Inhaltsverzeichnis

Titel
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1 Scheitern lernen
2 Dr. Seltsam
3 Der Fund
4 Das Nicken
5 Dämlicher Aberglaube
6 Der Prinz und der Graf
7 Die kalte Hand
8 Das kleine Wunder von Beiseförth
9 Wie kommt ihr denn hier rein?
10 Der ambulante Schlachthof
11 »Herztod nach Verhör«
12 Zuzeln am Affenarm
13 Von ’ner Brücke stoßen?
14 Tonband-Rolex
15 Die Ohnmacht
16 Der Vertrag
17 Kokain zu Weihnachten
18 Joggen bei Pinochet
19 Die Neidtabelle
20 Stoibers Geisel
21 Klassenkampf!!
22 Wer war’s ?
Dank

cover

Westend Verlag

Ebook Edition

Dirk Koch

Der ambulante Schlachthof
oder
Wie man Politiker wieder das Fürchten lehrt

Die letzten Geheimnisse der Bundesrepublik

Westend Verlag

Dieses eBook folgt der Originalausgabe des Buchs, die erstmals 1998 im Druck erschien. Die Orthographie wurde an die neue Rechtschreibung angepasst.

Nicht in allen Fällen konnten die Inhaber der Bildrechte ermittelt werden, wir bitten gegebenenfalls um Hinweis an den Verlag.

Für die Hintergrundkarte auf dem Cover bedanken wir uns ganz herzlich bei Michael Böttinger vom Deutschen Klimarechenzentrum. Es zeigt eine Momentaufnahme der Wirbelhaftigkeit (Vorticity) der Luftmassen für eine Simulation mit einem hochauflösenden globalen Klimamodell (ECHAM6). Die gelblich-rötlichen Strukturen zeigen auf der Nordhalbkugel durch Tiefdruckgebiete ausgelöste lokale Luftbewegungen entgegen dem Uhrzeigersinn.

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-625-5

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2016

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

© Fotos: Jupp Darchinger und Dirk Koch

Für Klaus Wirtgen

Vorwort

Was auch immer bei dem, inzwischen gestoppten, Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts gegen die Internet-Journalisten von Netzpolitik.org wegen Landesverrats durch Berichte über Umtriebe des Verfassungsschutzes herausgekommen wäre, ein Ergebnis steht bereits fest: Die Gegenseite traut sich wieder was. Die Gegenseite wird frech. Die Gegenseite, die Staatsmacht, hält ihre lästigen Kontrolleure, die Journalisten, für geschwächt. Sie meint, sie könne es sich inzwischen herausnehmen, unter Vorwänden die Presseleute und erst recht ihre Informanten in Regierungen, Behörden und Parlamenten mit Gefängnisstrafen einzuschüchtern. Das hat es seit der SPIEGEL-Affäre 1962 wegen angeblichen Landesverrats so nicht mehr gegeben.

Es stimmt, der Stand des Journalisten ist geschwächt; Redaktionen werden verkleinert, Zeitungstitel zusammengelegt, Redakteure ins Freiberuflertum abgedrängt, weil Verleger sparen und sie nicht mehr fest anstellen wollen; Auflagen und Zuschauerzahlen sinken wegen des Abwanderns der Geld bringenden Anzeigen ins übermächtige Internet, wegen des veränderten Medienkonsums insbesondere jüngerer Leute. Rechtsradikale Parolen gegen die »Lügenpresse«, so rattenfalsch sie auch sind, nagen am Fundament des öffentlichen Vertrauens in die Medien.

Aber tragen nicht Journalisten Mitschuld am Niedergang des Gewerbes? Hätten sie mehr Interessantes im Angebot, wäre das vom Informationseinheitsbrei übersättigte Publikum nicht wieder zu locken?

Was die deutschsprachigen Zeitungen und Magazine, das Fernsehen, öffentlich-rechtlich wie privat, zu bieten haben, es reißt einen nicht vom Hocker, mehr oder minder alles im Trend, mehr oder minder überall die gleichen Nachrichten. Zu oft kennt man die Schlagzeilen der Tageszeitungen schon, als hätten die Ressortleiter den Aufmacher der Tagesschau am Vorabend abgekupfert. Wohltuende Ausnahmen bietet das Radio. Der Proporzrundfunk, früher das Organ der angepassten Langeweile, glänzt heute mit seinen Informationen am Morgen. Die Printmedien, die mit Onlinediensten punkten wollen, müssen aufpassen, dass miese, schlampig hingekloppte Onlineware nicht Ruf und Geschäft der jeweiligen Mutterhäuser beschädigt.

Es wird zu wenig und zu wenig gut recherchiert. Klingt wie »Früher war alles besser« und wie »Achtung, hier spricht der Herr Oberlehrer«? Soll so klingen. Sonst passt keiner auf.

Sicherlich, da sind die Enthüllungen eines Ed Snowden, eines Julian Assange. (Über deren Geschichten man allerdings auch gerne wissen möchte, wer dahinter steckt.) Aber, zum Beispiel, wäre es nicht an der Zeit, wieder mehr in die vertraulichen Zirkel der Politik einzudringen?

Die Leute im Lande würden schon gerne wissen, wie es wirklich zugeht in Koalitionsrunden oder Parteipräsidien, in denen über ihr Steuergeld und ihre Zukunft entschieden wird. Wie steht es um Machtmissbrauch, Korruption, Pflichtversäumnisse bei denen, die uns regieren? Wo sind denn die spannenden Wiedergaben der Wortgefechte an Angela Merkels Kabinettstisch? Wo die Berichte über die schweren Kräche der Regierungschefs im Europäischen Rat oder über die Feindseligkeiten unter den EU-Kommissaren und deren engsten Mitarbeitern in Brüssel? Warum erfährt man nicht öfters und mehr darüber, wie die Genossen im Vorstand der SPD übereinander herfallen, was die Fachminister für Landwirtschaft, für Forschung oder für Wirtschaft an Klientelpolitik treiben, was in den Ausschüssen des Bundestags wirklich los ist? Welcher Tricksereien bedienen sich heute die Parteien in Berlin oder in Brüssel, um ihre klammen Kassen zu füllen? Wie wird heute Politik gekauft?

Die Mängelliste wäre fortzusetzen auf der Ebene der Bundesländer und der Gemeinden. Politik ist überall interessant, wo Gewählte und Beamte, Parteifunktionäre und Gewerkschaftsbosse über das Schicksal der Bürger, über das Leben von Millionen entscheiden. Warum wird nicht gründlicher der Keller dieser Gesellschaft ausgeleuchtet? Jene rechtsfreien Räume, in denen Kinder und Alte unter dem Verlust von Grundrechten zu leiden haben. Überforderte Jugendämter versäumen bei der Kontrolle von Pflegeeltern ihre Pflichten. Kinder werden gequält, kommen gar zu Tode, und den warnenden Hinweisen aus der Nachbarschaft konnte man leider wegen Personalmangels nicht nachgehen. Anwälte sichern sich bei Gericht Dutzende Betreuungsfälle der netten Honorare wegen. Die Fürsorge für die Personen unter »Betreuung«, wie die Quasientmündigung heute heißt, überlassen sie ihrer Sekretärin. Warum erscheinen nicht mehr Geschichten hinter den Geschichten, die den Leser mitnehmen in die Welt der Journalisten? Man muss es nur wollen.

Wäre es nicht ratsam, eine Stunde früher das Googeln einzustellen, den Tunnelblick vom Bildschirm zu lösen, den Computer runterzufahren und sich mit Abgeordneten, deren Assistenten und Sekretärinnen, mit Sachbearbeitern und Staatssekretären, mit Ministern und/oder deren Partnerinnen zum Ratschen zu verabreden? Sich zur Pizza, zum Prosecco zusammenzusetzen?

Vergesst um Himmels willen die Frauen der Politiker nicht, hat uns Rudolf Augstein eingebimst. Bei denen erfahre man oft mehr als bei ihren Männern. Augstein war beliebt bei den Damen, schon wegen seiner Bombardements mit Blumensträußen. Heute ist zu ergänzen: Vergesst auch um Himmels willen bei den vielen Politikerinnen die Männer nicht! (Selbst wenn die daheim wahrscheinlich nicht allzu viel erfahren und zu sagen haben.) Wäre es nicht ratsam, das Abendessen am heimischen Tisch um eine Stunde nach hinten zu verschieben und regelmäßig zu einem der allabendlichen Empfänge irgendwelcher Ministerien, Botschaften, Handwerkskammern, Wirtschaftsverbände, Autofirmen zu gehen? Einfach nur, um Leute zu treffen?

Ein öder Acker ist in zu vielen Zeitungen der Lokalteil. Hier, wo das Überleben der Tageszeitungen gesichert werden könnte, fehlen die harten Geschichten über die Korruption in den Bauämtern, über die Richter in den Amtsgerichten, die gottgleich herrschen und sich vor jeglicher Überarbeitung zu bewahren wissen, über die Kungeleien zwischen Anwälten, Richtern, Staatsanwälten. In Zeiten, in denen wegen grassierender Abhörerei und Datenabgreiferei die Informanten ängstlicher als früher sind, am Telefon zu reden, in solchen Zeiten ist das persönliche Gespräch wichtiger denn je.

Also, bitte, man suche die Nähe zu Beamten und Politikern beim Joggen und Jagen, im Ruderverein, im Tennisclub, beim Volleyball, beim Skat oder Kegeln. Man sollte dem Zufall eine Chance geben, etwas Hochinteressantes zu erfahren. Wer einen dicken Fisch fangen will, muss das Netz ausbringen, muss sich zum Angeln schon an den Fluss bequemen. Die Norm sollte sein: Mindestens ein neuer persönlicher Kontakt pro Tag, sieben Tage die Woche, ja, richtig gelesen, samstags und sonntags auch. Zum Knüpfen eines engmaschigen Informantennetzes braucht es Fleiß und Zeit. Also: das Einzelgespräch suchen, sich herauslösen aus der Vermassung in den sozialen Netzwerken, ein feinverästeltes Geflecht persönlicher Beziehungen aufbauen und pflegen.

Man muss sich zu allem anderen Stress jetzt auch noch mit der fünften Gewalt herumschlagen? Es ist doch nicht schlecht, dass sich das Publikum in steil wachsender Zahl in Blogs und anderswo im Netz mit dem Journalistengewerbe und seinen Produkten befasst, sie kritisch bewertet. Kon­trolle der Kontrolleure! – gehört zu den Kernforderungen der Medienzunft, muss selbstredend auch für sie selbst gelten. Wäre doch schön, wenn die Kontrolle durch die Öffentlichkeit wenigstens etwas mehr Seriosität bei den Onlinekollegen erzwingt, für die dann nicht mehr vor allem die Schnelligkeit der Nachricht zählt, ohne viel Federlesens, ob sie stimmt.

Man schafft das alleine nicht, man hat ohnehin zu viel an der Backe? Dann muss man sich eben besser organisieren.

Man muss sich mit Kollegen zusammentun, den Journalismus der Zusammenarbeit wagen und entwickeln. Kooperativer Journalismus – hilft wirklich. Es kann eine Handvoll Journalisten derselben oder auch aus unterschiedlichen Redaktionen desselben Mediums oder verschiedener Medien sein, möglichst nicht miteinander in direktem Wettbewerb, Journalisten, die sich zu gezielter Recherche zusammentun und bereit sind, zu geben und zu nehmen beim Heranschaffen der Informationen. Teilen können ist wichtig, sonst klappt es nicht mit der Zusammenarbeit.

Der SPIEGEL hat zu Zeiten der alten Bundesrepublik in seiner Redaktion in der Bundeshauptstadt über Jahrzehnte einen Journalismus der Zusammenarbeit praktiziert, der dem Magazin einen Spitzenplatz in der politischen Berichterstattung sicherte. NDR, WDR und »Süddeutsche Zeitung« haben sich 2014 unter der Leitung des früheren SPIEGEL-Chefredakteurs Georg Mascolo zu einem Recherchenverbund zusammengeschlossen, der sehr erfolgreich den Journalismus der Zusammenarbeit betreibt, zum Beispiel mit exklusiven Geschichten über die US-Geheimdienstkrake NSA, über die in ihre Heimatländer zurückkehrenden Kämpfer des »Islamischen Staats« (IS) oder zum Fall des Kunstsammlers Cornelius Gurlitt. Der Recherchenverbund ist Partner des Internationalen Konsortiums für Investigativen Journalismus (ICIY), in dem mehr als 180 Reporter aus 65 Ländern einander helfen.

Der Autor hat nach seinem Ausscheiden beim SPIEGEL gemeinsam mit WAZ-Geschäftsführer Bodo Hombach, dem früheren Kanzleramtsminister im Kabinett Gerhard Schröder, und dem künftigen Redaktionschef Knut Pries für die internationale WAZ-Mediengruppe in Brüssel ein Korrespondentenbüro gemäß den Regeln des kooperativen Journalismus aufgebaut. In der Backsteinvilla am Square Ambiorix haben bis zu 13 Journalisten aus sieben Ländern – fünf Deutsche, zwei Bulgaren, zwei Serben, zwei Mazedonier, ein Kroate und ein Rumäne – gut miteinander und zugunsten der Blätter des Medienkolosses und seiner Pool-Kunden geschafft.

Alle hereingeholten Informationen gehörten allen; Schwerpunkte der Recherchen und der Berichte waren die Europäische Union und ihre Zentrale in Brüssel – für die vordem kommunistischen Balkanländer der Nabel ihrer neuen Welt – und die Nato, das Wunschbündnis der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten. Alle Artikel standen allen Publikationen des Konzerns zur Verfügung. Die Kollegen schrieben in ihrer Muttersprache für ihre Heimatblätter, boten einander die Artikel als Kurzfassung in Englisch an, der Umgangssprache des Büros.

Insgesamt erreichte die Produktion des Brüsseler WAZ-Büros eine Verkaufsauflage von mehr als 2,5 Millionen; ergänzt durch den englischsprachigen Onlinedienst WAZ.EUobserver. Das Büro verlor seine Existenzgrundlage, als sich der Konzern aus dem Osteuropa-Geschäft zurückzog und sein internationales Engagement abbaute. Es war ein Rückschlag im Kampf für Demokratie und gegen Korruption auf dem Balkan. Ein Rückschlag für das Konzept des kooperativen Journalismus war es nicht. Es hatte sich erneut bewährt.

1 Scheitern lernen

Wahrheit ist vielschichtig. Geschichten hinter den Geschichten sind aufschlussreich. Hinter veröffentlichten Texten und Bildern sind Begebenheiten und Bezüge verborgen, die bei der Suche nach Wahrheit helfen können.

Versiegelt bleiben muss die Schicht, die das strikte Gebot des Informantenschutzes verbirgt. Es gibt nicht wenige Geschichten, die man veröffentlichen wollte, aber nicht veröffentlichen konnte. Wurmt einen bis heute.

Eine große Anzahl Recherchen endet im Nichts. Trotz aller Mühen, trotz schier endloser Aktenleserei, trotz der vielen Gespräche, am Telefon, bei persönlichen Treffen, es gelingt nicht, eine Geschichte wasserdicht zu machen. Oder man hat eine Geschichte kaputtrecherchiert, weil der Ansatz sich nicht bewahrheitet. Auch das Scheitern will gelernt sein. Zu früh aufzuhören beim Nachbohren wäre ein Fehler. Zu spät aufzuhören auch. Man muss erkennen lernen, wann man bei der Recherche nur noch Zeit und Kraft verschwendet. Ein noch größerer Fehler wäre, sich entmutigen zu lassen und die nächste Story nicht genauso hartnäckig und findig anzugehen.

Der Journalist darf es sich nie bequem machen und erst recht niemals jenen, über die er berichten will, hat uns Rudolf Augstein beigebracht. Keep calm and carry on. Ruhe bewahren und weitermachen. Die Durchhalteparole passt zum Journalisten. Die britische Regierung hat sie an ihre Landsleute zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gerichtet. Der Nähkasten ist voller Geschichten hinter den Geschichten, geschriebenen und nicht geschriebenen, gedruckten wie nicht gedruckten. Anekdotenalarm? Nein, es geht um – zeitlose – Beispiele, wie es zuging und zugeht im Gewerbe der politischen Journalisten.

2 Dr. Seltsam

Schon mal auf einer Atombombe gesessen? Sieht aus wie eine von diesen Riesenzigarren auf den Wagen im Kölner Karnevalszug. Die hier ist nicht braun, sie ist blassgrün angestrichen.

Wir sind in flirrender Hitze auf einem Luftwaffenstützpunkt im Mittleren Westen der USA gelandet. Die Airbase gehört zu einem weitgespannten System von Flugplätzen, die der nuklearen Abschreckung der USA im Kalten Krieg mit der Sowjetunion dienen. Weit über die USA verteilt sind die Stützpunkte, auf dass wenigstens einige bei einem Angriff funktionsfähig bleiben. Von den Flugplätzen starten und landen die nuklear bewaffneten B 52-Langstreckenbomber der Strategischen Luftwaffe. Allzeit bereit zum Atomschlag, sind jeweils zwölf dieser Bomber luftbetankt täglich für 24 Stunden in großer Höhe unterwegs, auf drei Routen, eine führt über den Atlantik bis zum Mittelmeer.

Von unserer Passagiermaschine aus werden wir, US-Außenminister Henry Kissinger, sein deutscher Amtskollege Hans-Dietrich Genscher und einige Journalisten, in klimatisierten Limousinen zu einer einsatzbereiten B 52-»Stratofortress« auf dem Flugplatzvorfeld gefahren. Wir sind in den gewaltigen Bomber – 48 Meter lang, 56 Meter Spannweite, acht Triebwerke – eingestiegen, die fünfköpfige Crew zeigt uns das Cockpit und führt uns durch eine enge Tür auch in das Waffenabteil. Über dem Waffenschacht hängen acht Atombomben. In zwei Viererbündeln werden sie parallel zum Schachtboden in etwa einem Meter Höhe an massiven Gestängen gehalten.

Kissinger spielt an auf Stanley Kubricks schwarze Filmsatire. Ob wir den verrückten Streifen über den Kalten Krieg kennen würden, der ja auch in einer B 52 spiele und in dem der Pilot am Ende auf einer Wasserstoffbombe ins Ziel in der Sowjetunion reite? Er zitiert den deutschen Filmtitel »Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben«. Kissinger, breit lächelnd, fährt fort in amerikanisch breitem Deutsch: »Hier, nehmen Sie Platz, Dr. Seltsam.« Und weist mich, der zufällig neben ihm steht, einladend auf das Viererbündel an unserer Seite hin. Jede von ihnen, sagt Kissinger noch, habe weit über das Hundertfache der Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe. Hans-Dietrich Genscher steht lachend dabei. Auch ich muss lachen, als ich mich kurz auf einer der A-Bomben niederlasse. Wie mir dabei zumute war? Schwer zu sagen. Welch teuflische Zerstörungskraft sich in diesem zigarrenförmigen Ding verbarg, das überstieg das Vorstellungsvermögen. Warum mussten wir lachen? So verhalten sich Menschen oft, wenn Grauen ins Groteske kippt.

Wenige Stunden zuvor waren wir auf menschenleerer Prärie an einem anderen Ort des namenlosen Schreckens gelandet. Wir fuhren an mächtigen halbrunden Kuppeln vorbei, Tore zur Hölle. Wenn sie sich öffnen und ihren Inhalt freigeben, kommt das Ende dieser Welt. Die Kuppeln, die einem Atomangriff standhalten sollen, verschlossen die im Untergrund verbunkerten Silos der Atom-Interkontinentalraketen des Typs »Minuteman«. Nach dem Start und ballistischem Flug durch den Weltraum können »Minuteman«-Raketen mit ihren Kernwaffen binnen maximal dreißig Minuten, so Kissinger, jeden Ort in der Sowjet­union erreichen. Die Rakete heißt nach der amerikanischen Kolonialmiliz »Minutemen«, den Minutenmännern, die angeblich binnen einer Minute zum Kampf antreten konnten, sich also durch ihre besonders schnelle Einsatzbereitschaft hervorgetan hatte. Zehn Raketensilos waren dem Kontrollzentrum zugeordnet, zu dem wir in einem Aufzug tief unter die Erde hinab fuhren.

Unten im Neonlicht des Kontrollraums saßen sich zwei mit Pistolen bewaffnete Offiziere an einem Pult gegenüber. Sie sollen auf Befehl des US-Präsidenten die Rakete nach einem kodierten Zwei-Schlüssel-System starten. Keiner von ihnen kann eigenmächtig einen Atomschlag auslösen, erläuterte Kissinger schmunzelnd, aber die Pistolen haben sie für alle Fälle auch noch. Er schmunzelte viel. Wir haben die beiden Offiziere nach deren Schichtende am frühen Nachmittag in der Bar des Stützpunktes wiedergesehen, einem abgedunkelten, kühl klimatisierten Flachbau unter der sengenden Sonne. Mit großen Bieren spülten sie die Langeweile hinunter. In Friedenszeiten ist der größte Feind dort die tödliche Langeweile, es kommt immer wieder zu Disziplinarverfahren wegen Alkoholmissbrauchs.

Den Herrn der Waffen und damit über Leben oder Tod auf diesem Planeten trafen wir auch. Richard Nixon, der als US-Präsident allein die Befehlsgewalt für den Atomschlag hat, kam im Golf-Kart ans Flugfeld seines Feriensitzes San Clemente, um Kissinger und dessen Gäste zu begrüßen. Fernsehbedingt, wie in jener Zeit üblich, waren Nixons Lippen dunkelrot geschminkt, die Wangen rosa angefärbt, das restliche Gesicht mittelbraun gepudert. Es war der 26. Juli 1974, zwei Tage nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA, das die Amtsenthebung Nixons wegen dessen illegaler Abhörpraktiken unabwendbar machte. Kissinger notierte später über das Meeting: »Ich war erschüttert zu sehen, wie sich der Präsident in nur einer Woche äußerlich verändert hatte. Er … sprach vernünftig, aber wie ein Automat. Was er sagte, war durchaus intelligent, aber er trug es vor, als ginge es ihn nichts mehr an.« Genscher schrieb in seinen Memoiren, er habe damals nicht geahnt, dass er der letzte ausländische Gast von Präsident Nixon vor dessen Rücktritt am 9. August 1974 war.

Zum Schluss der Reise hat Kissinger gegenüber Genscher die Demonstration der Stärke seines Landes zusammengefasst: »Die USA sind keine Supermacht. Die USA sind eine Super-Duper-Super-Macht.« Wir begleitende Journalisten des frisch ernannten deutschen Außenministers sollten über all das nicht schreiben. Man hatte den Amerikanern Geheimhaltung geloben müssen. Was Kern und Botschaft einer Geschichte hätten sein können, wurde erst viel später klar. Kissingers Nuklearwaffenschau war nicht der große Vertrauensbeweis für den neuen Kollegen. Sondern auch Warnung und Abschreckung, geboren aus Misstrauen.

Der US-Botschafter in Deutschland, Richard Burt, beschimpfte 1986 äußerst undiplomatisch den Bonner Außenminister Genscher als »slippery man«, als aalglatten, unzuverlässigen Mann. Zeitnah wurde uns ein CIA-Papier zugespielt. Es stellte den Deutschen unter Verdacht, ein von Moskau gesteuerter Einflussagent zu sein. Veröffentlichen konnte man nichts. Es ließ sich trotz vielerlei Anstrengung, und es wurde sich wahrhaftig Mühe gegeben, nicht klären, ob die CIA-Akte echt oder gefälscht war, worauf sich – bei Gericht belastbar – die Verdächtigungen stützten.

3 Der Fund

Hat die Atommacht Russland beim Abzug ihrer Truppen aus dem wiedervereinigten Deutschland einen Nuklearsprengkopf in einem Depot in der früheren DDR vergessen? Schlicht übersehen und zurückgelassen?

Zum Stichtag 29. Juni 1991 seien sämtliche Kernwaffen der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der früheren DDR abgezogen worden. Dies hat feierlich Matwei Burlakow, der letzte Oberkommandierende der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland so versichert.

Ein Mann aus der Führungsriege der Unionsparteien hat uns etwas anderes berichtet. Nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag hätte er beruflich in Brandenburg zu tun gehabt, so der Informant. Ein Klient, mit dem er in ganz anderer Angelegenheit unterwegs gewesen sei, habe ihm beiläufig erzählt: Tja, diese Rotarmisten, hätte der gesagt, schlampert seien sie halt gewesen und meistens besoffen. Ganz hinten in einem dusteren Lagerbunker wäre unter allerlei militärischem Gerümpel beim Sichten der Immobilie ein nuklearer Sprengkopf entdeckt worden. Die Kernwaffe habe in einem hölzernen Isolationsbehälter gesteckt und sei anhand der Beschriftungskürzel identifiziert worden. Die Russen hätten die A-Waffe dann unter strenger Geheimhaltung rasch fortgeschafft. Wer die Russen informiert hatte, wusste der Klient nicht. Unser Zuträger hatte sich über Jahre hin als stets zuverlässig erwiesen. Schreiben über die vergessene A-Waffe konnten wir dennoch nicht. Der Informant mochte als Zeuge nicht zur Verfügung stehen. Er hatte Angst. Um seine Geschäfte und auch sonst, um Leib und Leben, wie er gestand.

Ob der Sprengkopf in Himmelpfort oder in Stolzenhain oder in Finsterwalde, in einem der Sonderwaffenlager der Russen für Nuklearwaffen, gefunden worden sei? Wollte er nicht sagen, er wolle gar nichts mehr sagen. Man solle ihn bloß raushalten aus der ganzen Angelegenheit, nur ja nirgends seinen Namen nennen. Es sei ein Fehler gewesen, uns den Tipp zu geben. Wir haben uns bemüht, irgendeine, noch so allgemeine, Bestätigung zu erhalten. Wir haben im Verteidigungsministerium gebohrt, mit dem CDU-Verteidigungsminister Volker Rühe geredet, im Auswärtigen Amt nachgeforscht, bei der Nato, von Geheimdienstlern in Ost und West recherchiert. Nein, nichts bekannt, es wurde gemauert.

Niemand hatte ein Interesse daran, Moskau nach dem Ende der Sowjetunion womöglich bloßzustellen. Eine schlampige Atommacht, die nicht so genau weiß, wo ihr Teufelszeug rumliegt, und die auch schon mal eine Nuklearwaffe vertrödelt? Lieber nicht. Nicht darüber reden, am liebsten nicht daran denken. Und schon gar nicht darüber schreiben solle man. Die Story wäre ein Knaller geworden.