Orsa keinen brauchbaren Hinweis zu ihrem Verbleib geben sollte. Ich musste etwas übersehen haben. Nur was? Erschöpft sank ich auf die Knie und lehnte mich gegen die kühle Brunnenwand.

Die Zeit rann mir durch die Finger. Bald war es ein volles Jahr, dass unser geliebter Vater Bron verstorben war und ich mich auf die Suche nach Kirun und Ravøn begeben hatte. Die meisten Leute vergaßen beim Erzählen der Geschichte des verlorenen Brunnenmädchens nämlich, dass es zwei ältere Brüder hatte.

Seit ich denken konnte, lebten wir an einem kleinen Waldsee etwa eine halbe Stunde Fußmarsch von Flensfurt entfernt. Unsere Mutter Heda – die Göttin Hespia sei ihrer Seele gnädig – starb, als ich gerade sechs Winter alt war. Trotz des schmerzvollen Verlustes hatte ich eine glückliche Kindheit. Vor allem Ravøn war darauf bedacht, dass es seiner Schwester gut ging. Obwohl er nur ein Jahr älter war, handelte er stets besonnen und umsichtig. Ganz anders als Kirun, den sogar ein weiteres Jahr von mir trennte. Um ihm die Flausen auszutreiben, hatte Vater begonnen, ihn im Schmiedehandwerk zu unterweisen. Später gesellte sich Ravøn hinzu und Vater brachte den beiden über die Jahre all sein Wissen des Waffen- und Kunstschmiedehandwerks bei. Die beiden waren überragend gute Lehrlinge. Was sich schnell auszahlte. Es gab immer genügend Beschläge zu erneuern, Werkzeuge und Schmuck zu fertigen, so dass wir nie um unser Auskommen bangen mussten.

Doch dieses sorglose Dasein wurde uns genommen. Ich erinnerte mich genau an jenen verhängnisvollen Tag, der mein Leben auf den Kopf stellte. Es war einige Wochen vor meinem siebzehnten Geburtstag – der erste warme Tag des Jahres. Meine Brüder und ich waren auf dem Markt in Flensfurt. Kirun und Ravøn boten gegen kleinen Sold beim ortsansässigen Schmied ihre Dienste feil. Ich verkaufte währenddessen gemeinsam mit Kiruns Freundin Briana filigrane Anhänger und Spangen. Briana war mir wie eine Schwester. Seit Kirun im Vorjahr beim Erntefest ihrem ausdauernden Werben nachgegeben hatte, begleitete sie uns regelmäßig. Ich war froh, dass es Kirun und nicht Ravøn war, den sie begehrte. Damals galt meine größte Sorge dem Umstand, dass ein Mädchen mir meinen geliebten Ravøn entfremden würde. Das Band zwischen uns war etwas Besonderes. Ravøn hatte mir beigebracht, wie man auf Bäume kletterte, Fische fing und Fährten las – wofür ich ihn von klein auf vergöttert hatte! Ein großer Bruder, wie man ihn sich nur wünschen konnte.

Aber unsere Kindheit lag hinter uns. Kretos hatte meine Brüder zu ansehnlichen Männern gedeihen lassen. Beide überragten mich inzwischen gut einen Kopf. Die schweißtreibende Arbeit mit dem schweren Eisen hatte ihre Körper geformt. Es hatte mich geärgert, wenn die Mädchen an Markttagen mit leuchtenden Augen Ravøn bei der Arbeit in der Schmiede beobachteten. Zugleich verwirrte mich die Frage, wieso es mir bei ihm etwas ausmachte, bei Kirun hingegen nicht. Natürlich war es egoistisch und unangemessen, Ravøn für mich allein zu beanspruchen, doch hatte diese Erkenntnis nichts an meiner Einstellung geändert.

Meine Eingeweide formten sich zu einem schmerzhaften Knäuel. Rückblickend hätte ich an jenem Tage anders gehandelt. Hätte der kindischen Eifersucht nicht nachgegeben. Wäre bei meinen Brüdern und Briana geblieben. Doch wer hätte ahnen können, welch grausame Wendung unseren Leben bevorstand.

Seither war kein Tag vergangen, an welchem ich nicht den unsinnigen Streit mit Ravøn bereut hatte. Ich hatte ihn mit Zuna, der Bäckerstochter, erwischt. Er hatte sich wieder einmal in ihrem Netz aus süßen Schmeicheleien verfangen. Auf dem Heimweg vom Markt war es zu einem hitzigen Wortwechsel gekommen, in dessen Folge er mich verständnislos stehen ließ. Die Enttäuschung in seinen Augen, als er sich ein letztes Mal zu mir umdrehte, verfolgte mich bis heute in meinen Träumen. Anstatt den Fehler einzusehen und meinen Brüdern nach Hause zu folgen, war ich ziellos in den Wald gerannt. Damit hatte ich mein, oder gar unser aller Schicksal besiegelt. Wäre ich mit ihnen und Briana gegangen, müsste ich mich nicht fragen, ob es ihnen gut ging. Ich müsste nicht Tag für Tag grübeln, was geschehen war und ob ich etwas hätte daran ändern können. Ich wäre bei ihnen, auf die eine oder andere Weise. Als Vater an jenem Tage in meinen Armen starb, hatte ich meinen Starrkopf verflucht. Am Waldrand fand ich Brianas toten Leib. Vermutlich hatte sie flüchten wollen, doch ihr Mörder kannte keine Gnade. Meine Brüder waren unauffindbar. Die Ungewissheit dahinter war ebenso grausam.

Die letzten Augenblicke mit Vater waren verstörend. Angsa hatte ihm bereits die Hand zum Übergang ins Reich der Toten dargeboten. Seine Ohren schienen taub für meine Fragen nach dem Geschehen und dem Aufenthaltsort von Kirun und Ravøn. Im Todeskampf hatte Bron mich beschworen, meine Brüder zu vergessen – fortzugehen und nicht zurückzublicken.

Kurz bevor er endgültig die Schwelle zu Angsas Reich überschritt, hatte Vater die Augen aufgerissen und die Hand an meine Wange gehoben. Sein Blick war klar und ein bleiches Lächeln hatte sein Antlitz gezeichnet.

„Ich kann dich nicht länger schützen", presste er mit dem letzten Atemzug hervor. Dann wich das Leben aus seinen Augen.

Ich saß noch lange mit dem leblosen Körper im Arm da. Hatte versucht zu verstehen, was vorgefallen war und warum Bron von mir verlangt hatte, Kirun und Ravøn zu vergessen. Nie im Leben waren sie für diese Gräueltat verantwortlich – so viel stand fest.

Irgendwann war es Nacht geworden. Zwischen den Bäumen am anderen Seeufer tauchte der Schein von Fackeln auf. Vermutlich Brianas Brüder, die nach ihr suchten, weil sie nicht wie gewohnt vor Einbruch der Dunkelheit heimgekehrt war.

In Windeseile hatte ich ein Bündel geschnürt und schweren Herzens die Heimat verlassen. Wie hätte ich die Toten erklären sollen? Sicher wären sofort Kirun und Ravøn in Verdacht geraten. Zwei Leichname, zwei flüchtige Mörder und eine junge Frau, die ihre Brüder schützen wollte – die Schuldfrage wäre schnell geklärt gewesen.

Es war mir schwergefallen, Bron und Briana so ehrlos zurückzulassen. Aber ich musste meine Brüder suchen, auch wenn ich damit nicht Vaters Wunsch entsprach.

Alles, was ich hatte, waren Hufspuren von einem halben Dutzend Pferden, die nach Westen führten. Und dieser vagen Spur folgte ich. Der Vorsprung der Reiter wurde größer und größer. Nach zwei Tagen hatte ich die Fährte endgültig verloren. Beharrlich hatte ich mich weiter von Siedlung zu Siedlung durchgeschlagen. Voller Hoffnung auf Hinweise zum Verbleib meiner Brüder. In den westlichen Handelsstädten hörte ich Geschichten von plündernden Barbaren. Die Beschreibungen passten zu dem Überfall am Waldsee und ich war sicher, dass sie Kirun und Ravøn als Gefangene mitgenommen hatten. Rätselhaft blieb nur, warum sie Briana töteten, anstatt sie ebenfalls als Sklavin zu verschleppen. Trotz meiner Furcht vor diesen grausamen Kreaturen suchte ich weiter. Im Wissen, dass jeder meiner Brüder dasselbe für mich tun würde.

Es dauerte einige Mondläufe, bis ich mehr über die Barbaren in Erfahrung gebracht hatte. Konnten doch die meisten, die ihnen begegnet waren, nichts mehr darüber berichten. Die Aussagen der wenigen Überlebenden waren oftmals widersprüchlich und kaum hilfreich. Unzählige falsche Spuren hatten mich viel Zeit, Kraft und Nerven gekostet. Als ich beinahe die Hoffnung aufgegeben hatte, wurde ich in einer Schänke bei Kaerstan Zeuge eines feuchtfröhlichen Gelages weitgereister Kaufleute. Einer von ihnen prahlte, mit den Wykanern – wie er sie nannte – Handel getrieben zu haben. Keiner hatte ihm die Geschichte geglaubt, doch da aus Met bekanntlich die Wahrheit sprach, wollte ich auch diese Spur verfolgen. Seinem Bericht zufolge segelten die Barbaren von den toten Küsten des nordwestlich liegenden Felslandet, wo sie kleinere Siedlungen unterhielten. Dort sammelten die Wykaner ihre Beute vor der Überfahrt zu ihrer Heimatinsel. Ich hatte mich eisern an die Hoffnung geklammert, dass Kirun und Ravøn dort festgehalten wurden. Auch wenn seit ihrem Verschwinden bereits dreimal die Jahreszeiten gewechselt hatten. Meine Reise hatte mich anschließend tief ins Gebirge bis an die Grenzen von Felslandet geführt, wo ich eine merkwürdige Begegnung hatte. Das Abbild meiner toten Mutter war im morgendlichen Nebel eines Bergsees erschienen. Sie offenbarte mir, dass Kirun und Ravøn nicht bei den Barbaren waren und ich in Orsa finden sollte, was ich suchte. Noch bevor ich mit ihr sprechen konnte, hatte der Wind ihr Abbild davongetragen und ich begab mich auf den Weg nach Osten.

Vor zwei Wochen war ich endlich in Orsa angelangt. Seit dem Vorfall am Bergsee sah das Seenland nun zum zweiten Male den Vollmond. Doch ich hatte noch immer keinen Hinweis auf den Verbleib meiner Brüder gefunden. Ich spürte, wie sich Tränen unter meinen geschlossenen Lidern hindurch stahlen und eine kühle Spur auf meiner Wange hinterließen. Sofort öffnete ich die Augen und beseitigte das nasse Mal der Schwäche mit dem Handrücken.

Meine Finger glitten zum Brustbein hinab, wo normalerweise einer der schwarzen Anhänger ruhte, welche Vater für mich und meine Brüder gefertigt hatte. Jener Anhänger, welchen ich nach Mutters Erscheinung in einer Felsspalte im Grenzgebirge verloren hatte. Sein Fehlen ließ mich seufzen. Mit der Fingerspitze kreiste ich auf der leeren Stelle. Auch wenn es albern war, meine Hoffnung an lebloses Metall zu ketten, so hatte das Wissen, dass auch meine Brüder ihre Anhänger nah am Herzen trugen, mir durch manch einsame Stunde geholfen.

Nur um sicherzugehen, betasteten meine Finger den dreifachen Knoten des Lederbandes an meinem Handgelenk und die kühle Wölbung der eingeflochtenen Perle. Der Göttin sei Dank – alles befand sich an seinem Platz. Nicht auszudenken, wenn ich beim Wasserholen auch das Armband meiner Mutter verlor.

Womit mir wieder in den Sinn kam, welches Vorhaben mich nach draußen geführt hatte. Frisches Wasser für das Abendessen.

Ich raffte den unhandlichen Stoffberg, bestehend aus mehreren Rockschichten und Schürze, und erhob mich vom Boden. Wenn ich arbeitete, verflogen auch die finsteren Gedanken. Zumindest bis heute Nacht, wenn ich in der Kammer lag und Löcher in die Decke starrte.

Ein rascher Blick in Richtung Gehöft verriet, dass meine kurze Rast unbemerkt geblieben war. Also schluckte ich den zähen Kloß im Hals hinunter und band den ersten Eimer an das leicht poröse Seil der Winde. Ich rüttelte kurz am Knoten, dann sauste der Eimer in den Brunnen hinab. Ein lauter Platsch aus der Tiefe kündete von seiner Ankunft. Routiniert schwenkte ich das Seil ein paar Mal hin und her, bis ein bedächtiges Knirschen verkündete, dass er bereit zum Einholen war. Mit festem Griff umfasste ich die Kurbel und förderte die schwere Last Umdrehung für Umdrehung zurück ans Tageslicht. Als ich mich über die Brunnenmauer streckte, um nach dem Henkel zu greifen, hörte ich es hinter mir rufen.

„Sei vorsichtig, Helana. Einen Sturz in den Brunnen überlebt man nicht so leicht!“

Als ich mich umsah, entdeckte ich Gevatterin McDougall, die mit ihrem hölzernen Gehstock über die Wiese wankte. Trotz ihres Alters konnte man unschwer erkennen, dass es eine Zeit gegeben hatte, zu welcher sie mit Schönheit beschenkt gewesen war. Im Esszimmer hing ein Gemälde von ihr und ihrem längst verstorbenen Gatten. Die Frau mit den hohen Wangenknochen, den leuchtend blauen Augen, dem sinnlichen Mund und dem akkurat gesteckten Haar war atemberaubend schön, doch wurde sie beinahe von der Anmut ihres Mannes überstrahlt. Das Haar trug sie heute auf die gleiche Weise, aber vom einstigen Glanz der Jugend zeugten nur noch ihre liebevoll strahlenden Augen.

Sie schmunzelte ob meines überraschten Blickes. „Mach nur weiter. Ich wollte dich nicht bei der Arbeit stören", lachte sie, während sie neben mir zum Stehen kam.

Schnell angelte ich den Eimer aus der Mitte des Brunnens und hievte ihn über die Mauer. „Keine Sorge, das Abendessen wird pünktlich bereitstehen.“

„Darum sorge ich mich nicht. Ich weiß, dass du tüchtig bist.“ Ihr Blick lag bohrend auf mir. „Wie hat dir die kleine Geschichte gefallen?“

Vor Schreck glitt mir der Henkel des zweiten Eimers aus den Fingern. Was bezweckte die Gevatterin mit dieser Frage? Wollte sie prüfen, ob ich gelauscht hatte?

„Ich fand sie sehr traurig", erwiderte ich und hob den leeren Holzeimer auf die Brunnenmauer. Während ich das nasse Seilende am Henkel befestigte, hörte ich die Gevatterin hinter mir murmeln, verstand jedoch kein Wort. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie sich auf der schmalen Bank unweit des Brunnens niedergelassen hatte und mich beobachtete. Unbehagen befiel mich, denn es war nicht der Blick einer Hausherrin, welche die Arbeit einer Angestellten beurteilte. Vielmehr starrte sie mich an. Gedankenverloren und doch mit einer Wachsamkeit, als könnte ihr etwas entgehen, wenn sie mich nicht im Auge behielt.

„Komm einen Augenblick zu mir", bat die Gevatterin unvermittelt.

Verwundert wandte ich mich um – unsicher, ob ich ihre Bitte nicht besser ausschlagen sollte.

„Nun schau nicht wie ein verschrecktes Reh. Ich möchte mich kurz mit dir unterhalten.“ Erwartungsvoll streckte sie mir die Hand entgegen. Ich überquerte zögernd die Wiese.

„Bitte setz dich!“ Die Gevatterin rückte ein Stück auf der Bank beiseite. Ich zog es vor, mich zu ihren Füßen auf der Wiese niederzulassen, was sie mit einem gewogenen Nicken bedachte.

„Schön, wie du magst. Im Gras sitzt es sich ohnehin bequemer.“ Bevor ich verstand, was geschah, saß sie neben mir auf der Wiese und streifte mit einem zufriedenen Seufzer die derben Ledermokassins ab. „Was schaust du so entsetzt? Darf ich nicht die Unbeschwertheit der Natur genießen?“

Beschämt, dass sie meinen Blick falsch gedeutet hatte, schoss mir das Blut in die Wangen. „Verzeiht mir, ich war nur von Eurer Spontanität überrascht.“

Ein wohlwollendes Lachen ertönte. „Schon gut, sag ruhig frei heraus, was dich bewegt. Von mir hast du nichts zu befürchten.“

Die angebotene Vertrautheit verunsicherte mich. Seit meiner Ankunft hatte es größtenteils arbeitsbezogene Gespräche gegeben, was mir sehr genehm war. Wenn niemand Fragen stellte, konnte ich mich nicht verplappern. Schließlich musste nicht jeder meine Lebensgeschichte kennen.

Ich warf einen verstohlenen Blick auf die Gevatterin, die genüsslich ihren Kopf in den Nacken gelegt hatte. Silberne Strähnen durchzogen ihr dichtes blondes Haar wie feine Gespinste. Ich fragte mich, wie alt sie war.

„Es ist faszinierend", brach sie die Stille, ohne sich zu regen. „Seit du angekommen bist, hat es fast ununterbrochen geregnet. Nun diese überraschende Hitze.“

Fragend hob ich die Brauen. Bei den Göttern – die Elemente spielten schon eine Weilen verrückt! Genau genommen hielt das launische Wetter bereits seit über einem Monat an.

„Die meisten Menschen haben keinen Blick für die Natur. Sie verpassen einzigartige Augenblicke, weil sie ihr Herz davor verschließen.“ Die Gevatterin setzte sich auf und legte ihre Hand auf meine. „Aber wer einmal in diese fremde Welt geblickt hat, der weiß ihre Geschöpfe zu erkennen.“

„Es tut mir leid, aber ich kann Euch nicht folgen“, erwiderte ich und zog irritiert die Hand zurück.

„Keine Sorge, Helana, bei mir ist dein Geheimnis sicher.“ Augenblicklich gefroren meine Züge und die feinen Härchen im Nacken stellten sich alarmiert auf. „Aber sage mir, was hat dich so fernab der Heimat geführt? Hast du keine Angst, entdeckt zu werden?“

Versteinert saß ich neben ihr – wagte kaum zu atmen – und fragte mich, womit ich mich verraten hatte. Hatte man womöglich ein Kopfgeld auf meine Brüder und mich ausgesetzt oder woher wusste sie, wer ich war? Halt suchend krallte ich meine Finger ins Gras, denn die Welt um mich herum schwankte. Es war vorbei. Man würde mich zurück nach Flensfurt bringen. Jede Hoffnung, Kirun und Ravøn zu finden, schwand dahin. Wie naiv ich doch war. Je öfter ich die Geschichte vom Brunnenmädchen gehört hatte, desto mehr hatte ich aus den Augen verloren, dass in meiner Heimat niemand glaubte, dass ich beim Sturz in den Brunnen umgekommen war. Vielmehr suchten sie nach flüchtigen Mördern.

Verzweifelt rang ich um Fassung. Es gelang mir nur mäßig, das aufgeregte Zittern in meiner Kehle zu unterdrücken. „Ich danke Euch für Eure Verschwiegenheit, und wenn Ihr gestattet, werde ich noch heute Euer Haus verlassen, damit Ihr meinetwegen keine Unannehmlichkeiten bekommt. Ich habe ohnehin schon viel zu lange die Suche nach meinen Brüdern unterbrochen.“

„Unannehmlichkeiten?“ Ihr Lachen klang verwundert. „Ich betrachte es eher als Segen, dass du mein Haus gewählt hast.“

Irritiert zog ich die Nase kraus. Sie betrachtete mich als Segen? Wollte sie mich gegen eine lockende Belohnung eintauschen? Hatte sie mich daher so merkwürdig beobachtet, als würde sie in einer schwierigen Angelegenheit mit sich ringen? Sollten ihre warmen Worte mich in Sicherheit wiegen, während ihre Taten mein Schicksal besiegelten? Aufgeregt schaute ich mich um. Waren die Häscher schon in der Nähe oder blieb Zeit zur Flucht?

„Mich wundert, dass du allein unterwegs bist, um deine Brüder zu suchen", sprach die Gevatterin ungeachtet meiner Unruhe.

„Ich habe sonst niemanden", presste ich beherrscht hervor. Warum spielte sie mit mir? Angestrengt ballte ich die Fäuste und drückte meine Fingerknöchel in die Erde.

„Es muss schwer sein, ohne deinesgleichen allein in der Fremde", murmelte sie. Während ich mich über das Mitleid in ihrem Tonfall ärgerte, erlangte etwas Anderes ihre Aufmerksamkeit. „Ach herrje, da braut sich etwas zusammen!“

Verwundert folgte ich ihrem Blick gen Himmel und entdeckte dunkle Wolkenmassen, die sich hinter den Baumwipfeln zu einer bedrohlichen Wand auftürmten. Der Wind frischte auf und trug ein dumpfes Grollen mit sich. Die Hitze der vergangenen Stunden würde in einem tosenden Unwetter ihr Ende finden. In den Augen der Gevatterin spiegelte sich eine merkwürdige Mischung aus Ehrfurcht und Verwegenheit.

Ich verspürte wenig Lust, tatenlos zu warten – weder auf meine Jäger noch auf das herannahende Unwetter. Doch als ich aufstehen wollte, griff sie blitzschnell nach meinem Arm. „Bitte bleib“, forderte sie eindringlich.

„Wie konntet Ihr mich bloß verraten!“, schrie ich und befreite mich aus ihrem Griff, während in der Ferne ein markerschütternder Donnerschlag niederging.

Deutliche Verwunderung stand auf dem Antlitz der Alten. „Helana, dein Geheimnis ist sicher", beteuerte sie und hob beschwörend die Hände.

Der falsche Name, welchen ich zu Beginn meiner Suche zum Schutz angenommen hatte, ging beinahe gänzlich im Donner unter. Gehetzt sah ich mich nach allen Seiten um. Niemand stürmte auf uns zu, um mich zu ergreifen. Hatte ich überreagiert? Waren die schwarzen Wolkenberge am Horizont womöglich die einzige Bedrohung?

„Du bist hier sicher. Vertrau mir!“ Mit festem Blick sah die Gevatterin zu mir auf und in der Tiefe ihrer Augen las ich Aufrichtigkeit. Mein Herz entschied, ihren Worten zu glauben und ich sank auf die Knie.

„Gut, aber ich würde in Anbetracht des Gewitters ein Dach über dem Kopf bevorzugen“, gab ich zaghaft zu bedenken. Doch sie machte keine Anstalten, sich von der Wiese zu erheben.

Mit einem geheimnisvollen Lächeln lehnte sie sich zu mir. „Mir scheint, dass dir nicht bewusst ist, welch außergewöhnliches Geschöpf du bist!“

„An mir ist nichts Außergewöhnliches“, stellte ich nüchtern fest. „Ich bin weder klüger, noch hübscher oder begabter als andere.“

„Offenbar wurde dir einiges verschwiegen.“

Ich senkte den Blick und betete still zu Hespia, sie möge mich mit mehr Geduld beschenken, denn die Andeutungen der Gevatterin ergaben keinen Sinn.

„Bitte hört auf, in Rätseln zu sprechen!“

Sie schaute mich nachdenklich an und schüttelte leicht den Kopf. „Wie soll ich nur anfangen? Das letzte Gespräch dieser Art liegt lange zurück und damals war ich die Zuhörerin.“ Sie kniff die Augen zusammen und hielt inne. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis sie weitersprach. „Nun denn. Glaubst du an die Existenz von Naturgeistern?“, fragte sie, ohne eine Miene zu verziehen.

Ich blies frustriert die Luft aus und spielte mit dem Gedanken zu gehen. Diese Unterhaltung war reine Zeitverschwendung. „Bitte nehmt es mir nicht übel, aber ich bin nicht in der Stimmung für Ammenmärchen“, erwiderte ich so freundlich wie möglich.

„Wenn ich dir nun sage, dass es keine Märchen sind? Sondern es diese Wesen wirklich gibt und du zu ihnen zählst?“

Ich schwankte zwischen Lachen und der Sorge um ihren Gemütszustand. „Ich möchte Euch nicht zu nahe treten, aber eine solche Fantasterei würde ich bezweifeln.“

„Fantasterei", wiederholte sie leise. „Lass mich dir eine Geschichte erzählen.“ Ich setzte zu einer Erwiderung an, wurde jedoch von ihr daran gehindert. „Bitte hör mir zu. Danach kannst du ungehindert meinen Haushalt verlassen, wenn du das wünschst.“

Ihr freundlicher Blick ließ die Widerworte in meiner Kehle schmelzen. Inzwischen war ich überzeugt, dass der Gevatterin nicht klar war, wen sie in ihre Dienste genommen hatte, geschweige denn, was in meiner Heimat vorgefallen war. Was immer sie erkannt zu haben glaubte, hatte nichts mit meiner Vergangenheit zu tun. Warum sollte ich mir ihre Geschichte nicht anhören? Auch wenn es unklug schien, im Freien zu bleiben, wenn der Zorn der Götter bald das Land heimsuchte.

Besorgt blickte ich gen Himmel und stellte mit großer Verwunderung fest, dass der Wind das dichte Wolkenband zerpflückte. Das finstere Donnergrollen brodelte nur noch in der Ferne.

Erstaunlich. Das Unwetter schien ebenso zu verfliegen wie meine Aufregung über den vermeintlichen Verrat. Merklich entspannter sank ich zurück ins Gras.

Gehörte die Gevatterin womöglich zu jenen Naturweibern, die Einfluss auf die Elemente nahmen? Hatte sie das Unwetter verschwinden lassen? Sicher, das waren Kindergeschichten. Aber ich hatte noch nie erlebt, dass ein drohendes Gewitter einfach so verpuffte.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sah sie gen Himmel und ein gewinnendes Lächeln belebte ihre blassen Lippen. „Wie ich sehe, habe ich endlich deine ungeteilte Aufmerksamkeit.“ Ihr Blick wanderte zu mir. „Was ich dir jetzt anvertraue, habe ich zuvor noch keiner Menschenseele erzählt.“

Sie hielt inne. Nach einem Moment der Stille nickte sie lächelnd, als gäbe sie sich selbst die Zustimmung, mit ihrer Geschichte zu beginnen.

„Als junge Frau lernte ich einen stattlichen Burschen kennen. Er war charmant und eine wahre Wohltat für die Augen. Binnen kürzester Zeit war es um mein Herz geschehen. In unserer Gegend kannte ihn niemand. Sein Äußeres und seine Ausdrucksform ließen darauf schließen, dass er nicht log, was seinen Stand und seine Herkunft betraf. Darum unterstützte mein Vater unsere Verbindung.“ Sie legte den Kopf schräg. Ihr Blick verlor sich über den Wipfeln der Pappeln. „Selbst wenn er ein armer Lump gewesen wäre – auch dann hätte ich ihn genommen", murmelte sie abwesend. „Du weißt, von wem ich spreche. Du hast schon ein paar Mal Staub vom Gemälde gewischt.“

„Aber wieso erzählt Ihr mir das?“ Was ging mich ihre Vergangenheit an?

„Still! Hör mir zu!“ Sie maß mich mit strengem Blick, welcher sich freundlicher färbte, als ich ihr mit Gesten bekundete, sie ab sofort nicht mehr zu unterbrechen.

„Taran trieb Handel mit allerlei Waren und verfügte über Kontakte bis hinauf nach Narthane. Das imponierte den Leuten aus der Gegend und er stieg schnell in ihrem Ansehen. Es dauerte nicht lang und wir heirateten. Was ganz im Sinne meines Vaters war, denn mit Anfang zwanzig hatte ich bereits einen schwierigen Stand auf dem hiesigen Heiratsmarkt. Mein Vater schenkte uns dieses wundervolle Anwesen und einige Wochen später trug ich Ansalla in meinem Leib. Schnell begann mein Gatte, sich zu verändern. Er sorgte zwar für mich, war aufmerksam und freundlich. Jedoch wohnte er mir nur noch selten bei und nächtigte regelmäßig mit seinen drei engsten Vertrauten in der großen Stube im Erdgeschoss. Wenn ich nach dem Grund seines Verhaltens fragte, wich Taran mir aus und auch alle Nachfragen nach dem Gang der Geschäfte wiegelte er ab. Nach und nach beschlich mich ein ungutes Gefühl. Zuerst schob ich es auf die Gefühlswelt einer Schwangeren. Redete mir ein, dass ich mir alles nur einbildete. Doch die Wochen strichen ins Land, mein Leib wurde rundlicher und ich bekam eine Frage nicht aus dem Kopf. Was, wenn ich auf einen Hochstapler hereingefallen war? In meiner Not beschloss ich eines Nachts, mir Gewissheit zu verschaffen. Ich schlich, nachdem ich offiziell zu Bett gegangen war, noch einmal hinunter ins Esszimmer. Durch die Verbindungstür zur Stube belauschte ich das Gespräch der Ahnungslosen und was ich hörte, schockierte mich über alle Maßen. Die Gäste berichteten meinem Gatten von vertraulichen Dingen, welche sie in den Betten der Gattinnen uns befreundeter Kaufleute und Landbesitzer gesammelt hatten. Ich war außerstande, vernünftig zu denken. Womöglich nutzte Taran diese mit Schande beschmutzten Informationen, um die Ehebrecherinnen oder ihre Gatten zu erpressen und wir lebten von diesem besudelten Geld. Eine Frage durchbohrte mir dabei fast das Herz. Tat er möglicherweise dasselbe wie seine Freunde? Kroch er zu anderen Frauen unter die Decke? Wohnte er mir deshalb nicht mehr bei? Getrieben von Ekel und Unsicherheit folgte ich ihm am nächsten Tag in den Wald. Allerdings hatte ich meinen Zustand unterschätzt. Dem Doktor nach stand ich wenige Tage vor der Niederkunft. Ich sollte tunlichst größere Anstrengungen meiden, doch die nagende Ungewissheit trieb mich töricht voran. Taran war schnell. Ich hatte schon nach einer halben Meile seine Spur im Unterholz verloren. Da ich den Wald zu schlecht kannte, verlor ich die Orientierung, was ich nicht wahrhaben wollte. Ich suchte nach ihm, bis ich nach schier endlosem Herumirren auf einen Tümpel stieß. Was ich dort sah, habe ich seither noch keiner Menschenseele erzählt.“

Die Gevatterin pausierte und vergewisserte sich, dass ich ihr aufmerksam zuhörte. Als sie überzeugt war, lächelte sie und fuhr fort.

„Am Ufer hockte mein Gatte und unterhielt sich mit drei im Wasser treibenden Gestalten. Es waren zwei Frauen und ein Mann, die ohne Kleider badeten, so mein erster Gedanke. Doch bei näherer Betrachtung fiel mir auf, dass ihre Körper mit einem merkwürdig schimmernden Silberschleier überzogen waren. Zu meinem Entsetzen entkleidete sich auch Taran und stieg zu den drei Gestalten ins Wasser. Die vermeintliche Bestätigung seiner Untreue vor Augen wollte ich umkehren, als er eine unglaubliche Verwandlung vollzog. Seine Haut nahm einen silbrigen Glanz an und er bewegte sich voller Grazie gemeinsam mit den drei Wesen auf den See hinaus. Mein Gatte war ein anderer, als er vorgab. Mir wurde schwindelig. Ich rutschte aus, rollte einen steilen Hang hinab und verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich in unserem Bett wieder und lag in den Wehen. Taran hatte mich gefunden und aus dem Wald nach Hause gebracht. Die Geburt unserer Tochter Ansalla forderte meine letzten Kraftreserven. Er wachte ohne Pause an meiner Bettstatt. Man sah ihm an, dass er sich schreckliche Vorwürfe machte. Später vertraute er mir an, dass er sich niemals verziehen hätte, wenn mir oder unserer Tochter etwas zugestoßen wäre.“

Ihr Blick verlor sich in der Ferne, als durchlebte sie all die Dinge aufs Neue. Vorsichtig setzte ich mich auf. Sie hatte mit so viel Inbrunst und Leidenschaft erzählt, dass ich fast gewillt war, ihr Glauben zu schenken. Egal wie bizarr die Vorstellung anmutete, dass ihr verstorbener Gatte ein Naturgeist war. Es gab so viel Schlechtes auf der Welt, war es da so abwegig, dass ein positiver Gegenpol existierte? Ich sollte die Letzte sein, die die Existenz übernatürlicher Wesen anzweifelte, schließlich hatte mich die Erscheinung meiner toten Mutter erst nach Orsa geleitet.

„Habt Ihr mit Eurem Gatten darüber gesprochen, was sich an jenem Tag im Walde zugetragen hat?“, fragte ich leise.

„Als ich einige Tage nach der Geburt unserer Tochter wieder bei Kräften war, nahm er mich mit in den Garten. Auf dieser Bank haben wir gesessen", mit einem Kopfnicken deutete sie auf die Holzbank unter dem knorrigen Apfelbaum. „Als er mir unter dem Mantel der Verschwiegenheit anvertraute, dass er ein Wassernymphor sei.“

„Ein Wassernymphor", wiederholte ich langsam.

Welches Kind kannte nicht die Geschichten von der Nymphenkönigin? Man sagte ihr nach, dass sie mit ihren abertausend Untertanen den Wald grün hielt, die Wiesen zum Blühen brachte und das Wasser glitzern ließ. Auch Mutter hatte sie uns an langen Winternachmittagen erzählt. Nun sollte all das wahr sein?

„Angenommen es gibt Nymphen. Würden sie nicht auffallen, wenn sie sich unter uns mischen?“, fragte ich und war selbst überrascht, wie sachlich mein Kopf arbeitete.

„Wie soll man etwas erkennen, was einem vollkommen fremd ist? Würdest du einen Vogel als Vogel erkennen, wenn du nicht wüsstest, wie ein Vogel aussieht?“ Die Gevatterin hob fragend ihre Schultern. „Die meisten Menschen haben ohnehin keinen Blick für das Übernatürliche, selbst wenn sie es vor der Nase haben. Mir ging es mit Taran nicht anders.“

„Wie viel Wahrheit steckt in den alten Sagen? Was ist mit ihren unsagbaren Kräften? Können sie wirklich die Erde beben und Blätter an den Bäumen wachsen lassen?“ Wissbegierig blickte ich sie an. „Zumindest scheint man nicht zu Stein zu erstarren, wenn man ein Nymphenwesen zu lang anschaut.“

„Da ich neunzehn Jahre mit einem Nymphor Tisch und Bett geteilt habe, bin ich der lebende Beweis, dass Letzteres ein Mythos ist“, lachte die Gevatterin. „Doch es ist wahr, dass sie über gewisse Kräfte verfügen. Taran konnte Flüssigkeiten in jeglicher Form befehligen und vermochte außerdem das Wetter zu beeinflussen.“ Sie hob eine Braue und sah mich an, als müssten ihre Worte bei mir eine Eingebung hervorrufen.

„Das wäre auf meiner Reise äußerst hilfreich gewesen", murmelte ich. „Dann hätte ich nicht tagelang wegen eines Unwetters in dieser Höhle im Grenzgebirge festgesessen.“

„Vermutlich hattest du deine Gefühle nicht im Griff und hast dir selbst im Weg gestanden.“

Ich dachte an den Morgen zurück, an welchem mir Mutter im Nebel des Bergsees erschienen war. Die Aussicht auf ein baldiges Wiedersehen mit meinen Brüdern hatte mich in Hochstimmung versetzt. Allerdings schlug diese ins Gegenteil um, als durch eine Unachtsamkeit meine Kette samt Anhänger in einer Felsspalte verschwand. Es war mir noch immer unerklärlich, wie sich der Knoten lösen konnte. Die verzweifelten Bergungsversuche blieben erfolglos. Die Spalte war einfach zu tief. Regen mischte sich mit meinen Tränen ob des Verlustes und machte binnen kürzester Zeit die Felsen unpassierbar. Es waren regelrechte Sturzbäche, die sich ihren Weg von den Gipfeln herabbahnten. Zwei Tage verbrachte ich wartend in einer Höhle, bis ich schließlich alle Bedenken über Bord warf und den restlichen Weg hinabkletterte. Dieses launische Wetter sollte ich ausgelöst haben?

„Ihr glaubt, dass ich eine Nymphe bin“, stellte ich fest.

„Ja.“

„Weil Ihr meint, dass ich das Wetter beeinflussen kann.“

„Nicht nur“, erwiderte sie sanft. „Es spricht aus dir. Aus jeder Bewegung. Jedem Blick. Es ist die Art, wie deine Umgebung auf dich reagiert. Bist du gut gelaunt, bringst du alles um dich herum zum Klingen. Dies geschieht meist in Fynns Beisein. Bist du aufgebracht, liegt ein ansteckendes Prickeln in der Luft. Gerade war es so intensiv, dass ich es wie eine leichte Gänsehaut gespürt habe.“

Der Blick der Gevatterin ruhte prüfend auf meinem Antlitz, aber offenbar blieb die erhoffte Reaktion meinerseits aus. Mit einem Seufzer stieß sie den Atem aus. „Es ist mir rätselhaft, dass du weder zu spüren noch zu wissen scheinst, welche Kräfte in dir schlummern. Gleich, welchen Grund es dafür gibt, musst du die Gaben der Natur unbedingt annehmen, denn nur so wirst du deinen Weg finden.“

„Ich möchte Euch ja gern glauben, aber das würde einfach alles verändern.“

„Ich verstehe deine Besorgnis.“

„Besorgnis?“, echote ich. „Ihr meint die Übelkeit, die sich in meinem Inneren ausbreitet, wenn ich daran denke, dass ich womöglich all die Jahre mit einer Lüge aufgewachsen bin?“

„Es wird einen wichtigen Grund dafür geben“, sagte die Gevatterin und neigte mitleidig den Kopf. „Erzähl mir von deiner Familie.“

„Wozu soll das gut sein?“

„Vielleicht finden wir heraus, was für eine Nymphe du bist.“

„Offenbar keine sonderlich talentierte und mit Sicherheit keine Wassernymphe.“

„Wieso schließt du eine Verbundenheit mit dem Wasser aus?“

„Weil ich Mutters Verbundenheit damit ausschließen kann, denn sie ist vor vielen Jahren ertrunken. Keine weit verbreitete Todesursache bei Wassernymphen, oder?“

Bedauern huschte über das Gesicht der Gevatterin. „Das tut mir leid. Was ist geschehen?“

Ich presste die Lippen aufeinander und ließ meine Gedanken in die Vergangenheit schweifen. Die Erinnerung war klar. Und bitter. Dennoch entschied ich nach kurzem Abwägen, diese mit der Alten zu teilen.

„Es geschah im Spätsommer. Ich war sechs Jahre alt. Wir lebten abseits der Stadt an einem Waldsee. Eines Nachts weckte mich eine Berührung. Im Halbschlaf sah ich, wie Mutter auch meinen Brüdern Kirun und Ravøn nacheinander die Stirn küsste, bevor sie unsere Hütte verließ. Die anderen schliefen, aber ich war neugierig und beobachtete vom Fenster aus, wie sie am Steg ohne Kleider ins Wasser stieg. Der Vollmond hatte den See mit einem funkelnden Schleier überzogen. Ich schlich hinaus. Ihr Anblick auf der Mitte des Sees – wie ihr Körper im Mondschein schimmerte, während sie ruhig auf dem Rücken trieb – war atemberaubend und über alle Maßen friedlich. Zumindest, bis um sie herum das Wasser zu schäumen begann und das helle Leuchten verschwand. Meine Rufe blieben ohne Antwort, also rannte ich zum Ende des Stegs und sprang ins Wasser. Ich wollte zu ihr – sie retten. Ein naiver Gedanke, hatte ich es mit meinem panischen Paddeln doch kaum geschafft, mich selbst über Wasser zu halten. Zum Glück hatte mein Geschrei die Anderen in der Hütte geweckt. Mein Bruder Ravøn war als Erster bei mir und bewahrte unsere Familie davor, in einer Nacht gleich zwei Mitglieder zu verlieren.“

„Wie furchtbar!“

So oft hatten mich in den vergangenen Jahren die Schuldgefühle geplagt. Der Anblick, wie Vater mit Mutters Sachen im Arm am Steg stand und lethargisch auf den See hinaus starrte, hatte sich auf ewig in mein Gedächtnis eingebrannt.

„Vermutlich gab es keinen Leichnam“, bemerkte die Gevatterin.

„Nein.“

„Wenn Nymphen sterben, vereinen sie sich mit ihrem Element. Wassernymphen zerfallen zu Seeschaum, wenn sie aus dem Leben scheiden.“

Die Erläuterung klang weniger absurd, als es der Fall sein sollte. Schlimmer noch, vor diesem Hintergrund ergab es endlich Sinn, dass Vater nie nach Mutters Leichnam gesucht hatte. Warum auch, wenn ihm ohnehin klar war, dass er nichts zum Begraben finden würde. Bereits am Tag danach hatte er am Ufer des Waldsees einen ovalen Gedenkstein platziert.

„Dann war meine Mutter Heda eine Wassernymphe.“

„Deine Mutter hieß Heda?“ Nur am Rande nahm ich die überraschte Frage der Gevatterin wahr. „Und dein Vater? Heißt er zufällig Bron?“

Schlagartig besaß sie meine Aufmerksamkeit. „Ja. Woher wisst Ihr das? Kanntet Ihr die beiden?“

„Nicht persönlich“, murmelte sie nachdenklich und betrachtete mich interessiert. „Merkwürdig. Ich hatte dich nicht für einen Mischling gehalten.“

„Warum Mischling?“

„Weil Bron ein Mensch war.“

Das erklärte zumindest, warum sich Vaters Körper nach dem Tod nicht aufgelöst hatte.

„Was wisst Ihr über meine Familie?“

„Nicht viel. Mir sind nur alte Gerüchte bekannt. Von einer Nymphe namens Heda, die sich verbotenerweise in einen Menschen namens Bron verliebte. Weil sie ihre Liebe nicht aufgeben wollten, verließen die beiden gemeinsam ihre Heimat, um dem langen Arm des Tribunals zu entgehen.“

Als wir noch jünger waren, hatte Mutter uns oft vor dem Schlafengehen Geschichten von Vaters alter Heimat weit oben im Norden erzählt. Von verschneiten Gebirgswäldern und riesigen Seen, und dass er ursprünglich Fischer gewesen sei, als sie sich kennenlernten. Keiner der beiden hatte uns jemals den Grund genannt, warum sie dieses Leben aufgegeben und tausende Meilen südlich in Flensfurt vollkommen neu begonnen hatten. All die Jahre kein einziger Besuch der Verwandtschaft – auch nicht nach Mutters Tod. Bislang hatte ich das nie als merkwürdig empfunden, schließlich kannte ich es nicht anders.

„Was hat es mit diesem Tribunal auf sich?“

„Das Tribunal sorgt für die Einhaltung der Regeln und Gesetze.“

Wunderbar. Soviel zur sorglosen Welt der Nymphen.

„Gegen welches Gesetz hat ihre Liebe verstoßen?“

„Gegen eines der obersten: Nymphen dürfen sich nicht mit Menschen vereinigen, da sie ihre Gaben an ihre Nachkommenschaft vererben.“

„Das kann unmöglich Eurer Ernst sein!“

„Darüber würde ich nicht scherzen.“

„Was ist mit Eurer Verbindung zu Taran? Warum wurde die nicht bestraft?“ Noch während ich sprach, erstarrte ich innerlich. Welch gemeine Frage. Taran war fort. Kein liebender Gatte und Vater verließ freiwillig seine Familie.

„Bei Nymphoren verhält es sich anders. Sie geben bei Verbindungen mit Menschen keine Fähigkeiten weiter, sondern vererben nur äußerliche Merkmale. Das war unser Glück.“

„Ihr sprecht von Glück, obwohl Euer Gatte offenbar nicht mehr bei Euch lebt?“

„Ich empfinde es als Glück, zu wissen, dass es ihm gut geht. Nur weil wir keinen Haushalt teilen, heißt es nicht, dass unsere Verbindung nicht mehr besteht.“

„Ich bewundere Eure Gelassenheit.“

„Glaube mir, am Tag, als er Ansalla und mich verließ, war ich keineswegs gelassen. Aber mit den Jahren habe ich eingesehen, dass es die einzig richtige Entscheidung war, um uns zu schützen.“

„Wovor?“

„Vor der Außenwelt“, erwiderte die Gevatterin. „Unseren Nachbarn, Freunden, Verwandten, Geschäftspartnern. Kurzum – vor denen, die nicht in das Geheimnis eingeweiht waren und auch niemals etwas davon erfahren durften.“

„Weil dies auch einen Verstoß dargestellt hätte“, schlussfolgerte ich.

„Genau. Eine weitere Regel des Nymphenvolks lautet: Die Existenz von Nymphen ist gegenüber Menschen geheim zu halten. Dass Ansalla und ich um Tarans Herkunft wissen, ist gefährlich, jedoch berechenbar. Eigentlich hätte er direkt nach dem Ende seines Auftrages Abschied nehmen müssen, doch er blieb bei uns.“

„Was hatte er für einen Auftrag?“

„Einige Landbesitzer wollten zur Erhöhung ihrer Erträge einen großen Teil der Wälder rings um Orsa abholzen, um ihre Felder zu erweitern. Außerdem sollte für eine bessere Bewässerung der Flusslauf der Orsa umgeleitet werden. Die Nymphoren verhinderten dies, weil solch drastische Eingriffe die Natur aus dem Gleichgewicht bringen und so über kurz oder lang unser aller Lebensraum zerstört würde.“

„Und er hätte Euch früher verlassen müssen, weil er anderswo gebraucht wurde?“

„Nicht vordergründig. Taran und die kleine Gemeinschaft, in welcher er lebt, entscheiden unabhängig, wo sie eingreifen. Sie erhalten keine Befehle. Allerdings musste er gehen, weil seine Andersartigkeit gewisse Gefahren barg. Vor allem die Tatsache, dass Taran nicht alterte.“

„Ist er unsterblich?“

„Nein, aber seine Lebenserwartung übersteigt die von Menschen um viele Jahrhunderte und entsprechend langsam altert er. Es hätte nicht mehr all zu lange gedauert, bis dies unserem Umfeld aufgefallen wäre. Man hätte Fragen gestellt, abenteuerliche Theorien entwickelt. Gerüchte vom ewig jungen Mann aus Orsa hätten sich in andere Städte verbreitet, was den Augen und Ohren des Tribunals nicht verborgen geblieben wäre.“

„Ihr hättet an wechselnden Orten leben können. Immer nur einige Jahre, so dass es nicht aufgefallen wäre.“

„Wozu? Sieh mich an. Ich bin über Fünfzig. Taran hingegen ist noch jung und schön wie auf dem Gemälde im Esszimmer. Man hätte mich für seine Mutter gehalten und später womöglich für seine Großmutter“, sagte die Gevatterin mit einem Anflug von Bitterkeit. „Tarans Entscheidung, uns zu verlassen, war gut. Wäre sein Geheimnis von Außenstehenden entdeckt worden, hätte das Tribunal eingegriffen. Glaube mir, eine Bestrafung durch das Tribunal wäre härter ausgefallen.“

„Wie hart?“ In meinem Hals bildete sich ein zäher Klumpen.

„Es wäre wohl eine unwiderrufliche Trennung geworden.“

„Unwiderruflich wie der Tod?“

„Womöglich.“ Die Gevatterin senkte den Blick und ich war sicher, dass sie meine Gedanken erraten hatte.

„Unwiderruflich wie bei meiner Mutter“, quälte ich die Worte heraus. „Wenn das wahr ist ...“ Mein Verstand rotierte, suchte nach anderen Deutungen und Schwachstellen in dem Gesagten, doch alles schien erschreckend plausibel.

„Es ist möglich, dass das Tribunal für den Tod eurer Mutter verantwortlich ist. Du und deine Brüder seid halb Mensch, halb Nymph und verfügt aufgrund des besonderen Erbgutes eurer Mutter über gewisse Fähigkeiten. Eine solche Vermischung ist unter Strafe verboten!“

„Das ist grausam!“ Ich begann, das Tribunal zu verachten. „Welche Fähigkeiten meint Ihr überhaupt? Diese Wetterlaune von vorhin? Das kann Zufall sein. An mir ist nichts Besonderes. Wie kann ich von einer Wassernymphe abstammen, wenn nicht einmal meine Haut im Wasser glitzert?“

Mit einem Satz war ich auf den Beinen. Ich rannte zum Brunnen, streifte den Ärmel des Kleides nach oben und versenkte meinen Arm bis zum Ellenbogen in dem mit Wasser gefüllten Holzeimer.

„Seht Ihr! Es passiert rein gar nichts!“ Mein Fuchteln ließ das Wasser über den Eimerrand schwappen. „Ich kann auch weder mit Fischen sprechen noch das Wasser beschwören", fügte ich gereizt hinzu.

„Mischlinge erhalten offenbar nicht alle Kräfte und Merkmale ihrer Mütter. Es kann sein, dass du eine bestimmte Fähigkeit geerbt hast und deine Brüder über ganz andere Kräfte verfügen“, äußerte die Alte. Doch es klang vielmehr danach, dass sie mich beruhigen wollte, als dass sie selbst davon überzeugt war.

Ich zog den Arm aus dem Wasser, betrachtete meine helle Haut und ertappte mich dabei, dass ich insgeheim hoffte, einen leichten Schimmer zu entdecken. Aber dem war nicht so. Die Gevatterin war mir zum Brunnen gefolgt und tupfte meinen Unterarm mit ihrer Schürze trocken.