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Dr. Daniel
– Staffel 1 –

E-Book 1-10

Marie Francoise

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-95979-376-6

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Ein furchtbarer Verdacht

Mit ein wenig gemischten Gefühlen betrat Kerstin Wenger Dr. Daniels Sprechzimmer. Sie rechnete damit, daß sie sich einige Vorwürfe würde anhören müssen, schließlich war sie vor einem Jahr zum letzten Mal hiergewesen. Dabei hatte Dr. Daniel ihr damals eingeschärft, daß sie regelmäßig zu Kontrolluntersuchungen kommen sollte.

Jetzt kam ihr der Arzt mit einem freundlichen Lächeln entgegen und reichte ihr die Hand.

»Guten Tag, Frau Wenger«, begrüßte er sie. »Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen.« Und dabei schwang in seiner Stimme ein leiser Tadel mit.

Kerstin errötete. »Nun ja… ich dachte, weil ich doch keine Probleme mit der Spirale hatte…« Sie stockte. Der forschende Blick des Arztes brachte sie völlig durcheinander.

»Und jetzt sind Sie nur gekommen, um sich eine neue Spirale einsetzen zu lassen, oder irre ich mich da?« fragte Dr. Daniel.

Wieder errötete Kerstin. Sie mochte den immer freundlichen und rücksichtsvollen Dr. Daniel sehr, aber heute hatte sie zu recht ein schlechtes Gewissen. Schließlich wäre sie noch immer nicht in die Praxis gekommen, wenn dieses seltsame Ziehen nicht gewesen wäre.

»Es ist… ich… ich weiß nicht so recht, wie ich es beschreiben soll…«

Besorgt runzelte Dr. Daniel die Stirn. »Haben Sie Schmerzen?«

Kerstin schüttelte den Kopf. »Nein, Schmerzen sind es eigentlich nicht. Es zieht ein wenig im Unterleib und… na ja, jetzt habe ich ein bißchen Angst.« Sie sah Dr. Daniel an. »Glauben Sie, das kommt davon, weil ich die Kontrolluntersuchungen nicht habe machen lassen?« Ein wenig hilflos zuckte sie die Schultern. »Wissen Sie, Herr Doktor, meine Schwester hat mir gesagt, daß diese Untersuchungen schrecklich unangenehm sind, und weil ich die Spirale so gut vertragen habe, dachte ich…« Wieder zuckte sie die Achseln.

Dr. Daniel seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch das dichte blonde Haar. »Es ist leider eine weit verbreitete Unart, die Kontrolluntersuchungen nicht durchführen zu lassen, weil sie ein bißchen unangenehm sind. Und ob Ihre Beschwerden mit dieser Nachlässigkeit zusammenhängen, kann ich so natürlich nicht sagen.« Er stand auf. »Gehen wir mal nach nebenan ins Untersuchungszimmer.«

Kerstin folgte dem Arzt, dann trat sie in eine durch einen Vorhang abgetrennte Umkleidekabine und machte sich frei. Obwohl sie normalerweise nicht besonders prüde war, hatte sie die Untersuchungen beim Frauenarzt nicht allzu gern. Dazu kam, daß Dr. Daniel trotz seiner fünfzig Jahre noch ein ausgesprochen attraktiver Mann war. Sie atmete tief durch, dann ging sie hinaus und kletterte ein wenig mühsam auf den Untersuchungsstuhl. Und plötzlich hatte sie schreckliche Angst vor dem, was sie bald erfahren würde. Wenn ihr nun etwas Ernstliches fehlte – und das vielleicht nur, weil sie zu feige gewesen war, um die Kontrolluntersuchungen durchführen zu lassen.«

»Ich werde zuerst einen Abstrich nehmen«, erklärte Dr. Daniel, während er zu ihr trat. »Diese Krebsvorsorgeuntersuchung hätte ebenfalls schon vor einem halben Jahr durchgeführt werden müssen.«

Kerstin schluckte. »Ich weiß, Herr Doktor.« Sie schwieg kurz, dann sprach sie ihre Ängste doch aus. »Glauben Sie, daß das… sehr schlimm ist… ich meine… könnte es sein, daß ich… Krebs habe?«

Dr. Daniel lächelte sie an. »Das wollen wir ja nicht hoffen. Und was Ihre Beschwerden betrifft – die können eine Menge Ursachen haben.«

Dr. Daniel legte das Glasplättchen mit dem Abstrich unter das Mikroskop, dann runzelte er besorgt die Stirn. Die deutlich sichtbaren Veränderungen gefielen ihm überhaupt nicht. Kerstin spürte sein Zögern.

»Ist etwas nicht in Ordnung, Herr Doktor?« fragte sie leise.

»Möglicherweise«, antwortete Dr. Daniel ehrlich, dann trat er wieder zu ihr. »Ich werde jetzt die Spirale entfernen, und vielleicht setzen wir im Moment besser keine neue ein. Wir sollten erst sichergehen, was genau die Ursache für Ihre Beschwerden ist.«

Kerstin konnte nur nicken. Die Angst schnürte ihr förmlich die Kehle zu. Und obwohl Dr. Daniel sehr vorsichtig war, zuckte Kerstin zusammen, als er die Spirale entfernte.

»Hat das weh getan?« wollte Dr. Daniel wissen.

»Ein bißchen«, gab Kerstin zu, und auch das war etwas, was dem Arzt ganz und gar nicht gefiel.

»Es kann sein, daß ich Ihnen noch mal weh tun muß«, erklärte er, »aber ich muß Sie gründlich untersuchen.«

Wieder zuckte Kerstin zusammen.

»Schon vorbei«, beruhigte Dr. Daniel sie. »Sie können sich jetzt anziehen, Frau Wenger.«

Während Kerstin die Umkleidekabine betrat, verließ Dr. Daniel das Untersuchungszimmer und klopfte an die nächste Tür, dann trat er ein.

»Darf ich dich einen Augenblick stören, Kurt?« fragte er seinen Kollegen, mit dem er einst studiert hatte und in dessen Praxis er seit mittlerweile fünf Jahren mitarbeitete.

Dr. Kurt Gebhardt stand auf. »Natürlich, Robert. Was gibt’s denn?«

»Ich habe einen Abstrich unter dem Mikroskop und möchte, daß du ihn dir mal anschaust«, erklärte Dr. Daniel.

Sein Studienfreund folgte ihm und blickte wenig später durch das Mikroskop.

»Das sieht nicht gut aus«, urteilte auch er, dann sah er auf. »Es kann eine Entzündung sein, aber…« Er stockte, und Dr. Daniel wußte, sofort, was er dachte. Es konnte nämlich auch Krebs sein.

In diesem Augenblick kam Kerstin aus der Umkleidekabine. Sie hatte zwar gehört, daß Dr. Daniel sich mit jemandem beraten hatte, doch die Worte hatte sie nicht verstehen können. Allerdings machte sie gerade das unsicher. Jetzt blickte sie von einem zum anderen und wagte es nicht, auch nur eine Frage zu stellen.

»Bitte, Frau Wenger, nehmen Sie Platz«, bot Dr. Daniel ihr an, dann setzte auch er sich, während Dr. Gebhardt abwartend stehenblieb.

Dr. Daniel richtete den Blick seiner gütigen blauen Augen auf Kerstin, dann erklärte er so vorsichtig wie möglich: »Der Abstrich, den ich im Rahmen einer Krebsvorsorgeuntersuchung genommen habe, weist einige Veränderungen auf.« Er hob beschwichtigend eine Hand, als Kerstin entsetzt die Augen aufriß. »Bitte, Frau Wenger, erschrecken Sie nicht. Diese Veränderungen müssen nicht zwangsläufig Krebs bedeuten. Es kann sich auch um eine Entzündung handeln. Das kommt gerade bei Frauen, die eine Spirale tragen, nicht gerade selten vor. Aber ich muß sichergehen und den Abstrich einschicken.«

In Kerstins Kopf herrschte nach diesen Worten ein einziger Aufruhr. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Impulsiv griff Dr. Daniel nach ihrer Hand und drückte sie sanft.

»Machen Sie sich keine allzu großen Sorgen, Frau Wenger«, bat er. »Ich weiß schon, das ist leichter gesagt als getan, aber…« Er stockte kurz, dann setzte er hinzu: »Kommen Sie in einer Woche wieder zu mir…, das heißt…« Er wechselte einen raschen Blick mit Dr. Gebhardt, dann sah er Kerstin an. »Ich kehre am Wochenende nach Steinhausen zurück.«

Diese Eröffnung ließ Kerstin für einen Moment ihre Angst und Sorge vergessen. Sie brachte sogar ein Lächeln zustande.

»Sie eröffnen Ihre Praxis wieder?« fragte sie und nachdem Dr. Daniel das bejaht hatte, fügte sie hinzu: »Das ist aber schön.«

»Ich gehe also davon aus, daß Sie meinem Kollegen treu bleiben werden«, mischte sich Dr. Gebhardt jetzt ein.

Kerstin nickte. »Natürlich, Herr Doktor. Ich bin ja auch aus Steinhausen.«

Dr. Gebhardt lächelte seinen Studienkollegen an. »Zu deinen treuen Patienten kann man dir nur gratulieren, Robert.«

Er zögerte einen Moment. »Ich glaube, hier werde ich nicht mehr gebraucht.« Mit einem herzlichen Lächeln verabschiedete er sich von Kerstin, dann verließ er das Zimmer.

Dr. Daniel und seine Patientin waren wieder allein, und in diesem Augenblick kehrten bei Kerstin Angst und Sorge zurück. Dr. Daniel spürte, was in ihr vorging und ergriff wieder wie tröstend ihre Hand.

»Also, Frau Wenger, ich werde den Abstrich einschicken und mir das Ergebnis gleich nach Steinhausen kommen lassen«, erklärte er. »Sobald ich es vorliegen habe, rufe ich Sie an, einverstanden?«

Kerstin nickte. »Wird es… sehr lange dauern?«

»Nein, Frau Wenger. Ich glaube nicht. Ich bin sicher, daß ich Ihnen bereits Anfang nächster Woche Bescheid geben kann.«

Kerstin kämpfte mit sich, dann stellte sie die Frage, die ihr im. Herzen brannte, doch: »Und wenn es nun… Krebs ist?«

»Daran sollten Sie gar nicht denken«, meinte Dr. Daniel. »Außerdem hat die Krebsforschung in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Krebs muß heute kein Todesurteil mehr sein.«

Kerstin nickte zwar, doch die Angst saß ihr dabei wie ein großer Mühlstein im Herzen.

Leise schloß Darinka Stöber die Haustür auf, dann sah sie sich nahezu ängstlich um, doch es schien niemand hier zu sein. Wie eine Verbrecherin schlich sie in ihr kleines Zimmerchen unter dem Dach und ließ sich dann aufatmend auf ihr Bett fallen. Sie war froh, daß sie ihren Großeltern nicht hatte begegnen müssen.

Mit beiden Händen massierte sie ihren Bauch, doch die krampfartigen Schmerzen wollten einfach nicht nachlassen. Wie denn auch? Die Krankheit würde sie langsam auffressen. Darinka wußte nicht, welche Krankheit es war, aber sie kannte die Heimtücke, mit der sie arbeitete. Etliche Wochen lang fühlte sich Darinka völlig gesund – so wie alle anderen Mädchen ihres Alters. Aber dann schlug diese schreckliche Krankheit wieder erbarmungslos zu – mit Schmerzen und Blut… mit entsetzlich viel Blut. Und Darinka wagte es nicht, zu einem Arzt zu gehen. Sie wartete darauf, daß sie irgendwann sterben würde… wie ihre Eltern einst ebenso gestorben waren.

Vati und Mutti hatten auch so schrecklich geblutet. Das war das einzige, woran Darinka sich noch erinnern konnte. Sie war sehr klein gewesen, als der Unfall geschehen war. Aber sie erinnerte sich noch an das viele Blut. Und nun ging es ihr genauso. Nur, daß sie keinen Unfall gehabt hatte. Oder kam die Krankheit vielleicht von ihrem Sturz vom Barren?

Das war schon ein paar Monate her. Sie hatten im Turnunterricht am Barren gearbeitet, und plötzlich war Darinka gestürzt. Es war so schnell gegangen, daß niemand mehr hatte helfend zugreifen können. Ja, und kurz danach waren dann die Schmerzen gekommen. Und auch das Blut. Es mußte mit diesem Sturz zusammenhängen.

»Darinka, du bist ja schon zu Hause.«

Die Stimme ihrer Großmutter riß sie aus ihren Gedanken. Erschrocken fuhr sie hoch und errötete, als hätte sie etwas Verbotenes getan, doch ihre Großmutter bemerkte es nicht.

»Komm, Kindchen, ich habe dir Milchreis mit Früchten gemacht«, fuhr sie fort. »Den magst du doch so gern.«

»Ja, Oma«, stimmte Darinka artig zu, dabei verspürte sie nicht den geringsten Appetit.

Aufmerksam sah Martha Stöber ihre Enkelin an.

»Was ist denn los, Kleines?« wollte sie wissen. »Du siehst so blaß aus. Fühlst du dich nicht wohl?«

Darinka erschrak erneut. Konnte man ihr die Krankheit jetzt schon ansehen? Sekundenlang war sie versucht, ihrer Großmutter alles zu erzählen, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Wie sollte sie ihrer Großmutter erklären, wo das viele Blut herkam. Und vor allen Dingen – Oma war alt, und der Arzt sagte immer wieder, sie müsse sich schonen, ihr Herz wäre nicht mehr das gesündeste. Nein, sie durfte Oma auf keinen Fall aufregen.

»Mit mir ist alles in Ordnung«, zwang sich Darinka zu sagen. »Wir hatten in der Schule ziemlichen Streß, weißt du.«

Martha Stöber nickte. Sie wußte schon, was von den armen Kindern heutzutage verlangt wurde.

»Also, dann komm zum Essen, Da­rinka«, meinte sie.

Mit Mühe unterdrückte das Mädchen einen Seufzer, bevor es der Großmutter nach unten folgte. Die Bauchschmerzen waren so schlimm, daß sie am liebsten geweint hätte, und nur mit Mühe zwang sie sich zu einer Miniportion Milchreis, was Martha Stöber erneut stutzig machte.

»Mit dir stimmt doch etwas nicht«, behauptete sie. »Milchreis gehört zu deinen Lieblingsspeisen.« Fürsorglich legte sie einen Arm um Darinkas Schultern. »Sag doch, Mädelchen, hast du Sorgen?«

Darinka schüttelte den Kopf. »Es ist wirklich nichts, Oma. Ich bin nur ein bißchen müde.«

»Dann leg dich ins Bett«, riet Mar­tha. »Und wenn du dich morgen nicht besser fühlst, wirst du zu Dr. Gärtner gehen.«

Darinka verzog das Gesicht. Sie mochte den alten Arzt nicht so besonders. Irgendwie hatte sie immer das Gefühl, als würde er gar nicht zuhören, was man ihm erzählte. Und außerdem hatte sie kein großes Vertrauen zu ihm. Er wäre mit Sicherheit der Letzte, dem sie von ihrer Krankheit erzählen würde.

»Ich bin ganz bestimmt nicht krank«, versicherte sie ihrer Großmutter aus diesen Gedanken heraus, dann stand sie auf. »Ich werde mich ein bißchen ausruhen, Oma.«

Langsam verließ sie die große Wohnküche und kehrte in ihr Zimmer zurück. Als sie bald darauf im Bett lag und an die Decke starrte, fragte sie sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie sterben würde.

*

»Was ist los, Robert? Willst du heute Überstunden machen?«

Dr. Daniel sah von dem Krankenblatt auf, in dem er noch gelesen hatte und genau in Dr. Gebhards Augen. Mit einem tiefen Seufzer lehnte er sich zurück.

»Ach, weißt du, Kurt, hier in der Praxis, bei meiner Arbeit, da kann ich so schön vergessen«, meinte er. »Und nach Hause zieht es mich überhaupt nicht.«

Die Worte weckten wieder Mitleid in Dr. Gebhardt. Schon damals – vor fast genau vor fünf Jahren – hatte er sich gefragt, weshalb ein so guter Mensch wie Robert Daniel so hart bestraft wurde. Völlig verzweifelt war er nach München gekommen und hatte seinen einstigen Studienfreund angefleht, ihn aufzunehmen.

»Seit Karina ausgezogen ist, ist es in meiner Wohnung wie ausgestorben«, fuhr Dr. Daniel fort und riß den Freund damit aus seinen Gedanken.

Dr. Gebhardt zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Ich weiß, wie es jetzt in dir aussehen muß«, meinte er, und Dr. Daniel spürte, daß seine Anteilnahme echt war. »Als meine Tochter damals zu ihrem Freund gezogen ist, ging es mir ähnlich. Ich habe sie ganz schrecklich vermißt, und so gar heute gehe ich noch ab und zu in ihr Zimmer und denke an die Zeit, als sie noch mein kleines Mädchen war.« Er zwang sich zu einem Grinsen. »Verrückt, was?«

»Ja, vielleicht…« Dr. Daniel senkte den Kopf. »Nach Christines Tod waren meine Kinder mein einziger Halt. Es war schon schlimm für mich, als Stefan diese kleine Wohnung in Schwabing gefunden hat und ausgezogen ist, aber jetzt… jetzt bin ich ganz allein.« Er schwieg kurz. »Sicher, Karina ruft fast jeden Abend an, und an den Wochenenden besucht sie mich. Manchmal kommt auch Stefan mit, aber… diese verdammte Einsamkeit bringt mich irgendwann um.« Die letzten Worte hatte er nur noch geflüstert.

»Möchtest du mit zu mir kommen?« fragte Dr. Gebhardt spontan, doch Dr. Daniel schüttelte nur den Kopf.

»Danke, Kurt, aber du hast eine Frau zu Hause, und ihr habt euch einen ruhigen Feierabend redlich verdient«, entgegnete er. »Ich werde noch ein bißchen arbeiten und dann nach Hause gehen.«

»Na dann…« Dr. Gebhardt stand auf und ging zur Tür, doch dort drehte er sich noch einmal um. »Glaubst du, es ist wirklich richtig, jetzt schon nach Steinhausen zurückzukehren?«

»Jetzt schon?« wiederholte Dr. Daniel. »Meine Güte, Kurt, ich habe meine Praxis fünf Jahre lang geschlossen gehalten. Es ist höchste Zeit, daß ich nach Steinhausen zurückgehe.«

Bedächtig wiegte Dr. Gebhardt seinen Kopf hin und her. »Ich weiß nicht, Robert… du hast Christines Tod längst noch nicht verwunden, und…«

»Und ich werde es nie verwinden können, daß sie mich so früh verlassen mußte«, vollendete Dr. Daniel niedergeschlagen. »Christine wird immer ein Teil von mir sein, und ich muß lernen, damit zu leben – auch in Steinhausen.«

*

Bis kurz vor Mitternacht blieb Dr. Daniel noch in der Praxis, dann machte er sich schweren Herzens auf den Heimweg, Tagsüber, im Gespräch mit seinen Patientinnen und auch in der Sorge um sie, konnte er sein privates Schicksal zurückdrängen, doch abends, da überfiel ihn die Einsamkeit wie ein drohendes Gespenst.

Mit einem tiefen Seufzer blickte er die Fassade des riesigen Mietshauses empor, in dem er nun schon seit fünf Jahren wohnte. Im Vergleich zu seiner Villa in Steinhausen war es ein winziges Appartement, trotzdem hatte er sich eine Weile sogar ein bißchen wohl gefühlt. Die Erinnerung an seine geliebte Frau, die er viel zu früh hatte hergeben müssen, war hier nicht so erdrückend gewesen.

Während Dr. Daniel noch vor dem Haus stand, runzelte er plötzlich die Stirn. Das einzige Fenster, das zu dieser späten Stunde noch hell erleuchtet war, gehörte doch zu seiner Wohnung. Dann huschte ein freudiges Lächeln über Dr. Daniels markantes Gesicht. Offensichtlich war Karina gekommen. Wenn er das nur gewußt hätte! Niemals wäre er so lange in der Praxis geblieben, wenn er auch nur geahnt hätte, daß seine Tochter ihn zu Hause erwarten würde.

In fliegender Hast schloß Dr. Daniel die Haustür auf, dann lief er – immer zwei Stufen auf einmal nehmend – die Treppe hinauf und riß die Wohnungstür auf.

»Karina?« rief er fragend.

Im selben Moment erschien eine rundliche Frau von Anfang Fünfzig im Rahmen der Wohnzimmertür. Ihr ehemals dunkles Haar war schon leicht ergraut, und ihr sympathisches Gesicht strahlte Güte und Herzenswärme aus.

»Na, Bruderherz, da staunst du, was?« erklärte sie lächelnd, als Dr. Daniel sie nur sprachlos anstarren konnte. »Irene! Wie… wie kommst du denn hierher?« brachte er nach Minuten des Schweigens endlich hervor.

Irene Hansen schmunzelte. »Es gibt schon seit etlichen Jahren… wenn nicht gar Jahrzehnten, eine gute Zugverbindung von Kiel nach München.«

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Du weißt genau, was ich meine.«

»Also weißt du, Robert, ein bißchen herzlicher könntest du mich schon begrüßen«, hielt Irene ihm vor.

Und jetzt konnte Dr. Daniel plötzlich lächeln. »Irischen.« Liebevoll schloß er sie in die Arme. »Du hast ganz recht. Ich bin ein richtiger Flegel geworden.« Er schwieg kurz, dann bekannte er: »Es ist schön, daß du hier bist.«

Arm in Arm betraten sie das Wohnzimmer und setzten sich. »Sag mal, kommst du jeden Tag so spät aus der Praxis?« wollte Irene wissen. »Ich dachte schon, du würdest dort übernachten.«

Dr. Daniel seufzte, dann fuhr er sich mit einer müden Handbewegung durch das dichte blonde Haar. »Was soll ich denn zu Hause tun? Die Wände anstarren?« Er schüttelte den Kopf. »Da arbeite ich schon lieber.«

»Karina hat recht«, entgegnete Irene energisch. »Es ist höchste Zeit, daß sich jemand um dich kümmert.«

In diesem Moment sah Dr. Daniel klar. »Ach so, Karina hat dich also alarmiert.«

»Ja, und zwar genau zum richtigen Zeitpunkt.« Irene hob drohend den Zeigefinger. »Mein lieber Robert, du läßt dich ganz schön gehen.«

Dr. Daniel winkte ab. »Ach, was weißt du denn…« Dann fiel ihm ein, daß Irene vor etlichen Jahren dasselbe durchgemacht hatte. Schon in jungen Jahren war sie Witwe geworden, und obwohl ihre Ehe kinderlos gewesen war und sie nach dem Tod ihres Mannes völlig allein dagestanden hatte, hatte sie sich nie aufgegeben.

»Entschuldige, Irene«, murmelte Dr. Daniel. »Du weißt natürlich am allerbesten, wovon du sprichst.« Er seufzte wieder. »Alles war nur halb so schlimm, als Stefan und Karina noch hier waren, aber…« Er zuckte die Schultern.

Tröstend griff Irene nach der Hand ihres Bruders und drückte sie sanft. »Ich weiß schon, Robert, nach Christines Tod waren die Kinder dein ein und alles, aber du mußt einsehen, daß sie jetzt erwachsen werden. Sie können nicht ewig bei dir bleiben – auch wenn es dir noch so weh tut.« Dann lächelte sie. »Und jetzt hast du ja mich. Ich habe meine Zelte in Kiel endgültig abgebrochen und werde bei dir bleiben – vorausgesetzt, du willst mich überhaupt hier haben.«

Impulsiv nahm Dr. Daniel seine Schwester in die Arme. »Ob ich dich hier haben will? Wie wagst du es, eine solche Frage überhaupt zu stellen? Ich bin doch glücklich, daß du bei mir bist – vor allem jetzt.« Für einen Augenblick senkte er den Kopf, dann sah er Irene wieder an. »Ich werde nach Steinhausen zurückkehren.«

Irene lächelte. »Das ist eine gute Entscheidung, Robert. Du hast deine Praxis schon viel zu lange allein gelassen. Und glaub mir – gemeinsam werden wir einen neuen Anfang schaffen.«

*

Schon seit Stunden lag Kerstin Wenger wach im Bett. Neben sich hörte sie die gleichmäßigen Atemzüge ihres Mannes, und für einen Augenblick bereute sie, daß sie ihm nichts von dem Gespräch mit Dr. Daniel erzählt hatte. Jetzt war sie mit ihrer Angst völlig allein.

Andererseits brauchte Helmut seine ungestörte Nachtruhe. Er hatte es in der CHEMCO schwer genug, vor allem seit er Vorsitzender des Betriebsrates war.

Mit einem leisen Seufzer wälzte sich Kerstin auf die andere Seite. Im nächsten Moment spürte sie Helmuts tastende Hand.

»Was ist los, Liebling? Kannst du nicht schlafen?« fragte er leise.

Mit einem heftigen Aufschluchzen warf sich Kerstin in seine Arme.

»Helmut, ich… ich glaube, ich habe Krebs«, platzte sie unter Tränen heraus.

Helmut Wenger erschrak zutiefst. War er zuvor noch ein wenig schläfrig gewesen, so hatten Kerstins Worte ihn jetzt mit brutaler Grausamkeit wachgerüttelt.

»Krebs?« wiederholte er fassungslos. »Aber… ich verstehe nicht… wieso glaubst du…«

»Ich war heute bei Dr. Daniel«, begann Kerstin leise zu erzählen. »Er hat einen Abstrich genommen… die normale Krebsvorsorgeuntersuchung. Und bisher war auch nie etwas, aber heute… er hat gesagt, er muß es ins Labor schicken.«

»Dann… ist es also noch nicht sicher.« Aus Helmuts Worten klang Hoffnung.

»Nein, aber… ich habe Angst«, gestand Kerstin.

Zärtlich nahm Helmut sie in die Arme. »Vielleicht solltest du nicht zu schwarz sehen, Liebes. Es kann doch wirklich ganz harmlos sein.«

Kerstin nickte, doch sie dachte dabei an den besorgten Blick Dr. Daniels, und sie war sicher, daß er hinter dem veränderten Abstrich etwas Bösartiges vermutete.

*

Es tat Dr. Daniel richtig gut, von seiner Schwester ein bißchen verwöhnt zu werden. Er und Irene hatten sich ja immer gut verstanden, und so sah der Arzt ein wenig hoffnungsvoller in die Zukunft. Mit Irenes Hilfe würde alles einfacher werden.

»Hast du mit der Wohnung alles geregelt?« wollte Irene wissen, als sie am Samstag nachmittag vor den gepackten Koffern stand.

Dr. Daniel nickte. »Ich habe diesen Umzug von langer Hand geplant – auch wenn ich damals noch schreckliche Angst vor einem neuen Anfang hatte.« Er senkte den Kopf. »Und ich habe noch immer Angst. Schließlich kehre ich dorthin zurück, wo ich mit Christine so glücklich gewesen bin.«

Mit einer liebevollen Geste streichelte Irene über seine Wange. »Du schaffst das schon, Robert, da bin ich ganz sicher.«

Dr. Daniel seufzte. »Dann ist wenigstens einer von uns beiden davon überzeugt, daß ich das Richtige mache.«

Das Hupen eines Lastwagens riß ihn in die Wirklichkeit zurück.

»Ah, die Möbelspedition ist hier«, erklärte er. »Tja, dann gibt es ohnehin kein Zurück mehr.«

Irene warf einen Blick in die Runde. »Wo willst du das ganze Zeug eigentlich unterbringen? Du hast dich hier doch vollkommen neu eingerichtet.«

Dr. Daniel zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Vorerst werde ich wohl alles in den Keller stellen.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Vielleicht ziehe ich dort hinunter, wenn die Erinnerungen zu erdrückend für mich werden.«

Irene winkte ab, dann ließ sie die Männer der Möbelspedition in die Wohnung. Sie schienen über diesen Auftrag nicht sonderlich erfreut zu sein. Es war ja auch kein Vergnügen, sperrige Möbel über fünf Stockwerke und durch ein schmales Treppenhaus nach unten zu befördern.

»Wir können Sie hier allein lassen, oder?« fragte Dr. Daniel.

Der große, breitschultrige Mann, der offensichtlich das Kommando führte, nickte. »Klar, Herr Daniel. Wir kriegen das Zeug schon heil hinunter. Und den Weg nach Steinhausen kennen wir auch.« Er zögerte. »Sagen Sie, in Ihrem Haus… müssen wir da mit den Möbeln wieder ein paar Stockwerke hoch hinauf?«

Dr. Daniel schüttelte lächelnd den Kopf. »Keine Angst, meine Herren, da müssen Sie nur in den Keller hinunter, und ich habe ein sehr geräumiges Treppenhaus.«

Der Mann atmete sichtlich auf. »Das ist gut. Also, Herr Daniel, bis in drei oder vier Stunden sind wir dann bei Ihnen.«

»Gut.« Dr. Daniel sah seine Schwester an. »Dann fahren wir beide schon mal los.«

Die Fahrt in den kleinen Vorgebirgsort Steinhausen verlief nahezu schweigend, und je näher sie ihrem Ziel kamen, desto mehr nahm Dr. Daniel das Tempo zurück.

»Wenn du so weitermachst, dann kannst du gleich zu Fuß gehen«, meinte Irene mit einer Spur Sarkasmus, dann legte sie eine Hand auf Dr. Daniels Arm. »Irgendwann mußtest du diesen Schritt tun, Robert. Schließlich willst du deine Praxis doch nicht ewig geschlossen halten. Und Christine hat dir die Villa nicht umsonst hinterlassen. Sie wußte, daß sie sterben würde, und sie wollte, daß du dort weiterlebst.«

Wieder seufzte Dr. Daniel. »Ich weiß, Irene, aber… es ist so furchtbar schwer.« Dann schwieg er wieder.

Sie passierten das Ortsschild von Steinhausen und erreichten den Mittelpunkt des adretten Vorgebirgsdörfchens, den die romantische Pfarrkirche St. Benedikt darstellte. Hier hielt Dr. Daniel seinen Wagen an und sah prüfend durch die Windschutzscheibe.

»Es hat sich nichts verändert«, stellte er fest, und es klang, als wäre er fast ein wenig überrascht. Fünf Jahre waren vergangen, doch in Steinhausen schien die Zeit stillgestanden zu haben. Dr. Daniels Blick fiel auf die schlanken Kamine der Chemiefabrik CHEMCO, die sich stolz in die Höhe reckten.

»Die Bergmanns regieren also immer noch hier«, erklärte er mit leiser Bitterkeit. »Schau die diese hübschen Häuser an und dann die verdammte Chemiefabrik. Sie paßt überhaupt nicht hierher und ich…«

»Reg dich nicht schon wieder auf«, fiel Irene ihm besänftigend ins Wort. »Dazu hast du künftig noch genug Zeit.«

Dr. Daniel winkte ab. »Es ist unsinnig, sich darüber aufzuregen. Die CHEMCO wird noch stehen, wenn wir schon alle verrottet sind.«

Er ließ den Motor wieder an und fuhr weiter, bis er den Kreuzbergweg erreichte, der sich steil nach oben schlängelte. Langsam nahm er die Steigung und bog schließlich auf dem großen Vorplatz ein. Sein Blick fiel auf das Schild »Patientenparkplatz«, und unwillkürlich mußte er daran denken, wie viele Autos hier immer gestanden hatten. Jetzt war der Vorplatz leer.

Dr. Daniel zögerte einen Moment, dann wandte er sich seiner Schwester zu.

»Läßt du mich bitte allein hineingehen?« fragte er leise.

Irene nickte. »Natürlich, Robert. Laß dir nur Zeit.«

Dankbar drückte Dr. Daniel ihre Hand, dann öffnete er die Autotür und stieg aus. Groß und wuchtig stand die weiße Villa am Hang und hinter ihr ragte majestätisch der Kreuzberg auf. Dr. Daniel dachte daran, wie oft er mit Christine dort hinaufgegangen war – oder hinunter zum Waldsee, diesem idyllischen Fleckchen Erde, an dem sie sich als jung verliebtes Paar zum ersten Mal geküßt hatten.

Rasch schüttelte Dr. Daniel diese Gedanken wieder ab. Es tat nur weh, in diesen Erinnerungen zu schwelgen. Entschlossen ging er auf die schwere Eingangstür zu.

Wegen Todesfall geschlossen.

Die Worte auf dem weißen Schild sprangen ihn förmlich an. Vor fünf Jahren hatte er dieses Schild an der Eingangstür seiner Praxis angebracht. Fünf Jahre. Und dabei schien es ihm, als wären nur fünf Tage vergangen, seit Christine gestorben war. Der Schmerz in seinem Herzen war heute noch genauso bohrend wie damals.

Mit einem tiefen Seufzer nahm Dr. Daniel jetzt das Schild ab, dann schloß er die Haustür auf und betrat nun zum ersten Mal seit dem Tod seiner Frau die Villa, die sie ihm einst hinterlassen hatte. Damals war es ihm unmöglich gewesen, auch nur einen Fuß in das Haus zu setzen, und auch jetzt schien es ihm, als müsse sein Herz brechen.

Er wußte, daß er nicht fähig sein würde, die Wohnung im ersten Stockwerk zu betreten, und so ging er erst mal in die Praxis. Doch auch hier schienen ihn die Erinnerungen er­drücken zu wollen. Da war der Schreibtisch, an dem Christine gearbeitet hatte. Sie hatte in all den Jahren als Empfangsdame fungiert, nebenbei den Haushalt in Schuß gehalten und zwei Kinder großgezogen. Dr. Daniel hatte sich oft gefragt, wie sie das alles scheinbar spielend geschafft hatte. Oder war ihre kurze, schwere Krankheit vielleicht der Preis für diese viele Arbeit gewesen, die sie zuvor geleistet hatte?

»Du solltest diesen Vorraum neu einrichten.«

Dr. Daniel fuhr herum und sah sich seiner Schwester gegenüber. In diesem Augenblick kam ihm zu Bewußtsein, daß er sie herbeigesehnt hatte, um hier nicht länger so allein zu sein.

»Du kannst wohl Gedanken lesen«, meinte er.

Irene lächelte. Sie wußte, was er damit ausdrücken wollte.

»Ich kenne dich seit deiner Geburt und liebe dich genug, um zu wissen, wann du mich brauchst«, meinte sie.

Dr. Daniel legte einen Arm um ihre Schultern und drückte sie für einen Augenblick an sich.

»Ach, Irenchen, du kennst mich wirklich gut. Ja, gerade habe ich mir gewünscht, ich hätte dich gleich mit hereingenommen.«

Irene schüttelte den Kopf. »Das wäre falsch gewesen, Robert. Den ersten Schritt mußtest du allein gehen. Alles andere wäre wie eine Flucht gewesen.«

»Vielleicht hast du recht«, murmelte Dr. Daniel, dann sah er sich in dem Vorraum um. »Ich werde deinen Rat befolgen. Der alte Schreibtisch kommt weg. Hier muß eine neue Atmosphäre herein, sonst werde ich die Praxis nie betreten können, ohne an Christine denken zu müssen.«

Irene nickte. »Die Praxis ist sehr modern eingerichtet. Vielleicht solltest du das bei diesem Raum auch machen.«

»Das wollte ich damals schon, aber Christine konnte sich von dem alten Schreibtisch nicht trennen«, erklärte Dr. Daniel. »Er hat ihrem Vater gehört.« Er schwieg einen Moment. »Ich werde ihn behalten, weil er Christine so viel bedeutet hat.« Wieder überlegte er kurz. »Vielleicht möchte Stefan ihn in sein Zimmer stellen – wenn er auch nur selten hier sein wird.«

Da lächelte Irene. »Die Kinder kommen morgen her.«

In Dr. Daniels Augen leuchtete es auf. »Wirklich? Davon haben sie mir kein Wort gesagt.«

»Eigentlich sollte es auch eine Überraschung werden«, gestand Irene, »aber… ich hatte das Gefühl, als könntest du jetzt eine kleine Aufmunterung brauchen. Und die Kinder sind mir bestimmt nicht böse, weil ich getratscht habe.« Sie griff nach der Hand ihres Bruders. »Wollen wir jetzt in die Wohnung hinaufgehen?«

Dr. Daniel atmete tief durch. »Ja, Irene. Irgendwann muß es schließlich sein.«

Irene ließ ihrem Bruder den Vortritt, denn sie war der Meinung, daß er diesen Schritt ebenfalls allein gehen mußte – auch wenn sie ihm als seelische Stütze dienen wollte.

Langsam ging Dr. Daniel die mit edlem Holz verkleideten Stufen hinauf, dann blieb er einen Moment zögernd vor der Wohnungstür stehen, ehe er sie beherzt öffnete und eintrat. Es schien, als würde Christines unnachahmlicher Duft noch in der Wohnung hängen, doch Dr. Daniel wußte, daß das nur Einbildung war. In den vergangenen fünf Jahren hatte eine Bekannte aus dem Ort hier oben regelmäßig saubergemacht, gelüftet und nach dem Rechten gesehen. Nur seine Erinnerungen an Christine hingen noch in dieser Wohnung – sonst nichts.

Mit einem tiefen Seufzer drehte sich Dr. Daniel zu seiner Schwester um, die ihm gefolgt und unter der Wohnungstür stehengeblieben war.

»Es wird schwer werden«, murmelte er. »Es wird verdammt schwer werden.«

*

Am Samstag fühlte sich Darinka Stöber wieder besser. Die Schmerzen hatten aufgehört und es blutete auch kaum noch. Anscheinend schien der Tod sie diesmal noch aus seinen Fängen entlassen zu haben, doch Darinka wußte genau, daß die Krankheit wiederkommen würde. Sie kam schon seit Monaten immer wieder.

»Hallo, Darinka!«

Die Stimme ihrer Freundin Katrin Wegmann riß sie aus ihren Gedanken. Lächelnd sah sie auf.

»Katrin, das ist aber eine Überraschung«, meinte sie. »Ich dachte, du wolltest mit deinen Eltern übers Wochenende nach Tirol fahren.«

Katrin winkte ab. »Unser Auto streikt. Nachdem Paps seit Wochen daran rumgebastelt hat, hat jetzt die Lichtmaschine ihren Geist aufgegeben. Am Montag kaufen wir uns einen neuen Wagen.« Sie ließ sich neben Darinka ins Gras fallen. »Ich bin auf dem Weg ins Freibad. Kommst du mit?«

Darinka wollte schon begeistert zustimmen, als ihr das Blut einfiel, das sie immer noch verlor. Im Wasser würde man die Spuren womöglich sehen, und dieses Risiko konnte sie keinesfalls eingehen.

»Nein, Katrin, heute nicht«, lehnte sie ab und hoffte, die Freundin würde sie nicht nach dem Grund fragen.

Daran dachte Katrin auch gar nicht. Ihre Gedanken waren schon ganz woanders.

»Stell dir vor, Darinka, ich muß am Montag das erste Mal zum Frauenarzt«, erzählte sie.

»Zum Frauenarzt?« wiederholte Darinka gedehnt. »Was willst du denn da?«

Katrin zuckte die Schultern. »Ich habe letzte Woche zum ersten Mal meine Tage bekommen, und da dachte meine Mutter, es wäre jetzt an der Zeit, einen Frauenarzt aufzusuchen.«

»Deine Tage«, murmelte Darinka. Sie hatte keine Ahnung, wovon die Freundin sprach, genierte sich aber, ihre Unwissenheit zuzugeben.

Prüfend sah Katrin sie an. »Du hast sie noch nicht, was?«

Darinka überlegte, was sie nun antworten sollte. Wenn sie nein sagte, dann hielt Katrin sie vielleicht noch für ein Kind. Sagte sie aber ja, so konnte sie in Gefahr geraten, daß die Freundin mit ihr über diese ominösen Tage näher sprechen wollte.

»Nein«, antwortete sie daher. Lieber wurde sie für ein Kind gehalten, bevor sie womöglich als Lügnerin entlarvt wurde.

Katrin winkte ab. »Sei froh! Meine Güte, das ist vielleicht ein ekelhaftes Zeug! Und dieser Termin beim Frauenarzt baut mich auch nicht gerade auf. Stella war bei einer Ärztin in der Kreisstadt. Die soll furchtbar grob sein. Stella hat bei der Untersuchung angeblich schrecklich geweint.«

Darinka schluckte. »Und… wohin gehst du?«

»Zu Dr. Daniel. Mutti ist schon seit vielen Jahren bei ihm. Die letzten fünf Jahre mußte sie deswegen immer nach München fahren, aber ab Montag praktiziert er wieder hier in Steinhausen.« Katrin schwieg kurz. »Ich habe ihn ja früher schon ab und zu mal im Ort gesehen, und er ist auch sehr nett, aber Angst habe ich trotzdem. Immerhin ist er ja ein Mann, und der fummelt dann bei mir da unten rum.« Mit einer ausholenden Bewegung umschrieb sie ihren Unterleib.

»Mußt du denn unbedingt hin?« wollte Darinka wissen. »Ich meine… immerhin bist du doch auch erst zwölf geworden. Und Frauenarzt… ich dachte immer, der ist nur für Frauen.«

Katrin zuckte die Schultern. »So was Ähnliches bin ich ja auch, seit ich meine Tage habe. Stell dir vor, ich könnte jetzt ein Kind bekommen.«

Darinka schwieg. Sie hatte von all diesen Dingen keine Ahnung. Ein einziges Mal hatte sie ihre Großmutter gefragt, woher denn die Babys kommen, aber Oma hatte behauptet, die brächte der Storch. Das hatte Darinka natürlich nicht geglaubt, aber sie hatte nicht gewagt weiterzufragen. Dieses Thema war ihrer Großmutter sichtlich unangenehm gewesen.

Für einen Moment kämpfte sie mit sich, ob sie Katrin fragen sollte. Offensichtlich kannte sich die Freundin auf diesem Gebiet ja bestens aus, doch die Scham über ihre Unwissenheit hielt Darinka erneut davon ab. Katrin würde sie vermutlich nur auslachen.

»Was glaubst du, sollte ich auch mal zu Dr. Daniel gehen?« fragte sie statt dessen.

Katrin schüttelte den Kopf. »Das wäre doch Unsinn, Darinka. Du hast ja noch nicht mal deine Tage. Was willst du dann beim Frauenarzt?«

Darinka dachte an das Blut und die Schmerzen, die immer wiederkehrten. Ob das vielleicht diese seltsamen Tage waren? In diesem Augenblick beschloß sie, bei Dr. Daniel einen Termin zu vereinbaren. Wie Katrin erinnerte auch sie sich noch an den Arzt, der vor fünf Jahren ganz plötzlich aus Steinhausen weggegangen war. Er hatte ihr ein paarmal Äpfel aus seinem Garten geschenkt und ab und zu mal eine Tafel Schokolade.

»Ich glaube, ich gehe jetzt doch noch auf eine Stunde ins Freibad«, erklärte Katrin und riß Darinka damit aus ihren Gedanken. »Willst du wirklich nicht mitkommen?«

Darinka schüttelte den Kopf. »Nein, Katrin.« Und dann fiel ihr plötzlich eine glaubhafte Ausrede ein. »Ich habe Oma versprochen, ihr beim Marmeladeeinkochen zu helfen.«

Katrin nickte, dann winkte sie der Freundin kurz zu. »Also, bis bald!«

Darinka legte sich in der Wiese zurück. Ihre Gedanken beschäftigten sich wieder mit Dr. Daniel, und der Entschluß, gleich am Montag in seiner Praxis anzurufen, festigte sich.

*

Den restlichen Samstag über und fast den halben Sonntag hatte Dr. Daniel versucht, wenigstens einen Teil der Erinnerungen an Christine aus seiner Wohnung zu verbannen. Vor allen Dingen das Schlafzimmer hatte er völlig umgestaltet, sonst hätte er keine ruhige Nacht darin verbringen können. Die Sehnsucht nach seiner Frau hätte ihn schier umgebracht.

Jetzt sah er sich in der zum Teil neugestalteten Wohnung um und war zufrieden mit seinem Werk. Das Klingeln an der Tür riß ihn aus seiner Betrachtung.

»Das müssen die Kinder sein!« rief er erfreut und eilte die Treppe hinunter.

»Hallo, Papa!« Seine einundzwanzigjährige Tochter Karina umarmte ihn so stürmisch, als hätte sie ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, dann strich sie sich das lange goldblonde Haar zurück und strahlte ihren Vater an.

»Es ist schön, wieder hier zu sein«, erklärte sie voller Überzeugung.

In der Zwischenzeit hatte Stefan Daniel seinen betagten Kleinwagen abgeschlossen und kam nun auch auf die Villa zu. Seine dunklen Locken drehten sich widerspenstig nach allen Seiten und gaben ihm trotz seiner vierundzwanzig Jahre noch etwas Lausbubenhaftes.

Dr. Daniel ging ihm ein paar Schritte entgegen und legte einen Arm um seine Schultern.

»Stefan, ich freue mich, daß ihr gekommen seid«, meinte er.

Der junge Mann lächelte. »Wir müssen dir bei deinem neuen Einstand doch beistehen.« Dann blickte er an der Fassade empor und gestand: »Für uns ist es auch nicht ganz einfach.«

Dr. Daniel drückte ihn einen Augenblick an sich. »Ich weiß schon, Stefan. Ihr vermißt eure Mutter noch immer. Aber… mir fehlt sie auch ganz schrecklich.«

»Gehen wir hinein?« fragte Karina, und an ihrer Stimme konnte Dr. Daniel hören, daß sie plötzlich Angst vor diesem Schritt hatte.

Er ging seinen Kindern voran die Treppe hinauf und trat dann in die Wohnung. Karina und Stefan folgten ein wenig zögernd und sahen sich dann fast ängstlich um.

»Es sieht… ein wenig anders aus als früher«, bemerkte Stefan.

Dr. Daniel nickte. »Das mußte ich tun, sonst hätten mich die Erinnerungen erdrückt.«

Karina schmiegte sich einen Moment lang an ihren Vater. »Ich bin froh, daß du es getan hast. Mutti hätte sicherlich nicht gewollt, daß die Villa zu einem Mausoleum wird, und wir nur in der Erinnerung an sie weiterleben.«

»Genau das habe ich mir auch gedacht«, stimmte Dr. Daniel seiner Tochter zu.

Erst jetzt trat Irene auf den Flur. Sie hatte sich absichtlich im Hintergrund gehalten, um ihrem Bruder und seinen Kindern erst mal Gelegenheit zu einer ausgiebigen Begrüßung zu geben.

»Tante Irene«, rief Karina erfreut aus. »Meine Güte, wir haben uns ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

Stürmisch umarmte sie die geliebte Tante.

»In Zukunft werdet ihr mich regelmäßig zu Gesicht bekommen«, versprach Irene. »Vorausgesetzt, ihr findet ab und zu den Weg von München nach Steinhausen.«

»Heißt das, du bleibst jetzt hier?« wollte Stefan wissen, nachdem auch er die Tante begrüßt hatte.

Irene nickte. »Ich muß mich doch ein bißchen um euren Vater kümmern, nachdem ihr beide ihn schon so schmählich im Stich gelassen habt.« Mißbilligend schüttelte sie den Kopf. »Daß man in eurem Alter schon eine eigene Wohnung braucht. Wir sind eben zu Hause geblieben, bis wir geheiratet haben, und dann begann ein neuer Lebensabschnitt, aber…«

»Aber Karina und ich studieren«, fiel Stefan ihr ins Wort, während er liebevoll einen Arm um ihre Schultern legte.

»Schau mal, Tante Irene, deine Ansichten sind total veraltet. Heutzutage soll ein junger Mensch selbständig sein, bevor er sich in einer Ehe bindet.«

Irene nickte. »Deshalb gehen heutzutage auch so viele Ehen schief. Die jungen Leute sind zu selbständig.«

Stefan seufzte. »Bitte, Tante Irene, keine Moralpredigten, sonst kommen wir wirklich nicht mehr so schnell nach Steinhausen.«

Gutmütig zog Irene ihn an den Ohren. »Du Lausebengel willst mir drohen? Na warte…«