Günther Schlichthorn saß an dem großen Esstisch in seiner Schrebergartenlaube und blickte durch ein Fenster in den wolkenlosen Spätsommerhimmel.
Es klingelte.
Draußen summten Insekten. Der Wind bewegte die Blätter eines Haselnussstrauchs. Schlichthorn fuhr sich über den ungepflegten Vollbart, schaute über den Zaun, über Hecken und Bäume hinweg in eine unbestimmte Ferne. Er hörte das Brummen einer Propellermaschine vom nahegelegenen Flughafen herüberwehen.
Er dachte nach. Über das, was bald kommen würde. Über die nächtliche Kälte, die in absehbarer Zeit auch tagsüber herrschen würde. Über die Nässe, die stetig zunahm, den Wind, der schneidender werden würde, über den Herbst, über Bäume, die ihre Blätter verloren.
Es klingelte wieder.
Schlichthorn griff nach dem ungeöffneten Brief, der zwischen aufgeschlagenen Aktenordnern auf dem Tisch lag. Bei dem Absender handelte es sich um seinen Anwalt, Doktor Menz. Seit über zehn Jahren kämpften sie jetzt schon um seine Rehabilitation. Die Rechnungen, die das Verfahren verursachte, hatten ihn das Haus gekostet. Vor drei Jahren hatte er es verkauft. Als Wohnung und Büro diente ihm seither seine Gartenlaube. Ob es diesmal gute Nachrichten geben würde? Ob endlich seine verschollene Stasi-Akte aufgetaucht war? Günther Schlichthorn drehte das Kuvert um und starrte einen Moment lang auf den Klebefalz. War es überhaupt gut, noch daran zu glauben? Hoffnung konnte eine Krankheit sein. Er legte den Brief zurück auf den Tisch.
Günther Schlichthorn war sechsundsechzig Jahre alt. Als er im Frühjahr 1989 fristlos aus dem Polizeidienst entlassen worden war, war sein jetzt graues, schulterlanges Haar noch kurz und blond gewesen, von einem Bart weit und breit keine Spur. Mit seinem Beruf hatte er auch seine Würde verloren. Die Stasi hatte damals ganze Arbeit geleistet. Er hatte Kontakte zu DDR-Bürgerrechtlern gehabt; deshalb war er geschasst worden. Ohne die Stasi-Akte gab es keinen Beweis für einen Zusammenhang zwischen seiner Entlassung und seinem Engagement in der Bürgerrechtsbewegung. Und somit auch keinen Anspruch auf Rehabilitation. Ohne die Aussagen der damals Verantwortlichen galten Schlichthorns Anschuldigungen als haltlos. Und die Verantwortlichen schwiegen. Die wenigen Aussagen, die es gab, wurden von den Gerichten als nicht ausreichend eingestuft. Er führte einen aussichtslosen Kampf, das wusste er. Aber man durfte nicht aufhören zu kämpfen. Sonst war man tot.
Es klingelte zum dritten Mal. Erstaunlich; er hatte gedacht, die Leitung zwischen dem Knopf draußen an der halb verfallenen Pforte und der Klingel hier drinnen wäre schon lange verrottet. Genauso wie das Schild: Schlichthorn. Private Ermittlungen.
Er sah auf die Aktenordner. Vielleicht hätte er sich das nicht antun sollen. Diese Dossiers wieder und wieder zu wälzen. Warum hatte er sich nicht mehr mit dem Hier und Jetzt beschäftigt, sondern war hinabgestiegen in eine Vergangenheit, die ihn nicht losließ und der er nicht verzeihen konnte? Dann wäre er jetzt nicht so müde. Er hätte ein Leben. Eine Arbeit. Etwas, das ihn dazu zwang, diese aussichtslose Nabelschau aus Gram, Wut und Trauer hinter sich zu lassen.
Zum ersten Mal bekam das Klingeln eine gewisse Dringlichkeit. Schlichthorn stemmte sich hoch. Sein Blick fiel auf den alten Heliographen auf dem Bücherbord. Ein Erinnerungsstück aus einer Zeit weit vor der Wende. Ende der Sechziger hatte er als junger Mann im Rahmen eines Kulturaustauschprogramms die Sowjetunion bereist. Am Polarmeer, in der Nähe der Stadt Murmansk, besuchte er eine Wetterstation, wo man neben einer maroden Telefonanlage Sonnenspiegel als Kommunikationsmittel zur Verfügung hatte. Er war so begeistert von diesem einfachen, aber wirkungsvollen Instrument gewesen, dass ihm der Leiter der Station solch einen Heliographen schenkte. Damals hatte er noch an ihn geglaubt, an den Sozialismus. An das Gute und Schöne im Menschen, und dass alle auf der Welt einmal zu Brüdern und Schwestern würden.
Ein leichtes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab, während er den Kopf schüttelte. Dann endlich ging er zur Tür. Als er die Hand auf die Klinke legte, klopfte es. Offenbar hatte er sich das Klingeln nicht bloß eingebildet. Da wollte tatsächlich jemand zu ihm.
Die beiden mochten gut und gern zehn bis fünfzehn Jahre jünger sein als er selbst. Der Mann hatte rotblondes Haar, das an den Seiten graumeliert war. Die tiefen Narben auf seinen Wangen erinnerten an eine heftige Pubertätsakne. Den Kontrast dazu bildeten sein eleganter Anzug und die Aktentasche. Die Frau hatte schwarzes Haar und große grüne Augen, in denen ein gütiger Ausdruck lag. Sie lächelte ihn an. Dabei wurde der Ansatz ihres Zahnfleischs sichtbar. Sie trug ein ärmelloses, mit Blumenmuster verziertes Sommerkleid. Schlichthorn hatte das Gefühl, dass er die Leute irgendwo schon einmal gesehen hatte. Kein gutes Gefühl, wenn man in seiner Lage war.
»Martina Degenhardt.«
Die Frau streckte ihm ihre Hand entgegen. Der Mann stellte sich ihm als Gerhard Degenhardt vor. Jetzt fiel Schlichthorn auch wieder ein, woher er das Ehepaar kannte.
»Sie sind diese Anwälte, richtig? Die mit den Kinderheimen.«
Der Mann nickte.
»Ich hab den Artikel gelesen, in der Zeitung. Sie wollen misshandelten Heimkindern zu ihrem Recht verhelfen, das finde ich gut. Sind Sie deshalb hier?«
Die Frau machte eine abwehrende Geste.
»Nein. Es geht nicht um unsere Arbeit.«
Schlichthorn wandte sich um. Seine Laube war alles andere als präsentabel. Vollgestopft mit seinen Möbeln aus dem Haus, die vom Familienleben mit zwei Kindern abgeschabt waren. Viel zu schmutzig. Es sah beim besten Willen nicht so aus, als würde hier jemand wohnen. Hausen traf es eher. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass keine der Topfpflanzen mehr lebte.
»Nehmen Sie doch Platz.« Er deutete auf die Stühle rings um den Esstisch. Nicht einer, der nicht wackelig gewesen wäre. Schnell räumte er wenigstens die Akten beiseite. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Möchten Sie etwas trinken? Einen Tee vielleicht?« Vage dachte er daran, dass irgendwo noch ein paar Beutel sein mussten. Oder sollte er bei Heidi’s Imbiss an der Ecke ein paar Limonaden holen?
Seine Gäste verneinten. Schlichthorn holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Er setzte sich, nahm einen tiefen Schluck und sah die beiden fragend an.
»Es geht um unseren Sohn, Marcel«, begann die Frau.
Schlichthorn unterdrückte ein Rülpsen.
»Gut. Was ist los mit ihm?«
»Er ist … verschwunden.«
»Und warum gehen Sie damit nicht zur Polizei?«
Herr Degenhardt lächelte verlegen.
»Der Fall ist nicht so aktuell, wie Sie vielleicht denken. Meine Frau und ich kamen 1985 in Haft, da wir mit der Politik der DDR nicht einverstanden waren und dies dummerweise auch öffentlich geäußert haben. Als verurteilte Staatsfeinde brachte man uns nach Bautzen. Marcel, der damals gerade mal zwei Jahre alt war, wurde uns weggenommen. Wir haben trotz intensiver Nachforschungen bis heute nicht herausfinden können, ob Marcel überhaupt noch lebt. Wir möchten endlich ein Ende der Ungewissheit.«
Schlichthorn nahm einen Schluck von seinem Bier. Dann sah er die beiden ruhig an.
»1985, das ist dreißig Jahre her.«
»Als wir im Herbst 1989 freikamen, sagte man uns, dass Marcel in einem Heim in Obhut sei, in Aschersleben. Wir fuhren sofort dorthin, wollten unseren Sohn in Empfang nehmen. Doch Marcel war nicht da, und zu unserem Erstaunen wusste die aktuelle Heimleitung von nichts. Wir stellten Nachforschungen an. Aschersleben hatte als Aufnahmeeinrichtung gedient. Von dort wurden die Kinder weiterverteilt. Und manche auch mehrfach weitergereicht, von einem Ort zum nächsten.«
»Wir begannen eine Schnitzeljagd«, warf Frau Degenhardt ein.
Ihr Mann nahm ihre Hand und sprach weiter: »Das Heim, in dem Marcel zuletzt gemeldet gewesen war, noch im Frühjahr 1989, befand sich in Erfurt. Wir fuhren hin. Voller Vorfreude, Marcel endlich gefunden zu haben. Doch auch dort war der Junge nicht.«
»Die Leitung der Anstalt zeigte uns ein Schreiben«, schob Frau Degenhardt hinterher. »Ein offizieller Überstellungsbescheid für das Heim in Aschersleben.« Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Soll das heißen, Ihr Sohn ist aus dem Erfurter Heim entlassen und nach Aschersleben geschickt worden?«
»Das ist die große Frage.« Herr Degenhardt wischte sich über die Stirn. »Es existiert ein offizieller Entlassungsschein aus dem Heim Waldfrieden hier in Erfurt vom 17. März 1989.«
Er öffnete seine Aktentasche und holte eine dicke Mappe heraus. Seine Frau nahm die Unterlagen an sich. Schnell hatte sie gefunden, was sie suchte, und schob es Schlichthorn über den Tisch zu.
»In Aschersleben ist Marcel allerdings nie angekommen«, fuhr ihr Mann derweil fort. »Die Heimleitung gab an, offiziell von einer Verlegung Marcels in ihre Einrichtung nichts gewusst zu haben. Die Direktion der Erfurter Anstalt behauptet das Gegenteil. Möglicherweise gab es Kommunikationsprobleme.«
»Schwer zu glauben in einem Staat, der seine Bürger zu einer maximalen Bespitzelung antrieb.« Schlichthorn nahm einen Schluck von seinem Bier. Er bemerkte, dass Frau Schlichthorn ihn aufmerksam ansah.
Herr Degenhardt nickte. »Oder der gewohnheitsmäßig seine Bürger belügt.«
Schlichthorn zeigte mit seiner Bierflasche auf ihn. »Das ist vermutlich die Haltung, die Sie nach Bautzen gebracht hat.« Die Männer schenkten einander ein bitteres Grinsen.
»Wir haben die Hoffnung, dass Marcel in einem günstigen Moment die Flucht ergriffen hat«, sagte die Frau plötzlich. Obwohl es ein kurzer Satz war, wirkte sie atemlos. Herr Degenhardt legte ihr eine Hand auf den Unterarm. »Das ist nur eine von vielen Theorien. Es kann auch anders gelaufen sein. Nach den neuesten …«
Sie sah ihn an, mit großen, ausdrucksstarken Augen, und er schwieg.
»Ich nehme an, ich bin nicht der erste Detektiv, den Sie mit dieser Sache beauftragen.«
Herr Degenhardt nickte.
»Fast ein halbes Dutzend haben wir bereits konsultiert.«
»Und zu mir kommen Sie, weil …« Schlichthorn führte den Satz nicht aus. Seine ganze Erscheinung, seine Wohnung, schien ihm die Antwort zu geben. Alles um ihn herum schrie: letzte Wahl. Mit einem Mal erschien ihm alles sehr sinnlos.
»Keine der Nachforschungen hat bisher zu irgendeinem verwertbaren Ergebnis geführt«, sagte Herr Degenhardt. »Ab einem bestimmten Punkt kamen die Ermittler einfach nicht weiter.« Er neigte sich vor. »Manchmal hatten wir auch den Verdacht: Es sollte nicht weitergehen, verstehen Sie? Es ist schwer, vertrauenswürdige Leute zu finden. Man weiß nie, wer wem was in der Vergangenheit geschuldet hat. Und es noch tut.« Er zögerte. »Bei Ihnen wissen wir, dass Sie auf der richtigen Seite standen.«
Schlichthorn lachte trocken auf.
»Die Gerichte sehen das leider anders.«
Frau Degenhardt sagte, mehr zu sich selbst: »Es ist so schwer, sich das vorzustellen: Da ist ein Junge, lebendig und real, und auf einmal ist er fort, ohne jede Spur. Und je tiefer Sie graben und je genauer Sie hinsehen, desto vager und verschwommener wird alles. Bis einfach alles versickert ist.« Sie hob die Arme.
»Kenne ich«, sagte Schlichthorn und dachte an seinen eigenen verfahrenen Prozess.
»Sehen Sie«, sagte sie leise.
Schlichthorn ließ ein wenig Zeit verstreichen, ehe er antwortete. Ein Ja, ein Nein, ein Handschlag, eine Abweisung? Ein ›Ich werde es mir überlegen‹? Er spürte die fröstelnde Kühle in seiner Laube. Bald war es Herbst.
»Aber haben Sie vielleicht wenigstens irgendwelche Unterlagen über das, was sich feststellen ließ?«
Herr Degenhardt atmete scharf ein. Rasch griff er nach dem Packen Unterlagen aus seiner Tasche. »Hier«, sagte er, während er ein Dossier hervorzog. »Das sind die gesammelten Ermittlungsberichte. Bitte wundern Sie sich nicht. Der letzte stammt aus dem Jahr 1995.«
Schlichthorn nahm die in Transparentfolie gesteckten Papiere entgegen und legte den Packen vor sich auf den Tisch. 1995 – das war der Punkt, der ihn stutzig werden ließ.
»Nun, Herr und Frau Degenhardt. Falls ich diesen Auftrag tatsächlich annehme, müssen Sie mir vorher noch eine Frage beantworten.«
»Ja?« Die Frau schaute ihn bittend an. Sie versuchte ein Lächeln.
»Warum gerade jetzt?«