Ein deutscher Filmregisseur flieht vor einer anstrengenden Liebe. Seine Schwester wird vom Staat verdächtigt, als radikale Islamistin einen Anschlag zu planen. Sein bester Freund aus Kindertagen kämpft als Pfarrer mit dem Teufel. Und eine Frau, die alle drei kennt, aber mehr ist als ein Mensch, öffnet die Tür zum Schlimmsten, was Menschen sich vorstellen können.

Dietmar Daths letzter großer Roman, Feldeváye, handelt von der weltenverändernden Kraft der Kunst. Sein neuer Roman, Leider bin ich tot, handelt von der weltenverändernden Kraft der Religion – von Menschen, die ganz sicher sind, dass es »mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als der Hedonismus sich träumen lässt, dass höhere Wesen existieren, dass du als Mensch die Bindung brauchst an das, was weiter sieht und mehr vollbringt als du«.

Dietmar Dath, 1970 geboren, ist Autor und Übersetzer. Er war Chefredakteur der Zeitschrift Spex und von 2001 bis 2007 Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, seit September 2011 ist er dort Filmkritiker.

Dietmar Dath veröffentlichte siebzehn Romane, außerdem Bücher und Essays zu wissenschaftlichen, ästhetischen und politischen Themen, darunter die Streitschrift Maschinenwinter (2008) und die BasisBiographie Rosa Luxemburg (2010), sowie Erzählungen, Theaterstücke, Hörspiele und Gedichte. Er lebt in Freiburg und Frankfurt am Main.

Dietmar Dath

Leider bin ich tot

Roman

Suhrkamp

Die Coverillustration wurde von Oliver Scheibler gestaltet.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Originalausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

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Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München

eISBN 978-3-518-74203-7

www.suhrkamp.de

Hier ist kein Jude noch Grieche,

hier ist kein Knecht noch Freier,

hier ist kein Mann noch Weib;

denn ihr seid allzumal einer

in Christo Jesu.

Galater 3: 28

Some say prayers

I say mine

Andrew Eldritch

1: Niemals nacheinander

Abel wartete und atmete. Er dachte an früher, vor zwanzig Jahren, in der Schule, als man ihn »deutscher Perser« oder »blonder Perser« genannt hatte – das war eine Idee der lustigen Kerstin gewesen, einer Mitschülerin mit Katzentick. Perser: einerseits ein Kater, andererseits auch ein Junge mit iranischer Mutter, deutschem Vater.

Man kann, fiel Abel ein, Wörter verwechseln und Dinge. Der Himmel war der Fluss. Wasser und Luft standen nie still. Abels Hände leuchteten rot und kalt. Sie wollten frieren, als Buße. Denn sie hatten sich von der Wange zurückgezogen, die sie hätten streicheln sollen. Hinter dem blonden Perser stand die Tate Modern. Der Museumsbau leuchtete ziegelrot. Innen brannten schlaue Feuer, einige zu schlau; manche still, viele lärmend. Einige spiegelten etwas. Andere nichts. Abel liebte Spiegel. Aber der Himmel und der Fluss waren keine.

Auf der Millennium Bridge, zur Rechten des Deutschen, fotografierten Japanerinnen und Portugiesen einander mit Spielzeugtelefonen. Dahinter schämte sich Shakespeares Theater. Eltern rissen Witze: »Oi! You look like your nose might fall off, all frozen stiff like that!« Kinder widersprachen der guten Laune: Eins forderte trotzig Grillwurst, das andere trat mit Wut gegens Geländer.

Abels helles Hemd mit schmalen apfelgrünen Streifen schien zu behaupten, er sei eine stolze Pflanze. Sein schwerer Mantel aus rauchgrauer Schafswolle zeigte ihn eher als genügsames Tier, während seine teure Strickweste, aquamarin, einen Filmstar beim Besuch einer Auktion chinesischen Porzellans angemessen kleiden würde. Pflanze, Tier, Star? Und die grauen Flanellhosen? Irgendwo musste das australische Geld ja hin.

Abels Gesicht, kantig, schmal, sonnengewohnt, schwieg sich aus.

Der Fluss faltete splittriges Grau in sein Silber. Winter rollte vorbei, unmenschlich schön wie die blauroten Höhen über den Gebäuden auf der anderen Seite der Themse, imperiale Fassaden, von Milchdampf gewaschen.

Abel schloss die Augen, ballte die Hände zu kalten Fäusten in den Manteltaschen. Dann spielte er mit den Fingern Sachensuchen. Die Kuppen erkannten Krümel und Münzen. Er öffnete die Augen und dachte: Ich muss mich schämen. Wenigstens bin ich ein großer Künstler, »Wald statt Bäumen« ist ein wichtiger Film. Vergesst den Autor, liebt das Werk. Abel dachte an Ceecee, die gern in solchen Parolen dachte.

Ceecee: Cyan Cerulean.

Die Wandelbare: Er dachte an ihr Haar, bürstenkurz, erst schwarz, dann froschgrün, dann giftig orange, jetzt himmelblau. An ihr großes Kruzifix auf der Brust – wie bei Madonna früher. Ohne Ceecee hätte er »Wald statt Bäumen« nicht bezahlen können. Sie fand leicht Geld, das sich langweilte.

Abels Hauptfinanzier, ein »Uncle Wyatt« aus Australien, war großzügig wie ein Renaissancepapst; der Vergleich stammte von Cyan. Ihr schuldete Abel inzwischen mehr als Geld: Sie hatte ihn aus zähem Selbstekel befreit, mit pep talks, wie sie’s nannte. Man konnte sich von ihr um drei Uhr nachts in den Arm nehmen lassen, weinen wie ein Baby und dabei alles gestehen, sogar Erfundenes.

Kühler Wind griff in Abels lichtblonde Haare, eine wellige Zufallsskulptur, mit schnellen Fingern vor dem Spiegel geformt. Abel suchte zwischen Krümeln und Staub nach Reichtümern in den Taschen. Hausstaub, wusste er, bestand zum größten Teil aus Resten menschlicher Haut. Die Partikel im Mantel waren überdies Fetzchen von toten Bienen und Schlangen, Skorpionen und Wespen. Die Finger fanden eine Münze, holten sie hervor. Abels Blick wurde klarer: Kein Spiegel war das Geldstück, aber es schenkte ihm Reflexlicht, eine weitere Beruhigung. Abel sah von der Münzkante weg ins Große, betrachtete die Luft, die man nicht sehen konnte, wie sie überm Strom in die Höhe wollte. Kräftigen Winden gelang es. Sie leckten zwischen den Wolken nach Richtungen, die nicht Ost hießen oder West, Nord oder Süd; Richtungen, die man noch taufen musste. Je höher die Winde, desto schneller bewegt: ein Gesetz.

Abel glaubte, er könnte hier unten spüren, wie sich die Atmosphäre langsam ins Weltall verflüchtigte; allein drei Kilo Wasserstoff pro Sekunde, hatte Nasrin ihm einmal erklärt. Unter den Sohlen der neuen Schuhe drehte sich der Planet.

Nasrin setãreh hã´i rã be panjareh ash chasbãndeh.

Reich, bewundert, ohne Weg und Schutz: Abel dachte an Wolf.

Den fürchtete er, weil er zu viel wusste.

Die Münze, die Abel blinken ließ, war hübsch: Five Pence, klein, sauber, vorn Tierkörperteile aufgeprägt, hinten die Königin Elizabeth, II D G REG F D 2012, das Jahr im Datum bereits auf dem Rückzug, nur wenige Stunden noch aktuell.

Abel schnippte die Münze in die Luft. Sie wollte im Fallen blitzen; es war nicht mehr genug Sonne da. Fünf Pence fielen ins Wasser. Abel zog sich den Mantelkragen hoch.

Wir waren im Begriff, Gott endlich wieder leidzutun.

In Frankfurt lief Wolf zum Gate, als trüge er Langlauflatten an den Füßen. Alles, was ihm gehörte, hatte er in eine Nylontasche gepackt und trug sie auf der Schulter, als Handgepäck.

Der letzte Aufruf plärrte: »Passagiere nach London Heathrow Flug LH 456 werden gebeten …«

Wieland Schulte, den im Kindergarten ein Kind Wolf getauft hatte, wollte nach London, zu Abel Reinhardt. Es ging darum, ob man die Vergangenheit von der Zukunft her einholen konnte. Daher die Rennerei, daher der Schweiß auf dem Nasenrücken. Zögern darf kein Krieger, Scherben bringen Bauchweh. Eine dünne Frau stakste in Wolfs Gesichtsfeld. Ihre Schuhe waren grellgelb, zwei zerknautschte Pudel. Wolf dachte: Wozu bindet man sich Zitronenpudel an die Füße? Die Frau blähte ihr schmales Gesicht auf, als sie sah, wie Wolf auf sie zufiel. Wolf blieb keine Zeit zum Lachen. Er sprang zur Seite. Seine Tasche schwang nach rechts; ihr stumpfes Ende traf eine Flughafenangestellte. Die hatte gerade versucht, einen Rollstuhl aus einem Aufzug zu ziehen. Das Gerät mochte weder gezogen noch geschoben werden. Drin saß ein Mädchen, das in zwei Wochen siebzehn Jahre alt werden sollte. Die Augen des Mädchens guckten, als fänden sie das Leben mühsam, aber nicht uninteressant.

Die Flughafenfrau strauchelte, stöhnte: Der eingenähte Metallrahmen der Tasche hatte sie am Kinn unterhalb der linken Wange getroffen. Das Mädchen blinzelte. Die Rollstuhlräder stellten sich quer. Der Kopf der jungen Frau, die Nathalie Echle hieß, nickte in seltsamem Winkel nach vorne. In den Nasenlöchern steckten zwei Spitzen einer Gabel aus Plastik. Die Gabel saß auf einem dünnen meergrünen Schlauch, der zu einer teerschwarzen Flasche führte, aufgehängt an der rechten Armlehne des Rollstuhls. Die Flasche half Nathalie Echle beim Leben.

Die Uniformierte riss die Arme hoch und griff nach der Tasche, die ihr Feind war. Als die Tasche vorwärts- und nach rechts fiel, riss sie Wolf, der an ihr hing, mit sich auf den Rollstuhl. Der kippte nach links. Sein Servomotor brüllte die Räder an. Sie gehorchten nicht. Das Gerät fiel um. Nathalie Echle riss die Augen auf und öffnete den Mund zu einem klagenden Laut. Drei Personen stürzten mit dem Rollstuhl zu Boden.

Die Flughafenfrau ließ die Tasche los und warf sich japsend zur Seite. Wolf rollte damit rückwärts auf den Oberkörper des Mädchens. Schwache Arme versuchten, sich zu wehren. Wolf zuckte zusammen, schlug aus. Spürte fahrige Wedel auf der Stirn, lebende Schatten. Er schrie, atmete heiße Empörung. Eckig bewegt fand er auf die Knie. Jetzt traf ihn der linke Ellenbogen des Mädchens zwischen den Rippen: ein heftiger, spitzer Stoß, dicht überm Herzen. Seine rechte Hand wischte nach Nathalie; eine klatschende Ohrfeige traf sie. Ihre Rechte krampfte sich zur Kralle. Wut heulte aus dem Mund des Mädchens. Beide Hände flatterten hoch, wollten Wolf vertreiben. Ein Finger streifte sein linkes Augenlid.

Wolf antwortete mit einem Fausthieb. Er spürte mehr in diesem Kampf als nur sich und die Frau: einen Hund mit Dornenzähnen, die ihm an die Kehle wollten, und in der Frau steckte jemand Unmögliches, ein Feind, ein Teufel. Er sah ihn lachen, während sie schrie. Er sah ihn spucken, mit den Augen rollen und sich freuen, so dass Wolf brüllte: »Da! Da ist wer drin! Da ist einer! Steckt einer drin!«

Er und die junge Frau traten und trampelten. Aus der Plastikgabel, die nicht mehr in Nathalies Nase steckte, lispelten Flüche. Menschen bellten und fuchtelten, liefen zusammen. Eine Bedienung der Snackbar, Reisende, Flughafenpolizisten. Zu viele Arme und Beine verwirrten Wolf.

»In ihr drin! Einer drin!«, kreischte er in Todesangst. Jemand umfasste ihn von hinten, hob ihn von der Frau, deren Gesicht zur Maske gefroren war und deren rechtes Auge in Blut schwamm. Wolf fragte sich benommen: Wo kommt das her? Das Blut? Wer sind die Männer, die mich an die Wand drücken?

Es waren Sanitäter. Sie traktierten ihn mit gezielten Hieben, die ihn zwingen sollten, die Gegenwehr aufzugeben. Fragen zerbrachen ihm im Mund. Schockierte Zuschauer schimpften. Jemand bog Wolf die Arme auf den Rücken. Zwei Leute nahmen ihn in ihre Mitte, brachten ihn weg. Er fühlte sich undeutlich festgenommen, dann unverständlich verhört. Die Lampe, die ihm ins Gesicht schien, hatte keine Energiesparbirne. Er fand: Gäbe es Menschen, die auf einer Scherbe oder einem Messer tanzen können, bräuchten wir keine Götter. »In … in ihr ist … da ist …«

Speichel und Blut troffen ihm aus dem Mund.

»Einer … jemand … drin … der … der Böse …«

Ordnung brachte ihn zum Schweigen.

Im Korridor der Mainzer Landstraße nahmen kühlte Winde Fahrt auf. Zwischen den glatten Häuserfronten trat ein alter, seit Jahrzehnten unzufriedener Mann, Kurt Schulte, in ausgebleichten Jeans und hirschroter Wildlederjacke aus Regen und Dunkelheit. Vor dem Kiosk drückten sich Menschen herum. Kurt bat den Betreiber, der drinnen im Warmen stand: »Drei Feuerzeuge.«

»Kaffee?«, fragte der Mann. Seine Augen waren dunkler als sein Haar, das Haar war dunkler als der Bartschatten am Kinn, der Bartschatten wieder war dunkler als die Ringe unterm gutmütigen Blick. Kurt Schulte sah Menschen gern in Schwarzweiß. Er dachte: Ausländer.

»Drei Feuerzeuge«, wiederholte er.

Kurt hatte Duftkerzen daheim und wollte mit Geruch heizen.

»Okay«, sagte der Mann und hob eine Schachtel aus einem niedrigen Regalfach.

Da lagen bunte Feuerzeuge.

Er nahm ein grünes heraus. Kurt Schulte sagte: »Drei bitte. Drei Feuerzeuge.«

Ein Verwahrloster fiel von der Seite gegen ihn. Er hauchte gemeinen Atem. Kurt verzog den Mund. Federweich prallte der Penner von ihm ab, fing sich, stand unbestimmt anklagend da.

Wippend. Lästig. Auf seine Art lange tot. Der Kioskmensch nahm zwei weitere Feuerzeuge aus dem Karton. Kurt sammelte sie ein.

»Drei Euro.«

Kurt bezahlte. Er steckte die winzigen Flammenwerfer in die rechte Hosentasche, duckte sich neben dem Verwahrlosten weg und ging. Der Tote maulte ihm nach: »Was braucht denn … braucht denn der … denn da drei Feuerzeuge da … da denn?«

Kurt grollte beiden, dem Armen und dem andern: Der Ausländer, fand Kurt, hatte ihn schlecht bedient. Ich könnte, dachte er, mir daran selbst die Schuld geben, weil ich drei Feuerzeuge auf einmal haben will. Das versteht der nicht. Ich habe mich zwei Stunden lang geärgert, dass in meiner Wohnung kein Feuerzeug und kein Streichholz zu finden waren, dafür aber zwei Duftkerzen, auch sechs Teelichter.

Kerzen ohne Feuer, Suppe ohne Löffel, Deutschland ohne Führung. Der Zustand war ein Leben, wie die Sprache eins ist. Deshalb, so betete Kurt bei sich, ihr Völker der Welt, deshalb brauche ich das Gefühl, dass ich so viele Feuerzeuge kaufen kann, wie ich will.

Zwei wären zu wenige, vier zu viele. Das Entscheidende ist, dass der Ausländer das, was ich von ihm wollte, nicht gehört hat, weil er es sich nicht vorstellen konnte. Weil es nicht üblich ist. Ein Feuerzeug? Ein einzelnes? Das widerfährt ihm dauernd. Aber drei? Das will niemand. Die Leute werden von ihren Erfahrungen kommandiert.

Der scharfe Regen wurde zum eisigen Guss.

Falsche Götter starben schneller als echte Menschen.

»Also du heißt so wie eine Farbe?« Mit diesen Worten hatte Abel die neue Assistentin begrüßt: Cyan.

Sein Problem damals hieß Wirtschaftskrise. Cyan versprach, zu telefonieren.

Abel fing mit den Dreharbeiten an. Schnell gingen ihm alle am Set auf die Nerven: Der Kamerachef verbiss sich in seinen Operator, weil der etwas anderes sehen wollte, als jener sah. Der Elektriker trat sich selbst auf die Füße. Der Best Boy stolperte über Kabel, die es gar nicht gab. Der kleine Belgier an den Rollwägelchen wurde regelmäßig von seinen Drogen überfahren. Was waren das für Menschen? Woher kamen sie? Dummheit ist die Bosheit der Faulen, fand Abel.

Cyan Cerulean wusste, als er ihren Namen seltsam fand, sofort eine Erwiderung: »Yes. It’s a kind of blue. Like you.«

Von da an hörte er sie gerne sprechen. Ihr Deutsch war fehlerfrei, der Akzent britisch oder australisch, je nachdem, was Abel über ihre Herkunft gerade glauben wollte. Das kleine Gesicht, von lieblichster Bosheit, beglaubigte mit seinem Ich-kann-kein-Wässerchen-trüben-Lächeln alle Gerüchte, die Ceecee mit Underground-Pornographie und Schlimmerem in Verbindung brachten.

»Blue?«, fragte Abel.

»Cyan und Cerulean. Es sind Sorten von Blau. Aber dein Name, der ist auch lustig. Du bist der neue Lieblingsdeutsche in den Filmzeitschriften, right? ›Film Comment‹ und ›Sight and Sound‹ und so. Sie lieben dich, weil du so heißt: Abel Reinhardt. Denn Engländer und Amerikaner denken: Able, der kann was. Stimmt ja auch. I like your work. It’s … classy. Die Skripte. Deine präzisen Shot Lists und Kameradiagramme, so … genau, dass man sie nur … überfliegen … muss und die Augen zumachen. Schon läuft der Film im Kopf.«

Sie zeigte Zähne.

Er dachte: Sie flirtet.

Er sagte: »Du wolltest dir das also einfach mal ansehen, diesen Kritikerliebling?«

Sie sagte: »Ich will wissen, ist es nur Kunst? Kunst können heute alle. Oder do you mean business? Ich will dich, whattayacall … ernst nehmen.«

In ihrem Wort »Business« steckte ein Angebot. Man hatte ihm von ihren Verbindungen berichtet. Sie kannte Geldleute. Sie kannte Kunstleute. Sie hatte mit großen Namen gearbeitet, Assayas, Serebrennikov. Industrie, Leute von den Festivals, vom BFI: Cyan kannte alle. Alle kannten Cyan.

Er brummte: »Ich will, dass Leute den Film sehen und erleben können, die überhaupt keine Fantasie haben. Dass er selbst denen was gibt. Deshalb müssen wir ihn durchsetzen. Bezahlen, beschützen.«

»Then we have a deal«, sagte sie und gab ihm ihre kühle Hand.

Bald saßen sie gemeinsam im Dunkeln, um die Farbsättigung der ersten Szenen zu prüfen. Wände aus Nacht um sie saugten alle Zweifel auf.

Cyan sagte: »We’ll have funding in no time. Diese Gräser. Das ist wicked … böse.«

Frühe Chancen, gründlich verpasst.

Nasrin spielte in jenem Sommer noch mit Puppen.

Ihr Vater kaufte ihr Kinderzeitschriften, in denen alles rosa war, knallgrün oder sternstaubglitzernd. Nasrin pirãhani rã mikhãhad ke mesle yek ãieneh bãshad.

Wenn Nasrin lachte, hörte man Glöckchen. Wolf hatte keine Schwierigkeiten damit, Abels kleine Schwester zu mögen. Er gab ihr von seinen silbernen Stäbchen ab, als sie zu dritt auf der niedrigen Mauer saßen. In der Mauer steckten Glasscherben. Unter der Mauer wohnten Eidechsen, Ameisen, Käfer. Das war der trockene, italienische Urlaubssommer 1985.

Wolf und Abel hatten eben das Rauchen ohne Feuer und Tabak erfunden. Zu dritt hockten die Kinder auf dem westlichen Rest der anderthalb Meter hohen Umfassung des Vorhofs der Reinhardt’schen Villa. Die beiden Jungs trugen blasse T-Shirts, über den Knien schiefgefetzte kurze Hose. Die pre-teen princess neben ihnen schlackerte im gelbroten Kleidchen mit den Beinen. Madonnas »Into the Groove« pumpte Blut durch die Menschen. Das Stück hörte in diesem Sommer nie auf, ein Herz aus heißem Teer.

Nasrins Mutter Simin tanzte dazu ständig durch alle Räume, diese innen weiß verputzten, leeren Versprechungen ihres reichen Mannes, Tag und Nacht. Die Musik kam vom neuesten Spielzeug; es hatte hunderte von Mark gekostet und war die Zukunft; ein CD-Player.

Die jungen Leute auf der Mauer kamen sich reifer vor als die Mutter und ihre seltsame Freundin, eine Lehrerin, die Gundolf Reinhardt ebenfalls eingeladen hatte.

Die drei Erwachsenen wollten irgendetwas Unanständiges voneinander. Die Kinder spürten, dass die Verhandlungen darüber den ganzen Sommer dauern würden. Sie hatten recht.

Wolf, Abel und Nasrin vertrieben sich die Zeit mit etwas, das sie »neu Rauchen« nannten.

Die Wahrheit war: Sie saugten in Mineralwasser gelöstes Jodsalz aus kleinen, selbstgedrehten Zigarillos, deren Hülle weder Papier noch Tabakblatt war, sondern Aluminiumfolie. Sie sahen dabei aus wie Menschen in Filmen, die sie gesehen hatten: Abel glich Clint Eastwood in »Pale Rider«, Wolf ähnelte Mel Gibson aus »Mad Max III – Jenseits der Donnerkuppel«, und Nasrin wollte Carrie Fisher als Leia in »Die Rückkehr der Jedi-Ritter« sein – diesen Film, der im Weltraum spielte, hatte Nasrin letzte Weihnachten auf Video gesehen, mit den Jungs.

Das neue Rauchen war nicht echt, erhöhte aber die Schärfe der Selbstwahrnehmung hinter den Grimassen aus Filmen. Wolf war mit dem Karton Jodsalz angekommen, »wegen Schilddrüse«. Sein Vater sah streng auf die Ernährung des Sohnes. Zwischen dem fünften und dem zwölften Lebensjahr, der schwierigsten Zeit für die Familie Schulte, war Wolf nahezu ununterbrochen krank gewesen. Erst seit einigen Monaten pegelte sich sein Körper auf menschenübliche Zustände ein.

Als er Wolfs Salzschachtel sah, kam Abel die Idee mit den imaginären Zigaretten: Man riss ein kleines Plättchen von einer Rolle Alufolie, streute eine Linie drauf – auch das kam aus dem Kino, Vater Reinhardt hatte seinen Sohn vor kurzem in einen Film mitgenommen, in dem unter Exilkubanern in der Stadt Miami maßlos gekokst wurde –, und feuchtete diese Linie mit drei, vier Tropfen Mineralwasser an, bis eine weißliche, zähe Masse entstand.

Abel führte Regie: »Pass auf, du legst den Finger auf den Flaschenhals, so, machst ihn nass, richtig nass, hältst ihn über das Salz, lässt es abtropfen.«

Nach diesen Anweisungen drehte und krumpelte man ein Stäbchen zurecht, knickte es vorne ein, ließ es hinten offen, steckte es in den Mund und saugte: ziehende Glätte, scharfe Irritation. Nach fünf, sechs von den Dingern spürte man kleine Schnitte in der Zunge. Ohne derlei, wussten die drei, war’s keine Sucht: Vom Suff kriegte man Leberzirrhose, von Nikotin Lungenkrebs, vom Koksen zerfressene Nasenscheidewände, von den Aluzigarillos also Wunden in der Zunge.

Wölkchen wie Hasenfell nach Flintenschüssen trieben übern Hof, aus geplatzten, bläulich schwarzen Kapseln entwichen. Nasrins lange, glatte, braune Beine baumelten nervös. In Abels Oberlippenbartflaum perlte Schweiß.

Die harte Rötung in Wolfs Nacken und auf seinen Schultern fühlte sich wie eine Rüstung an: Er war ein außerirdischer Hummer. Überm Dach des Haupthauses, einem starren Alligator in Mauve aus Schindeln, stand die Sonne, die vorhin gelb gewesen war und später rot sein würde, in Pink umrandetem Beinaheweiß: Ewigkeit, nunc stans.

Auf eine Scherbe oder ein Messer gebettet träumte die dreifache Jugend von einer Welt, in der es spiegelnde Haut gab.

Kurt Schulte hatte beim Hausmeister geklingelt, der im selben Gebäude wohnte, zwei Stockwerke unter ihm. Der Hausmeister, ein Mann aus Kroatien, verwahrte einen zweiten Satz Schlüssel zu Kurts Wohnung. Kurt vertraute ihm und hatte nichts zu verbergen.

Der Hausmeister fuhr, erklärte er am Handy, leider noch in der Stadt herum, wegen Besorgungen. Er versicherte Kurt, er werde nicht länger als eine Dreiviertelstunde auf sich warten lassen. Kurt musste Zeit totschlagen. Zum Glück regte sich Hunger. Wäre der Abend bis dahin verlaufen wie geplant, säße Kurt längst bei Würstchen in Kartoffelsuppe vor dem Fernseher, von Duftkerzen umstunken.

Von der gegenüberliegenden Straßenseite rief der Kioskpenner nach Kurt. Der alte Mann lief ihm davon, auf der Suche nach Nahrung.

Zwei Blinde sehen noch weniger als einer.

Anna Steiger sah mit Ende zwanzig nicht grundsätzlich anders aus als mit neunzehn: drahtig, nicht dürr, hohe Wangenknochen, entweder platin- oder weizenblonder Bürstenschnitt, mal neun, mal nur sechs Millimeter lang, mit einem etwas längeren, aufgehellten oder rotgetönten Tintin-Spitz ganz vorn, drei Piercings (schlichte Stecker) in der rechten äußeren Ohrmuschel, hellblaue Augen, schlanke Hände, mitunter schwarz lackierte Fingernägel, viele Ringe, grobe Flanellhemden (bevorzugt mit Holzfällerkaros), bleiche Jeans, bequeme Turnschuhe, hin und wieder geschnürte, schwarze, halbhohe Stiefel. Die liebe Marion nannte Annas Aufmachung schlicht »die Uniform«.

Aber was wusste Marion?

Für eine längere Beziehung war sie »leider nicht lesbisch genug«, wie Anna das nannte, nach einem Zitat aus irgendeinem der vielen Bücher, die sie auswendig konnte.

Es wäre Anna nie eingefallen, sich davor zu fürchten, nicht originell zu sein. Sie nannte sich ganz selbstverständlich »lesbisch und links«, wo Leute wie Marion mit solchen Adjektiven Probleme hatten. Annas Bereitschaft, sich Gruppen zuzuordnen, war ein Zeichen des Selbstbewusstseins: »Ich sag zum Beispiel das mit dem links nicht, weil ich irgendwo dabei sein will. Sondern weil’s so ist. Weil ich’s bin, auch dann, wenn’s mal nervt, mich und die andern. Wenn ich ins Ausland fahre, sag ich ja auch, dass ich Deutsche bin, obwohl ich daran wirklich nix cool finde. Ist halt so.«

Das Gymnasium, in dem Anna zum Wort »links« fand, stand in einem Nest weitab vom Wichtigen. Antikriegsaktionen beim Besuch von Bundeswehröffentlichkeitsknechten, winzige Friedensdemos vor der Stadtbücherei, ein kleiner Schulstreik als Solidaritätssignal für einen Mitschüler, der wegen Ungezogenheit von der Schule verwiesen werden sollte, ein paar richtige Sätze an die richtigen Wände sprayen: links.

Präziseres Vokabular als »links«, »Scheißstaat« oder »die Kapitalisten« war zu diesen Zwecken im Kaff nicht erfordert, schon gar keine Abgrenzung gegen andere Linke. Zwar wusste Anna bald, teils aus persönlichen Begegnungen in größeren Städten, teils aus dem Netz und dem Medienangebot im nächstgelegenen linken Buchladen der nicht allzu weit entfernten Kreisstadt, dass der Planet des Linksseins allerlei einander nicht immer grüne Tierchen kannte: Antideutsche etwa, Maoisten oder Anhänger Leo Trotzkis.

Einer ihrer wenigen echten Freunde in der Oberstufe, »der schwule Georg«, wie er sich selbst nannte, gehörte erst zu einer sogenannten SDAJ, dann zur DKP, am Ende zu einer Strömung, die sich »DKP queer« nannte. »Das Wort queer«, seufzte er, »stört natürlich einige Genossen. Nicht, weil es für Homos steht. Sondern weil es englisch ist.«

Da sagte Anna: »Alle Macht kommt aus den Queerläufen.«

Im Wesentlichen waren sämtliche Leute im Kaff, die Anna mochte, schlicht Anarchisten, auch der DKPler. Der zog dann in die Hauptstadt, um dort Philosophie zu studieren.

Anna folgte. In Berlin ging es ihr zunächst darum, Milieus zu erforschen, kleine Zusammenhänge von Leuten, teils privat, teils von Sachinteressen sozialisiert: Organe organisieren. Die Clubs, queer und straight, der b-books-Buchladen und die Veranstaltungen dort, die Ladengalerie der jungen Welt, Demonstrationen, Kongresse – Rosa Luxemburg, Marx is muss –, die Kunstwelt und die Theaterszene zwischen DT, BE, HAU und Volksbühne: Was Anna damals »politisch« fand, hätte ihrem späteren Ich so wenig eingeleuchtet wie umgekehrt das spätere, stark an der Partei Die Linke orientierte Leben ihrem früheren Ich gefallen hätte. Noch Mitte 2004 erzählte sie einer Zufallsbekanntschaft, die sich zu den Grünen bekannt hatte, auf einer rotweinseligen Stehparty, die in einer sehr schönen Prenzlauer Altbauwohnung von Frauen veranstaltet wurde, die später der Zeitschrift »Missy« eng verbunden sein sollten, dass »Parteien generell Scheiße« seien: »Nee, diese … Repräsentation und Substitution, das Sprechen von Profis für Klienten«, das sei nicht bloß im Ostblock übel gewesen, wo diese »Scheißparteien sich als Scheißavantgarde der Scheißarbeiterklasse« inszeniert hätten und in Wirklichkeit »einfach ein Haufen fantasieloser Lehrertypen« gewesen seien, sondern »das ist immer verkehrt, jederzeit und überall«.

In diesem Lebensabschnitt lief sie, wie sie das später zusammenfasste, »die ganze Zeit mit dem ›Kontrasexuellen Manifest‹ unterm Arm rum. Das und Judith Butler und alles mögliche andere Zeugs, inklusive der Unvereinbarkeiten zwischen diesen ganzen Büchern, das war meine Antwort auf alles. Bis dann plötzlich das Manifest mal bei Harald Schmidt vorkam. Da war ich dann schon auf dem Weg zur Kreuzung, wo ich den Pfad der Komplizierten verlassen musste und zu den Verbissenen gewechselt bin.«

Für sich selbst konnte sie diese Kreuzung sogar als realen Ort an einem wirklichen Datum erinnern, »à la ›Paul Valérys Nacht von Genua‹«.

Es war eine Wahlparty am letzten Augustsonntag 2009, zu der Georg, damals ziemlich aktiv bei der Linkspartei, sie als DJane engagiert hatte, für eine Handvoll Euro.

Da stand sie, wippte und tänzelte, legte Rihanna auf und die Sugababes, CD statt Vinyl: gleich mehrere Ketzereien auf einmal. Während die komischen Linken immer besser draufkamen, der Erfolge im Saarland und in Thüringen wegen, fing Anna an zu schlängeln, gyrating, grinding, und Rihanna versprach: »But you’ll still be my star«.

Marion prostete Anna zu, im angeregten Gespräch mit einer Unbekannten und deren niedlichem Freund. Anna winkte zurück, berauscht wie selten, ganz ohne E und Koks, »when the sun shines we’ll shine together, told you I’ll be here forever«.

Marions Seitenblick wurde ein Lachen, weil sie den Text verstand.

Auf den ersten Track der »Good Girl Gone Bad Reloaded« ließ Anna das Allerderbste folgen, was sie dabeihatte: Bompobompobompobompo, Bodenzittern wie Haut auf Milch, wenn man gegen den Topf schlägt. »How obvious should a girl be«, sang Anna mit, und »I’ve been waiting patiently for him to come and get it«, unter lauter lieben Linken.

Schließlich verließ Anna ihren Platz an den Decks und hopste mit, sonst »you’re gonna miss the freak that I control«.

Runter damit! Whisky Cola!

Eine gute Stunde lang kehrte sie nur noch minutenweise an den Arbeitsplatz zurück, um zunehmend garstigeren Schmadder aufzulegen. Schließlich musste sie dringend abkühlen und ging mit Marion zum Rauchen vor die Tür. Georg stand da, mit zwei Jungs, in der Abendkühle. Der eine war ein Anhänger Maos, der andere ein Verehrer Trotzkis.

Zuerst ging es um die Zwischenresultate des Abends und die Aussichten, die sich daraus für die bevorstehende Bundestagswahl ableiten ließen.

»Wir sollten nicht zu arg jubeln«, sagte der Mao-Mann, »Saarland und Thüringen gut und schön, aber erstens sind auch die Nazis in Sachsen und Thüringen wieder dick dabei, und zweitens geht in dem ganzen Jubel unter, dass Kommunalwahlen in NRW waren, wo wir unter fünf Prozent geblieben sind, während diese rechtsradikale ›Bürgerbewegung‹ abgesahnt hat.«

Trotzkis Mann sah die Sache anders: »Aber gerade in NRW haben wir’s gut hingekriegt, mit Gewerkschaften, mit Wohlfahrtsverbänden, mit Leuten in den Stadtteilen und Betrieben, so hat’s jedenfalls die Esther erzählt. Es geht um so viele verschiedene Sachen dieses Jahr, auf so vielen Ebenen. 2009 ist der Moment, wo wir zeigen müssen, dass nicht das letzte bisschen Wasser und Strom und Nahverkehr einfach so privatisiert werden kann, dass man, wenn man auch nur in irgend so ’ner blöden Stadtregierung sitzt, für mehr Lohngerechtigkeit sorgen kann bei den paar städtischen Betrieben, dass man für Frauen was machen kann …«

Anna beugte sich interessiert vor, der Maoist gab ihr Feuer.

Georg witzelte: »Das kennt die Anna gar nicht. Die ist philosophische Fundamentalistin, die will gleich die feministische dekonstruktive Revolution statt erst mal Kitas und weniger Abstand bei den Löhnen …«

Nicht unfreundlich erwiderte sie: »Du, Georg, halt mal kurz die Fresse. Was glaubst du, warum ich heute Abend hier bin? Mir kommt das nämlich gerade heute so vor, wenn ich euch zuschaue und zuhöre, als ob hier was passiert, was ich … Na, ich und meine Unileute, wir reden viel von Kampf und so, aber ihr … nee, nicht dass du jetzt denkst, ich sag jetzt, ihr kämpft wirklich. Ist ja kein Kampf, das. Schießt ja keena. Aber ihr verbessert wenigstens die Bedingungen für den Kampf. Andererseits, hier in Berlin habt ihr euch nicht mit Ruhm bekleckert. Politikfähigkeit und Regierungsverantwortung und mitgestalten und konstruktiv und so shit.«

»Na jaaa«, bestätigte der Trotzkimann gedehnt, »das ist tatsächlich ’n Problem hier, dass dauernd alles in Richtung SPD ausverkauft wird. Ich darf das ja nun sagen, ich bin ja sogar Parteimitglied, im Gegensatz zu unserm Friedel«, er nickte in Richtung Mao, »der nur fleißig sympathisiert und … und damit übrigens, so viel Ehre muss sein, in seinem eigenen Zusammenhang, bei den Spinnern, ziemlich alleine dasteht. Es geht jetzt darum, für Leute, die vom Übergangsprogramm nach wie vor überzeugt sind«, das war eine Trotzki-Anspielung, die Georg für Anna später sorgfältig auseinanderfaltete, »nicht sektiererisch zu sein in dieser Riesenkapitaloffensive, in diesem Merkeldeutschland, in diesem War on Terror, in diesem Riesenfest des Kapi …«

»Des Imperialismus«, sagte der Maoist, »und deswegen sind wir im Moment eben nicht zuerst Maoisten oder Trotzkisten, sondern jetzt sind wir zuerst Sozialisten, die in einer Front …«, Anna zuckte innerlich zusammen, das war kein schönes Wort, aber bevor sie dazu etwas sagen konnte, grätschte der Trotzkianer dem Chinesen dazwischen: »Der Aufruf zur Aktionseinheit fällt dir natürlich leichter als anderen. Dein Maoismus ist ja weltweit eine absolute Randerscheinung geworden, seit die Partei in Beijing auf den Gorbatschow gekommen ist.«

Ohne Zorn fiel ihm Friedel ins Wort: »Musst schon entschuldigen, aber das ist jetzt natürlich wieder genau so eine typisch arrogant trotzkistische Metropolenbehauptung. Euch gab es immer nur in den reichen Ländern. Aber was ist denn zum Beispiel mit Indien? Die Naxaliten und die Kommunistische Partei dort, beide auf klarer maoistischer Linie, die sind stärker als je seit Ende der sechziger Jahre, und Indien ist ja nicht gerade die allerhinterletzte abgehängte Region, dahin wird outgesourct, dahin werden Computerjobs vergeben, von da werden Computerleute sogar hierhergeholt, alles voller Callcenter, mitten im Mittelalter. Und da gewinnt der Maoismus, wie du das nennst, oder der konsequente Antiimperialismus, wie ich das nennen würde, täglich dazu. Die Naxaliten kontrollieren seit Monaten den ganzen Lalgarh-Distrikt im Westen von Bengalen, das ist nur hundertfünfzig Kilometer weit weg von Kalkutta – sie kontrollieren ihn militärisch und sie kontrollieren ihn politisch …«

»Militärisch und politisch, du, komm mal wieder runter …«, lachte Georg trocken, aber Friedel schüttelte sich wie ein tanzendes Stachelschwein und sagte: »Klar, wollt ihr nicht hören, dass in anderen Gegenden der Klassenkampf noch lebt. Dann kommen wieder die Scheißsprüche, ›Marxismus gegen Maoismus‹, eure komischen Arbeiterpresseleute, kein einziger Arbeiter dabei …«

In diesem Moment bat Marion, die sich bis dahin abseits gehalten hatte, Anna um »bisschen Geld«.

»Willst du weiterziehen?«, fragte Anna, und Marion erklärte: »Dieser Jochen und seine Freundin wollen noch in so ’ne Erdbeerbar oder Brombeerbar oder wie se heißt, irgendwo anner Volksbühne hier, da gibt es wohl den Super White Russian, davon brauch ich jetzt noch zwei, drei von, dann kann ich dick schlafen.«

Anna nickte.

Sie gab Marion nicht nur zwanzig Euro, sie ging sogar mit.

Am nächsten Tag, in einem Café am Hackeschen Markt direkt unter der Bahn, erklärte Georg: »Arthur, der Trotzkimann, der wird in der Partei jetzt hoch gehandelt, weil … das ist alles bisschen kompliziert hier mit der Partei, aus der Trotzkiwelt kommen so einige, aber es gibt verschiedene Trotzkizirkel, das eine ist diese SAV, Sozialistische Alternative, die haben diese Zeitung, ›Solidarität‹, dann ›marx21‹, das hängt zusammen mit so Engländern, SWP, Socialist Workers Party, Alex Callinicos, kommt vom Tony Cliff her … das war denen ihr Theoretiker …, und dieses ›Marxismus gegen Maoismus‹, was der Friedel so beleidigt zitiert hat, das ist wieder ’ne andere Abteilung, die machen jetzt ein Heft namens ›Gleichheit‹ …«

»Too much information«, sagte Anna grinsend, dachte dabei aber: Das sind sie also, die Allerradikalsten, in deren Kreisen man dann aber zusammen mit anderen Linken, etwa solchen aus Georgs DKP, die er für die Linkspartei verlassen hat, auch mal einen Brief an einen Polizeipräsidenten schreibt, wenn Flüchtlinge im Knast umkommen, oder man geht zu Prozessen, wo Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner vor Gericht sitzen, weil sie die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit besetzt haben, eine Entwicklungshilfeorganisation, die mit der Bundeswehr zusammenarbeitet, oder man bringt Studien unter die Leute, per Flugblatt und Veranstaltungen, die belegen, dass die Kaufkraft der Durchschnittsbürger in der BRD auf einem Stand ist wie vor fünfzehn Jahren, und dass, und wie, daran das Kapital schuld ist.

Im Ernst, Kinder, dachte sie, das sieht doch gut aus, das wird mein neues Milieu, bevor ich in der »Queer-Gender-Diskurs-Ecke« (Marion) versaure.

Der Abschied von den komplizierten Büchern war freilich keiner für immer: Als sie acht Monate später Bildungsbeauftragte ihrer Ortsgruppe des SDS wurde, grub sie einige ihrer älteren Sachen wieder aus und unterzog sie, als inzwischen marxistisch geschulte Aktivistin, einer »sozialistischen Neulektüre«, bei der, wie sie erstaunt fand, »viele der Nuggets neu glänzen. Das ist alles gar nicht so dumm und auch nicht halb so reaktionär, wie unsere Betonköpfe meinen.«

Beim Wiederlesen eines Textes über die französische Anarchistin Florence Rey fielen ihr Sätze auf, in denen ein folgenreicher Entschluss versteckt war: »Die Tragik des Lebens der Florence Rey liegt darin, dass jemand, der so viel Hass und sexualisierte Projektion von Seiten der heteronormativen, politisch systemstützenden Medien auf sich zog, diesem sowohl vor wie nach der Nacht, in der sich ihr Leben für immer veränderte, nichts Systematischeres entgegenzusetzen wusste als Desperado-Schwärmerei und eine verzweifelte Bonnie & Clyde-Praxis. Man kann in den Großstädten der reichen Länder, nicht nur in Frankreich, viele solcher Menschen treffen. Sie sind das eine Ende eines Spektrums, an dessen anderem Ende sich etwa die theoretisierende Esoterik linker universitärer und universitätsnaher Gruppen als Zuflucht für eine Unzufriedenheit anbietet, wie sie Rey und ihren Freund Audry Maupin geplagt haben muss. Das, was zwischen diesen beiden aussichtlosen Punktet liegt, die Mühe der politischen Arbeit, die einen durch theoretische Debatte erweiterten Horizont sucht, und einer Theorie, die sich mit Praxis belastet, um nicht zur religiösen Übung zu verkommen, erreichen die wenigsten.«

Zu denen ich, erkannte Anna in diesem Moment, unbedingt gehören will.

Drei Tage danach begann sie ihren Blog.

Den nannte sie in Erinnerung an ihre Bekehrungsnacht »Komm mal wieder runter«.

Der Blog wurde das Protokoll eines Versuchs, sich das abzufordern, was »die wenigsten« erreichen. Ihre Florence-Rey-Arbeit stellte sie ins Netz. Einige der Kommentare, die sie daraufhin erreichten, waren wertvoller als jedes Buch, das sie je gelesen hatte.

Sie träumte fortan bei Sinnen und war so ein Spiegel, der lernte, wie man ein Messer wird.

Von 1998 bis 2006, acht lange Jahre, saß Wolf als Wieland Schulte in einem gottlosen Pfarrhaus fest. Die Gemeinde war etwas größer als die, aus der er zunächst nach Tübingen geflohen war, um dort alles über Gott zu lernen.

Immerhin gefiel ihm das Nest besser als die Großstadt Frankfurt, seine Zwischenstation, in der es ihm nicht gelungen war, sich auf der Suche nach seinem himmlischen Vater vor seinem leiblichen zu verstecken. Am Ende seiner Frankfurter Zeit war er sogar bei Kurt, seinem alten Herrn, eingezogen, der selbst erst seit kurzem dort lebte. Schließlich war die Ausbildung beendet, und Wolf wurde ins kleine Provinzpfarrhaus gebeten, wo er sich verschanzte, unterstützt und selbstlos geliebt von einer frommen Frau namens Anja Weirich. Acht Jahre war Wolf fortan damit beschäftigt, zu buchstabieren, was er glaubte: Ich bin nicht Abel. Abel ist nicht ich. Er geht drauflos, in dieser Dunkelheit, die uns als Welt umstellt, sieht sie als Tunnel. Mehr: Abel hat sich entschieden, dass es am Ende des Tunnels ein Licht gibt, während ich ein Licht nicht am Ende, sondern mitten im Tunnel gesehen, aber dann sofort verloren habe.

Hilft mir wer? Frau Weirich?

Kleine Gruppen füllten die breite Allee, zwischen deren regenglänzenden Häuserreihen hoch oben elektrisch sternbesetzte Banner wehten. In der Mitte der Banner hingen flexible Screens, auf denen Menschen originelle Weihnachtsfratzen zeigten, eben ins Netz hochgeladen. Abel schaute hoch: Die Fratzen waren doof, aber ungefährlich.

So mochte er die Gattung Mensch.

Er ließ sich Zeit mit seinem Weg vom Fluss zum Hotel. Alle fünf Meter gratulierte er sich selbst nach einem weiteren Blick auf die Visagen oben innerlich dazu, dass er »Wald statt Bäumen« digital aufgenommen hatte, obwohl die Mittel bereitgestanden hatten, den Film auf altmodischerem Material zu fotografieren. Chemische Bildträgerei, fand er, war nicht mehr wahr: Die Welt leuchtet jetzt so wie diese Screens zwischen den Dächern.

Abels Sohlen quietschten. Der ganze Bürgersteig stand von der Mittagssintflut her noch unter Wasser. Die neuen Schuhe waren nicht recht dicht.

In den Fenstern zum HMV, den Spiegeln der Auslagen der Modehäuser, den Windschutzscheiben der Autos sah Abel neben sich die Figuren seines Films gehen und ihm zunicken: zwei Männer, eine Frau.

Sie sahen nicht direkt aus wie die Schauspieler und die Schauspielerin, die Ceecee gecastet hatte; die Figuren aus »Wald statt Bäumen« wirkten in den Spiegelräumen reiner, echter, eben so, wie die drei aus dem Drehbuch ausgesehen hätten, wenn man ihnen wirklich begegnet wäre: Steckbriefe aus einer Welt der denkenden Gräser.

Abel betrat einen Schnellasiaten am Oxford Circus. Eine Currywolke biss ihm fast den Kopf ab. Vor Appetit musste er husten. Guter Hochmut hielt ihn aufrecht. Er bestellte und bekam fürchterlich Heißes. Alle Kameras sind Abkürzungen für die Linse in meinem Eigensinn, dachte er und zwinkerte sich im Spiegel hinterm Getränkeschrank zu. Man kann die verschiedenen Szenen auf unterschiedlichste Art ineinanderschieben oder auseinander hervorgehen lassen, solange man nur das Grundprinzip nicht vergisst, das hinter allem am Werk ist. »Auf … unterschiedlichste Art?«, hatte Ceecee nachgefragt, als er ihr das zum ersten Mal erzählt hatte. Abels Antwort: »Harte Schnitte zum Beispiel schätze ich gar nicht. Das ist wie ein Absatz, oder eine Leerzeile, in einem Text. Das geht mir gegen das Grundprinzip, Ceecee. Besser sind Auflösungen ins Verschwommene, aus denen eine neue Szene sich dann schälen darf. Auch gut sind Fades, wenn alles verblasst und dann wieder Kontur kriegt. Noch günstiger sind natürliche Wipes, bei Hitchcock gibt’s die oder bei Jacques Tourneur, wenn ein Auto in die Einstellung fährt oder die Figur an ein Gebüsch kommt. Es wird dunkel, der Blick schiebt sich dran vorbei und wir sind in der neuen Szene – andere Stadt, andere Figuren, andere Notlage, alles, wie gesagt, immer untertan dem Grundprinzip.«

Ceecee gähnte, fächerte sich Luft zu, fragte: »Und was, pray tell, ist dieses Grundprinzip?«

Abel, unbescheiden: »Wir glauben nicht, was das schlechte traditionelle Erzählen glaubt. Dass man die Sachen auf eine Perlenschnur gezogen kriegt. Das Grundprinzip ist: Ein Nacheinander gibt es nicht. Niemals.«

Abel dachte an den Österreicher und war Nasrin dankbar dafür, dass sie den Kontakt zu diesem merkwürdigen Mann hergestellt hatte. Der Österreicher hatte Abels Film zugleich gerettet und zerstört. Ein Mann der verborgenen Ordnung, wie Abel selbst: Aussehen darf alles gern chaotisch, aber Chaos darf nicht die Wahrheit der Sache sein. Krümel im Mantel, Daten auf Sticks oder auf SD-Karten. Münzen im Fluss. Was hat dich geblendet, eine Scherbe oder ein Messer?

Kurt Schulte wusste, dass die Zeit bis zur Rückkehr des Hausmeisters nur für einen knappen Ausflug reichte. Er ging über die Straße zur Brücke an der Galluswarte, fuhr frierend die Rolltreppe hoch und war zufrieden, als im selben Moment ein Zug eintraf. Er ließ sich zum Bahnhof fahren und überlegte, als er in der Unterführung vor der geschlossenen Apotheke stand, wo er um diese Zeit, an diesem feierlich albernen Tag, umgeben von bereits Betrunkenen, die den alljährlichen Knallkörperquatsch kaum erwarten konnten, etwas zu essen suchen sollte. An einer der schmutzigsten Wände des zugigen Komplexes stand ein Pizza-Automat. Die Leute, die grölend und gestikulierend daran vorbeigingen, beachteten ihn nicht. Nach Münzeinwurf und Wahl erlebte Kurt, dass sich seine Laune unerwartet besserte. Auf einmal gefiel ihm überhaupt alles: Das Plastikbesteck wollte er behalten, die Silberfolie auf dem Pappkarton glitzerte hübsch und die Pizza schmeckte genau richtig, nicht zu fettig, ein bisschen scharf – besser als im Restaurant, dachte Kurt.

Da summte sein Handy, um ihm mitzuteilen, dass man seinen einzigen Sohn am Flughafen verhaftet hatte.

Auf dem Flüssigkristallschirm wunderten sich gütige Augen über ein schwer verständliches Leben. Die grauen Wangensäcke und das leicht vergilbte Gesicht des Österreichers erinnerten an einen klugen Lurch. Aus winzigen Boxen hörte Abel die warme, raschelnde Stimme des Österreichers: »Alan Turing, Sie werden’s kennen, erfand eine Probe, ob das, was da jeweils mit mir redet, a Mensch is. Das heißt, er erfand sie nicht, er fantasierte sie, denn er hat sie nie genau genug beschrieben, geschweige formalisiert. Na fein« – gesprochen, mit Olivenöl auf der Zunge: fain – »das haben wir dann gemacht, geheim, nicht. Es formalisiert. Wir hatten unsere eigenen Gründe, unsere bösen Vermutungen, was dabei rauskommen müsste. Nun gut, und es ist ja dann auch dabei herauskommen … schaun’s, das Ergebnis war, woran sich bitte auch kaaner stoßen muss: Es gibt eh längst eine Menge Automaten, Programme, nicht, die den Test bestehen. Es hat nur noch keiner gemerkt, kaaner ausprobiert … es hatte ja auch niemand unseren Formalismus. Bitte, der war nicht-deterministisch, no? Der war im strengen Sinn kein Algorithmus – das war der Dreh, wir ham’s formalisiert, und es war oba kein Algorithmus, trotzdem. Ich verrat’s nicht, wie das sein kann, dös san … das sind komplizierteste … G’schichten. Es wird ohnehin nicht veröffentlicht, denn … es kam ja noch schlimmer.«

Abel zoomte auf den milden Blick. Man sah geplatzte Äderchen in den Augäpfeln, Cirren in der Pupille. Indirekte Himmelsbilder. Abel dachte daran, wie sehr er Spiegel liebte, während die weiche Stimme fortfuhr: »Wir haben dann noch was ausprobiert, nicht, und da wurd’s also richtig schlimm … Wir haben’s an ein paar Menschen getestet, unsern Einfall. Und es stellte sich raus … es war’n gar nicht so wenige, schöne dreihundert, fünfhundert Personen, und sie ham’s nicht bestanden, leider. Fad, aber was kannst machen? Nicht unerwartet – also, die Menschen san keine Menschen mehr, schaun’s, aber dafür ham ein paar Automaten – und das muss man gar nicht dramatisier’n, bitte, also ich hab sehr gute Freunde, das sind Bücher oder Schallplatten, warum nicht? Die haben es bestanden. Guat. Das is nicht neu, dass Automaten und Sachen manchmal klug sind und wir oft dumm. Aber dass man’s jetzt beweisen kann … das geht dann doch in sehr tiefe Schichten. Ist das berechenbar, wann jemand eine Person wird? In welcher Zeit? Ich denk mir: P versus NP, das wolln’s ja alle wissen. Das ist die Frage: Is es schwieriger, eine Lösung für ein Problem zu finden, als zu beweisen, dass die gefundene Lösung wirklich eine is? Man meint, das wär so. Aber beweisen’s das amal. Vielleicht können Ihre denkenden Gräser das ja, wer weiß … in Ihrem Film, nicht. Aber es is a Kontinuum, da gibt’s keinen Zweifel, es is ein und dieselbe Soch’n, das Gras, die Biacher, die Menschen, die Computer. Und wieso das so is, dös is bittschön nix zum Rechnen. Das miassn’s an Philosophen frag’n. Ich kann’s Ihnen nur einschärfen. Galen Strawson, fahren’s hin, interviewen’s nicht mich, fragen’s den Mann: Galen Strawson. Das is aaner, also … so was gibt’s selten, der vielleicht noch klüger is als der Vatter, der war auch schon kein Dummer. Aber der Sohn, der hat die Antwort für Sie. Galen Strawson. Glauben’s mir, und grüßen’s ihn. Galen Strawson. Guater Mann.«

Als Nasrin genug hatte vom kratzenden Sand, von den lästigen Möwen und dem Konkurrenzgehabe der Jungs beim Volleyball, stand sie auf: »Ich geh jetzt duschen!«

Die in der stehenden Hitze hartgebrannten Dünen leuchteten knallgelb.

Die neue Symmetrie zwischen den Jungs nahm Abel und Wolf jede Lust am Ballspiel. Der blonde Perser legte sich aufs Handtuch. Wolf trat ans Meer und schaute hinaus, ergriffen vom unklaren Zusammenhang zwischen dem dunkelgrünen Wasser und dem hellblauen Himmel. Er spürte, ohne es zu verstehen, wie winzige Salzmengen sich aus den Wellen lösten und von den Winden in die Höhe getragen wurden, wo sie kleinste Spiegelgebilde in der Luft formten. Etwas in ihm war wie feingemahlenes Salz, wollte sich forttragen lassen. Dann warf Abel plötzlich mit dem Ball, der aber Wolfs Rücken verfehlte und in die weiße Gischt schlug.

»Was soll’n das, du Arsch?«, schrie der auf die Erde Zurückgestoßene.

Es war eher Jubel als Vorwurf.