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Alexander Solschenizyn

Ein Tag im Leben des

Iwan Denissowitsch

Erzählung

Herbig

Deutsch von Wilhelm Löser, Theodor Friedrich,
Ingeborg Hanelt und Eva-Maria Kunde

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www.herbig-verlag.de

© für die Originalausgabe: 1969 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für das ebook: 2015 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7766-8247-2

Statt eines Vorworts

Der Solschenizyns Erzählung zugrunde liegende, aus dem Leben gegriffene Stoff ist in der Sowjetliteratur ungewohnt. In ihm spiegeln sich jene schmerzhaften Erscheinungen in unserer Entwicklung, die mit der von der Partei schonungslos bloßgelegten und verurteilten Periode des Personenkults in Zusammenhang stehen, die uns, obwohl uns nur eine kurze Zeit von ihr trennt, als ferne Vergangenheit erscheint. Für die Gegenwart jedoch ist diese Vergangenheit – wie sie auch gewesen sein mag – niemals gleichgültig. Die Gewähr für einen vollständigen und endgültigen Bruch mit all jenem in der Vergangenheit, was sie verdüstert hat, liegt darin, daß wir ihre Folgen bis zum letzten ergründen. Eben davon sprach N. S. Chruschtschow in seinem für uns alle denkwürdigen Schlußwort auf dem 22. Parteitag: »Es ist unsere Pflicht, derartige Angelegenheiten, die mit dem Mißbrauch der Macht zusammenhängen, sorgfältig und allseitig zu klären. Die Zeit wird kommen, da auch wir sterben, denn wir alle sind sterblich. Aber solange wir arbeiten, können und müssen wir vieles klarstellen und der Partei und dem Volk die Wahrheit sagen … Dies muß getan werden, damit sich derartige Erscheinungen niemals mehr wiederholen.«

»Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« ist nicht nur ein Dokument im Sinne von Memoiren, hier liegen nicht nur Aufzeichnungen vor oder Erinnerungen an persönliche Erlebnisse des Autors, obwohl nur das persönlich Erlebte dieser Erzählung eine derartige Glaubwürdigkeit und Echtheit verleihen konnte. Es ist auch ein Kunstwerk, und gerade kraft der künstlerischen Beleuchtung dieses aus dem Leben gegriffenen Stoffes ist es ein Dokument von besonderem Wert, ein Dokument für eine Kunst, die man auf Grund dieses »spezifischen Materials« bisher kaum für möglich hielt.

Der Leser wird in der Erzählung Solschenizyns keine alles umfassende Darstellung jener historischen Periode finden, die insbesondere durch die bitteren Erfahrungen des Jahres 1937 fixiert wird. Der Inhalt beschränkt sich naturgemäß auf die Zeit, den Handlungsort und den Gesichtskreis des Haupthelden der Erzählung. Aber ein Tag im Leben des Lagersträflings Iwan Denissowitsch Schuchow wächst unter der Feder Solschenizyns, der erstmals literarisch hervortritt, zu einem Bild, das mit einer ungewöhnlichen Lebendigkeit und Glaubwürdigkeit der menschlichen Charaktere gemalt ist. Hierin liegt vor allem die Stärke des Werkes, das einen selten nachhaltigen Eindruck hinterläßt. Viele der hier in der tragischen Rolle von »Sträflingen« gezeichneten Menschen kann sich der Leser auch in einem anderen Milieu vorstellen: an der Front oder auf den Baustellen der Nachkriegsjahre. Es sind die gleichen Menschen, die kraft der Umstände in besondere, extreme Bedingungen harter physischer und moralischer Prüfungen hineingestellt wurden.

Diese Erzählung enthält keine vorsätzliche Verdichtung der furchtbaren Fakten von Grausamkeit und Willkür, die eine Folge der Verletzung der sowjetischen Gesetzlichkeit waren. Der Autor wählte einen der gewöhnlichsten Tage des Lagerlebens vom Wecken bis zum Zapfenstreich zum Thema. Gleichwohl muß dieser eine »gewöhnliche« Tag im Herzen des Lesers Bitterkeit und Schmerz über das Schicksal von Menschen auslösen, die in der Erzählung als lebendig und nahe vor ihm stehen. Der zweifellose Erfolg des Künstlers aber ist darin zu sehen, daß diese Bitternis und dieser Schmerz nichts mit dem Gefühl eines hoffnungslosen Geknechtetseins gemein haben. Im Gegenteil, dieses Werk, das durch eine derart ungewöhnliche, ungeschminkte und schwierige Wahrheit beeindruckt, befreit gleichsam die Seele von der Unaussprechlichkeit dessen, was gesagt werden muß, und festigt gleichzeitig in ihr den Mut und edle Gefühle.

Diese harte Erzählung ist ein weiteres Beispiel dafür, daß es keine Sphären oder Erscheinungen der Wirklichkeit gibt, die in unserer heutigen Zeit aus dem Schaffensbereich des sowjetischen Künstlers ausgeklammert oder einer wahrheitsgetreuen Darstellung nicht zugänglich wären. Alles hängt davon ab, über welche Möglichkeiten der Künstler selber verfügt.

Und diese Erzählung läßt noch eine weitere einfache und lehrreiche Schlußfolgerung zu: Ein wirklich wesentlicher Inhalt, die Glaubwürdigkeit einer großen Lebenswahrheit, die tiefe Menschlichkeit beim Herangehen an die Darstellung selbst der schwierigsten Themen muß auch eine entsprechende Form hervorbringen. Sie ist hier gerade in ihrer Alltagsdiktion und äußeren Schlichtheit prägnant und eigenständig. Sie kümmert sich am allerwenigsten um sich selber und ist deshalb voll inneren Wertes und innerer Kraft.

Ich möchte mit meiner Begeisterung für dieses dem Umfang nach kleine Werk dem Urteil des Lesers nicht vorgreifen, obwohl es für mich außer Zweifel steht, daß es einem neuen, eigenwilligen und durchaus reifen Meister Eingang in unsere Literatur verschafft.

Möglicherweise wird die – im übrigen durchaus maßvolle und zweckentsprechende – Benutzung gewisser Wörter und Redensarten jenes Milieus, in dem der Held seinen Arbeitstag verbringt, bei einem besonders anspruchsvollen Geschmack Einwände hervorrufen. Im ganzen aber gehört »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« zu jenen literarischen Werken, denen wir nach der Lektüre von ganzem Herzen wünschen, daß unser Gefühl der Anerkennung auch von anderen Lesern geteilt wird.

Alexander Twardowskij

Chefredakteur der Zeitschrift ›Nowyj mir‹