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Über dieses Buch

Geheimnisvolle Wölfe warnen Jessica vor einer großen Gefahr. Am nächsten Tag ist Doug Winslow verschwunden, der Verlobte ihrer Mutter Emily. Die Polizei vermutet Selbstmord, doch das können Emily, eine erfahrene Polizistin, und Jessica nicht glauben. Zusammen folgen sie seinen Spuren bis in den hohen Norden Kanadas. Dabei kreuzen sie die Wege der gespenstischen Wölfe und eines gefährlichen Killers …
Gefährliche Spannung vom Meister der Romantik im hohen Norden

Vollständige E-Book-Ausgabe der 2014 in der Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin,
erschienenen Buchausgabe

1

Das Schneetreiben war heftiger geworden. Dichte Flocken wirbelten im Scheinwerferlicht ihres Wagens und klatschten gegen die Windschutzscheibe. Weder der Mond noch die Sterne waren zu sehen. Die Fichten zu beiden Seiten des Highways schimmerten als dunkle Schatten durch das Flockengestöber.

Obwohl Jessica den Highway 20 unzählige Male gefahren war, fiel es ihr heute schwer, sich zurechtzufinden. Der gelbe Mittelstreifen war längst nicht mehr zu erkennen, und die Begrenzungspfosten, die alle hundert Meter aus dem Schnee ragten, waren ihre einzige Orientierungshilfe. Es gab keine Straßenlampen. Sie war allein auf der Straße, nicht mal ein Truck kam ihr entgegen. Das Brummen des Motors war das einzige Geräusch in der scheinbar grenzenlosen Wildnis.

Noch zwanzig Kilometer bis Kleena Kleene, schätzte sie, ein winziges Dorf, das man auch bei schönem Wetter leicht übersehen konnte. Dort wohnte ihre Mutter in einem Blockhaus abseits der Straße. Emily Barnett war Constable bei der Royal Canadian Mounted Police. Ein Job, der für Jessica nicht infrage kam, außerdem wollte sie in einer Stadt leben und nicht ewig in der Abgeschiedenheit von Kleena Kleene. Seit zwei Jahren besuchte sie nun die Hotelfachschule in Vancouver. Ihr Traum war es, als Drei-Sterne-Köchin in ihrem eigenen Restaurant zu arbeiten.

Sie beugte sich nach vorn, um besser sehen zu können, und hielt das Lenkrad mit beiden Händen. Die Scheibenwischer kämpften verzweifelt gegen den feuchten Schnee. Nur gut, dass sie den Wagen genommen hatte, die kleinen Maschinen der Chilcotin Air konnten bei diesem Wetter bestimmt nicht in Anahim Lake landen. Das Schild einer Lodge tauchte am Wegesrand auf. Noch achtzehn Kilometer. Wenn sie sich beeilte, würde sie pünktlich kommen. Die Christmas Partys ihrer Mutter gehörten zu den Höhepunkten des Jahres, und sie freute sich darauf, die alten Freunde und Bekannte wiederzutreffen.

Sie passierte die Abzweigung zu einem der zahlreichen Seen und nahm unwillkürlich den Fuß vom Gas. Hier war es gewesen, ein paar Kilometer die Schotterstraße hinab, am See entlang und querfeldein bis über die abgeholzten Hügel zum McLinchy Creek. Dort war sie den weißen Wölfen zum ersten Mal begegnet. Sieben geheimnisvolle Wesen, die mit gefletschten Zähnen aus dem Schneetreiben getaucht und wenige Augenblicke später wieder verschwunden waren.

»Wölfe zerfleischen Bankräuber« hatte einige Tage später in der Williams Lake Tribune gestanden. Jessica erinnerte sich noch an den genauen Wortlaut des Berichts: »Jessica Barnett, der Tochter von Constable Emily Barnett, bot sich ein Bild des Schreckens. Im Schnee lag die blutüberströmte Leiche des Bankräubers. Die Polizei vermutet, dass der flüchtige Verbrecher vor Erschöpfung zusammengebrochen und von einem hungrigen Wolfsrudel getötet worden war. Die Leiche war beinahe bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.« Kein Wort darüber, dass er sie mit einem Revolver bedroht hatte, und nicht der geringste Hinweis, die Wölfe könnten ihr das Leben gerettet haben. Nicht einmal der Reporter der Tribune, sonst stets nach einer Sensation gierend, hatte ihr die Geschichte abgenommen.

Jessica erschauerte, als die Wölfe in ihre Gedanken zurückkehrten. Zwei Jahre war das nun her, und sie hatte die Begegnung noch so lebhaft vor Augen, als wäre sie erst gestern passiert. Die Wölfe, wie sie mit gefletschten Zähnen und funkelnden Augen vor dem zitternden Bankräuber standen, als wollten sie ihm noch einen letzten Atemzug vor seinem Tod gönnen. Wie sie sich gierig auf ihn stürzten und ihm kaum noch Zeit blieb, einen Schrei auszustoßen, bevor ihm der Anführer die Kehle durchbiss. Nie würde Jessica den Blick vergessen, den ihr der Wolf zum Abschied zuwarf. Ein triumphierender Blick, der ihr wohl sagen sollte: »Hab keine Angst, er ist tot!«

Sie kniff die Augen gegen die tanzenden Flocken zusammen. Links vom Highway hoben sich die Gebäude der Halfway Ranch dunkel vom Schnee ab. Doug Winslow, der ehemalige Vormann und jetzige Besitzer, war sicher schon auf der Christmas Party. Seitdem sie ein Paar waren, versuchte ihre Mutter, ihn zur Hochzeit zu überreden, und der Rancher setzte alles daran, sie zur Aufgabe ihres Jobs und zum Umzug auf die Ranch zu bewegen, beide vergeblich. Doug hatte große Angst, sich zu binden, und ihre Mutter war überzeugte Polizistin.

Jessica blickte auf die Uhr am Armaturenbrett. Bereits zehn nach sieben, die Party war sicher schon im vollen Gange. Sie hatte vor zwei Stunden zu Hause angerufen und ihrer Mutter gesagt, dass sie spät dran war. »Lass dir Zeit, Jess«, hatte ihre Mutter geantwortet, »das Wetter hier spielt wieder mal verrückt.«

Vor ihr tauchte ein Hindernis aus dem Schnee. Sie glaubte einen wütenden Elch zu sehen, der mit den Vorderhufen hochstieg und bedrohlich über der Kühlerhaube ihres Wagens auftauchte, als die Scheinwerfer eine Straßensperre erfassten. »Bauarbeiten – Umleitung« stand auf dem großen Schild vor dem Metallgestell. Sie trat erschrocken auf die Bremse, umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Der Wagen geriet ins Schleudern und rutschte über die schneebedeckte Straße. Mit einem lauten Scheppern prallte er gegen die Absperrung und schob sie etliche Meter über den festen Schnee. Wenige Meter vor dem Straßengraben blieb er stehen.

Jessica blieb eine Weile sitzen und starrte mit leeren Augen in das Schneegestöber. Sie fluchte leise. Erst nachdem sie ein paarmal durchgeatmet hatte, schlüpfte sie in ihren Anorak und zog die Handschuhe an. Sie öffnete die Tür und stieg aus. Eisige Kälte schlug ihr entgegen. Anstatt zu weinen oder in Panik zu geraten, wie es andere in ihrer Situation getan hätten, ging sie um den Wagen herum und schob die Absperrung in die Mitte der Straße zurück. Sie schimpfte auf die Bauarbeiter, die es verabsäumt hatten, eine Warnlampe an der Absperrung zu befestigen. Normalerweise hingen rote Lampen an dem Gestell.

Seltsam, dachte sie, als sie wieder in den Wagen stieg und die Handschuhe abstreifte, seit wann reparieren die im Winter die Straße? Vielleicht der Räumdienst, beruhigte sie sich. Sie steuerte den Wagen zurück und folgte der Umleitung in den Wald. Auf dem Feldweg, der durch den dichten Fichtenwald führte, waren die breiten Spuren des Räumfahrzeugs deutlich zu erkennen.

Sie schaltete den Allradantrieb ein und drückte vorsichtig aufs Gaspedal. Mit aufheulendem Motor gruben sich die Räder durch den Schnee. Sie trieb den Wagen einen Hügel hinauf, wich einigen herabgestürzten Ästen aus und erkannte erleichtert, dass die Schneedecke unter den Bäumen wesentlich niedriger war. Das Scheinwerferlicht tauchte die Fichtenstämme in unheimliches Licht und blitzte auf dem jungfräulichen Schnee. Sie kannte den Weg, war ihn viele Male mit dem Snowmobil und dem Hundeschlitten gefahren. Er führte ungefähr zwei Kilometer in den Wald hinein, bog dann nach Westen ab und wand sich über einige Hügel auf den Highway zurück. Auf den Hügeln gab es kaum Bäume und der Schnee lag bestimmt meterhoch. Wie man in dieser abgelegenen Gegend mit einem normalen Wagen weiterkommen sollte, war ihr ein Rätsel. Selbst mit ihrem Geländewagen würde sie Schwierigkeiten haben.

Dennoch fuhr sie weiter. Wenn die Straße nicht passierbar wäre, hätte die Polizei den Highway komplett gesperrt und auf eine Umleitung verzichtet. Ihre Mutter hätte ihr Bescheid gesagt, und Doug oder einer seiner Cowboys hätte sie mit dem Snowmobil abgeholt. Sie driftete nach links und steuerte vorsichtig auf den Feldweg zurück. Auch in der Stadt hatte sie nicht vergessen, wie man einen Geländewagen fuhr. Carrie, ihre neue Freundin, wäre längst verzweifelt und hätte weinend aufgegeben. Carrie war nie aus Vancouver rausgekommen und kam sich bereits im Skigebiet am Mount Whistler wie in der Wildnis vor.

Wie zum Beweis, dass auch Jessica nicht gegen alle Gefahren gefeit war, rutschte der Wagen erneut vom Feldweg und blieb in einem Erdloch stecken. Leise fluchend schaltete sie in den Rückwärtsgang und trat vorsichtig aufs Gaspedal. Nur widerwillig löste sich das Rad aus dem Loch. Sie lenkte den Wagen rückwärts auf den Feldweg zurück, blieb eine Weile stehen und schob den Schalthebel nach vorn. Ausgerechnet am Heiligabend und nur wenige Kilometer vom Haus ihrer Mutter entfernt musste so etwas passieren.

Langsam fuhr sie weiter. Im Schritttempo kroch sie über den holprigen Feldweg, beide Hände am Lenkrad und immer darauf gefasst, erneut den Halt zu verlieren und im Graben zu landen. Nach einer Weile verschwanden die Spuren des Räumfahrzeugs und vor ihr lag unberührter Schnee. Anscheinend waren die Schilder erst vor Kurzem aufgestellt worden und sie war als Erste auf diesem abgelegenen Trail unterwegs. Unter den ausladenden Fichten war es noch dunkler als auf dem Highway und sie war dankbar für die hellen Zusatzscheinwerfer auf dem Dach. Sie hatte keine Angst. Ihr Blick folgte den Scheinwerfern, die sich mühsam einen Weg durch die Bäume zu bahnen schienen, und blieb an einer dunklen Gestalt hängen, die sich als unruhiger Schatten gegen den hellen Schnee abzeichnete. Sie war in einen langen Mantel aus Wolfsfell gehüllt, trug eine Fellmütze, unter der zwei lange weiße Zöpfe hervorschauten, und blickte neugierig zu ihr herüber. Eine Frau, glaubte Jessica, eine greise Indianerin, die ihr vertraut vorkam. Sie hielt den Wagen an, blendete die Scheinwerfer auf, um besser sehen zu können, doch die Gestalt war verschwunden, und im Licht ihres Wagens war lediglich ein Kaninchen zu erkennen, das reglos im Schnee verharrte und dann in wilden Zickzacksprüngen im Wald verschwand, als sie das Fernlicht ausschaltete.

Jessica rieb sich ungläubig die Augen. Sie hätte schwören können, dass eben noch die alte Frau zwischen den Bäumen gestanden hatte. Kopfschüttelnd fuhr sie weiter. Anscheinend hatte sie zu lange hinter dem Steuer gesessen. Sie war seit dem frühen Morgen unterwegs und hatte nur einmal an einer Tankstelle gehalten und im benachbarten Imbiss einen Hamburger gegessen. Kein Wunder, dass ihre Augen allmählich ermüdeten. Sie konzentrierte sich auf den Feldweg. Nur noch ein paar Kilometer, sagte sie sich, dann habe ich es geschafft. Ihre Mutter hielt bestimmt eine heiße Schokolade für sie bereit, und wie jeden Heiligabend würde es gebackenen Lachs im Blätterteigmantel geben, mit Rosmarinkartoffeln und Gemüse, und als Nachtisch ihren leckeren Apfelkuchen mit Rosinen.

Der Wald hörte auf und der Weg bog scharf nach Westen ab. Wie die Wellen eines erstarrten Ozeans ragten die Hügel aus dem Schnee. Von einer Sekunde auf die andere war sie wieder von Schneeflocken umgeben. Die Flockenwand kam so plötzlich, dass sie das Lenkrad verriss und ihr Wagen nach rechts ausbrach. Nur ein riskantes Manöver brachte sie in die Spur zurück. Sie hielt an, wartete mit geschlossenen Augen, bis ihr Herz wieder normal schlug, und berührte vorsichtig das Gaspedal. Die Räder gruben sich mit aufheulendem Motor in den Schnee hinein. Sie mahlten ein paar Umdrehungen auf der Stelle, schossen plötzlich nach vorn und kämpften sich durch die tiefen Schneewehen.

In den dichten Flocken, die wie Sternschnuppen in der Dunkelheit funkelten, fand Jessica sich kaum noch zurecht. Es gab keine Begrenzungspfosten mehr, die ihr den Weg wiesen, und die einzige Helligkeit kam von den Scheinwerfern ihres Wagens, die flackernd über den Schnee streiften. Dies konnte nicht die Umleitung sein. Sie musste sich verfahren haben, war wohl im Wald vom Weg abgekommen, eine andere Erklärung konnte es nicht geben. Ihr Wagen schwankte und bockte, die Räder rutschten ständig und die Scheibenwischer kamen kaum mehr gegen die Schneemassen an. Nur wenige Minuten nachdem sie den Wald verlassen hatte, blieb sie stecken. Sie trat ein paarmal das Gaspedal durch, versuchte es in einem niedrigeren Gang, doch die Räder drehten durch, und ihr wurde klar, dass sie nicht weiterkommen würde.

Erneut zog sie ihre Handschuhe an und stieg aus. Sie legte Fußmatten unter die Vorderräder, kletterte in den Wagen und schaltete in den Rückwärtsgang. Mit viel Gefühl steuerte sie den Bronco aus dem Schneeloch. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zum Highway zurückzufahren und ihre Mutter anzurufen. Sie fuhr einige Meter, bis sie sicheren Halt fand, bremste vorsichtig und stieg aus, um die Fußmatten zu holen. Bis zu der Stelle, an der sie sie aufgelegt hatte, waren es ungefähr fünfzig Meter. Mit hochgeklappter Kapuze stapfte sie durch den nassen Schnee. Der Wind blies ihr Flocken ins Gesicht und in die Augen.

Sie hatte gerade die Fußmatten aufgehoben, als sie den Schatten bemerkte. Nicht die Gestalt, die sie im Wald gesehen hatte, eher eine flüchtige Bewegung im Tiefschnee zwischen den Hügeln. Zuerst glaubte sie an eine erneute Täuschung, doch dann sah sie gleich mehrere. Wie Geister huschten sie durch das immer dichtere Schneetreiben. Gelbe Augen leuchteten in der Dunkelheit abseits der Scheinwerfer, zuckende Irrlichter inmitten des wirbelnden Schnees. Drohendes Fauchen übertönte den Wind.

Wölfe, erkannte Jessica entsetzt. Sie drehte sich langsam um, beobachtete zu ihrem Entsetzen, wie die Tiere begannen sie einzukreisen. Mit den Fußmatten in den Händen kehrte sie langsam zum Wagen zurück. So vorsichtig, als würde sie brüchiges Eis betreten, setzte sie einen Fuß vor den anderen, jeden Augenblick mit einem Angriff der Wölfe rechnend. Wenn Wölfe hungrig waren, griffen sie auch Menschen an. Sie vermied es, in die gleißenden Scheinwerfer zu blicken, unterdrückte das brennende Verlangen, zum Wagen zu rennen. Jede unbedachte Bewegung würde die Wölfe gegen sie aufbringen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie die Gestalten im Schneetreiben, ihre wandernden Augen, die ständig näher zu kommen schienen. Sie glaubte bereits, die Raubtiere riechen zu können, ihren raschen Atem im Nacken zu spüren.

Nur noch wenige Schritte bis zu ihrem Bronco. Sie hörte bereits den tuckernden Motor, brauchte nur noch die Hand auszustrecken, um den Türgriff zu berühren. Als sie aus der Reifenspur stieg und das Gleichgewicht verlor, stützte sie sich mit der linken Hand auf die Kühlerhaube. Selbst die Hitze des Motors reichte nicht aus, um den Schnee darauf zu schmelzen. Sie tastete sich zur Fahrertür vor, zog sie auf und erstarrte mitten in der Bewegung. Einer der Wölfe stand nur wenige Schritte vor ihr. Er war so nahe, dass sie sein helles, fast weißes Fell erkennen konnte. Den schlanken Schädel mit der mächtigen Stirn und der dunklen Narbe über dem rechten Auge. Der Anführer des Rudels. Derselbe Wolf, der sie vor dem gefährlichen Bankräuber gerettet hatte. Der Geisterwolf mit den sprechenden Augen. Zwei Jahre waren seitdem vergangen, aber sie erkannten einander sofort. Und als sie in seine gelben Augen blickte, glaubte sie ein erneutes Versprechen darin zu sehen. Was wollte er ihr sagen?

Sie war nahe daran, ihn zu fragen, doch als sie den Mund öffnete, war er verschwunden und mit ihm das ganze Rudel. So plötzlich, wie die Wölfe aufgetaucht waren, verschmolzen sie mit dem Schnee, als wären sie niemals in ihrer Nähe gewesen. Sie starrte ihnen nach, war so verwirrt, dass sie sogar die Kälte vergaß. Erst eine heftige Windböe, die einen Schwall feuchten Schnees über die Kühlerhaube ihres Broncos fegte, trieb sie in den Wagen zurück. Sie schlug die Tür zu und zog die Handschuhe aus. In Gedanken noch bei den Wölfen, legte sie erneut den Rückwärtsgang ein und fuhr langsam zum Waldrand zurück. Unter den Bäumen gelang es ihr, den Wagen zu wenden.

Bevor sie zum Highway zurückfuhr, blickte sie noch einmal zu den Hügeln hinüber. Keine Schatten, keine gelben Augen, nur Dunkelheit und ein stürmisches Meer treibender Flocken. Als hätte sie sich die Begegnung mit den Geisterwölfen nur eingebildet. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Die beiden Jahre in Vancouver hatten sie unempfindlicher gegen indianische Legenden und Geisterglauben gemacht. In der Großstadt glaubten nicht einmal die Indianer an diesen Hokuspokus, wie sie es selbst nannten. Hier war das anders. Die Chilcotins, das einsame Land am Highway 20, waren eine andere Welt, ein Gebiet, das sich während der letzten Jahrzehnte kaum verändert hatte und zumindest im Hinterland genauso aussah wie vor Ankunft der ersten weißen Siedler.

Hier gab es noch Indianer, die auf die alten Traditionen schworen, die Zeremonien, die ihre Großeltern und Urgroßeltern durchgeführt hatten, die heiligen Geschichten und Lieder, die seit vielen Jahrhunderten an den Feuern der Küstenvölker erzählt und gesungen wurden. Auch wenn sie jeden Sonntag in die Kirche des weißen Mannes gingen, glaubten sie noch an Geister, das Große Geheimnis, das über den Kronen der Fichten schwebte und den Lauf des Lebens bestimmte. Sie glaubten an den Raben, der geholfen hatte die Welt zu erschaffen und sich die Zeit damit vertrieb, den Menschen und Tieren derbe Streiche zu spielen. An den weißen Wolf, der nur wenigen Menschen erschien und wie ein Schutzengel über auserwählte Wesen wachte. War sie ein solches Wesen? Sie war keine Indianerin, hatte nicht mal indianisches Blut in ihren Adern, und doch hatten ihr die Wölfe damals das Leben gerettet.

Als sie den Highway erreichte, atmete sie befreit auf. Wenn es sein musste, würde ihre Mutter das Warnlicht auf ihrem Auto einschalten, um sie durch die Baustelle zu lotsen. Sie lenkte den Wagen nach rechts und griff nach ihrem Handy. Sie drückte die gespeicherte Nummer ihrer Mutter, blickte durch die Windschutzscheibe nach vorn und ließ entsetzt die Hand mit dem Handy sinken. Die Absperrung war verschwunden. Keine Umleitung, kein Schild, keine Bremsspuren.

Sie starrte ungläubig in das Schneetreiben. Was zum Teufel ging hier vor? Sie drückte die Nummer weg, stieg ohne Handschuhe aus dem Wagen und lief im Scheinwerferlicht ihres Wagens nach vorn. Vielleicht hatte jemand die Absperrung zur Seite geräumt. Oder war sie weiter westlich gewesen? Sie blickte sich suchend um und schüttelte den Kopf. Das Schild war nirgendwo zu sehen.

»Jetzt sehe ich schon Gespenster!«, flüsterte sie.

2

Als sie in den Bronco kletterte, klingelte ihr Handy. Sie zog die Tür zu und griff nach dem Gerät. »Jess«, hörte sie ihre Mutter rufen. Im Hintergrund waren eine kitschige Version von »Jingle Bells« und fröhliche Stimmen zu hören. »Hast du eben angerufen? Wo steckst du? Wir sind schon am Feiern!«

»Hallo, Mom«, erwiderte sie. »Ich bin gerade an Dougs Ranch vorbei. Sag mal, bilde ich mir das ein oder hab ich gerade ein Umleitungsschild gesehen?«

»Eine Umleitung? Bei Dougs Ranch? Nicht dass ich wüsste. Wenn es eine Umleitung gäbe, hätte ich dich doch angerufen. Aber der Super ist hier, ich kann ihn ja mal fragen.« Anscheinend nahm sie den Hörer herunter, denn ihre Stimme klang dumpfer, als sie rief: »He, Jack! Haben wir den Highway gesperrt?« Gleich darauf war sie wieder am Apparat. »Nein, der Highway ist frei. Dem Chef ist jedenfalls nichts bekannt.« Die letzte Strophe von »Jingle Bells« hallte durch den Hörer. »Du bist doch nicht am Steuer eingeschlafen, Jess?«

»Nein, ich bin hellwach … aber das Schneetreiben ist ziemlich stark.«

»Vielleicht ist Doug deshalb noch nicht da«, sagte ihre Mutter mehr zu sich selbst, um dann zu fragen: »Wie weit bist du schon an Dougs Ranch vorbei?«

»Ein paar hundert Meter. Wieso?«

»Würdest du noch mal zurückfahren? Ich hab schon ein paarmal bei ihm angerufen, aber er geht nicht ans Telefon. Vielleicht ist er bei den Pferden oder draußen bei den Rindern. Du weißt ja, die Tiere gehen bei ihm vor. Im Stall und auf der Weide kann ich ihn nicht erreichen. Er denkt gar nicht daran, sich ein Handy anzuschaffen. Das ist was für Städter, sagt er, für City Slickers. Sag ihm, dass wir auf ihn warten und dass Santa Claus ihm eine Tracht Prügel verpasst, falls er sich vor der Christmas Party drückt. Bring ihn mit, okay?«

»Mach ich, Mom. Du liebst ihn immer noch, was?«

»Ich werde den verrückten Kuhjungen lieben, solange ich lebe«, rief Emily so laut, dass es alle Partygäste hören mussten, »aber binde ihm das bloß nicht auf die Nase, sonst wird er noch übermütig und denkt, ich ziehe zu ihm auf die Ranch und spiele das Hausmütterchen für ihn.« Sie lachte. »Beeil dich, Jess!«

Jessica versprach es und beendete die Verbindung. Sie wäre lieber gleich weitergefahren, um endlich aus diesem Schneetreiben herauszukommen, verstand aber, dass ihre Mutter sich Sorgen machte. Doug brachte es fertig, weder am Heiligabend noch am ersten Weihnachtstag aufzutauchen, falls eines seiner Tiere krank war oder sich verletzt hatte. Als Jessica noch bei ihrer Mutter gewohnt hatte, war er zu seiner eigenen Geburtstagsfeier zu spät erschienen.

Sie wendete den Bronco und fuhr langsam zur Ranch zurück. Besonders wohl war ihr nicht zumute. Ständig hatte sie das Gefühl, sich rasch bewegende Schemen in dem Schneetreiben zu sehen und von unzähligen gelben Augen verfolgt zu werden. Ihrer Mutter würde sie die seltsame Begegnung mit den Wölfen verschweigen. Die würde sich nur Sorgen machen. Schon vor zwei Jahren hatte sie die Geschichte mit den Wölfen nur widerwillig akzeptiert. Jessica glaubte ja selbst kaum daran. Sie hatte sich das Umleitungsschild nur eingebildet und die Wölfe waren lediglich in ihrem Unterbewusstsein erschienen, eine andere Erklärung gab es nicht. Sie saß zu lange hinter dem Steuer. Die anstrengende Fahrt war einfach zu viel gewesen.

Nach ein paar hundert Metern bog sie nach rechts ab und fuhr durch den Torbogen mit der Aufschrift Halfway Ranch. Sie parkte vor dem Haus und sah Dougs Pick-up, einen betagten Dodge Ram mit Allradantrieb, auf dem Hof stehen. Sein zweiter Wagen, ein mit reichlich Chrom verzierter Jeep, den er nur zu besonderen Gelegenheiten fuhr, war verschwunden. Gut möglich, dass er damit bereits zu ihrer Mutter unterwegs war. Wer weiß, dachte sie, vielleicht macht er ihr heute Abend sogar einen Heiratsantrag.

Sie zog ihre Handschuhe an, stülpte die Kapuze über und stieg aus. Geduckt lief sie zum Haus hinüber. Der Stall, die Scheune und der baufällige Schuppen bei der Koppel waren im dichten Schneetreiben nur schemenhaft zu erkennen. In keinem der Gebäude brannte Licht. In der Koppel standen einige Rinder dicht nebeneinander, um besser gegen den Wind geschützt zu sein. In strengen Wintern wie diesem mussten die Rancher mit gekauftem Futter nachhelfen, da fanden die Tiere zu wenig Gras unter dem hohen Schnee.

Sie klopfte fest und rief: »Doug! He, Doug! Bist du zu Hause?«

Als niemand antwortete, öffnete sie die Tür und betrat den Flur. Wie die meisten Rancher der Gegend verzichtete Doug darauf, seine Haustür zu verschließen. »Das ist was für die Leute in Toronto oder New York, aber doch nicht hier draußen im Westen«, antwortete er, wenn man ihn darauf ansprach, »unsere Türen stehen immer offen.« Dass die Kriminalität auch am Highway 20 zugenommen hatte, interessierte ihn nicht, selbst wenn er es von Constable Emily Barnett aus erster Hand erfuhr. Er war ein Rancher der alten Schule, ein eigenwilliger Bursche, der den angeblich glorreichen Zeiten nachweinte, als der Highway 20 noch eine Schotterstraße abseits der Zivilisation gewesen war.

»Doug? Bist du zu Hause?« Sie tastete nach dem Schalter und knipste das Licht an. Die Lampe verbreitete nur trübes Licht. »Doug? Ich bin’s, Jessica.«

Sie betrat das große Wohnzimmer, knipste dort ebenfalls das Licht an und erschrak vor dem großen Büffelschädel über dem Kamin. Der war vor zwei Jahren noch nicht da gewesen. Sonst war alles wie immer: die schwarze Ledercouch und die beiden Sessel, das historische Winchester-Gewehr und die beiden Colts über dem Fernseher, der Wandschrank mit den alten Videokassetten, natürlich alles Western, und der große Esstisch mit den schmiedeeisernen Stühlen, den ihm die früheren Besitzer der Ranch verkauft hatten. Über der Couch hing das Gemälde eines Cowboys, der Rinder einfing.

Ein Geräusch ließ Jessica erstarren. Ein leises Knurren, wie von einem Wolf. O nein, nicht schon wieder, dachte sie bestürzt. Sie drehte sich langsam um und erkannte, dass das Geräusch aus der Küche kam. Auf Zehenspitzen kehrte sie in den Flur zurück. Wie unter einem inneren Zwang bewegte sie sich auf die angelehnte Küchentür zu. Das missmutige Knurren war lauter geworden und durch den schmalen Spalt war eine Gestalt zu erkennen.

Sie fasste sich ein Herz und stieß die Tür nach innen. Die Gestalt sprang auf sie zu. Sie wich schreiend zurück, versuchte noch, sich an der Wand abzustützen, und stürzte der Länge nach zu Boden. Im nächsten Augenblick war der Kopf eines schwarzen Huskys über ihr. Er schleckte sie mit seiner feuchten Zunge ab und winselte vor Freude. »Rusty!«, rief sie erleichtert. »Mein Gott, ich wusste gar nicht, dass es dich noch gibt! Rusty, alter Junge!« Sie packte den ehemaligen Leithund ihrer Mutter mit beiden Händen und hielt ihn von sich weg, war froh, nicht in die gelben Augen des weißen Wolfs blicken zu müssen. »Rusty! Dass du mich erkennst!«

Nachdem sie den Husky ausgiebig begrüßt hatte, stemmte sie sich lachend vom Boden hoch. »Nicht so stürmisch, Rusty!«, beruhigte sie den Leithund des Gespanns, das Doug im Winter durch die Wälder lenkte. Snowmobile benutzte er nur, wenn es nicht anders ging. »Sag mir lieber, wo dein Herrchen ist.«

Aber Rusty verstand sie nicht und kehrte schwanzwedelnd in die Küche zurück. Durch die offene Tür beobachtete sie, wie er sich über die Essensreste in einer Blechschüssel hermachte, die vom Küchentisch gefallen war. Doug könnte tatsächlich eine Haushälterin gebrauchen, dachte sie und musste grinsen, als sie sich vorstellte, was ihre Mutter wohl zu ihm sagte, wenn sie in seine Küche kam. Deinen Dreck räumst du mal schön selber auf – oder so ähnlich.

Sie stieg in den ersten Stock hinauf, nur um ganz sicher zu sein, dass Doug nichts passiert war, warf einen raschen Blick in sein Büro und sein Schlafzimmer und kehrte nach unten zurück. »Bis bald!«, rief sie dem Husky zu. »Ich hoffe, dein Herrchen ist unterwegs, sonst kann er was erleben!« Sie verließ das Haus, duckte sich unter den dicht fallenden Schneeflocken und trat in den Hof hinaus.

Obwohl sie überzeugt war, dass Doug in seinem Jeep auf dem Weg zu ihrer Mutter war, beschloss sie, auch in den anderen Gebäuden nachzusehen. Mit gesenktem Kopf ging sie zum Stall hinüber. Es gab kein Licht. Die einzige Helligkeit kam von dem Schnee, der bereits knöcheltief lag und den Hof sauberer aussehen ließ, als er wirklich war. Außer dem Bellen der anderen Hunde, das aber bald verstummte, und dem Knarren der Stalltür, die schon vor zwei Jahren nicht richtig geschlossen hatte, war kaum ein Laut zu hören.

Mitten auf dem Hof blieb Jessica stehen. Wieder hatte sie das Gefühl, von mehreren Augenpaaren beobachtet zu werden. Von jenseits der Koppel schallte klagendes Geheul herüber. Vielleicht nur der Wind, der sich in den dichten Fichten verfing. Sie ging ein paar Schritte, blieb erneut stehen und blickte besorgt zum Waldrand hinüber. Durch den wirbelnden Schnee glaubte sie unruhige Schatten zu sehen. Die Rinder in der Koppel? Ein Tier, das Schutz unter den Bäumen suchte? Sie verdrängte die wachsende Angst und lief zur Scheune, schalt sich eine Närrin, weil sie sich wie eine Städterin benahm, die noch nie aus Vancouver herausgekommen war.

Entschlossen öffnete sie die Stalltür. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie die Pferde in den Boxen stehen. Sie beachteten sie kaum, schnaubten lediglich, als sie den kalten Wind spürten, der durch die offene Stalltür hereingefegt kam. Sie hatten genug zu fressen und der Boden war frisch gestreut. Doug kümmerte sich um seine Pferde, brachte sie in kalten Winternächten wie dieser immer in den Stall. Er musste erst vor Kurzem hier gewesen sein, die Futterboxen waren fast randvoll. »Er ist bestimmt schon zu Mom gefahren«, sagte sie leise. »Er weiß doch, was ihm sonst blühen würde.«

Sie schüttelte den Kopf und verließ den Stall. Gegen den Wind lief sie zur Scheune hinüber, schob den Riegel zur Seite und öffnete die Tür. Erschrocken blieb sie stehen. Im schwachen Licht, das vom Schnee vor der Scheune reflektiert wurde, sah sie eine Gestalt im Heu sitzen. Ein junger Mann, so viel konnte sie erkennen, in eine Decke gehüllt und ziemlich verschlafen. Sie musste ihn geweckt haben. »Wer bist du?«, fragte sie erstaunt. »Was suchst du hier?«

Er war genauso verwundert wie sie. »Mike Rooney.« Seine Stimme klang heiser und ein wenig rau. »Ich bin Hufschmied, ziehe von einer Ranch zur anderen und kümmere mich um die Pferde. Auch Pferden muss man die Nägel schneiden, weißt du? Sonst wächst die Hornhaut und sie können nicht …«

»Ich weiß«, unterbrach sie ihn, »ich bin hier aufgewachsen und hab lange auf einer Ranch gearbeitet. Weiß Doug, dass du in seiner Scheune schläfst?«

»Doug?« Er wirkte immer noch verschlafen. »Sicher. Als es zu schneien anfing, bot er mir das Gästezimmer im Haus an, aber er ist heute Abend eingeladen und ich wollte ihm keine Umstände machen. Die Scheune ist okay, ich schlafe nicht zum ersten Mal im Heu. Eigentlich wollte ich zu meinen Eltern nach Williams Lake, aber mit meinem Wagen hätte ich das nie geschafft.«

»Wo steht dein Wagen?«

»Hinter dem Haus, neben dem Werkzeugschuppen.«

»Ist Doug schon weg?«

»Vor einer halben Stunde ungefähr«, bestätigte er, »in seinem Jeep. Ich nehme an, er wollte zu der Christmas Party bei Constable Barnett. Sie ist …«

»… meine Mutter.«

»Hey … dann bist du Jessica. Ich hab schon von dir gehört. Deine Mutter war heute Nachmittag hier und hat mit Doug gesprochen. Sie wollte ihn wohl an die Party erinnern.« Er richtete sich auf und kramte in seinen Taschen. »Warte, ich hab eine Lampe dabei.« Er zog eine Taschenlampe hervor und knipste sie an. »Mann, du bist ja noch hübscher als auf den Fotos!«

Das Kompliment kam so plötzlich, dass sie lachen musste. »Und das, obwohl ich den ganzen Tag hinter dem Steuer gesessen habe. Auf welchen Fotos?«

»Na, auf denen, die bei Doug im Büro hängen. Doug, deine Mutter und du vor dem Hundeschlitten. Doug hält die schwere Winchester in den Händen.«

Sie erinnerte sich. Vor drei Jahren waren sie mit Doug über einen alten Indianertrail gefahren. Rusty hatte das Team angeführt. Und weil damals ein gefährlicher Grizzly durch die Wälder am Clearwater Lake gestreunt war, hatte Doug seine Bärenbüchse mitgenommen. Drei Tage später hatte er den Bären erlegt. Die Rancher bezahlten ihn dafür, dass er unliebsame Bären und Wölfe von den Rindern fernhielt. Er gehörte zu den besten Jägern in Westkanada.

»Ach, die meinst du.« Im Licht der Taschenlampe, die er zur Seite gerichtet hatte, um sie nicht zu blenden, konnte sie nun auch sein Gesicht sehen und war angenehm überrascht. Er sah ganz anders aus als dieser Muskelprotz, der früher auf die Ranches gekommen war. Kräftig war er schon und seine Schultern waren ein bisschen zu breit für ihren Geschmack, aber er war keines dieser Raubeine, wie man sie öfter unter den Cowboys fand, und der Blick aus seinen tiefblauen Augen weckte ein angenehmes Kribbeln in ihr. Sie blitzten herausfordernd im schwachen Lichtschein und gaben ihm ein jungenhaftes Aussehen.

»Hufschmied … ist das dein Hauptberuf?«, fragte sie in die verlegene Stille, die plötzlich zwischen ihnen entstanden war. Ihre Stimme klang etwas heiser.

Er lachte. »Nein, mit dem Geld, das ich damit verdiene, könnte ich mir nicht mal die Klapperkiste leisten, die ich zurzeit fahre. Ich helfe als Cowboy aus, leider nur auf Zeit, einen festen Job will mir niemand geben. Wenn du hier aufgewachsen bist, weißt du ja, wie es um das Rindergeschäft steht. Mit Rindern kann man kein Geld machen. Die große Zeit der Cowboys ist vorbei.«

Ihre Gedanken kehrten zu Doug Winslow zurück, und sie löste sich von seinen blauen Augen. »Und du bist ganz sicher, dass Doug weggefahren ist?«

»Vor einer halben Stunde, in seinem Jeep.« Er wischte sich einige Strohhalme aus dem Gesicht. »Warum? Ist er denn noch nicht bei deiner Mutter?«

Sie zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich schon.« Sie ließ sich erneut von seinen blauen Augen verzaubern und sagte: »Willst du nicht mitkommen? Meine Mutter hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich einen Gast mitbringe.«

»Vielen Dank für die Einladung«, erwiderte er, »aber ich muss morgen sehr früh raus, wenn ich noch rechtzeitig zur Bescherung kommen will. Meine Eltern haben die ganze Verwandtschaft eingeladen, und meine beiden Tanten wären tödlich beleidigt, wenn ich zu spät käme. Ich hau mich lieber aufs Ohr. Trotzdem … vielen Dank, Jessica.«

»Sag Jess, das klingt nicht so vornehm.« Sie war schon an der Tür, zögerte aber noch, die Scheune zu verlassen. »Wissen deine Eltern Bescheid?«

Er zog ein Handy aus der Tasche und zeigte seine weißen Zähne. »Mag sein, dass ich ein Hinterwäldler bin, aber ich bin nicht von gestern. Ich weiß sogar, wie man eine SMS verschickt. Darf ich dir mal eine zukommen lassen?«