Cover

Mehr über unsere Bücher und Autoren:
www.berlinverlag.de

ISBN 978-3-8270-7877-3
März 2016
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotiv: Jarno Saren/arcangel
Datenkonvertierung: psb, Berlin

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Berlin Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

kap40.jpg

Ein Zweig schlug in sein Gesicht, doch er spürte keinen Schmerz. Schneller! Er musste laufen, so schnell er konnte. Das Rascheln des Laubs unter den Füßen, die schwarzen Stämme links und rechts, der Abhang, auf dem er nicht fallen durfte. Zurück blieb sein Freund. Sein bester Freund.

Nur nicht umdrehen. Der Mann war immer noch hinter ihm. Nur nicht umdrehen. Blick nach vorne, zum Ende des Wäldchens, zu der Lichtung, auf die der Mond sein kaltes Licht legte. Das Licht, das zwischen den langen schwarzen Linien der Stämme strahlte wie eine Verheißung. Ein Versprechen, das bedeuten würde: Wenn du mich erreichst, wenn du das Licht erreichst, dann ist alles vorbei. Endlich vorbei. Die Angst wird verschwinden. Diese unbändige Angst, die in dir lebt, die in deiner Kinderseele schon begonnen hat, auszuschlagen, die sich wie eine Pflanze um dich schlingt, dir über den Hals wächst und dich schließlich erwürgt – sie wird endlich verschwinden. Flieh! Lauf! Renn! Jetzt!

Er war nicht weit gekommen, da strauchelte er. Eine Wurzel, die er nicht gesehen, die sein Instinkt nicht wahrgenommen hatte. Dieser Instinkt, der für sein Überleben zuständig war. Er rutschte den Abhang zurück. Blieb liegen. Drehte sich um. Flüsterte: »Wo bist du?« Wartete vergeblich auf Antwort.

Er wusste, er musste jetzt aufstehen, doch er rührte sich nicht. Irgendetwas hatte ihn gelähmt. Er würde der Angst nicht entkommen, niemals. Er würde für immer gefangen bleiben. Die Schläge, der Hass. Die Geheimnisse im Wald. Das war die Wirklichkeit, in der sie lebten. Die Wirklichkeit, die sie verdient hatten. Sie waren böse Kinder ohne irgendeinen Wert. Nicht gut genug, um leben zu dürfen, nicht schlecht genug für den Tod. Er hätte nicht herkommen dürfen. Warum hatte er sehen wollen, was im Wald geschah? Es wussten doch alle, dass das ein böses, böses Märchen war. Jetzt kam der Wolf, um ihn zu fressen.

Als der Schatten des Mannes seinen Freund packte, kroch er hinter einen Stamm. Er konnte seinen Freund hören, der aufschrie, der sich wehrte mit all seiner Kraft. Einer Kraft, die für den großen Mann nichts anderes war als ein lauer Windstoß. Die ringenden Körper, die Flüche, die Angst. Er konnte sie spüren. Sie war immer noch da und sie war jetzt so groß, größer als jemals zuvor.

Irgendwann hörte sein Freund auf zu schreien. Ein leises Winseln nur. Ein Flehen. »Nein, bitte nicht! Ich bin brav.«

Dann hörte er das laute Knacken. Er schloss die Augen. Doch er konnte den großen Mann riechen. Den säuerlichen Dunst, der ihn umgab. Die Aura seiner Gier und seiner Wut. Er hielt sich die Nase zu und ließ seine Gedanken fortwandern in eine weite, weite Ferne.

kap01.jpg

Günther Schlichthorn saß an dem großen Esstisch in seiner Schrebergartenlaube und blickte durch ein Fenster in den wolkenlosen Spätsommerhimmel.

Es klingelte.

Draußen summten Insekten. Der Wind bewegte die Blätter eines Haselnussstrauchs. Schlichthorn fuhr sich über den ungepflegten Vollbart, schaute über den Zaun, über Hecken und Bäume hinweg in eine unbestimmte Ferne. Er hörte das Brummen einer Propellermaschine vom nahegelegenen Flughafen herüberwehen.

Er dachte nach. Über das, was bald kommen würde. Über die nächtliche Kälte, die in absehbarer Zeit auch tagsüber herrschen würde. Über die Nässe, die stetig zunahm, den Wind, der schneidender werden würde, über den Herbst, über Bäume, die ihre Blätter verloren.

Es klingelte wieder.

Schlichthorn griff nach dem ungeöffneten Brief, der zwischen aufgeschlagenen Aktenordnern auf dem Tisch lag. Bei dem Absender handelte es sich um seinen Anwalt, Doktor Menz. Seit über zehn Jahren kämpften sie jetzt schon um seine Rehabilitation. Die Rechnungen, die das Verfahren verursachte, hatten ihn das Haus gekostet. Vor drei Jahren hatte er es verkauft. Als Wohnung und Büro diente ihm seither seine Gartenlaube. Ob es diesmal gute Nachrichten geben würde? Ob endlich seine verschollene Stasi-Akte aufgetaucht war? Günther Schlichthorn drehte das Kuvert um und starrte einen Moment lang auf den Klebefalz. War es überhaupt gut, noch daran zu glauben? Hoffnung konnte eine Krankheit sein. Er legte den Brief zurück auf den Tisch.

Günther Schlichthorn war sechsundsechzig Jahre alt. Als er im Frühjahr 1989 fristlos aus dem Polizeidienst entlassen worden war, war sein jetzt graues, schulterlanges Haar noch kurz und blond gewesen, von einem Bart weit und breit keine Spur. Mit seinem Beruf hatte er auch seine Würde verloren. Die Stasi hatte damals ganze Arbeit geleistet. Er hatte Kontakte zu DDR-Bürgerrechtlern gehabt; deshalb war er geschasst worden. Ohne die Stasi-Akte gab es keinen Beweis für einen Zusammenhang zwischen seiner Entlassung und seinem Engagement in der Bürgerrechtsbewegung. Und somit auch keinen Anspruch auf Rehabilitation. Ohne die Aussagen der damals Verantwortlichen galten Schlichthorns Anschuldigungen als haltlos. Und die Verantwortlichen schwiegen. Die wenigen Aussagen, die es gab, wurden von den Gerichten als nicht ausreichend eingestuft. Er führte einen aussichtslosen Kampf, das wusste er. Aber man durfte nicht aufhören zu kämpfen. Sonst war man tot.

Es klingelte zum dritten Mal. Erstaunlich; er hatte gedacht, die Leitung zwischen dem Knopf draußen an der halb verfallenen Pforte und der Klingel hier drinnen wäre schon lange verrottet. Genauso wie das Schild: Schlichthorn. Private Ermittlungen.

Er sah auf die Aktenordner. Vielleicht hätte er sich das nicht antun sollen. Diese Dossiers wieder und wieder zu wälzen. Warum hatte er sich nicht mehr mit dem Hier und Jetzt beschäftigt, sondern war hinabgestiegen in eine Vergangenheit, die ihn nicht losließ und der er nicht verzeihen konnte? Dann wäre er jetzt nicht so müde. Er hätte ein Leben. Eine Arbeit. Etwas, das ihn dazu zwang, diese aussichtslose Nabelschau aus Gram, Wut und Trauer hinter sich zu lassen.

Zum ersten Mal bekam das Klingeln eine gewisse Dringlichkeit. Schlichthorn stemmte sich hoch. Sein Blick fiel auf den alten Heliographen auf dem Bücherbord. Ein Erinnerungsstück aus einer Zeit weit vor der Wende. Ende der Sechziger hatte er als junger Mann im Rahmen eines Kulturaustauschprogramms die Sowjetunion bereist. Am Polarmeer, in der Nähe der Stadt Murmansk, besuchte er eine Wetterstation, wo man neben einer maroden Telefonanlage Sonnenspiegel als Kommunikationsmittel zur Verfügung hatte. Er war so begeistert von diesem einfachen, aber wirkungsvollen Instrument gewesen, dass ihm der Leiter der Station solch einen Heliographen schenkte. Damals hatte er noch an ihn geglaubt, an den Sozialismus. An das Gute und Schöne im Menschen, und dass alle auf der Welt einmal zu Brüdern und Schwestern würden.

Ein leichtes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab, während er den Kopf schüttelte. Dann endlich ging er zur Tür. Als er die Hand auf die Klinke legte, klopfte es. Offenbar hatte er sich das Klingeln nicht bloß eingebildet. Da wollte tatsächlich jemand zu ihm.

Die beiden mochten gut und gern zehn bis fünfzehn Jahre jünger sein als er selbst. Der Mann hatte rotblondes Haar, das an den Seiten graumeliert war. Die tiefen Narben auf seinen Wangen erinnerten an eine heftige Pubertätsakne. Den Kontrast dazu bildeten sein eleganter Anzug und die Aktentasche. Die Frau hatte schwarzes Haar und große grüne Augen, in denen ein gütiger Ausdruck lag. Sie lächelte ihn an. Dabei wurde der Ansatz ihres Zahnfleischs sichtbar. Sie trug ein ärmelloses, mit Blumenmuster verziertes Sommerkleid. Schlichthorn hatte das Gefühl, dass er die Leute irgendwo schon einmal gesehen hatte. Kein gutes Gefühl, wenn man in seiner Lage war.

»Martina Degenhardt.«

Die Frau streckte ihm ihre Hand entgegen. Der Mann stellte sich ihm als Gerhard Degenhardt vor. Jetzt fiel Schlichthorn auch wieder ein, woher er das Ehepaar kannte.

»Sie sind diese Anwälte, richtig? Die mit den Kinderheimen.«

Der Mann nickte.

»Ich hab den Artikel gelesen, in der Zeitung. Sie wollen misshandelten Heimkindern zu ihrem Recht verhelfen, das finde ich gut. Sind Sie deshalb hier?«

Die Frau machte eine abwehrende Geste.

»Nein. Es geht nicht um unsere Arbeit.«

Schlichthorn wandte sich um. Seine Laube war alles andere als präsentabel. Vollgestopft mit seinen Möbeln aus dem Haus, die vom Familienleben mit zwei Kindern abgeschabt waren. Viel zu schmutzig. Es sah beim besten Willen nicht so aus, als würde hier jemand wohnen. Hausen traf es eher. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass keine der Topfpflanzen mehr lebte.

»Nehmen Sie doch Platz.« Er deutete auf die Stühle rings um den Esstisch. Nicht einer, der nicht wackelig gewesen wäre. Schnell räumte er wenigstens die Akten beiseite. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Möchten Sie etwas trinken? Einen Tee vielleicht?« Vage dachte er daran, dass irgendwo noch ein paar Beutel sein mussten. Oder sollte er bei Heidi’s Imbiss an der Ecke ein paar Limonaden holen?

Seine Gäste verneinten. Schlichthorn holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Er setzte sich, nahm einen tiefen Schluck und sah die beiden fragend an.

»Es geht um unseren Sohn, Marcel«, begann die Frau.

Schlichthorn unterdrückte ein Rülpsen.

»Gut. Was ist los mit ihm?«

»Er ist … verschwunden.«

»Und warum gehen Sie damit nicht zur Polizei?«

Herr Degenhardt lächelte verlegen.

»Der Fall ist nicht so aktuell, wie Sie vielleicht denken. Meine Frau und ich kamen 1985 in Haft, da wir mit der Politik der DDR nicht einverstanden waren und dies dummerweise auch öffentlich geäußert haben. Als verurteilte Staatsfeinde brachte man uns nach Bautzen. Marcel, der damals gerade mal zwei Jahre alt war, wurde uns weggenommen. Wir haben trotz intensiver Nachforschungen bis heute nicht herausfinden können, ob Marcel überhaupt noch lebt. Wir möchten endlich ein Ende der Ungewissheit.«

Schlichthorn nahm einen Schluck von seinem Bier. Dann sah er die beiden ruhig an.

»1985, das ist dreißig Jahre her.«

»Als wir im Herbst 1989 freikamen, sagte man uns, dass Marcel in einem Heim in Obhut sei, in Aschersleben. Wir fuhren sofort dorthin, wollten unseren Sohn in Empfang nehmen. Doch Marcel war nicht da, und zu unserem Erstaunen wusste die aktuelle Heimleitung von nichts. Wir stellten Nachforschungen an. Aschersleben hatte als Aufnahmeeinrichtung gedient. Von dort wurden die Kinder weiterverteilt. Und manche auch mehrfach weitergereicht, von einem Ort zum nächsten.«

»Wir begannen eine Schnitzeljagd«, warf Frau Degenhardt ein.

Ihr Mann nahm ihre Hand und sprach weiter: »Das Heim, in dem Marcel zuletzt gemeldet gewesen war, noch im Frühjahr 1989, befand sich in Erfurt. Wir fuhren hin. Voller Vorfreude, Marcel endlich gefunden zu haben. Doch auch dort war der Junge nicht.«

»Die Leitung der Anstalt zeigte uns ein Schreiben«, schob Frau Degenhardt hinterher. »Ein offizieller Überstellungsbescheid für das Heim in Aschersleben.« Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Soll das heißen, Ihr Sohn ist aus dem Erfurter Heim entlassen und nach Aschersleben geschickt worden?«

»Das ist die große Frage.« Herr Degenhardt wischte sich über die Stirn. »Es existiert ein offizieller Entlassungsschein aus dem Heim Waldfrieden hier in Erfurt vom 17. März 1989.«

Er öffnete seine Aktentasche und holte eine dicke Mappe heraus. Seine Frau nahm die Unterlagen an sich. Schnell hatte sie gefunden, was sie suchte, und schob es Schlichthorn über den Tisch zu.

»In Aschersleben ist Marcel allerdings nie angekommen«, fuhr ihr Mann derweil fort. »Die Heimleitung gab an, offiziell von einer Verlegung Marcels in ihre Einrichtung nichts gewusst zu haben. Die Direktion der Erfurter Anstalt behauptet das Gegenteil. Möglicherweise gab es Kommunikationsprobleme.«

»Schwer zu glauben in einem Staat, der seine Bürger zu einer maximalen Bespitzelung antrieb.« Schlichthorn nahm einen Schluck von seinem Bier. Er bemerkte, dass Frau Schlichthorn ihn aufmerksam ansah.

Herr Degenhardt nickte. »Oder der gewohnheitsmäßig seine Bürger belügt.«

Schlichthorn zeigte mit seiner Bierflasche auf ihn. »Das ist vermutlich die Haltung, die Sie nach Bautzen gebracht hat.« Die Männer schenkten einander ein bitteres Grinsen.

»Wir haben die Hoffnung, dass Marcel in einem günstigen Moment die Flucht ergriffen hat«, sagte die Frau plötzlich. Obwohl es ein kurzer Satz war, wirkte sie atemlos. Herr Degenhardt legte ihr eine Hand auf den Unterarm. »Das ist nur eine von vielen Theorien. Es kann auch anders gelaufen sein. Nach den neuesten …«

Sie sah ihn an, mit großen, ausdrucksstarken Augen, und er schwieg.

»Ich nehme an, ich bin nicht der erste Detektiv, den Sie mit dieser Sache beauftragen.«

Herr Degenhardt nickte.

»Fast ein halbes Dutzend haben wir bereits konsultiert.«

»Und zu mir kommen Sie, weil …« Schlichthorn führte den Satz nicht aus. Seine ganze Erscheinung, seine Wohnung, schien ihm die Antwort zu geben. Alles um ihn herum schrie: letzte Wahl. Mit einem Mal erschien ihm alles sehr sinnlos.

»Keine der Nachforschungen hat bisher zu irgendeinem verwertbaren Ergebnis geführt«, sagte Herr Degenhardt. »Ab einem bestimmten Punkt kamen die Ermittler einfach nicht weiter.« Er neigte sich vor. »Manchmal hatten wir auch den Verdacht: Es sollte nicht weitergehen, verstehen Sie? Es ist schwer, vertrauenswürdige Leute zu finden. Man weiß nie, wer wem was in der Vergangenheit geschuldet hat. Und es noch tut.« Er zögerte. »Bei Ihnen wissen wir, dass Sie auf der richtigen Seite standen.«

Schlichthorn lachte trocken auf.

»Die Gerichte sehen das leider anders.«

Frau Degenhardt sagte, mehr zu sich selbst: »Es ist so schwer, sich das vorzustellen: Da ist ein Junge, lebendig und real, und auf einmal ist er fort, ohne jede Spur. Und je tiefer Sie graben und je genauer Sie hinsehen, desto vager und verschwommener wird alles. Bis einfach alles versickert ist.« Sie hob die Arme.

»Kenne ich«, sagte Schlichthorn und dachte an seinen eigenen verfahrenen Prozess.

»Sehen Sie«, sagte sie leise.

Schlichthorn ließ ein wenig Zeit verstreichen, ehe er antwortete. Ein Ja, ein Nein, ein Handschlag, eine Abweisung? Ein ›Ich werde es mir überlegen‹? Er spürte die fröstelnde Kühle in seiner Laube. Bald war es Herbst.

»Aber haben Sie vielleicht wenigstens irgendwelche Unterlagen über das, was sich feststellen ließ?«

Herr Degenhardt atmete scharf ein. Rasch griff er nach dem Packen Unterlagen aus seiner Tasche. »Hier«, sagte er, während er ein Dossier hervorzog. »Das sind die gesammelten Ermittlungsberichte. Bitte wundern Sie sich nicht. Der letzte stammt aus dem Jahr 1995.«

Schlichthorn nahm die in Transparentfolie gesteckten Papiere entgegen und legte den Packen vor sich auf den Tisch. 1995 – das war der Punkt, der ihn stutzig werden ließ.

»Nun, Herr und Frau Degenhardt. Falls ich diesen Auftrag tatsächlich annehme, müssen Sie mir vorher noch eine Frage beantworten.«

»Ja?« Die Frau schaute ihn bittend an. Sie versuchte ein Lächeln.

»Warum gerade jetzt?«

kap02.jpg

»Scheiße, Kinder!« Hatte sie das laut gesagt? Kriminalhauptkommissarin Katja Schlichthorn sprach sich eine stumme Rüge aus. Zum Glück saßen sie noch im Auto. In der Tagesstätte, vor der die Ankunft ihres Einsatzwagens gerade Aufsehen erregte, konnte keiner etwas gehört haben.

Sie stieg aus. Rein äußerlich glich sie den jungen Müttern, die hier am Nachmittag ankommen würden, um ihre Sprösslinge abzuholen: Sie trug einen Pferdeschwanz, vernünftige Kleidung und besaß ein bodenständiges Gesicht, dem das ausgeprägte Kinn Energie, aber auch eine Spur von Trotz verlieh. Patent, zupackend, sportlich den Spagat zwischen Beruf und Familie problemlos meisternd, so sah sie aus. Aber Katja Schlichthorn war nicht mehr jung. Trotz ihres Äußeren war sie in dem Alter, in dem der Zug, wie man sagte, langsam abgefahren war. Sie hatte kein Kind, keinen Mann, keinen Freund. Das Wort Familie war ein rotes Tuch für sie, eines von den Wörtern, die sie abends auf ihr Trimmrad trieben.

Sie hatte nichts gegen Kinder, im Gegenteil. Kinder waren toll. Kinder bauten Dämme an Bachläufen und kletterten auf Bäume und träumten sich aus dem verdreckten Grasstreifen zwischen zwei Plattenbauten eine ganze Welt zusammen. Sie zumindest hatte das getan. Bis sie zwölf Jahre alt wurde. Dann war ihre Mutter gestorben und die Kindheit abrupt zu Ende. Sie hatte die Pflichten einer Erwachsenen übernommen, hatte den Haushalt für Vater und Bruder geführt, die Schule mit Bestnoten beendet und nie gejammert, weil man das nicht machte. Selbst dann nicht, wenn man hoffnungslos überfordert war. Und als sie einmal, ein einziges Mal etwas wirklich gewollt hatte, mit siebzehn, im Grunde immer noch ein Kind, da war alles um sie herum zusammengebrochen. Ablehnung, Ausgrenzung. Sie hatte die Höchststrafe erhalten, so sah sie es. Erwachsensein war kein Spaß. Aber Katja Schlichthorn hatte auf die harte Tour gelernt, dass es keine Alternativen dazu gab.

»Jetzt hör schon auf, herumzuspielen, Thorsten.«

Ihr Assistent, Kommissaranwärter Thorsten Belau, zarte zweiundzwanzig, stellte das Blaulicht wieder aus, mit dem er gerade begonnen hatte, eine begeisterte Zuschauerschaft von Drei- bis Fünfjährigen zu unterhalten, die sich am Zaun drängten. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, als er ausstieg.

»Wir hätten auch gleich oben parken können«, meinte sie und drehte den jubelnden Kindern den Rücken zu, um den steilen Anstieg zum Neubauviertel zu mustern.

»Die Straße wird oben zu Lehm und Matsch, und die Kriminaltechniker parken alles zu.« Thorsten ließ sich die Ruhe nicht nehmen. »Außerdem wollte ich dir das hier zeigen.« Auch er wandte sich nun von der Tagesstätte ab und wies auf das gegenüberliegende Hanggrundstück. Es war ein ungepflegtes Waldstück mit Blick auf die Gleise und Industriegebiete am Südrand Erfurts, durch die sie ihren Weg hierhergefunden hatten. Hinter geduckten Stämmen verborgen konnte Katja einige alte Bauwerke erkennen, flache, barackenartige Häuser, die aus den fünfziger Jahren zu sein schienen. »Das war mal ein Kinderheim.«

Katja nickte. Er brauchte nicht weiterzusprechen. Die Knochen, die oben im Neubauviertel gefunden worden waren, stammten von einem Kind und sie waren alt. Gut möglich, dass sie von einem der Heimkinder waren. Von irgendeinem misshandelten, vergessenen Wesen. Sie warfen einander einen kurzen Blick zu. Hinter ihnen riefen die Kleinen ungebrochen fröhlich. »Noch mal, noch mal!«

»Und da heißt es immer, die Deutschen sterben aus.«

Thorsten blies sich auf die kalten Finger.

»Mit der Klimaerwärmung wird es ja auch nix«, stellte er fest.

Sie machten sich an den Aufstieg. Es war eine Vorstadtsiedlungsstraße wie Hunderte andere. Sie führte steil bergauf ins Nirgendwo, dahinter folgte nur noch Landschaft. An ihrem Ende lag das »letzte Haus«, so neu, dass es noch nach Farbe roch, genau wie all die anderen Häuser auf der linken Seite. Sie standen zurückgesetzt hinter einem Grünstreifen, der die Aufschrift »Bauland« nicht extra zu tragen brauchte. Alles war neu, viereckig und ein wenig zu bunt. Nackt und ungeschützt standen Schaukeln und Klettergerüste in den Vorgärten. Es würde noch gut zehn Jahre dauern, bis die neugepflanzten Thujahecken all das verdecken würden. Weit und breit kein Baum zum Klettern.

Katja blieb stehen, als ein Geräusch ertönte.

»Was ist das?«

»Die Straßenbahn.« Thorsten kam neben ihr zum Stehen. »Sie fährt hinter der Häuserreihe vorbei. Oben auf dem Berg ist dann die Wendeschleife, mitten auf der Wiese. Alles ganz neu.«

»Kaum zu glauben.«

Katja versuchte, sich vorzustellen, wie das Ganze damals ausgesehen haben mochte. Was hatte Nguyen, die Gerichtsmedizinerin, gesagt? Zwanzig Jahre lagen die Knochen schon in der Erde, vielleicht auch dreißig. Zu der Zeit hatte es hier vermutlich nur Brachland gegeben. Keine Häuser hier oben, dafür Büsche, ein paar Bäume, die Reste eines Kiefernwaldes. Sie zog die Karte aus der Tasche, die sie sich vom Bebauungsamt besorgt hatte. Das große Milchwerk unten, hatte das schon gestanden? War die Schrebergartensiedlung schon da gewesen, die sich gegenüber von den Neubauten hangabwärts zog? Wie hatte es ausgesehen? War es öde gewesen? Oder wildromantisch? Kinderland vielleicht für diejenigen, die mal der Aufsicht des Heimes entkommen wollten, um für sich zu sein und Abenteuer zu erleben? Hatte das Gelände Blickschutz geboten für heimlich spielende Kinder? Und was war mit dem Mörder? Hatte er seinem Opfer im Heim aufgelauert oder es an diese Stelle gelockt? Konnte er die Tat hier oben ungesehen begangen haben? Oder hatte er nur die Leiche an diesem Ort verscharrt? Auf Bäume klettern und Staudämme bauen, dachte Katja. Das hätte dieses Kind tun sollen. Wie war es hierhergeraten?

Es gab so viele Fragen. Und die glatten, seelenlosen, ganz und gar geschichtslosen Fassaden der heutigen Siedlung boten ihr keine Antworten. Auch nicht die frisch vom Bagger zusammengeschobene Grasnarbe im Vordergrund. Oder das rote Erdreich darunter. Eine Baustelle im Anfangsstadium.

Das Zelt, das die Spurensicherung über der Grube aufgerichtet hatte, war nicht zu übersehen. Der gelbe Bagger überragte es zudem, als wollte er darauf hinweisen, dass er das alles jederzeit noch fressen könnte. Bald würde er auch die Reste des Grünstreifens in eine Baustelle verwandeln, aber für die nächsten Tage gehörte das Gelände ihnen. Dafür würde ein kleines Bündel Knochen sorgen, das heute auf den Tisch der Gerichtsmedizinerin kam. Ein Wunder, dass sie es überhaupt bemerkt hatten.

Sie betrat das Zelt und nickte den Leuten von der Spurensicherung zu. Das kleine Skelett war bereits vollständig geborgen worden. Jetzt ging es um die Frage, ob man noch Reste von Kleidern fand, von Besitztümern, Spuren, die halfen, die Identität der blanken Gebeine zu ermitteln. Alles wurde gründlich durchsiebt.

»Nichts«, fasste eine der Gestalten im weißen Schutzanzug die bisherigen Ergebnisse für Katja zusammen. »Nicht mal eine Gürtelschnalle.«

»Und, Wuttke, was meinen Sie, von welcher Zeitspanne reden wir? Wie alt sind die Knochen?«, fragte die Kommissarin.

Harald Wuttke, ein Fünfziger mit rot geäderten Apfelbacken, war schwer in Ordnung. Katja kannte ihn, solange sie denken konnte. Seine Frau Ina regierte auf dem Revier das Sekretariat. Beide galten als Urgestein.

»Bin ich Geologe?« Er zuckte mit den Schultern. »Wir graben hier kein bronzezeitliches Gräberfeld aus, Mädchen.«

Katja ließ ihm das »Mädchen« durchgehen.

»Na, wollen wir doch nicht hoffen, dass sich das zu einem Gräber-Feld entwickelt, oder?« Sie runzelte die Stirn. Im Moment sah es nicht danach aus: Nicht mal der üble Geruch herrschte, der sie an so vielen Tatorten erwartete. Es war wirklich schwer, hier einen Eindruck von der Art des Verbrechens, von Verbrechen überhaupt zu erhalten. Das Innere des Zelts schien so geschichtslos wie die gesamte Umgebung. »Darf ich?« Sie zeigte auf eine geblümte Thermoskanne.

»Darf man hier rauchen?«, fragte Thorsten zur selben Zeit.

Wuttke wies mit dem Finger auf den Zeltausgang.

»Mist, du Idiot«, herrschte Katja Thorsten an, als sie draußen waren. »Er war kurz davor, mir einen Kaffee anzubieten. Sicher hat er auch Kekse.«

»Ina Wuttkes Kekse?« Thorsten klang enttäuscht.

Kindergeschrei unterbrach sie. Aus einem der oberen Häuser kamen drei Jungs gestürmt, warm angezogen, Drachen in den Händen. Sie veranstalteten einen Lärm, als ginge es in den Krieg.

»Absolute Windstille, das wird nix«, stellte Thorsten fest.

Nein, das würde nichts werden. In der Tat.

»Darauf kommt’s manchmal nicht an«, sagte sie.

Auf dem Balkon des letzten Hauses in der Neubaureihe stand eine Frau und schaute ihnen zu. Sie wirkte missmutig. Vielleicht lag es an den Aktivitäten, die zu ihren Füßen stattfanden. Die minderten möglicherweise den Immobilienwert ihres Hauses.

Katja Schlichthorn wandte ihr den Rücken zu. »Nguyen hat gestern schon gesagt, dass die Knochen alt sind. Nicht eben Bronzezeit, aber alt.«

Thorsten zündete sich eine Kippe an. »Das Kinderheim wurde 1990 geschlossen.«

»Zusammen mit diesem Staat«, stellte sie fest. »Wie so vieles. Sobald wir ein Todesdatum haben, gehen wir die Vermisstenfälle des entsprechenden Jahres durch.«

»Soll ich schon mal mit der Befragung der Schrebergartenleute anfangen? Da wohnen einige sicher schon länger hier.«

Ihr Handy vibrierte. Das Display zeigte eine Nachricht der Gerichtsmedizinerin Minh Nguyen.

»Wir haben Glück, die Todesfee will uns sprechen.« Sie winkte Thorsten zurück zum Auto. »Erst der Todeszeitpunkt. Danach alles andere.«

kap03.jpg

Dr. Dr. Minh Nguyen war, was ihr Name erwarten ließ: eine zarte Asiatin mit zurückhaltenden Bewegungen. Von hinten hätte man sie für ein Kind halten können, von der Seite für ein junges Mädchen. Wer ihr Gesicht genauer studierte, kam zu dem Schluss, dass sie um die vierzig sein musste. Nicht dass sie Falten gehabt hätte. Es lag an der Beherrschtheit und Zurückhaltung ihrer Miene. An den wenigen grauen Strähnen in ihrem Scheitel. Und an einer leichten Traurigkeit, die ihre ganze Gestalt noch transparenter wirken ließ, als sie ohnehin schon war. Der weiße Kittel passte perfekt zu ihr.

Dr. Nguyen arbeitete normalerweise an der Universität Jena. Zusätzlich stand sie in Erfurt einer gerichtsmedizinischen Arbeitsgruppe vor. Sie selbst nahm nicht viel Raum ein, aber die Liste ihrer Veröffentlichungen war lang und ihr Ruf hervorragend, und das europaweit. Dr. Nguyen galt als Koryphäe. Es gab Kollegen, die sich wunderten, dass sie nicht an eine berühmtere Universität abwanderte. Damit sie es nicht tat, erhielt sie in Erfurt beinahe so etwas wie ein privates Leichenhaus, in dem sie ihren Forschungsanliegen weit freier nachgehen durfte als im üblichen Universitätsbetrieb. Dazu bekam sie die Fälle der hiesigen Kripo direkt auf den Tisch ihres Labors. Ihr Reich lag in einem Altbau der Helios-Klinik an der Nordhäuser Straße. Das vernachlässigte Gelände ringsum, die hohen Bäume und schmiedeeisernen Zäune verliehen dem Ort von außen das Flair einer verlassenen Villa. Im sterilen Inneren war davon nichts zu spüren.

Katja starrte auf die braun verfärbten Knochen auf dem Aluminiumtisch und war dankbar, dass auch hier nichts stank. Das erleichterte die Situation, die Überreste eines Kindes vor sich zu haben und eine Gerichtsmedizinerin daneben, die Sätze sagte wie: »Und hier können Sie sehen, dass das Becken durch erhebliche Gewalteinwirkung gebrochen wurde.«

»Wir sind sicher, dass das nicht der Bagger war?«, fragte Thorsten.

Nguyen schaute ihn an. Er hob die Hände.

»Schon gut, nur eine Frage.«

Sie ignorierte seinen Satz und fuhr fort zu erklären, woran man die alten Bruchstellen von frischen unterscheiden konnte.

»Als sich diese Brüche ereigneten, hat das Kind eindeutig noch gelebt.«

Etwas an ihrer Stimme war nervig, fand Katja. Nguyen hatte keinerlei Akzent. Sie hatte schon in der DDR studiert und das Land nie verlassen. Dennoch wirkte ihre Satzmelodie auf Katja eintönig, ein wenig leiernd. Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, was die Frau zu sagen hatte und nicht, wie sie es tat. Katja betrachtete den kleinen Schädel. So zierlich, dass er noch fast in die hohle Hand passte. Sechs, sieben Jahre, war ihr erklärt worden. Ein großartiges Alter. Die Kinder waren noch ganz Kind. Und doch schon weise auf ihre Art, für vieles offen, kleine Philosophen. Es war die goldene Zeit der Kindheit. Für sie war es auf jeden Fall die schönste Zeit gewesen. Damals hatte Mama noch gelebt.

»Deshalb und wegen der Lage des Körpers gehe ich davon aus, dass der Fundort auch der Tatort war«, beendete Nguyen ihre Ausführungen. Einen Moment lang war es still.

»Todesursache ist also der Beckenbruch?«, suchte Katja sich das Geschehen vorzustellen. »Eingefangen, gefesselt, missbraucht, liegengelassen zum Sterben?« Sie hörte sich reden wie eine Fremde.

»Außerdem liegt ein zerbrochenes Zungenbein vor. Die Fragmente sind sehr klein, und ich bin nicht sicher, wann sie entstanden. Aber der Junge könnte gewürgt worden sein. Auch eine Verletzung der Nackenwirbel kommt in Frage. Sehen Sie die kleinen Spuren hier, und hier?« Die Pathologin zeigte mit der Pinzette auf minimale Splitterungen an Wirbelkörpern, die selbst schon furchtbar zart und klein waren. »Ich muss mir das unter dem Elektronenmikroskop ansehen. Ein Genickbruch wäre denkbar. Eine mögliche Folge des Würgens. Wir befinden uns da im Moment aber noch im Bereich der Spekulation.«

»Also Mord?«

»Mord oder Körperverletzung mit Todesfolge. Angesichts der Tatsache allerdings, dass der Kleine gefesselt war und offenbar unversorgt liegengelassen wurde: wiederum Mord, ja.«

»Und die Zeit?«, erkundigte sich Thorsten mit seltsamer Stimme. Er hielt die Liste in den Händen, auf denen die ungelösten Vermisstenfälle der letzten dreißig Jahre aufgeführt waren. Er hielt sie so fest, dass er sie beinahe zerknitterte. »Von welchem Zeitraum sprechen wir in etwa?«

»Wiederholen Sie das noch einmal«, sagte Katja derweil. »Was Sie gesagt haben. Das davor.«

»Nun ja«, begann Nguyen. »Die Leiche lag auf dem Bauch, die Hände gefesselt, nehme ich an, jedenfalls gibt es Reste von etwas, was eine Wäscheleine gewesen sein könnte. Das Becken ist gebrochen, durch eine Gewalteinwirkung von jemandem, der hinter dem Jungen stand oder lag. Einen Schlag oder schweren Druck von oben muss ich aufgrund der Bruchverläufe ausschließen. Welche Schlüsse würden Sie ziehen?«

Katja schloss die Augen, was nicht gegen das Bild half, das in ihrem Inneren entstand. »Aber dass das Becken bricht. Ich meine … Kann eine Vergewaltigung so brutal sein?«

Nguyen antwortete nicht. Sie schaute die Kommissarin nur an.

»Also ein Junge«, nahm ihr Assistent den Faden mit dem Mut der Verzweiflung wieder auf. Er musste sich räuspern und wiederholte: »Ein Junge.« Vorsichtig legte er das Blatt mit der Aufstellung der vermissten Mädchen beiseite und wartete.

Nguyen sagte, ohne ihn anzusehen: »Gehen Sie von etwa fünfundzwanzig Jahren aus. Plus/minus eins.«

»Also 1989 bis 1991. Das macht …« Thorsten rechnete und kreiste einige Zeilen mit dem Stift ein. »Ja genau, das macht drei mögliche Fälle: Marcel Degenhardt, Kevin Jacobi, Peter Lorenz.« Er hob den Kopf. »Das sind die drei gemeldeten Vermissten, die im entsprechenden Zeitraum verschwanden. Sie passen auch vom Alter her.« Er prüfte noch einmal seine Aufstellung. »Davor war lange nichts. Danach … mmh, da gibt es auch noch zwei etwas ältere Jungen. Aber ich meine, wir sollten mit diesen Kandidaten als den wahrscheinlichsten beginnen. Einverstanden, Katja? … Katja?«

Peter, wiederholte Katja für sich. Kevin, Marcel. Die Hände gefesselt, mit dem Gesicht im Schmutz. Sechs Jahre alt.

»Natürlich ist es auch möglich, dass einfach schwer gegen das Becken geschlagen wurde«, sagte Minh Nguyen. »Aber angesichts der kleinen Defekte am Steißbein und der Bruchverläufe würde ich das ausschließen.«

Katja hob die Hand. Im ersten Moment sagte sie nichts. »Also Degenhardt, Jacobi, Lorenz.« Sie räusperte sich. »Das ist ein guter Ansatz. Danke an alle.«

Sie wandte sich bereits zum Gehen, als ihr einfiel, dass sie sich noch erkundigen wollte, ob die Untersuchung der Zähne schon etwas ergeben hatte. Fünfundzwanzig Jahre, das war nicht zu lange für die Dokumentation in manchen Zahnarztpraxen. Sie selbst ging immer noch zu Doktor Avenarius, der ihr auch die ersten Plomben gemacht hatte. Damals hatte er allerdings während der Behandlung Pfeife geraucht. Heute trug er Mundschutz. Ehe sie sich wieder umdrehen konnte, ging die Tür auf und ihr Vater stand vor ihr.

»Herr Schlichthorn«, sagte Frau Nguyen. »Was tun Sie denn hier?«

»Gute Frage«, fiel Katja sofort ein. »Was hast du hier zu suchen?« Sie stellte sich zwischen ihren Vater und den Knochenfund.

»Ich habe Klienten …«, begann der Alte.

»Die Degenhardts, da wette ich.« Sie hätte es wissen müssen. »Die waren ja gestern schon auf dem Revier und wollten DNA für einen Abgleich abgeben. Keine drei Stunden, nachdem wir die Leiche gefunden hatten! Drei!«

Sie warf Thorsten Belau einen Blick zu. Aber er war zu jung. Er konnte nicht der Informant gewesen sein, der Details über laufende Ermittlungen an Außenstehende weitergab. Die Degenhardts mussten jemanden auf dem Revier von früher kennen. Sie würde schon noch herausfinden, wen.

»Ja? Und?« Schlichthorn wandte seinen suchenden Blick von einem zum anderen. »Wie sieht es aus?«

»Wie es aussieht? Wie lange dauert so eine DNA-Analyse? Denk mal nach, Papa, du warst schließlich auch mal Polizist.« Sein selbstverständliches Auftreten ärgerte sie. Er war nicht mehr im Dienst, er durfte gar nicht hier sein. Und sie schuldete ihm nichts. Also hatte er auch kein Entgegenkommen von ihr zu erwarten. Er sollte das wissen, dachte sie. Es war ihr Fall, ihr Job, ihre Autorität, die er nicht in Frage zu stellen hatte.

»Bei Knochen dieses Alters«, warf Nguyen unerwartet ein, »dauert es etwas länger, bis man verwertbare DNA für einen Vergleich extrahiert hat.«

»Ja, aber: das Geschlecht, Alter, Todeszeitpunkt?« Schlichthorn ließ nicht locker.

Katja hob drei Finger: »Geht dich nichts an. Geht dich nichts an. Geht dich nichts an.« Zu jedem Satz knickte sie einen Finger ab.

Schlichthorn gab sich unbeeindruckt. »Ihr könnt doch sicher schon irgendetwas sagen. Das sind die Eltern, lieber Himmel. Wenn sie sich völlig umsonst Hoffnungen machen, dann will ich ihnen das so schnell wie möglich sagen. Das kann man doch verstehen.«

Katja holte eben tief Luft für eine angemessene Antwort, da sah sie aus den Augenwinkeln, wie Nguyen ihrem Vater zunickte. Im selben Moment nahm die Medizinerin ein Tuch und zog es über das Skelett, als wollte sie ihre indiskrete Geste ungeschehen machen. Das kannst du dir jetzt auch sparen, dachte Katja. Sie war verärgert. Ihr Vater wusste, was er wissen wollte; die Degenhardts würden ihr in Zukunft vermutlich noch mehr auf die Nerven gehen. Sie mochte diese Leute nicht. Sie waren wie ihr Vater. Ignorierten ihre Autorität. Kritisierten sie überheblich und grundlos. Diese ganze selbstgerechte Generation von Besserwissern.

Der alte Schlichthorn entspannte sich.

»Meine Mandanten wollen eben auf Nummer sicher gehen«, sagte er. Er war schon auf dem Rückzug. »Sie haben keine guten Erfahrungen mit den Behörden.«

»Sie trauen uns wohl nicht.« Kaum war der Satz heraus, mit Bitterkeit getränkt bis zum letzten Laut, da ärgerte Katja Schlichthorn sich auch schon. Wie oft hatte sie sich bereits vorgenommen, sich nicht mehr von ihrem Vater provozieren zu lassen? Besonders nicht von ihm. Er hatte ihr schon lange nichts mehr zu sagen. Herumschreien konnte er vielleicht noch. Befehlen nicht mehr. Sie hätte sich ohrfeigen können, als er sich jetzt umdrehte und sie ansah.

»Und?«, fragte er. »Kann man euch denn trauen?«