Buchinfo

England, Mitte des 19. Jahrhunderts

Unfreiwillig gerät Richard Winters in die Hände des berüchtigsten Henkers von ganz England. An der Seite von William Calcraft führt er fortan das finstere Leben eines Henkerslehrlings. Rasch merkt er, dass sein strenger Meister ein Geheimnis verbirgt, das seine Welt für immer aus den Angeln heben wird. Richard muss beweisen, dass er dieser Aufgabe gewachsen ist. Doch als er in London ausgerechnet seine große Liebe wiedertrifft, steht urplötzlich noch viel mehr auf dem Spiel …

Autorenvita

Björn Springorum

© Alexander Wunsch

Björn Springorum wurde 1982 in der Hermann-Hesse-Stadt Calw geboren. Nach dem Studium der Anglistik sowie der Alten Geschichte in Stuttgart wurde er zunächst Textchef beim Musikmagazin Orkus, bald darauf machte er sich selbstständig.

Heute lebt und arbeitet er als Autor und freier Kulturjournalist in Stuttgart, teilt sich eine Wohnung mit mindestens zwei, eher aber drei Katzen und hätte gerne Tage, die 36 Stunden dauern. Mindestens. Wenn er nicht gerade schreibt oder liest, erfreut er sich an hohen und gut bestückten Bücherregalen, ausgezeichnetem Essen und guten Weinen.

Titelseite

Für Old Father Thames

Jeder Schuldige ist sein eigener Henker.

– Nach Lucius Annaeus Seneca

England in der Mitte des 19. Jahrhunderts

Prolog

»Erinnerst du dich daran, was du zu mir gesagt hast, Richard?«

»Dass ich in dich verliebt war, seit ich dich das erste Mal gesehen habe?«

»Nicht das, du Dummerchen. Das andere.«

»Das andere? Ah, du meinst, dass du unschuldig bist?«

»Eben das. Das glaubst du doch immer noch, nicht wahr?«

»Aber natürlich. Das … das bist du doch auch, oder?«

»Was denkst du denn! Dass ich etwas mit dem Tod meiner eigenen Mutter zu tun habe?«

»Nein, nicht doch. Es ist nur …«

»Was? Was ist nur?«

»Hast du nicht selbst gesagt, dass …«

»Und wenn schon. Solange du denkst, dass ich unschuldig bin, ist alles in Ordnung. Er wird bald hier sein, weißt du? Der Henker, meine ich. Der Richter hat es gesagt. Du bist der Sohn des Pfarrers. Dir wird man glauben, wenn du ihnen erzählst, dass wir an diesem Abend oben beim Weiher waren. Du kannst ihnen auch erzählen, dass du mich küssen durftest.«

»Ich soll schon wieder für dich lügen, Liz? Wie letztes Jahr, als die Kinder verschwanden?«

»Für mich? Aber nein, doch nicht für mich. Für uns, Richard. Für uns …«

I

William Calcraft

Seit zwei Tagen war ich nun schon unterwegs nach Osten, und je näher ich der Küste kam, desto dichter wurde dieser verdammte Nebel.

Ich verabscheute den Nebel. Nicht, weil er feucht oder kühl war. Nicht, weil er mich ängstigte. Ich verabscheute ihn, weil ich nicht wusste, wer dort draußen lauerte. Oder was. Was mich aus der Sicherheit des grauen Schleiers heraus beobachtete, mir nachstellte.

Seit mich die Eisenbahn gestern in einer Wolke aus Ruß und Qualm bei Gravesend ausgespuckt hatte, war ich von einem übellaunigen Kutscher und seinen sturen Ackergäulen durch morastige Sümpfe und über windgeplagte Heiden geschleppt worden, die letzten Meilen hatte ich zu Fuß zurückgelegt. Vom Fortschritt, der in der Hauptstadt wie ein neuer Gott gepriesen wurde, war hier nichts zu spüren.

Es kümmerte mich nicht, zu Fuß zu gehen. Ich reiste stets nur mit leichtem Gepäck; alles, was ich für meine Arbeit benötigte, trug ich in einer alten Ledertasche bei mir. Es mochte wenig sein. Doch es zählte bekanntlich nur, was ich damit anrichten konnte. Und das war eine ganze Menge.

Fast hätte ich die Abzweigung nach Sheerness im Nebel übersehen. Hier draußen waren Straßenschilder so selten wie Gasthäuser: Eines zu verpassen konnte in beiden Fällen eine Übernachtung auf der Straße bedeuten.

Nicht, dass Zeit in meinem Beruf eine allzu große Rolle spielte. Meist verhielt es sich sogar so, dass man mein Kommen wie die Überbringung einer schlechten Nachricht hinauszögern wollte. Dass man froh war, wenn ich eine Abzweigung verpasste.

Manchmal war jedoch auch in meiner verhassten Zunft Eile geboten. Und in diesem Fall durfte ich mich keinesfalls verspäten. Das sagte mir mein Instinkt. Nach all den Jahrzehnten, nach all den ausgeführten Aufträgen, nach all den … Konfrontationen hatte ich gelernt, ihm zu vertrauen.

Meine Arbeit war es, die mich regelmäßig aus diesem stinkenden Loch namens London hinausführte. Sie war es, die mich gottverlassene Geisterstädte wie dieses erbärmliche Sheerness direkt an der Küste aufsuchen ließ. Ich war Henker von Beruf. Und mein Ruf eilte mir voraus.

Die Menschen mieden mich, wie sie einen Aussätzigen mieden. Sie hielten Abstand zu mir wie zu einem Kriminellen, obgleich ich es war, der die Verbrecher richtete und ihr Leben wieder sicher machte. Sie fürchteten mich ebenso sehr, wie sie mich brauchten. Eine der vielen Unsinnigkeiten im Umgang der Menschen mit des Lebens letztem Richter, dem Tod. Ganz zu schweigen von den Hinrichtungen. Da strömte er plötzlich zusammen, der Pöbel, als wäre ich ein Zauberkünstler, der die Massen mit Rauch und Spiegeln in Atem hielt. Herrje, sogar für Kinder war meine Arbeit eine willkommene Abwechslung!

Mir war es gleich. Abseits des Richtplatzes ließ die Welt mich in Ruhe. Überdies sorgte mein Beruf dafür, dass nur ein Narr auf die Idee kam, mich auszurauben. Es brachte angeblich Unglück, einen Henker zu bestehlen.

Wer es doch versuchen wollte, fand nicht allzu viel von Wert in meinen Manteltaschen. Geld trug ich nie viel bei mir, in meiner Tasche befanden sich lediglich zwei Kapuzen und mein Strick. Alles, was ich außerdem für meine Arbeit brauchte, war ein Galgen. Und den gab es in diesen dunklen Zeiten fast in jeder Stadt.

Als ich über einen Hügel stieg, sah ich die Küste. Bleiern verlor sich das Meer vor mir in der Ferne. Die feine Linie zwischen Himmel und Wasser, der Horizont, war nicht auszumachen.

Einmal mehr hatte mich irgendetwas an die Küste geführt. Am Wasser, so wusste ich, waren sie stets am zahlreichsten gewesen. Offenes Gewässer mieden sie, ja sie hassten es regelrecht. Dennoch spürte ich sie hin und wieder sogar an den Küsten auf.

In letzter Zeit waren sie zahlreicher geworden. Das musste nichts bedeuten. Ich war jedoch auf der Hut, stets wachsam wie ein getreuer alter Köter. Ich hatte auf die harte Tour lernen müssen, jedes noch so kleine Anzeichen ernst zu nehmen.

Ich wusste nicht, wann es so weit war, da konnte ich einen noch so guten Instinkt haben. Diesmal jedoch, das spürte ich, war etwas anders. Sie waren ohne jeden Zweifel zahlreicher geworden. Zahlreicher und wagemutiger. Böser. Ich blickte auf die leblose Stadt. Ob mich hier ein Hinterhalt erwartete? Unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen. Nach allem, was ich wusste, bereiteten sie sich vor. Wo sie das taten, blieb mir verborgen. Wie ich es hasste, wenn sie mir einen Schritt voraus waren!

Wo wir gerade bei Hass waren. Ich hasste auch diese Flecken im Nichts. Diese freudlosen Käffer, in denen Fremde so willkommen waren wie die Pest. Aber irgendjemand musste diese Arbeit ausführen. Ob das nun ich oder ein anderer tat, spielte keine Rolle. Oder sagen wir besser: Es spielte für die meisten keine Rolle. Da war eben immer noch diese andere Sache. Meine heimliche Aufgabe, die mich hergeführt hatte. Meine Mission. Ich war sicher, dass mein Gefühl mich nicht getrogen hatte. Und wenn doch, so konnte ich zumindest die ein oder andere Münze einstreichen.

Zehn Pfund für jede aufgeknüpfte Seele bezahlten sie mir, ein lächerlich hoher Preis, wie mir schien. Zehn Pfund dafür, dass ich einem verurteilten Verbrecher die Kappe über den Kopf zog, ihm den Strick um den Hals legte, den Schemel unter den Füßen wegtrat und ihn ins Jenseits schickte? Von dieser Summe konnte ein bescheidender Engländer einen Monat bequem leben. Und wenn ich etwas war, dann bescheiden.

Einige der armen Teufel hatten sich vor ihrem letzten Gang eigens für mich in ihren feinsten Zwirn gehüllt. Sie wussten, dass ich das Recht hatte, nach ihrem Tod ihre Kleidung an mich zu nehmen. Als würde das ihr Schicksal ändern! Das ein oder andere Mal hatte ich das auch in Anspruch genommen, ich war schließlich noch nie jemand gewesen, der Gelegenheiten ungenutzt verstreichen ließ. Der Aufschrei der geheuchelten Pietät war so groß gewesen, dass ich es mir sogleich wieder abgewöhnte.

Doch ich beschwerte mich nicht. Es war die Arbeit des Todes, die ich ausführte, und es war der Tod, den ich mit mir führte. Das mochte manch anderem Angehörigen meiner glücklosen Zunft aufs Gemüt schlagen. Mich ließ es kalt. Der Tod war mein Gott, doch ich brachte ihm keine Verehrung entgegen. Ich fürchtete ihn nicht. Er gehörte zum Leben wie die Nacht, die Trauer und der Winter. Kein Leben war vollständig ohne ihn.

Diesmal hatte ich die Stadt fast erreicht, bis mich die ersten Menschen auf der Straße erkannten. Was dann passierte, war ein wohlbekanntes Possenspiel, das ich zahllose Male mit wechselnden Akteuren aufgeführt hatte. Ihre Blicke wandelten sich von Neugier zu einer Maske aus Furcht und Abscheu, Kinder wurden beiseitegenommen, Türen und Fenster hastig geschlossen, Straßenseiten gewechselt. Das war wohl der Preis dafür, wenn man über 30 Jahre lang im Namen ihrer Majestät Königin Viktoria den Tod über verurteilte Verbrecher brachte. Selbst Lieder gab es über mich. Sie wurden kleinen Kindern vorgesungen, wenn sie nicht brav waren.

»Wo ist der Bürgermeister?«, rief ich. Das Geräusch davoneilender Schritte antwortete mir, danach folgte Stille. »Oder der Richter?« Ich senkte resignierend die Stimme. »Irgendjemand eben, der nicht vor mir davonläuft.«

Nichts.

Ich brauchte die abergläubische Dorfbevölkerung nicht, um an die nötigen Informationen zu kommen. Ich wusste, welchen Ort ich dafür aufsuchen musste – darin glich jedes Dorf dem anderen.

Im Pub herrschte das Fieber. Es war heiß, schwitzig, glühend, der Geruch von Bier, Pfeifenrauch und Schweiß umschlang alles wie der Nebel draußen vor der Tür.

»Wo ist der Bürgermeister?«, fragte ich erneut, nachdem ich an den klebrigen Tresen getreten war.

»Wer will das wissen?«, murmelte der Wirt. Er machte sich nicht einmal die Mühe, mich anzusehen. Fremde waren in diesen Teilen des Landes nie besonders willkommene Gäste. Selbst dann, wenn sie keine Henker waren.

»William Calcraft, Wirt«, sagte ich besonders laut.

Die Wirkung meines Namens war einmal mehr erstaunlich. Sofort verstummten alle Gespräche in dem niedrigen Raum, das Knistern des Kaminfeuers und das gelegentliche Aufstoßen eines besonders eifrigen Trinkers waren die einzige Geräuschkulisse.

Der Wirt drehte sich langsam um. »Verzeiht, mein Herr«, begann er mit brüchiger Stimme. »Ich habe Sie nicht erkannt.«

»Nicht hingeschaut hast du, du Nichtsnutz!« Verdammt, machten mich diese Menschen vom Land wütend! »Wo ist der Bürgermeister? Ich muss ihn sprechen. Ich möchte hier keine Wurzeln schlagen.«

»Francis«, brüllte der Wirt durch den Raum.

Verschüchtert blickten sich einige der Zecher um. Vor dem Kamin schreckte ein junger Bursche hoch und blickte mich mit großen Augen an. »Hol den Bürgermeister. Sag … sag ihm, der Henker ist hier.«

»Nicht nötig«, fuhr ich dazwischen. »Du wirst mich hinführen, Junge. Ich habe kein Interesse, in diesem Loch zu warten.«

Das schien den Wirt trotz meiner offensichtlichen Beleidigung zu erleichtern. Der Knabe indes erbleichte und blickte mich ungläubig an. »Ich soll …«, begann er mit tonloser Stimme.

Er tat mir fast ein bisschen leid. Fast. »Mich zum Bürgermeister führen. Ist das denn so schwer zu verstehen? Los jetzt, meine Zeit ist kostbar.«

Die des Jungen offensichtlich auch. Wie ein aufgescheuchtes Huhn eilte er vor mir durch die Straßen, drehte sich alle paar Schritte mit angstvollem Blick zu mir um und hastete dann weiter durch die engen Gassen. Es roch nach Salzwasser und nach Morast, hin und wieder durchbrach der Schrei einer Möwe die Stille dieser geisterhaften Nebelwelt.

»Hier, Herr«, brachte das zitternde Etwas vor einem großen, aber schmucklosen Gebäude hervor. »Dürfte ich dann …«

»Ja, ja, scher dich fort«, meinte ich beiläufig und erklomm die Stufen.

Noch bevor ich mit meinem Stock an die hohe Holztür klopfen konnte, schwang sie auf und ein fülliger Mann mit schütterem strähnigem Haar erschien in der Öffnung. Eine Wolke aus Wein und Gebratenem schlug mir entgegen.

»Mister Calcraft, wir haben Sie erwartet. Können wir?«

In Sheerness hielt man offensichtlich nichts von allzu langen Begrüßungszeremonien und dem Austauschen von oberflächlichen Höflichkeiten. Selbst das obligatorische Vorbereitungsgespräch schien übergangen zu werden. Mir kam das entgegen. Ich wollte endlich wissen, ob mein Instinkt ein weiteres Mal recht behalten sollte.

»Sicher«, entgegnete ich kühl. »Gehen Sie voran. Der Richter …«

»… wird unverzüglich informiert. Wir haben Sie längst erwartet und die nötigen Vorkehrungen getroffen. Je schneller wir diese Dinge aus der Welt schaffen, desto eher können wir in Ruhe weiterleben. Die Verurteilten werden sogleich aus den Zellen geholt. Der Pfarrer ist bereits bei ihnen.«

»Was wirft man ihnen vor?«, fragte ich den Bürgermeister, als wir gemeinsam in Richtung Hafen liefen. Nicht, dass es mich sonderlich interessierte. Sagen wir, es war eine rein statistische Frage. Seit wenigen Monaten drohte für lediglich fünf Arten des Verbrechens die Todesstrafe. Wenige Jahre zuvor waren es noch 222 gewesen – die seligen Zeiten des Blutigen Kodex, in denen ein Straßenjunge sogar für das Stehlen eines Brotes an den Galgen gekommen war.

»Oh«, sagte er unbekümmert und machte eine ausladende Handbewegung. »Sie wissen schon: Hochverrat, Brandstiftung, vielleicht sogar Mord.«

Ich blieb stehen. »Vielleicht?«

»Sie streitet es natürlich ab, das kleine Biest, aber Sie wissen ja, wie dieses Gesindel ist.« Der Bürgermeister schnaufte und es bereitete mir einige Genugtuung, meinen schnellen Schritt nicht zu verlangsamen. »Kein wahres Wort kommt über ihre Lippen.«

Ja, ich wusste, wie diese Verbrecher waren. Ich wusste aber auch, wie diese Richter waren. Es mutete erstaunlich an, wie schnell sie bisweilen mit einem Todesurteil bei der Hand waren. Schuldig oder nicht, das war nicht immer eindeutig zu bestimmen. Doch ich hatte eigentlich längst aufgehört, darüber nachzudenken. Wenn man in meiner Position einmal damit anfing, wurde man seines Lebens nicht mehr froh.

»Natürlich«, entgegnete ich knapp und eilte weiter. Ich hatte nicht die geringste Lust, mich auf ein Gespräch über die wahre Natur der Verbrecher einzulassen. Viel zu oft war es schwer zu sagen, auf welcher Seite sie eigentlich standen.

Am Dock wurden die Straßen belebter. Eine Hinrichtung ließ sich selbst hier niemand entgehen. In London sorgten sie seit einiger Zeit regelmäßig für ein Verkehrschaos, wenn Zehntausende Gaffer auf den Platz vor dem Newgate-Gefängnis strömten. Das war nicht besonders schön anzusehen und sorgte regelmäßig für Skandale, wenn Adlige unter den Schaulustigen entdeckt wurden.

»Nicht übel, dieser Nebel, was?«, plauderte der Bürgermeister. Ich wusste nicht einmal, wie er hieß. Es interessierte mich auch gar nicht. Ein oberflächliches Gespräch wie dieses ebenso wenig, also schwieg ich. Dem Bürgermeister war das egal. »Ich sehe, Sie tragen alte Stiefel«, meinte er munter. »Und Sie tun recht daran. Hier in Sheerness sagen wir gern, dass es sich gar nicht lohnt, teure Schuhe zu tragen. Die sieht man bei all dem Nebel eh so gut wie nie.«

Er lachte meckernd und verschluckte sich dabei. Teufel, waren wir bald da?

Kinder wuselten um den Richtplatz herum. »Schert euch fort!«, herrschte ich sie an und wandte mich an den Bürgermeister. »Sehen Sie zu, dass die Kinder verschwinden. Der Tod ist kein Spielgefährte.«

»Das können Sie unmöglich ernst meinen!«, entfuhr es dem dicken Mann. »Sie freuen sich seit Tagen darauf.«

Ich schüttelte den Kopf und bestieg das Schafott. Der Richter erwartete mich bereits mit ernstem Blick. Ich konnte die bedeutungsschwangeren Mienen dieses wichtigtuerischen Berufsstandes nicht ertragen. »Irgendwas, das ich wissen muss?«, fragte ich, ohne ihn anzusehen.

»Ah, Calcraft. Schön, dass wir uns mal persönlich kennenlernen! Edwards mein Name. Nun, das Übliche, denke ich. Ich muss Ihnen ja nicht erzählen, dass es hier in Sheerness sonst nicht allzu viel Unterhaltung gibt. Wenn Sie also die Güte hätten, Ihr … Spezialprogramm aufzuführen, wären wir Ihnen sehr verbunden.«

Ich zog es vor zu schweigen. Der Umgang dieser Menschen mit dem Tod war an Geschmacklosigkeit nicht zu übertreffen. Sie sahen in mir den seelenlosen Henker, den Adjutanten des Todes, der seine Opfer mit Freuden an den Strick führte und aus ihrer Hinrichtung ein Spektakel für die Massen machte. Der sie quälte, indem er das grausame Spektakel ins Endlose hinauszögerte. Wenn sie nur wüssten, weshalb ich das tat!

Ich schluckte eine scharfe Bemerkung herunter und nickte.

»Wir werden es natürlich entsprechend vergüten, hat mir der Bürgermeister zugesichert«, fügte der Richter an.

»Wann treffen die Verurteilten ein?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln.

In diesem Moment erhob sich ein Chor an Beleidigungen, höhnischem Gelächter und Pfiffen. Auf das Empfangskomitee der Verurteilten war wie gewöhnlich Verlass. Die Menge war beachtlich angeschwollen, von allen Seiten strömten mehr Menschen heran. »Das beantwortet die Frage dann wohl«, meinte ich leise und machte mich an die Vorbereitungen.

Zwei waren es heute. Der Strick am Galgen wirkte stabil und dick, dennoch knüpfte ich mit geübter Hand zwei Schlingen aus meinem persönlichen Bestand. Guter Strick war nicht günstig, doch ich zog es vor, mit meinem Material zu arbeiten.

»Hoch mit euch, ihr Teufel!«, rief ein bösartig dreinblickender Mann. Wohl einer der Wärter, vermutete ich. Warum immer die Grausamsten an Arbeit wie diese kamen, hatte ich in all meinen langen Jahren als Henker nie verstanden. Dasselbe galt im Übrigen für Lehrer, Politiker, Heimleiter, Gouvernanten oder Stiefväter. Alles keine besonders angenehmen Zeitgenossen.

Angeführt von einem leise singenden Pfarrer schob sich der erste Verurteilte an mir vorbei, wie es die meisten taten. Ängstlich, ohne Hoffnung, den leeren Blick auf den Holzboden des Schafotts gerichtet.

Dann kam sie.

Ich spürte sofort, dass bei ihr etwas anders war. Dass hier keine normale Verurteilte vor mir stand. Dieses sonderbare Mädchen mit den langen schwarzen Haaren schaute mich direkt an. Starrte mir mit festem Blick in die Augen, ihr Gesicht ein Bildnis der wissenden Gleichgültigkeit. Ich gebe zu, dass ich einen Moment zögerte. Unsicher war. Nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte.

Richter Edwards trat vor, um die Urteilsverkündung zu verlesen. Doch er kam nicht weit. »Aufhören!«, ertönte eine laute Stimme im Pöbel. »Hört sofort auf damit!«

Ein junger Mann drückte sich durch die Menge. Er hatte halblange Haare und trug zerschlissene Kleider. Nichts Ungewöhnliches in dieser Zeit und in dieser Gegend. Seine Augen hingegen waren ungewöhnlich. Sie waren fest auf das verurteilte Mädchen neben mir geheftet, weit aufgerissen und entschlossen. »Scher dich fort, Richard«, erhob der Richter die Stimme. »Du solltest gar nicht hier sein.«

Der Neuankömmling beachtete den Kerl mit der lächerlichen Perücke nicht und richtete seine Worte direkt an mich. »Bitte, Sie müssen sie verschonen. Sie ist unschuldig.«

So etwas hörte ich bei meiner Arbeit alles andere als selten, aber da war etwas, das mich hellhörig werden ließ. »Wie meinst du das, Junge?«, fragte ich.

»Hören Sie nicht hin, Calcraft!«, fuhr der Richter dazwischen. Er wandte sich um. »Pfarrer Winters, haben Sie mir nicht ausdrücklich zugesichert, Ihr Sohn sei eingesperrt?«

»Doch, ich …«, begann der Pfarrer mit der seltsam hohen Stimme. »Richard, scher dich fort, du ungezogenes Balg!«

»Ich werde alles tun, wenn Ihr mich anhört«, rief der Junge unbeirrbar. »Sie war es nicht. Liz ist keine Mörderin!«

Jetzt schaltete sich auch der Pöbel ein. »Und ob die elende Hexe das ist! Hat die eigene Mutter auf dem Gewissen«, rief jemand, ein anderer gab sich mit einem »Erhängt sie!« zufrieden. Grollen und Murren drang durch den Dunst. Zumindest das Volk schien sich in dieser Sache einig zu sein. Wahrscheinlich wollte es sich das Spektakel aber nur um keinen Preis entgehen lassen.

Ich wandte mich zu dem Mädchen um. Regungslos stand es da, den Blick in die Ferne gerichtet. War das allen Ernstes der Anflug eines leisen Lächelns um seine Lippen? Was wurde hier nur gespielt? Konnte es sein, dass …

Für einen kurzen Augenblick sah es mich wieder an. Ich zuckte zurück. So etwas hatte ich noch nie verspürt. Hier ging irgendetwas vor sich. Etwas, wofür ich vielleicht noch nicht bereit war.

»Machen Sie Ihre Arbeit, Calcraft.« Die Stimme des Richters klang jetzt leise und gefährlich. Jedoch schwang auch Besorgnis in ihr mit. Nervosität. »Tun Sie das, wofür wir Sie so fürstlich entlohnen.«

»Ich spreche zuerst mit dem Jungen.« Ich wusste, dass ich zu weit ging. Vor mir standen zwei zum Tode verurteilte Verbrecher, das Urteil anzuzweifeln stand mir nicht zu. Ich musste es dennoch riskieren. Wann hatte mich mein Gefühl zuletzt im Stich gelassen? Es war lange her.

Ich stieg vom Richtplatz herab. »Führt die Verurteilten zurück in ihre Zellen. Die Hinrichtung ist vertagt!«, teilte ich den Wachen in schroffem Ton mit. »Und du, Junge …«

»Er wird nirgendwo hingehen«, ertönte die schrille Stimme des Pfarrers. Sein Gesicht war rot angelaufen und er mühte sich unbeholfen die Treppe herab, der Blick feurig vor Zorn. »Was habe ich dir gesagt, du …«

»Das ist mir egal!«, spuckte der Junge trotzig aus.

Ich bewunderte seinen Mut. Er schien kaum älter als 14 zu sein, das Kind hatte sein Gesicht noch nicht verlassen. Doch er wich nicht zurück. Eine Furchtlosigkeit umgab ihn, die ich in dieser reinen Form selten erlebt hatte. »Ihr dürft das nicht tun! Liz ist unschuldig!«

Mittlerweile hatten die anwesenden Wachen und Polizisten alle Hände voll zu tun, die Menge im Zaum zu halten. Eine vertagte Hinrichtung konnte ganz schön ungemütlich werden, das hatte ich in London mehr als einmal hautnah miterlebt.

»Calcraft, wie können Sie es wagen?«, zischte der Richter. Er und der Pfarrer hatten sich vor mir aufgebaut. Dick pulsierten ihre Adern auf der Stirn. »Das werden wir melden!«

»Meinetwegen«, entgegnete ich abfällig. »Aber zunächst unterhalten wir uns mit dem Jungen. Ich folge Ihnen!«

»Sie gehen eindeutig zu weit, Calcraft! Denken Sie, dass Sie sich hier draußen alles erlauben können, weil Sie im Auftrag der Krone handeln und aus London kommen? Da täuschen Sie sich gewaltig, Freundchen. Das wird ein Nachspiel haben!«

Das unangenehm hohe Organ des Pfarrers ließ meine Ohren rauschen. Wir saßen in einem dunklen Sitzungssaal im Rathaus, der Junge stumm und trotzig in einer Ecke, ich an einem Tisch. Richter Edwards und Pfarrer Winters hatten sich drohend vor mir aufgebaut, der Bürgermeister lief unruhig auf und ab.

Ich bewahrte Ruhe. »Ich weiß, was ich tue. Ich bin nicht umsonst seit über 30 Jahren der oberste Henker im Vereinigten Königreich. Ich spüre, wenn irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht.« Das tat ich wirklich – selbst wenn ich es ganz anders meinte, als ich es sagte. Die Wahrheit hätte die Menschen nur zu Tode geängstigt.

»Und was, denken Sie, soll das sein?«, schaltete sich der Bürgermeister ein.

Interessant: Er war offensichtlich nervös.

»Sie wissen doch sicherlich, dass der Blutige Kodex längst abgeschafft wurde«, begann ich. »Dass es mittlerweile unter schwerer Strafe steht, zu Unrecht Verurteilte ins Jenseits zu befördern.«

»Seit wann gibt sich denn ein Henker als Moralapostel aus?«, höhnte der Richter. »Zerren die vielen Seelen, die Sie ermordet haben, an Ihrem Gewissen?«

»Ich habe niemanden ermordet«, entgegnete ich gelassen. »Das haben die Verurteilten stets selbst getan. Und nun raus mit der Sprache«, wandte ich mich zu dem Jungen in der Ecke. »Richard ist dein Name, richtig?«

Der Junge nickte entschlossen.

»Wieso ist sie unschuldig, Richard? Du weißt, was auf dem Spiel steht, wenn du lügst.«

»Ich lüge nicht. Mein Vater, er …«

»Ich warne dich!«, brachte der Pfarrer gefährlich leise zwischen zusammengepressten Lippen hervor. Er war offensichtlich alles andere als glücklich über seinen Sohn. »Noch ein Wort, und …«

Neuer Mut flammte in den Augen des Jungen auf. »Er hat es selbst gesagt! Sie wollen sie loswerden, weil sie, nun ja, weil sie etwas schwierig ist.«

»Schwierig!«, rief der Richter aus. »Sie stiftet nur Unheil in dieser Stadt. Legt Feuer, stiehlt, zerstört Eigentum, prügelt sich …«

»Und mordet?«, fragte ich mit hochgezogenen Brauen.

»Nein!«, brach es aus Richard heraus. »Bitte, Sie dürfen nicht zulassen, dass sie sie an den Galgen bringen. Ich werde alles dafür tun!«

Etwas an der Art des Jungen imponierte mir. Er war tatsächlich furchtlos, stellte ich erstaunt fest. Einen wie ihn konnte ich auf meinen gefährlichen Reisen gut gebrauchen.

»Wie alt bist du, Junge?«, fragte ich ihn.

»14, Mister.«

»Und du bist dir wirklich ganz sicher?«

Er nickte hastig.

»Das haben wir nun davon!«, entfuhr es dem Bürgermeister. »Ich war von Anfang an dagegen, aber ihr wolltet ja nicht auf mich hören. Und jetzt hast du nicht mal deinen Sohn von der Hinrichtung fernhalten können, du verdammter Pfaffe!«

Wild gestikulierend stürmte der Bürgermeister aus dem Raum. Eine peinliche Stille entstand. Was wurde hier nur gespielt? Nur in einem Punkt war ich sicher: Irgendetwas stimmte mit dem Mädchen nicht. Aber wieso war ich regelrecht zurückgeschreckt, als ich ihr gegenübergestanden hatte?

»Was geht hier vor?«, verlangte ich zu wissen. »Wir haben es doch nicht etwa auf eine kleine Hexenjagd angelegt, oder?«

»Hüten Sie Ihre Zunge, Henker. Wir sagen nichts mehr dazu!« Der Pfarrer gab sich trotzig wie ein kleines Kind. »Und was dich angeht, du undankbares Stück …«

»Lassen Sie den Jungen aus dem Spiel. Er hat mehr Mumm in den Knochen als Sie alle zusammen! Richter«, wandte ich mich schroff an den aufgeblasenen Kerl mit der verrutschten Perücke. Ich musste nachdenken. Die nach abgestandenem Pfeifendunst stinkende Luft in diesem Zimmer war nicht gerade hilfreich dabei. »Wenn London diese Angelegenheit überprüft, kann es schnell passieren, dass Sie statt ihrer aufs Schafott wandern. Sie begehen Verrat an der Krone, sollte der Junge die Wahrheit sagen.«

»Sie messen dem Wort eines törichten Balgs mehr Gewicht bei als dem unseren? Calcraft, Sie sind ein Narr!«

Vielleicht war ich das. Vielleicht aber auch nicht. Ich war lediglich sicher, dass mir dieses Mädchen große Schwierigkeiten bereiten würde. Schuldig oder nicht.

Ich musterte den Jungen. Er war bereits recht groß, schien in guter körperlicher Verfassung zu sein. Etwas hager vielleicht. Der Plan, der gerade in mir Gestalt annahm, war vielleicht tollkühn, vielleicht schlicht und ergreifend dumm und tödlich für viele. Ich hoffte jedoch, dass er der richtige war.

»Es kümmert mich nicht, was Sie in mir sehen, Edwards. Ich werde Ihnen jetzt einen Vorschlag unterbreiten.« Ich pausierte. »Nun, keinen Vorschlag, denn eine Wahl haben Sie nicht. Sie lassen das Mädchen frei und geben den Jungen in meine Obhut. Er wird fortan mein Lehrling sein.«

Richards Gesichtszüge entgleisten, auch der Richter blickte mich fassungslos an. Einzig der Pfarrer schien Gefallen an diesem Vorschlag zu finden. »Und wenn wir diesem … Vorschlag, wie Sie es nennen, zustimmen? Was dann?«

»Dann wird niemand von dieser Angelegenheit erfahren. Und das dürfte Ihnen allen lieb und teuer sein, wenn Sie das kleine bisschen Einfluss behalten wollen, das Ihnen Ihre armselige Position zugesteht.«

Was tat ich hier? Wenn dieses Mädchen doch eine Mörderin war, beging ich gerade Hochverrat. Konnte ich wirklich so sicher sein? Ich horchte in mich hinein.

Ja, ich war es. Leider. Ich wusste schon seit vielen Jahren, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Ob er der Richtige für diese Aufgabe war, vermochte ich natürlich nicht zu sagen. Niemand konnte das. Ich wusste ja nicht einmal, ob ich der Richtige war. Ob ich dem gewappnet war, was unausweichlich vor mir lag.

»Gut, gut, nehmen Sie den Jungen und hauen Sie ab. Ich habe keine Verwendung für ihn. Macht immer nur Ärger, will nicht lernen, taugt nicht zum Pfarrer und zu etwas anderem auch nicht. Bei einer Vogelscheuche wie Ihnen ist mein undankbarer Sohn gut aufgehoben, Calcraft.« Er lachte schrill. »Der Henker und sein Lehrling. Wie drollig! Dann schnappen Sie sich den Nichtsnutz, schicken zumindest den anderen Sünder in die Hölle, falls Sie nicht schon vergessen haben, weshalb Sie hier sind, und sehen dann zu, dass Sie verschwinden!«

»Bist du einverstanden, Richard?«, fragte ich und ignorierte die Beleidigung. Auf stumpfe Provokation ließ ich mich schon lange nicht mehr ein.

Der Junge blickte mich mit großen Augen an. So hatte er sich den Verlauf des Gesprächs offensichtlich nicht vorgestellt. Ich mir auch nicht, doch ich durfte diese Situation nicht ungenutzt lassen. So etwas hatte ich noch in keinem Jungen gespürt.

»Wenn Liz dadurch verschont wird«, sagte er mit brüchiger Stimme, »werde ich es tun.«

»Das wird sie«, sagte ich bestimmend. »Lasst sie mit sofortiger Wirkung frei, gebt ihr etwas Geld und setzt sie in eine Kutsche.«

»Aber …«, begann Richard stockend. »Kann ich mich nicht von ihr verabschieden?«

»Was erlaubst du dir, du Bengel«, schaltete sich sein Vater ein. »Sei froh, dass sie nicht längst am Galgen baumelt!«

In den nächsten Jahren würde kein Tag vergehen, an dem ich mich nicht fragte, ob das nicht vielleicht besser gewesen wäre.

II

Richard Winters

»Los, Junge, runter von der Straße!«

Ehe ich mich versah, hatte mich der Alte in den Straßengraben gestoßen. Der Alte … So nannte ich ihn natürlich nur für mich. Seit er mich im Tausch gegen Elizabeths Leben als Lehrling aufgenommen hatte, waren einige Monate vergangen. Und ein Spaziergang war diese Zeit wahrlich nicht gewesen. Eher ein grausamer Marsch von Galgen zu Galgen, von Tod zu Tod. Dass uns die Krähen noch nicht folgten, wunderte mich ein wenig.

»Autsch!« Irgendetwas presste sich schmerzhaft in meine Rippen. Eine Wurzel, na wunderbar.

Er kauerte sich neben mich, sein Atem rasselnd, sein Blick wild. Mehr denn je sah er aus wie ein verschlagener Raubvogel. Dass ich mir die Rippen geprellt hatte, schien ihn ebenso wenig zu stören wie der Riss in meinem Mantel. War ja nur ein weiterer. Bald schon würde er nur noch aus Rissen, Flecken und Flicken bestehen. Eigentlich erstaunlich, dass man mir nicht ein paar Münzen zuwarf wie einem Bettler.

Wahrscheinlich trauten sie sich nicht, weil ich mit William Calcraft unterwegs war, meinem Meister. Seit einigen Wochen war er noch verschwiegener, schroffer und abweisender als sonst. Und das hatte bei einer Person wie ihm wirklich etwas zu bedeuten. Er begegnete jedem Fremdem mit Misstrauen und Feindseligkeit, wirkte angespannt. Beinahe so, als erwartete er etwas. Jetzt schien er mir allerdings völlig übergeschnappt. Und das, wo er mir schon unter normalen Umständen gehörig Angst einjagen konnte.

»Was ist denn?«, wagte ich nach einigen Augenblicken zu fragen.

»Schweig!«, zischte er bloß, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »Etwas nähert sich.«

»Etwas?«

Mein Meister blieb mir eine Antwort schuldig. Stattdessen versteckte er sich hinter einem Busch, die Augen auf die schlammige Straße gerichtet, die rechte Hand in der Manteltasche. Was er wohl darin verbarg?

»Was auch passiert: Du rührst dich nicht von der Stelle. Niemand darf dich sehen, verstanden?«

Ein klapperndes Geräusch ertönte, dann schälte sich ein Eselskarren aus dem Nebel. Darauf saß eine zusammengesunkene Gestalt, den Hut tief ins Gesicht gezogen, die Peitsche schlaff in der Hand. Sie schien zu schlafen.

»Und deswegen stoße ich mir die Rippen?«, fragte ich. »Das ist doch nur ein Kutscher.«

In dem Moment sprang der Alte auf und stürmte auf den Karren zu. Seine Schnelligkeit überraschte offenbar nicht nur mich.

Natürlich blieb ich nicht in meinem Versteck. Das mit dem blinden Gehorsam hatte mir noch nie besonders gut gefallen. Ich robbte ein Stück höher und sah, wie mein Meister auf den Wagen zustürmte. Die Esel schrien und scheuten, der Kutscher fiel vor Schreck fast von seinem Bock und ließ seine längst erloschene Pfeife in den Schlamm purzeln.

»Zeig dich!«, dröhnte die Stimme meines Meisters durch die kalte Nässe. Sie klang böse und einschüchternd. Mit der einen Hand hatte er die Esel am Zügel gepackt, mit der anderen den kurz geratenen Kutscher am Genick.

»Was wollen Sie?«, schrie der und schlug wild um sich. Doch Calcraft war nicht nur schneller, als man ihm das jemals zugetraut hätte, er war auch viel stärker. Er hob ihn einfach vom Kutschbock in die Höhe. »Was wollen Sie denn?«, wimmerte der Fremde.

»Sag du es mir, du Wicht! Will ich etwas von dir?«

Ich hockte regungslos im Graben, unfähig, wegzusehen. Gehörte das etwa auch zu den täglichen Aufgaben eines Henkers? Ich bezweifelte es stark.

»Wie meinen Sie das denn?« Die Stimme des Kutscher schlug in nackte Panik um. Kein Wunder, wenn dich ein wahnsinniger alter Mann aus deinen Träumen reißt! »Ich will doch nur zum Markt.«

Calcraft gab ein Knurren von sich, dann ließ er den zu Tode verängstigten Kutscher sinken und gab die Zügel frei. »Dann los. Nichts für ungut, auf diesen Straßen kann man nie wissen.«

Erst als dieser eilig das Weite gesucht hatte, wagte ich mich vollständig aus meinem Versteck hervor. Gespannt auf eine Erklärung klopfte ich mir notdürftig Schlamm und Blattwerk von der Kleidung.

Doch Calcraft ging einfach weiter, als sei nichts geschehen. »Trödle nicht, Junge. Ich will heute noch raus aus dem Regen!«, drang seine Stimme zu mir. Ich biss mir auf die Zunge, um eine gepfefferte Antwort zu unterdrücken. Nach einigen Wochen an der Seite dieses Mannes hatte ich gelernt, mein Mundwerk zu zügeln. Auch wenn es mir immer schwerer fiel.

»Wie weit ist es denn noch?«, rief ich voraus, wo ich die hagere Gestalt undeutlich auf der verlassenen Landstraße ausmachen konnte.

»Wenn wir da sind, sind wir da.«

Ganz wunderbar, immer diese hilfreichen Bemerkungen. Ich fluchte und stapfte weiter, der Mantel klebte an meinem Körper, die Stiefel waren längst durchnässt, die Kälte hatte meinen Körper erfolgreich erobert. Ich würde in der nächsten Stadt einen Schuhmacher aufsuchen müssen. Schon wieder. Andere Lehrlinge gaben ihren kümmerlichen Lohn für ihr Vergnügen aus, ich, um meine Kleidung beisammenzuhalten.

Früher hatte ich immer davon geträumt, die Welt zu entdecken. Ferne Länder zu bereisen, neue Orte zu besuchen, Abenteuer in der Wildnis zu bestehen, nach Möglichkeit sogar mit einem Heißluftballon zu fliegen. Was ich von der Welt gesehen hatte, seit ich der Lehrling von William Calcraft war, könnte sich nicht stärker davon unterscheiden. Arme Dörfer, missmutige Kutscher, tückische Moore, unfreundliche Dorfbewohner, die uns behandelten wie Aussätzige – nicht besonders abenteuerlich.

Immerhin entschädigte die gelegentliche Fahrt mit der aufregenden Eisenbahn für die eine oder andere Mühsal, die ich erdulden musste. Das und die Gewissheit, dass ich Liz gerettet hatte. Das ließ mich mein Los ein wenig leichter ertragen. Auch wenn ich mich langsam fragte, ob ich sie jemals wiedersehen würde.

Der Tag, an dem der Henker in unsere Stadt gekommen war, war der Tag gewesen, an dem mein altes Leben geendet hatte.

Manche werden sagen, ich sollte froh sein, dass nur mein altes Leben geendet hatte. Eine Begegnung mit einem Henker war für viele schließlich das Ende des Lebens im Allgemeinen. Mein Schicksal erleichterte das nur bedingt. Für weite Teile des Landes war ich sowieso praktisch tot, seit mich Calcraft als Lehrling aufgenommen hatte. Man mied uns, wohin wir auch kamen, brachte uns nichts als Angst, Abscheu und Ablehnung entgegen. Der Alte ertrug das mit einer Ruhe, die mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Würde ich eines Tages genauso werden?

Ach was! Unsere Arbeit war die Arbeit des Todes, doch ich weigerte mich, ihn über mein Leben bestimmen zu lassen. Das tat er schon bei all den anderen armen Teufeln, die mir bisher begegnet waren. »Wo es Menschen gibt, gibt es den Tod. Es wäre töricht, das eine vom anderen trennen zu wollen. Wir sind nur Diener des Gesetzes«, hatte Calcraft mir vor meiner ersten Hinrichtung gesagt. Und ich klammerte mich an diese Worte. Drei Hinrichtungen hatte ich in den letzten Wochen an der Seite meines Meisters mit angesehen. Drei Hinrichtungen, die mir noch immer Albträume bescherten – jede Nacht, wenn wir in einem miesen Gasthaus unterkamen und für ein paar Stunden auf durchgelegenen Betten ruhen konnten.

Ich schleppte mich weiter durch den Regen. Meine Haare waren lang geworden, nass und kalt klebten sie mir an der Wange. Längst sehnte ich mich nur noch nach einer heißen Suppe und einem Feuer. Obwohl es Herbst war, waren die Nächte bereits bitterkalt.

»Was war das gerade gewesen?«, traute ich mich zu fragen, als ich ihn eingeholt hatte. Nicht, dass ich oft eine Antwort erhielt. Ich hatte es mir jedoch längst zur Angewohnheit gemacht, dennoch zu fragen. Manchmal wurde ich für diesen Starrsinn belohnt.

»Nichts, was dich zu interessieren hat«, schnauzte er mich an. Dann, etwas versöhnlicher: »Zumindest noch nicht. Du bist noch ein Grünschnabel, Junge.«

»Ich bin 15! Wie lange werde ich denn ein … Grünschnabel sein?« Ich fand es nicht gerade angebracht, dass jemand wie ich, der bereits mitgeholfen hatte, den einen oder anderen Menschen an den Galgen zu bringen, als Grünschnabel bezeichnet wurde. »Nur so aus Interesse, Meister.«

Für Calcraft war allerdings jeder ein Grünschnabel. Er war, wie er selbst sagte, seit über 30 Jahren im Dienst des Stricks und hatte in dieser Zeit mehrere Hundert Seelen in den Himmel geschickt. Oder in die Hölle, um genau zu sein. Doch was religiöse Dinge anging, war ich immer schon der falsche Ansprechpartner gewesen – eine weitere Sache, die meinem Vater, dem Pfarrer, nicht allzu gut geschmeckt haben dürfte.

»Bis du keiner mehr bist.«

Wie ich diese Antworten hasste! Es waren ja im Grunde genommen nicht einmal Antworten. Weiteres Nachbohren war meist zwecklos, das hatte ich bereits gelernt. Calcraft würde mich dann nur missbilligend anschauen, sich mit der Hand über den struppigen Bart streichen, den Kopf schütteln und weitergehen. Abermals schluckte ich eine scharfe Entgegnung herunter und trottete weiter. Ich wollte es mir nicht schon nach wenigen Monaten mit meinem Meister verscherzen. Vor allem, weil er manchmal regelrecht humorvoll sein konnte. Meist war dann das eine oder andere Bier im Spiel.

Ich hatte aber sowieso noch nicht verstanden, wofür der Alte überhaupt einen Lehrling brauchte. Die Hinrichtungen führte er so gut wie allein durch, bis auf wenige Handgriffe stand ich teilnahmslos daneben. Gepäck hatte ich keins zu tragen, auch Botengänge musste ich nur hin und wieder für ihn erledigen. Meist ging es dann um solch unverzichtbare Dinge wie den richtigen Pfeifentabak. Und dass er mich der Gesellschaft wegen an seiner Seite haben wollte, nun, diesen Gedanken hatte mir seine Schweigsamkeit schnell ausgetrieben.

Ich war ein Lehrling, dem kaum etwas beigebracht wurde. Zumindest nicht vom Henker persönlich. Viel eher war es das Leben, das mir in den letzten Monaten so manches beigebracht hatte. Oder, besser gesagt, das Ende desselben. Ich glaube, das Konzept des Lehrens war Calcraft völlig fremd. Schon mehr als einmal hatte ich das Gefühl gehabt, dass er mich gar nicht deswegen aufgenommen hatte. Die Frage, die sich stellte, war also: Warum dann?

Nach einer endlosen Weile im kalten Regen erreichten wir das nächste Dorf. Die Nacht war längst hereingebrochen. Ich spürte meine Füße nicht mehr, der Regen hatte erfolgreich jeden Winkel meines Körpers aufgeweicht und der Gedanke an ein warmes Bad überdeckte sogar meinen Hunger. Herrje, wir waren doch keine Landstreicher!

»Das warme Wasser reicht nur noch für einen«, schickte uns der Gastwirt zur Begrüßung entgegen. Vielleicht hoffte er, uns dadurch abzuwimmeln. Doch selbst mein Meister hatte genug für heute, außerdem sah dieses Dorf nicht gerade danach aus, mehr als dieses eine Gasthaus bieten zu können.

»Mir reicht es«, entgegnete Calcraft mit dunkler Miene und schob sich an dem Mann mit der schmierigen Schürze vorbei. »Der Junge ist in guter Verfassung, ihm genügt kaltes Wasser.«

Na, vielen Dank auch!

»Wollt’s nur gesagt haben. Nicht, dass es dann später Ärger gibt«, meinte der Wirt gezwungen versöhnlich und schob sich hinter Calcraft in die Stube hinein. Aber nicht mit mir! Eher blieb ich dreckig, als dass ich mich bei diesen Temperaturen mit kaltem Wasser überschüttete.

Die Gespräche verstummten, als wir den Schankraum betraten. Auch das kannte ich mittlerweile. Mein Meister war bekannter als die meisten Theaterschauspieler, schon oft war sein Bild in einer Zeitung aufgetaucht.

Woher aber kam sein grausamer Ruf? Er war schließlich niemand, der seine Arbeit genoss, wie man landauf, landab anzunehmen schien. Wer war dieser Mann, der von allen für den Teufel persönlich gehalten wurde und dessen Vergangenheit in ähnlich dichtem Nebel verborgen lag wie dieses Land? Ich wusste es nicht. Und Calcraft selbst hatte nicht das geringste Interesse daran, Licht in dieses Dunkel zu bringen.

Als wir unter den misstrauischen Blicken der wenigen Gäste in einer Ecke Platz nahmen und auf unsere Bestellung warteten, machte ich mir erstmals Gedanken darüber, welche Spuren diese Arbeit bei mir hinterlassen würde. Ich war ein Scherge des Todes, das verdrängte ich gern. Und auch wenn wir nur das letzte Rädchen in der gewaltigen Maschine des Gesetzes waren, so war es doch eben jenes letzte Rädchen, das die Verurteilten das Leben kostete.

»Denk nicht zu viel nach und trink, Junge«, riss mich Calcraft aus meinen Gedanken. Er war gut darin, mich in solchen Situationen zu ertappen. Wohl, weil er sich selbst schon allzu oft in ihnen verfangen hatte. »Ich sehe mich nur kurz um.«

Das tat er immer, wenn wir in einem neuen Gasthaus Quartier bezogen. Ich entschied, es zu ignorieren und stattdessen seinem Befehl nachzukommen. Gin und warmes Wasser waren das Einzige, das die Kälte aus den Knochen vertrieb. Ich hatte das erst kennengelernt, als ich Sheerness verlassen hatte. Mein Vater war ein strikter Gegner des Trinkens – zumindest solange jemand hinsah. Als er mich einmal bei einem Branntwein erwischt hatte, musste ich die ganze Nacht draußen verbringen. Ohne Kleidung. Im Winter. Ihn hinter mir zurückzulassen, war mir gar nicht schwergefallen.

Bei Liz war das etwas anderes. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an sie dachte. Seit ich Mädchen nicht mehr doof und irgendwie eklig fand (und, wenn ich ganz ehrlich war, schon etwas davor), war ich verliebt in diese schwarzhaarige Schönheit. Ich hatte jede freie Minute mit Liz verbracht, hatte sie verteidigt, wenn sie mal wieder für irgendwas verantwortlich gemacht worden war. Gut, sie konnte durchaus schwierig und manchmal auch aggressiv sein, aber für mich machte sie das nur faszinierender. Bis zu dieser einen Sache. Da war sie selbst mir nicht geheuer gewesen. Etwas Eisiges in ihrem Blick hatte mich regelrecht verschreckt.

»Wieso haben Sie sie eigentlich verschont, Meister?«, fragte ich, nachdem er – offensichtlich beruhigt – zurückgekehrt war und wir uns an Käse, Brot und kaltem Braten satt gegessen hatten. Diese Frage brannte mir unter den Nägeln, seit wir meine Heimat verlassen hatten – und mit ihr den leblos baumelnden Körper des anderen Verurteilten, der weniger Glück gehabt hatte.

»Wen?«, fragte er nach einem tiefen Schluck von dem dunklen Bier, das an diesem Abend bereits reichlich seine Kehle herabgeflossen war, und wischte sich über seinen ziemlich weißen Bart. »Wen soll ich verschont haben? William Calcraft verschont niemanden.«

»Elizabeth schon.«

Der Krug pausierte auf dem Weg zu seinem Mund. Ich wusste nie, wann ich mit meinen Kommentaren zu weit ging, doch ich hatte beschlossen, an diesem Abend etwas mehr zu riskieren.

»Dein Mädchen?«, fragte er.

Ich wurde rot und strich mir verlegen die vom Regen gewellten Haare aus dem Gesicht. Mein Gott, wie ich das hasste! War doch sowieso für jeden in Sheerness offensichtlich, dass ich in Liz verliebt war. »So … so kann man das nicht sagen.«

»Nein?« Calcraft schaute mich neugierig an. Ich glaube sogar, es war das erste Mal, dass er mich mit etwas anderem als Zorn, Unverständnis oder gerümpfter Nase ansah. »Dafür hast du dich aber ganz schön ins Zeug gelegt.« Er nahm einen Zug aus seiner abgekauten Pfeife, blies den stinkenden Rauch aus und musterte mich weiter. »Wieso warst du von ihrer Unschuld überzeugt?«

»Wieso waren Sie es?«, entgegnete ich wie aus der Pistole geschossen. Es passte ganz und gar nicht in das Bild des »grausamen« Henkers Calcraft, ein junges Mädchen zu verschonen. Immerhin hatte er vor einigen Jahren das Ehepaar Manning an den Galgen gebracht – und mal wieder eine ordentliche Schau daraus gemacht, wie man im Dorf erzählte, wenn man uns, als wir noch klein waren, mal wieder mit einer Schauergeschichte zu gutem Benehmen zwingen wollte.

Mein Meister klopfte sich mit der Pfeife gegen die Nase. »Man muss seinem Instinkt vertrauen«, raunte er. »Und in diesem Fall ging etwas nicht mit rechten Dingen zu. Erzähl mir, Junge, gab es irgendwelche … Vorkommnisse mit ihr?«

»Vorkommnisse? Mit ihr? Wie meinen Sie das, Meister?«

Der Alte blickte mich durchdringend an. »Ich denke, du weißt, was ich meine. Wirt«, wurde er plötzlich lauter, »noch ein Bier für mich!«

»Nun ja«, begann ich, »alle glaubten, dass etwas nicht mit ihr stimmte. Dass sie Dinge geschehen lassen konnte. Schlimme Dinge.«

»Schlimme Dinge?«

»Ach, Sie wissen schon, abergläubischer Hokuspokus, den mein Vater noch weiter geschürt hat.«

»Der Pfarrer.«

»Der Pfarrer, ja. Und kein besonders guter, wenn ich offen sprechen darf. Liz wurde für alles verantwortlich gemacht. Anfangs nur Kleinigkeiten wie verschwundenes Geld aus der Kollekte nach dem Gottesdienst, dann mal eine zerbrochene Scheibe. Irgendwann soll sie jedoch plötzlich für tote Kühe, Brandstiftung, ja sogar für diese vermissten Kinder verantwortlich gewesen sein. Und dann für den Tod ihrer Mutter!«

Calcraft blies mehr von dem stinkenden Qualm aus. »Und was glaubst du?«

»Ich glaube, dass sie … anders ist. Ihr Vater fährt zur See und ist kaum zu Hause, ihre Mutter arbeitete von früh bis spät in einer Schneiderei.« Ich hielt einen Moment inne und dachte an das, was sie vor einiger Zeit zu mir gesagt hatte.

Solange du denkst, dass ich unschuldig bin, ist alles in Ordnung.

Konnte es denn nicht vielleicht sein, dass sie mir etwas verschwieg? Dass sie mich benutzt hatte?

Nein! Ich schob den Gedanken so schnell beiseite wie einen Kübel Pferdemist. So durfte ich gar nicht erst anfangen! Immerhin hatte ich sie vor dem Strick bewahrt. Und sie hatte mich auf die Wange geküsst! Das musste doch etwas bedeuten, oder?

»Sie ist anders, ja, aber nicht böse«, fuhr ich fort. Als ich es aussprach, merkte ich jedoch, dass ich mir selbst nicht mehr sicher war. »Wenn Sie mich fragen, beneiden sie viele um ihre Schönheit, das ist alles.« Ich merkte, wie sehr ich sie vermisste. Es schnürte mir die Kehle zu. »Was passiert denn jetzt mit ihr?«

»Nun, vor dem Galgen hast du sie bewahrt. Vor den Menschen jedoch nicht.«

Spitze. Das war meiner Meinung nach keine allzu erfreuliche Aussicht. »Werde ich sie je wiedersehen?«, fragte ich mit trockenem Mund.

»Das, Junge«, meinte der Alte mit dunkler Miene, »befürchte ich in der Tat.«

Noch vor Morgengrauen stürmte Calcraft in mein Zimmer. »Aufstehen, du Schlafmütze, wir müssen weiter! Du bist in fünf Minuten unten im Schankraum.«

Ich war alles andere als böse darum, derart ruckartig aus meinen Träumen gerissen worden zu sein. Die Bilder, die mich abermals verfolgt hatten, wünschte ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind. Wenn ich denn einen hätte.

Der Wirt war regelrecht erleichtert, als wir uns mit unseren wenigen Habseligkeiten an der Theke einfanden, bezahlten und verschwanden.