cover
cover

Einführung
Die Entfaltung der Wirklichkeit im Leben eines Kindes

Dieses Buch ist das persönliche Tagebuch eines Kindes, das Joey heißt. Ich habe es erfunden, weil ich Antworten auf Fragen finden wollte, die wir uns alle über das Innenleben des Kleinkindes stellen. Was – meinen Sie – geht beispielsweise in Ihrem Kind vor, wenn es Ihnen unverwandt ins Gesicht blickt, oder wenn es die Stäbe seines Kinderbettchens oder gar etwas so Simples wie einen Sonnenstrahl an der Wand betrachtet? Was empfindet es, wenn es hungrig oder traurig ist oder gestillt wird, oder wenn Sie gerade ganz nah mit ihm schmusen? Wie ergeht es ihm, wenn es von Ihnen getrennt ist?

Seit mehr als zwanzig Jahren beschäftige ich mich mit solchen Fragen und versuche Antworten zu entwickeln. Dabei habe ich viel Zeit mit Kleinkindern verbracht: als Vater von fünf Kindern ebenso wie als Kinderpsychiater, wenn ich Kinder im Hinblick auf die Beziehung zu ihren Eltern therapiere. Als Entwicklungspsychologe habe ich darüber hinaus Kinder beobachtet und empirisch untersucht.

Anfangs glaubte ich, daß man das kindliche Erleben durch einen rein intellektuellen Ansatz erforschen könnte. Ganz allmählich wurde mir jedoch bewußt, daß mein Interesse an diesem Thema nicht auf Neugier beruhte. Es waren die Anfänge, denen ich auf die Spur kommen wollte, weil sie mich zum eigentlichen, zum innersten Wesen der menschlichen Natur führen sollten: Schließlich sind wir alle einmal Kinder gewesen. Jeder von uns hat ganz bestimmte Vorstellungen von bestimmten Babys und von dem, was frühe Kindheit eigentlich bedeutet. Niemand ist deshalb davor gefeit, einem Säugling, mit dem er zufällig zusammentrifft, den er versorgt oder wissenschaftlich beobachtet, bestimmte Gedanken, Gefühle oder Wünsche zuzuschreiben. Ja, in Gegenwart eines solchen Winzlings sind wir geradezu zwanghaft bemüht, das Innenleben speziell dieses Kindes zu erfinden.

Wie stark wir von diesem Drang beherrscht werden, wurde mir klar, als ich Eltern im Umgang mit ihren Kindern beobachtete. Ich belauschte ihre ganz alltäglichen Plaudereien, das, was wir alle ohne zu überlegen zu Babys sagen. »Aha« – sagen sie dann etwa – »das gefällt dir, nicht wahr?« Oder (in sehr überzeugtem Ton): »So, das Grüne magst du also nicht?« Oder gar: »Ich weiß ja, daß du es eilig hast, mein Kleiner. Ich beeile mich ja schon!« Oder (mitfühlend): »Jetzt ist alles wieder gut, ja?« Mit Hilfe solcher Interpretationen wissen Eltern, wie sie sich weiter verhalten und was sie fühlen und denken sollen. Man könnte sogar sagen, daß die gesamte Elternrolle mehr oder weniger von solchen Deutungen abhängt. Auch Forschung und klinische Praxis und die ganze spätere Entwicklung des Kindes hängen von solchen Deutungsmustern ab.

Eltern brauchen und möchten meist mehr Hinweise darauf, was sich in bestimmten Augenblicken im Kopf ihres Kindes abspielt. Beispielsweise dann, wenn es hungrig ist, wenn es wie gebannt auf einen Punkt in der Ferne starrt oder beim Spielen plötzlich wie aus heiterem Himmel in helle Aufregung gerät. In solchen Momenten versuchen Eltern manchmal, in die Haut ihres Kindes zu schlüpfen oder seine Gedanken zu lesen und tun so, als wüßten sie dort bestens Bescheid. Können sie das, was ihr Kind gerade bewegt, nicht entschlüsseln, stellen sie meist so gut es geht Vermutungen an. Solche Mutmaßungen sind jedoch immer auch davon geprägt, wie sie selbst die Welt erleben. Wenn Sie beispielsweise aus dem Weinen Ihres Kindes Wut heraushören, reagieren Sie höchstwahrscheinlich ebenfalls wütend oder fühlen sich sogar irgendwie schuldig. Meinen Sie dagegen, daß ihm etwas weh tut, werden Sie eher einfühlsam reagieren und es auch unmittelbar zum Ausdruck bringen. Wie Eltern auf ihr Kind reagieren, hängt stark davon ab, wie sie selbst als Kind behandelt wurden, und wie ihre eigenen Eltern ihre Gefühle und ihr Verhalten ausgelegt haben.

Normalerweise sind solche Interpretationen nicht nur notwendig, sondern auch positiv und hilfreich. Wer einen anderen liebt, möchte ja auch dessen innere Erlebniswelt teilen und wissen, wie es in ihm aussieht. Genau in diesem zwischenmenschlichen Bereich entsteht die Fähigkeit zu vertrauensvoller Nähe und Mitgefühl. Daß der Erwachsene sich in die kindlichen Gefühle hineinversetzen kann, ist für beide immens wichtig. Stellen Sie sich vor, Ihr Kind bricht in Tränen aus, oder es betrachtet Ihre Nase und lächelt. Was tun Sie wohl in diesem Augenblick? Sicherlich erschließen Sie die Gefühle, Wünsche und Beweggründe Ihres Kindes aus seinem Verhalten und aus dem, was sich gerade zwischen Ihnen beiden abgespielt hat. Ausgelöst durch die innere Auseinandersetzung mit dem Verhalten Ihres Kindes entsteht in Ihrer Phantasie plötzlich eine Deutung dessen, was vorgeht. Diese Interpretation sagt Ihnen, was Sie als nächstes zu tun haben, aber sie hilft auch Ihrem Kind dabei, mit seinen eigenen Erfahrungen umzugehen. Denn noch weiß es nicht genau, was es fühlt, wo das Gefühl lokalisiert ist, was ihm guttut oder was ihm Unbehagen bereitet. Seine Gefühle, Bedürfnisse und Motive sind noch relativ diffus. Erst Ihre Deutung hilft ihm daher bei der Klärung und Strukturierung seiner Welt.

Mangels anderer Möglichkeiten sammeln Eltern deshalb meist ihre eigenen Vorstellungen von dem, was in ihrem Kind vorgeht, und stellen so eine fortlaufende Biographie zusammen, in der sie bei Bedarf immer wieder ratsuchend nachschlagen können. So entsteht ein Gerüst, eine Art Nachschlagewerk dafür, wie die Eltern ihr Kind erleben, aber auch für die Eigenwahrnehmung des Kindes, die es sein Leben lang begleiten wird.

In meiner klinischen Praxis erlebe ich immer wieder verblüfft, wie mächtig der Einfluß solcher elterlicher Konstrukte auf das Kind ist. Mindestens ebenso stark ist allerdings auch das Bedürfnis von Eltern, ihrem Kind eine bestimmte innere Erlebniswelt anzudichten. Gerade die folgenreichsten solcher Aussagen weisen nur entfernte Bezüge auf: »Er ist wie sein Großvater«, heißt es da beispielsweise, »der war auch so stark und besonnen.« Oder: »Sie gleicht aufs Haar meiner verstorbenen Mutter.« Oder gar: »Er wird einmal reich und berühmt sein und unsere Familie bekannt machen.« Mitunter beziehen sich solche »Kernsätze« auch auf die jungen Eltern selbst; dann heißt es etwa: »Sie ist so quirlig und aufgeschlossen, ganz anders als ich.« Oder: »Hoffentlich wird sie nicht so ein Angsthase wie ich.« Und: »Den Charme hat er von seinem Vater.« Solche Aussagen, in denen sich tiefe Wünsche, Ängste und Erwartungen widerspiegeln, entstammen meist den Erfahrungen der Eltern in ihrer Vergangenheit und Gegenwart. Wir alle neigen zu solchen Verallgemeinerungen; seelische Probleme lösen sie erst dann aus, wenn die elterlichen Vorstellungen von der Persönlichkeit ihres Kindes mit dessen eigenen Wahrnehmungen nicht vereinbar sind.

Auch die Familien selbst tragen zum Aufbau persönlicher Erfahrungen bei. Die meisten Babys bleiben in ihrer Ursprungsfamilie, und jede Familie besitzt einen eigenen Code für die Deutung und Bewertung persönlicher Erfahrungen. Während die eine Familie Wut und Zorn als schlimm bewertet, gelten sie in einer zweiten als durchaus annehmbar, vielleicht sogar positiv. In einer dritten Familie dagegen dürfen solche Gefühle nicht einmal existieren. Ärger und Wut werden nicht als Erlebnisweisen anerkannt. Das Kleinkind lernt diese Regeln unter anderem dann kennen, wenn seine eigenen Erlebnisse zu Hause auf eine ganz bestimmte Weise interpretiert werden. So wird das innerste Erleben jedes Kindes unterschiedlich geprägt.

Aber nicht nur in der Familie, auch in der Gesellschaft existieren ganz bestimmte Vorstellungen, die innerhalb von Schulen und anderen Institutionen das Verhalten der Menschen prägen. Wissenschaftliche Theorien zur Entwicklung der menschlichen Psyche – beispielsweise jene von Freud, Margaret Mahler oder Erik Erikson – haben meist ihren Ursprung in solchen verborgenen, beziehungsweise unausgesprochenen Phantasien über das kindliche Erleben. Das gleiche gilt auch für die Entwicklungspsychologie. Sehr oft sind unsere experimentellen und empirischen Studien implizit durch unser Mutmaßungen über das Innenleben eines Kindes bestimmt.

Das erklärt, warum Eltern, Psychologen und alle, die mit Kindern zu tun haben, eine Art Biographie des Kindes erstellen. Mit diesem fiktiven Tagebuch eines Kindes namens Joey gehe ich noch einen Schritt weiter und entwerfe eine Art Autobiographie. Sie soll jedoch nicht nur allen Eltern Aufschluß über das Innenleben ihres Kindes geben. Zugleich verstehe ich sie auch als Strategie, da sie neue Hypothesen zu Wahrnehmung, Gefühl und Gedächtnis des Kindes eröffnet und den Schlüssel dazu liefern kann, wie das Kind selbst seine Entwicklung und seine Vergangenheit erlebt.

Ich muß jedoch hinzufügen, daß diese Autobiographie keinesfalls einheitlich ist, sondern allenfalls eine Legierung aus Spekulationen, Phantasien und Fakten, welche unserem derzeitigen Wissen über die frühe Kindheit entstammen. In den vergangenen Jahrzehnten sind wir durch die systematische Beobachtung von Kindern zu bahnbrechenden Erkenntnissen gelangt! Über die beiden ersten Lebensjahre liegt uns heute sogar mehr Beobachtungsmaterial vor, als über jede andere Lebensphase.

Die wissenschaftliche Entwicklung erreichte einen Wendepunkt, als wir den Babys Fragen zu stellen begannen, die sie tatsächlich beantworten konnten. Hatte man erst die Antwortmöglichkeiten erkannt, konnte man die passenden Fragestellungen entwickeln. Eine mögliche Antwortreaktion besteht beispielsweise darin, daß das Kind seinen Kopf zur Seite dreht oder eine Willkürbewegung macht, wozu schließlich sogar ein neugeborener Säugling in der Lage ist. Eine dazu passende Frage konnte dann beispielsweise lauten, ob ein zwei Tage alter Säugling seine Mutter an ihrem Geruch erkennt. Die entsprechende Antwort wurde wie folgt verknüpft: Man legt neben einen erst wenige Tage alten Säugling eine Stilleinlage auf das Kopfkissen. Diese – von seiner Mutter stammende – milchdurchtränkte Stilleinlage wird rechts neben sein Köpfchen gelegt. Eine zweite, von einer fremden Frau stammende Stilleinlage wird parallel auf die linke Seite gelegt. Im Experiment wendet das Kind nun seinen Kopf eindeutig nach rechts. Werden die beiden Einlagen vertauscht, wendet es den Kopf nach links. Es erkennt demnach also nicht nur den mütterlichen Geruch, sondern bevorzugt ihn auch vor dem anderen. So beantwortet es die gestellte Frage mit einem Drehen des Kopfes.

Auch das Saugen ist eine potentiell geeignete Antwortreaktion. Säuglinge sind ja in der Tat perfekt im Saugen. Sie saugen immer nur in kurzen Schüben, halten für einen Augenblick inne und beginnen dann erneut. Dabei bestimmen sie selbst die Dauer des Saugens und der Pausen. Um nun eine Frage zu beantworten wie: »Was betrachten Babys am liebsten?« können wir dem Säugling einen Schnuller mit elektronischer Rückkopplung geben, der mit einem Diaprojektor so verbunden ist, daß das Kind die dazugehörigen Bilder sehen kann. Bereits im Alter von drei Monaten lernt ein Säugling dabei sehr rasch, daß er nur an seinem Schnuller zu saugen braucht, wenn er ein neues Bild sehen will. Möchte er dagegen das Bild längere Zeit betrachten, so hält er mit dem Saugen inne. Dabei zeigt sich, daß das Kind die Dias so lange stehen läßt, wie es seinem Interesse für die einzelnen Bilder entspricht. Verwendet man bei einem solchen Experiment genügend anschauliches Bildmaterial, so lassen sich ohne weiteres die visuellen Vorlieben des Säuglings herausfinden und katalogisieren.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, den Schnuller mit zwei Kassettenrecordern zu koppeln. Eines der Geräte enthält dabei eine Kassette mit der Stimme der Mutter, das andere eine Aufnahme mit der Stimme einer fremden Frau. Beide Stimmen sprechen den gleichen Text. Bei diesem Test saugt das Kind möglichst lange, um die Stimme seiner Mutter zu hören, und beantwortet damit die Frage, ob es seine Mutter an der Stimme erkennt. Auf unsere tausend Fragen an den Säugling sind noch weitere Antworten denkbar: Blicke, Augenbewegungen, Herzrate, Strampelbewegungen und viele andere Reaktionen, die inzwischen von der Forschung untersucht werden.

Auch die Videotechnik hat uns unschätzbare neue Einblicke verschafft, indem sie uns immer präzisere Beobachtungen von Interaktionen zwischen Eltern und Kindern ermöglicht. Wir können heute einzelne Einstellungen anhalten oder eine bestimme Körperbewegung oder einen Gesichtsausdruck mehrmals wiederholen und seine exakte Dauer messen. Als Werkzeug zur Erforschung des menschlichen Verhaltens, vor allem im nonverbalen Bereich, hat sich die Videokamera bisher als ähnlich nützlich erwiesen wie das Mikroskop für die Sichtbarmachung von bis dahin verborgenen Organismen.

Soweit als möglich basiert Joeys Tagebuch auf den neuesten wissenschaftlichen Kenntnissen der frühen Kindheit. Einiges entstammt meiner eigenen Forschungsarbeit, das meiste kommt jedoch von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt. Für die diesem Buch angefügte Bibliographie habe ich nur die wichtigsten Titel ausgewählt. Den in ihnen enthaltenen Forschungsergebnissen verdankt dieses Buch seine Entstehung.

In seiner Struktur gleicht dieses Tagebuch der Entwicklung eines Kleinkindes, die sich stets in unregelmäßigen Sprüngen vollzieht, welche das Kind in eine immer vielschichtiger werdende Erfahrungswelt hineintragen. Um zu zeigen, wie Joey die Entfaltung seiner sich immer komplexer gestaltenden Welten erfährt, lasse ich ihn seine Fortschritte anhand von fünf aufeinander folgenden Erlebnissen skizzieren. Sie reichen von seiner frühesten Säuglingszeit bis zum entscheidenden Entwicklungsschritt im vierten Lebensjahr, der ihn in die Lage versetzt, seine Geschichte von nun an selbst zu erzählen. Zu Beginn, im Alter von sechs Wochen, befindet sich Joey noch in der ersten seiner Welten. Diese Welt ist die der »Gefühle«, in der seine Eindrücke und Erfahrungen noch ganz in seiner jeweiligen inneren Gestimmtheit verankert sind. Hier geht es ihm nicht darum, wie oder warum etwas geschieht, nicht um Fakten oder Objekte. Statt dessen geht es hier um die noch rohe, unmittelbare Realität seiner eigenen, ganz persönlichen Gefühle. Im Alter von vier Monaten betritt er dann die Welt der direkten Kontakte mit Menschen, in der nur das »Hier und Jetzt zwischen dir und mir« Gültigkeit hat. Joey erzählt von den nuancenreichen Zwiegesprächen zwischen ihm und seiner Mutter und von den subtilen Bewegungen, mit deren Hilfe sie das Hin- und Herfließen ihrer Gefühle aufeinander abstimmen. Damit läßt uns Joey einen Blick auf das fundamentale Zusammenspiel mit anderen werfen, das uns unser Leben lang begleitet.

Mit zwölf Monaten entdeckt Joey sein Denkvermögen und bemerkt, daß auch andere Menschen eines besitzen. In dieser Welt der Gedanken wird er sich innerer mentaler Vorgänge wie seiner Wünsche und Absichten bewußt. Er findet heraus, daß die Gedankenlandschaft eines Menschen mit der eines anderen etwas gemeinsam haben kann und daß zwei verschiedene Personen das gleiche denken und wollen können, oder aber auch nicht. Joey erkennt an diesem Punkt seiner Entwicklung, daß seine Mutter nicht nur weiß, daß er einen Keks von ihr haben möchte, sondern daß ihr auch klar ist, daß er dies von ihr weiß.

Mit zwanzig Monaten, also über ein halbes Jahr später, nimmt uns Joey mit in die Welt der Wörter, in der Positives und Negatives häufig seltsame Verbindungen eingehen. Hier entdeckt er, daß symbolische Laute ihm nicht nur auf der einen Seite neue Ebenen der Phantasie und Kommunikation eröffnen, sondern daß sie zur gleichen Zeit den Untergang seiner liebgewordenen vorsprachlichen Welt einleiten.

Zuguterletzt macht Joey einen riesigen Sprung ins vierte Lebensjahr und ist jetzt in der Lage, endlich seine Geschichte selbst zu erzählen. Nun gelingt es ihm bereits, über seine Erfahrungen nachzudenken und ihren Sinn zu erfassen, so daß er sie als selbst erdachte autobiographische Geschichte einem anderen erzählen kann. Damit betritt Joey die Welt der »Geschichten«.

In diesem Tagebuch durchlebt Joey eine Vielzahl von Alltagssituationen und -ereignissen, welche alle Eltern zweifellos auf Anhieb wiedererkennen. Manche dieser Situationen sind zufällig und belanglos, beispielsweise wenn Joey die Gitterstäbe seines Kinderbettchens betrachtet. Andere, wie zum Beispiel Hungergefühle, sind einschneidende Erfahrungen. Die kleinen Ausschnitte des Erlebten in jeder Altersstufe zeigen bereits, wie erschütternd und folgenschwer die alltäglichen ebenso wie die außergewöhnlichen Erfahrungen für das Kind sind. Jeder einzelne dieser winzigen Erfahrungsausschnitte ist reich an Bedeutungen – wie die ganze Welt in einem einzigen Sandkorn!

Üblicherweise enthalten Tagebücher Aufzeichnungen von vergangenen Ereignissen. In Joeys Tagebuch ist das anders – alles ereignet sich in der Gegenwart. Genauso unmittelbar wie er sie erlebt, fließen seine Erfahrungen in das Tagebuch ein, ohne daß zuvor ein ordnender Eingriff erfolgt wäre, um diese »Gegenwart« entsprechend festzuhalten, wie dies ein Erwachsener tun würde. Die Situationen in Joeys Tagebuch sind wie im Film festgehaltene Träume.

Natürlich verfügen Säuglinge nicht über eine eigene Sprache. Weder sind sie in der Lage zu schreiben, noch können sie sprechen oder auch nur in Worten denken. Deshalb habe ich Joeys Sprache erfunden. Um das Wesentliche seiner vorsprachlichen Erlebnisse einzufangen, habe ich zahlreiche Begriffe entlehnt, die aus den verschiedenen »Welten« der Klänge, der Bilder, des Wetters, des Raums und der Bewegung stammen. Die Tagebuch-Eintragungen werden um so detaillierter, je differenzierter Joey mit fortschreitendem Alter seine Erlebnisse wahrnimmt. Und je mehr sich sein Gedächtnis ausbildet, desto länger und inhaltsreicher werden die Schilderungen.

Zwar mußte ich, um Joey eine eigene Stimme zu geben, auf das Medium der Sprache zurückgreifen, jedoch habe ich versucht, dabei seine Wahrnehmung der Welt widerzuspiegeln. Beispielsweise verwendet er im Alter von sechs Wochen noch keine Personalpronomen wie »ich«, »wir« oder »ihr«, weil er noch nicht zwischen sich und seiner Mutter oder einem anderen Betreuer unterscheiden kann. Ebenso erscheinen Zeitwörter wie »dann« oder »danach« erst dann im Text, wenn Joey einen gewissen Zeitbegriff entwickelt hat. Auch Konjunktionen wie »weil« kommen nicht vor, solange Joey noch kein Verständnis für kausale Zusammenhänge erworben hat.

Jedes Kapitel dieses Buches beschäftigt sich mit einer der nacheinander entstehenden »Welten« im Leben eines Babys. Der Welt der Gefühle folgt die direkte Kontaktwelt. Danach entsteht die Welt der Gedanken, der wiederum die Welt der Wörter und schließlich die Welt der Geschichten folgt. Am Beginn jedes Kapitels beschreibe ich die von Joey im jeweiligen Altersabschnitt frisch erworbenen Fertigkeiten, die zugleich sein »Rüstzeug« für die nun zu erobernde neue Erfahrungswelt darstellen. In den verschiedenen Teilen eines jeden Kapitels geht es jeweils thematisch um eine Situation, die sich im Verlauf eines ganz normalen Vormittags ereignet. Diese Situation wird aus drei verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Zunächst informiert eine Situationsbeschreibung über den Kontext des Ereignisses. Danach folgt der Tagebuchbericht in der Sprache, die ich für Joey erdacht habe. Abschließend erläutere ich dann seine Erlebnisse vor dem Hintergrund dessen, was wir heute über die frühe Kindheit wissen.

Teilweise wiederholt sich eine Situation in einer anderen Altersstufe, beispielsweise Joeys Reaktion auf einen Sonnenstrahl einmal im Alter von sechs Wochen und dann noch einmal mit zwanzig Monaten. Durch dieses Vorgehen treten Veränderungen, die sich in seiner Entwicklung zwischen der Welt der Gefühle und der Welt der Wörter zugetragen haben, besonders klar hervor. Im letzten Kapitel, wo Joey in seinen eigenen Worten spricht, tauchen ebenfalls einige dieser Erlebnisse wieder auf, allerdings haben sie inzwischen einen Transformationsprozeß durchlaufen und sind zu Joeys eigenen Geschichten geworden.

Im Verlauf seiner Entwicklung durchläuft Joey nacheinander jede einzelne seiner Welten, ohne jedoch die vorausgegangenen Welten je völlig hinter sich zu lassen. Eine neue Welt ersetzt niemals diejenigen, die vorausgingen, sondern bereichert und ergänzt sie. Wenn Joey den Zugang zur Welt der direkten Kontakte entdeckt, drängt sie die Welt der Gefühle nicht einfach beiseite oder absorbiert sie, sondern sie ergänzt sie lediglich um ein zusätzliches Element. In der Musik verändert sich die Klangfarbe eines Tons sofort, sobald eine zweite Note hinzutritt, und zwar nur aufgrund dieses anderen Tons. Nach diesem Prinzip ergänzt nicht nur jede neue Welt die früheren, sondern verwandelt sie zugleich.

In all diesen Welten leben wir gleichzeitig. Sie überschneiden sich, verschwinden jedoch niemals ganz. Aus ihrem Zusammenspiel entfaltet sich der ganze Reichtum unmittelbarer Erfahrungen, deren Dynamik am deutlichsten in der Welt der Geschichten zum Tragen kommt. Das Tagebuch eines Kindes ist somit eine Reise durch jene Welten, welche sich früh im Leben eines jeden menschlichen Wesens entfalten und uns das ganze Leben begleiten.

Kapitel I

Die Welt der Gefühle

Joey im Alter von sechs Wochen

Kommen Sie nun mit mir in Joeys allererste Welt. Erinnern Sie sich an all das, was Sie niemals wirklich vergessen haben. Stellen Sie sich vor, daß nichts von dem, was Sie sehen, berühren oder hören, einen Namen, eine Funktion oder eine Geschichte besitzt. Joey erlebt Objekte und Ereignisse vor allem als die Gefühle, die sie in ihm wachrufen. Für ihn existieren sie weder als das, was sie an und für sich sind, noch kennt er ihre Funktion oder ihren Namen. Nennen ihn seine Eltern »Schatz«, dann weiß er noch nicht, daß »Schatz« ein Wort ist, und daß es sich zudem auf ihn bezieht. Es fällt ihm nicht einmal auf, daß es ein Klang ist, also etwas ganz anderes als etwa eine Berührung oder ein Lichtschein. Allerdings ist er schon sehr empfänglich für die Art und Weise, wie dieser Klang ihn umfängt. Einmal gleitet er sanft und spielerisch über ihn hinweg und beruhigt ihn; ein anderes Mal ist er voller Spannung, ungestüm und aufwühlend, so daß Joey hellwach wird. Alles, was das Kind erlebt, ist so, es hat seinen besonderen Gefühlston – und bei Erwachsenen ist das genauso. Wir achten nur kaum darauf, weil unser Gefühl des Lebendigseins nicht im gleichen Maße davon bestimmt wird, wie das bei Joey der Fall ist.

Nehmen wir einmal an, uns stünde als einziges Medium das Wetter zur Verfügung. Stühle, Wände, Licht und Menschen wären dann lediglich Requisiten für eine ganz bestimmte Wetteratmosphäre, die nur für einen kurzen Augenblick spürbar wird. Ihre einzigartige Stimmung und Kraft entspringt allein dem besonderen Zusammenwirken von Wind, Licht und Temperatur. Nehmen wir weiter an, daß der Wind nichts findet, das sich ihm entgegenstellt, weder ein Baum, den er schütteln, noch Feld und Schuppen, auf den er Regen niederprasseln lassen könnte. Und zuguterletzt existieren nicht einmal Sie selbst als Beobachter außerhalb dieser Wetterlandschaft, denn Sie sind Teil von ihr. Die diese Landschaft beherrschende Stimmung und Kraft stammt vielleicht aus Ihrem eigenen Innern und prägt dadurch alle Farben und Formen, die Sie sehen. Möglicherweise tritt die Stimmung aber auch von außen an Sie heran, so daß dieses »Außen« in Ihnen widerhallt. Noch ist die Trennung zwischen Innen und Außen vage, und wird deshalb wahrscheinlich als zwei Elemente eines einzigen kontinuierlichen Raums erlebt. Auch wir Erwachsene kennen Augenblicke, in denen sich Innen- und Außenwelt wechselseitig beeinflussen oder sogar völlig miteinander verschwimmen. So kehrt sich beispielsweise das Innere nach Außen, wenn jemand in Ihrem Beisein etwas Häßliches tut und dieser Mensch Ihnen plötzlich widerlich vorkommt. Umgekehrt gelangt das Außen in Ihr Inneres, wenn sich bei einem Spaziergang an einem unerwartet klaren, sonnigen Morgen Ihre Lebensgeister plötzlich beleben, und Ihr Körper sich unvermittelt leicht und beschwingt anfühlt. Während ein solches teilweises Verschwimmen der Grenze zwischen Innen und Außen bei uns Erwachsenen immer nur von sehr kurzer Dauer ist, ist es bei Kindern praktisch der Normalfall.

Eine menschliche »Wetterlandschaft« ist ein einziger Moment von Gefühlen in Bewegung. Dieser Augenblick ist nicht statisch wie ein Foto. Er dauert vielmehr so lange wie etwa in der Musik ein Akkord, ein paar Takte oder eine Phrase. Seine Dauer reicht vom Bruchteil einer Sekunde bis zu vielen Sekunden. In einem einzigen solcher winzigen Augenblicke verändern sich Joeys Gefühle und Wahrnehmungen und lassen in jedem Moment ein ganz bestimmtes Muster von Gefühlsbewegungen entstehen: als plötzliches Aufflackern von Joeys Interesse, als das An- und Abschwellen der Welle des Hungerschmerzes, das Verebben eines Wohlgefühls. Joey erlebt das Leben als Folge solcher aneinandergereihter Augenblicke.

Die vier Episoden des ersten Kapitels beschreiben solche Augenblicke in Joeys Leben, der zu diesem Zeitpunkt sechs Wochen alt ist. Sie ereignen sich nacheinander an einem einzigen Vormittag. In der ersten Episode betrachtet Joey den Reflex des Sonnenlichts an der Wand (»Ein Sonnenstrahl«). Im nächsten Abschnitt sieht er auf die Gitterstäbe seines Kinderbettchens und auf die dahinterliegende Wand (»Klingender Raum«). Später wird er hungrig und schreit (»Ein Hungersturm«) und wird gestillt (»Der Hungersturm verebbt«). Diese einzelnen Augenblicke sind wie Einstellungen in einem Film. Sie laufen kontinuierlich hintereinander ab oder gehen ganz allmählich ineinander über; manchmal gibt es zwischen den Szenen einen abrupten Schnitt oder sogar eine kurze Unterbrechung durch eine leere Einstellung. Joey weiß nicht, wie er von einem Augenblick zum nächsten gelangt oder was sich in der Zeit dazwischen möglicherweise ereignet. (Ob wir Erwachsenen das immer wissen, sei dahingestellt!) Er erlebt jedoch jeden einzelnen Moment intensiv und mit all seinen Sinnen. Viele dieser Augenblicke sind die Prototypen für immer wiederkehrende Situationen in seinem Leben.

1. Ein Sonnenstrahl – 7.05 Uhr morgens

Joey ist gerade aufgewacht. Er blickt unverwandt auf den Reflex eines Sonnenstrahls an der Wand neben seinem Kinderbett.

Ein Stück Raum leuchtet dort drüben.

Ein sanfter Magnet zieht an und hält fest.

Der Raum erwärmt sich und wird lebendig.

In seinem Innern beginnen Kräfte sich langsam tanzend umeinander zu drehen.

Der Tanz kommt näher und näher.

Alles steigt auf, ihm zu begegnen.

Er kommt immer näher. Aber er kommt nie an.

Die Spannung verebbt.