Impressum


Elena Ronina: Hallo Kosmos – Erinnerungen an das Leben in der ehemaligen Sowjetunion

Copyright by AQUENSIS Verlag Pressebüro Baden-Baden GmbH 2013

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Lektorat: David Joram, Gereon Wiesehöfer

Umschlaggestaltung: Tatiana Miller, design@club-dialog.de

Foto Rückseite: Arina Solnceva

Satz: Karin Lange, www.seeQgrafix.de

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

ISBN 9783954570713

www.aquensis-verlag.de - www.baden-baden-shop.de

ELENA RONINA

HALLO KOSMOS!

ERINNERUNGEN AN DAS LEBEN
IN DER EHEMALIGEN SOWJETUNION

AQUENSIS
MENSCHEN

Über die Autorin

Elena Ronina wurde 1962 in Moskau geboren und ist dieser Stadt, die sie über alles liebt, bis heute treu geblieben. Nach der Schulzeit, die sie mit einem erweiterten Deutschunterricht beendete, studierte sie Ökonomie und Musik. Auf ihren geschäftlichen Reisen, die sie in alle Teile der Welt führen, ist sie immer wieder fasziniert von der Vielfalt der Kulturen. Das Wichtigste in ihrem Leben aber ist ihre Familie: Sie ist verheiratet und hat zwei Söhne, die 15 und 29 Jahre alt sind.

So sind es vor allem das einfache Leben und die Themen des Familienalltags, um die sich ihre Kurzgeschichten, Romane und Reisebeschreibungen ranken. Dabei legt sie besonders viel Wert auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, zwischen Mann und Frau, auf Familientraditionen. Acht Bücher sind inzwischen von ihr erschienen, „Hallo Kosmos“ ist ihre erste Veröffentlichung in deutscher Sprache.

Wenn Elena Ronina gerade nicht beruflich unterwegs ist oder an einem neuen Buch schreibt, besucht sie mit ihrem Mann Tanzkurse, spielt Klavier, lernt Italienisch und treibt gerne Sport. Langweilig ist ihr nie – und diese Lebensfreude spürt man in jeder Zeile ihrer Bücher.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Über die Autorin

Unter uns Mädchen

Mein Edmond Dantès

Physikunterricht zum Träumen

Der Bräutigam

Auf dem siebten Stock

Der Moskauer Abend

Freundinnen

Das Mädchen mit den traurigen Augen

Moskau-Berlin

Die Durchschnittsnote

Die Studentin

Über Kartoffeln

Ehrenwert zu leben

Die Abschlussgastspielreise

Hallo Kosmos

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Freundinnen

Das Mädchen mit den traurigen Augen

Als Erstes betrat unsere Mathematiklehrerin das Klassenzimmer. Dann, und das war ganz merkwürdig, unsere Klassenlehrerin Faina Iosifovna. Sie hatte ein Mädchen an der Hand, das uns ansah und lächelte. Trotz des freundlichen Lächelns sah man unmissverständlich: Das Mädchen hatte Angst. Dabei war sie kein kleines Kind mehr. Wie alt sie wohl war? Schwer zu sagen. Wir alle waren schon 16 Jahre alt, aber sie sah aus wie eine 25-jährige Frau. Oder täuschte unser Eindruck und sie war genauso ein Mädchen wie wir?

Ich erinnere mich noch, was unsere Klassenlehrerin Faina von dem neuen Mädchen erzählte: Sie war aus Chile zu uns nach Moskau gekommen und ihr Name war - wenn ich mich nicht täusche – Adriana. Wir alle beobachteten das Mädchen natürlich mit großer Neugierde.

Es war klar, vor uns stand eine Ausländerin. Dazu eine Ausländerin aus einem südlichen Land. Aber warum dachten wir eigentlich so darüber? Sie trug, wie wir alle, die Schuluniform mit den weißen Bündchen und auch ihre Büchertasche war nichts Neues für uns. Die Tasche stammte aus unserem Moskauer Ladengeschäft um die Ecke. Aber trotzdem, irgendwie war sie anders. Aber warum? Warum war das so?

Weil sie eben doch anders war. Alles an ihr war anders. Da war zuerst ihre Frisur - so schwarzes Haar hatte ich noch nie gesehen. Obwohl man sagen muss, ihre Haare waren nicht wirklich schwarz, sondern dunkelblau. Und das Wichtigste – sie trug ihr glattes, langes Haar offen. Sie hatte sehr lange Haare es reichte bis zu ihrer Hüfte.

Bei uns an der Schule waren wir solche Frisuren nicht gewohnt. Wenn ich so etwas gemacht hätte – unter uns: ich habe überhaupt kein so langes Haar – hätte unsere Geschichtslehrerin sofort reagiert:

“Ronina, ich sehe dich gar nicht!”

“Wegen Kupzov, Anna Wasilievna?” Ich saß nämlich gerade neben diesem Jungen.

“Wegen deiner Haare! Steck das Haar bitte gleich zusammen!”

In unserer Schule waren die Verhaltensregeln sehr streng, in erster Linie was die Erscheinung und das Verhalten betraf.

Anna Wasilievna - unter uns nannten wir sie einfach Anwas – arbeitete an unserer Schule nicht nur als Geschichtslehrerin, sondern sie war die Schulleiterin. Jeden Morgen stand sie höchstpersönlich am Schultor, wenn wir zur Schule kamen – allerdings nicht, um uns freundlich zu begrüßen: “Lenchen! Guten Morgen! Schön dich zu sehen! Gut geschlafen? Ist alles in Ordnung?”

Nein, gar nicht! Sie sagte stattdessen zum Beispiel: “Ronina! Stehen bleiben! Zeig deine Schuhe!”

“Ich habe mich schon umgezogen!”

“Sind die Bündchen frisch?“

“Frisch!”

“Lackierte Fingernägel? Ringe?”

“Nee! Habe ich nicht!”

“Gut, dann geh weiter. Aber ich kenne dich, hast du nicht ...”, brummte sie trotzdem. Aber gleich war schon der Nächste dran:

“Kupzov! So lass ich dich nicht hier herein! Gleich ab zum Friseur. Zvereva! Hände aus den Taschen! Schon wieder angemalte Fingernägel?“

Es ging sehr, sehr streng zu bei uns an der Schule. Ordnung war das Allerwichtigste! Und mit dieser Ordnung hing alles zusammen. Wenn ich nur an dieses morgendliche Beobachten dachte, dann hatte ich schon keine Lust mehr, in meine liebe Schule zu gehen.
Die Stimmung sank jeden Morgen auf den Tiefpunkt, wenn ich mich zur Schule schleppte – auch bereits dann schon, wenn ich das Schulgebäude noch gar nicht sah … Meine einzige Hoffnung war, dass die Schule über Nacht das Opfer einer mächtigen Feuersbrunst geworden sein könnte. Warum eigentlich nicht? Dann wäre jetzt meine liebe Schule vollständig abgebrannt. Könnte so etwas passieren? Natürlich könnte es. Allerdings habe ich noch nie von solch einem Ereignis gehört, aber ...

Wenn ich an der Ecke ankam, von wo aus das Schulgebäude zu sehen war, ging ich immer noch ein wenig langsamer. Ich schloss meine Augen. Dann öffnete ich sie wieder – und ist das Gebäude verschwunden? Nein! Die Schule steht da, so wie immer! Wie ein Denkmal. Groß und in roter Farbe. Was sollte ich machen? Wieder wird Anwas meine Schuhe kontrollieren, ob ich Ringe trage oder nicht, oder ob ich meine Haare offen trage oder sie zu einem Pferdeschwanz gebunden habe. Das ist wirklich total langweilig.

Und jetzt kam diese Adriana zu uns in die Klasse. Warum erlaubt ihr unsere Anwas, das Haar auf die Art zu tragen? Das ist doch unmöglich! Klar, nur deshalb, weil sie Ausländerin ist. Klar. Das heißt, sie darf das, ihr wird es nicht verboten. Und der große Ring an Adrianas Finger, den ich dort bemerkt habe? Aber nein! Das ist doch eine Ungerechtigkeit!

Meine Freundin Zvereva steckt alle ihre Ringe immer in die Taschen ihrer Schuluniform. Nur in den Pausen steckt sie sich die Ringe an die Finger, um die älteren Schüler sehr zu beeindrucken. Aber trotzdem musste sie die ganze Zeit über vorsichtig sein, denn Anwas könnte plötzlich unbemerkt angeschlichen kommen.

“Und was ist das?! Ach, das hat dir dein Vater geschenkt? Dann kannst den Ring tragen, wenn du mit deinem Vater irgendwohin gehst, aber nicht hier in die Schule! Hier wird gelernt! Los, hol’ geschwind dein Hausaufgabenheft!”

Schlau antwortete Zvereva: “Aber das Hausaufgabenheft ist gerade beim Deutschlehrer – soll ich rüber ins andere Gebäude rennen. Soll ich gleich loslaufen?”

Anwas bemerkte, dass Zvereva versuchte, zu diskutieren. Und jetzt musste die Leiterin entscheiden, ob Zvereva das Hausaufgabenheft nicht vorlegen konnte, oder ob sie es holen sollte und dafür verspätet in den Literaturunterricht käme. Zuerst kommt der Unterricht – dann ist immer noch Zeit, die Hausaufgaben zu kontrollieren.

“Na gut. Dann eben nicht. Aber vergiss nicht: Das ist das letzte Mal. Ich will dich mit diesem Ring nicht mehr sehen. Und mit deinem Vater spreche ich noch. Bei Gelegenheit.

Dann hörten wir sie noch lange schimpfen auf dem Schulflur.

“Was haben die Eltern sich nur dabei gedacht? Schenken solche Ringe einem kleinen Mädchen! Was denken sich diese Eltern? Das ist der direkte Weg in …, ist ja klar, wohin das führen wird!”

Blau-schwarzes offenes Haar und ein Ring am Finger – das zeigt die Zugehörigkeit zu einer ganz anderen Kultur. Auch die Augen sehr schwarz und dazu die großen, schön geformten Augenbrauen. Als sehr attraktiv konnte man Adriana nicht bezeichnen. Nein, aber sehr „knackig“. Und was das Wichtigste war - sie war Ausländerin. Mehr braucht man dazu nicht zu sagen. Auch wenn sie hässlich gewesen wäre - trotzdem hätten sich alle für sie interessiert. Merkwürdig? Mag sein, aber so war es.

Zudem stellte uns unsere Klassenlehrerin Faina das Mädchen so vor: “Kinder! Seid bitte lieb und nett. Das ist Adriana! Sie kommt aus Chile und ist ab heute bei uns an der Schule. Kinder, ihr wisst ja sehr gut, welche Tragödie in diesem schönen Land passiert ist. Der Vater von Adriana ist ein sehr berühmter politischer Funktionär in Chile, seine Familie hatte Glück, denn es ist ihr gelungen, im letzten Moment die Heimat zu verlassen. Das Mädchen lebt also seit Langem ohne richtige Heimat, die Familie lebte zuerst in Holland, danach in Deutschland und jetzt sind sie zu uns gekommen. Ihr könnt euch sicher sehr gut vorstellen, wie abgehetzt und müde diese Leute sind.“

Als Erster konnte sich Kupzov nicht zurückhalten: “Oh, dann sind das wirklich arme Reisende. Aber so würde ich auch gerne leben!“

“Kupzov, sei still. Dich möchte ich etwas ganz anderes fragen: Erklär’ mir bitte, was du gestern Nacht um 23 Uhr an der U-Bahn-Station gemacht hast. Ich habe dich nämlich dort gesehen.”

“Ich habe dort auf meine Oma aus Saratov gewartet. Und was machten Sie dort, Faina Iosifovna, mitten in der Nacht? Haben Sie auch auf Ihre Oma gewartet?”

“Kupzov! Was redest du da! Du lenkst immer ab! Wir sprechen gerade über Adriana. In den letzten beiden Jahren an unserer Schule muss Adriana zwei fremde Sprachen lernen. Das ist ganz bestimmt nicht einfach. Ihr schafft nicht einmal eine Sprache, ihr Esel. Wie ist das Diktat gestern ausgefallen?! So eine Schande! 30 Prozent schlechte Noten. Ihr macht mich noch verrückt!”

“Faina Iosifovna, habe ich auch eine schlechte Arbeit geschrieben?”

“Nein, Kupzov, wie immer ausgezeichnet. Aber das heißt nicht, dass du die ganze Nacht durch unseren Bezirk streifen darfst. Jetzt bin ich wieder vom Thema abgekommen! Wo war ich stehen geblieben?”

“Sie haben erzählt, dass wir Esel sind – sie sagten, wir alle zusammen.”

“Richtig. Wir hatten von den Sprachen gesprochen. Kurz gesagt, Adriana spricht sehr gut Deutsch und Russisch hat sie begonnen zu lernen. Sprecht also bitte deutsch mit ihr, helft ihr, unterstützt sie und übersetzt bitte während des Unterrichts. Natascha Zvereva, komm’ bitte zur Tafel - du bist ab jetzt für Adriana verantwortlich. Setzt euch bitte zusammen.”

“Aber wie soll Zvereva Fachbegriffe aus dem Physikunterricht für Adriana übersetzen? Oder Chemie? Mit ihren Kenntnissen?” Kupzov wollte weiter mitreden. Aber niemand hörte ihm zu. Alle starrten auf Adriana - wie setzt sie sich hin, was nimmt sie aus ihrer Tasche?

Adriana saß wie eine Königin, und aus der Tasche nahm sie überhaupt nichts. Sie legte einfach den Kopf auf ihre Hand. Und so saß sie die ganze Zeit da. Während der einen Hälfte der Unterrichtsstunde schaute sie Zvereva mit dem Kopf auf dem einen Ellbogen an, während der zweiten Hälfte – den Kopf auf den anderen Ellbogen gestützt - beobachtete Sie Barchev, der ihr gegenübersaß. Auf die Tafel oder zur Mathematiklehrerin hat sie kein einziges Mal gesehen. Und ihr Gesichtsausdruck war ganz ausdruckslos. Woran dachte dieses Mädchen? Wir konnten es uns nicht vorstellen. An Mathematik aber dachte sie mit Sicherheit nicht. Dar waren wir alle sicher.

“Zvereva, Zvereva, warum übersetzt du nicht?”

Kupzov konnte einfach nicht ruhig bleiben.

“Kupzov, was willst du eigentlich von Zvereva? Vielleicht willst du gleich meine Fragen beantworten? Na gut, bitte geh’ zur Tafel und erzähle uns …”

Unsere Mathematiklehrerin war zufrieden, endlich hatte sie einen Grund, mit Kupzov abzurechnen. Das war schon richtig, denn mit seinen Witzen nervte Kupzov uns alle schon lange. Wir hatten die Nase voll davon - sowohl die Lehrer als auch wir, die Schüler. Es ist ganz eigenartig, wenn man nicht über dich lacht. Aber wenn man über dich lacht, verliert man sofort jeden Sinn für Humor.

In der Pause hielt sich Natascha Zvereva die ganze Zeit neben Adriana auf. Aber das neue Mädchen hat mehr geschwiegen als geredet - nur die ganze Zeit gelächelt hat sie. Sie sprach gar nicht schlecht Deutsch und unsere Deutschkenntnisse waren ausreichend, um sich mit ihr gut zu unterhalten.

Natürlich waren wir sofort sehr berühmt an der Schule. Unser Status wuchs enorm, denn ausschließlich in unserer Klasse war eine Ausländerin, die ganze Schule kam zu uns, um Adriana zu sehen. Wir hatten nichts dagegen. Ja, das ist eine leibhaftige Ausländerin! Aus Erzählungen wussten wir, dass sie auch Luis Corvalán Lépe persönlich kannte, den chilenischer Politiker, der in Russland Asyl gefunden hatte und unter anderem auch mit dem Lenin-Preis ausgezeichnet worden war! Eine große Ehre für uns alle. Viele Schüler aus den höheren Klassen, die uns früher überhaupt nicht beachtet hatten, suchten jetzt einen Grund, um uns kennenzulernen.

Und alle Mädchen aus unserer Klasse kämpften natürlich darum, die beste Freundin von Adriana zu sein. Das Mädchen aus Chile beobachte diese Situation unbeeindruckt, sie war freundlich zu uns allen, aber mehr nicht. Sie nickte immer und antwortete auf unsere ständigen Fragen immer nur ganz kurz mit “Ja” oder ”Nein”. Nach der Schule wollte sie mit niemandem von uns spazieren gehen oder sich mit jemandem von uns einfach nur treffen.

Eines Tages ist es Zvereva doch gelungen, sie zu Hause zu besuchen, weil sie ihr dringend ein Schulbuch bringen musste. Wir waren alle sehr gespannt: Was haben sie für eine Wohnung? Wie lebt Adriana? Was bekommt Zvereva dort zu essen und vielleicht war es sogar möglich, dass sie dort Luis Corvalán höchstpersönlich treffen würde?

Die Wohnung der Flüchtige aus Chile war groß, eine Vierzimmerwohnung. Aber Natascha hatte nichts Besonderes daran entdeckt. Adrianas Familie hatte die Wohnung von Anfang an möbliert vermietet bekommen – es war also nichts Exotisches aus Chile dort zu finden. Zum Mittagsessen war Zvereva nicht eingeladen, aber Adriana hatte Kirschen und bot sie ihr an.

“Und? Hast du viele gegessen?”

“Eine Kirsche.”

“Warum so wenig?” Ich war enttäuscht.

“Vielleicht haben sie gedacht, dass wir kaum Kirschen haben und ich froh bin, welche essen zu können. Nein, habe ich gesagt, zu Hause haben wir eine ganze Menge davon und dass ich keinen Appetit mehr darauf habe. Adriana hat dann die Kirschen allein gegessen. Dabei zuzuschauen, das war richtig schwer für mich, aber ich habe das geschafft. Adriana hat nicht erkannt und nicht verstanden, wie gerne ich auch die Kirschen gegessen hätte.”

Luis Corvalán hat Zvereva auch bei Adriana getroffen. Er war zur gleichen Zeit Gast bei ihrem Vater. Sie saßen im großen Wohnzimmer Raum und besprachen irgendetwas. Vorgestellt wurde Natascha natürlich nicht, klar. Aber trotzdem - was für ein Abenteuer! Unsere Freundin Zvereva hat tatsächlich Luis Corvalán gesehen! Keiner von uns hatte so etwas je erlebt. Wir waren stolz ohne Ende.

Nach ein paar Monaten haben wir Adriana auf Händen getragen. Das war interessant und neu für uns alle. Aber langsam waren wir dieser Geschichte überdrüssig und uns wurde klar, dass es uns langweilig geworden war, solch einen Zirkus um Adriana zu machen. Wir hatten ja alle genug zu tun - wir mussten Hausaufgaben machen oder viel miteinander besprechen, und so geriet sie in den Hintergrund. Vielleicht auch deshalb, weil sie im Gespräch immer nur kurz angebunden war. Das waren wir nicht gewohnt. Es ist doch viel interessanter, nachzufragen und mit “Ach” und “oh” alle Einzelheiten haarklein zu besprechen. Ihr aber war alles gleichgültig. So empfanden wir das. Vielleicht war es gar nicht so, aber ihr wahres Gesicht konnte Adriana nicht zeigen. Das klappte bei ihr nicht.

Ab und zu vergaßen wir sogar deutsch zu sprechen, wenn Adriana dabei war, oder schwierige Worte speziell für sie zu übersetzen. War das wirklich nötig?

Eines Tages, es war zu Beginn des Frühlings, fuhr die ganze Klasse mit einem kleinen Motorschiff auf der Moskwa, dem Fluss, der durch unsere Stadt fließt. Das Wetter war sonnig, die Stimmung bei allen war prima, sie hätte besser nicht sein können. Den Sommer konnte man in der Luft spüren und es war Mai, kurz vor Ende des Schuljahres. Endlich! Bald kommen die Ferien. Wir sprachen die ganze Zeit über unsere Pläne für den Sommer, was wir machen würden, welche Reisen mit unseren Familien geplant waren und so weiter.
Adriana war die ganze Zeit dabei, aber deutsch sprachen wir an diesem Tag überhaupt nicht. Schluss mit dem Stress - wir sind nicht in der Schule. Wir haben doch auch ein Recht auf Erholung, oder nicht? Außerdem darf man nicht vergessen, dass ich oder Zvereva oder eine andere unserer Freundinnen ständig bei Adriana waren und ihr in verständlichen Worten zusammenfassten, um was es gerade ging. Wir waren überzeugt, dass ihr das an einem solchen Tag wie heute genügt.

Doch plötzlich bemerkten wir, wie das ständige Lächeln langsam aus Adrianas Gesicht verschwand. Und ihre immer traurigen Augen wurden noch trauriger.

Aber wir waren dann doch alle sehr überrascht, als Adriana plötzlich in Tränen ausbrach. Es war zuerst einmal still zwischen uns geworden, dann versuchten wir zu klären, was eigentlich passiert war. Vielleicht hatte das Mädchen Bauchschmerzen? Oder es war zu Hause etwas nicht in Ordnung? Adriana weinte so bitterlich, sie konnte nicht einmal antworten. Völlig geschockt rannten wir zu unserer Klassenlehrerin Faina.

“Was habt ihr mit ihr gemacht? Seid ihr alle verrückt?! Das ist ein Skandal! Ich verliere noch meine Arbeit wegen euch!”

“Aber wir haben doch nichts Besonderes gesagt! Ira hat von einem Film erzählt. Haben Sie den gestern im Fernsehen gesehen? Mit Oleg Vidov in der Hauptrolle?”

“O Gott! Welcher Oleg Vidov?! Adriana, was ist los? Wer hat dich so beleidigt?!“ Faina begann, deutsch zu sprechen. Aber das Mädchen nickte nur mit dem Kopf. Es war unmöglich, bei diesem Heulen irgendetwas zu verstehen.

Als Erstes beschloss Zvereva, was nun zu tun war.

“Adriana, bitte komm mal mit”, sagte sie und die beide Mädchen gingen etwas an die Seite, wo es ruhiger war. Schweigend warteten wir auf sie.

Sie nahm Adriana bei der Hand und wandte sich zu uns: “Bitte, folgt uns nicht. Ich kläre das Ganze jetzt sofort.”

Alles war ganz einfach. Adriana verstand uns einfach nicht. Das Wichtigste übersetzten wir zwar, aber wir lachten die ganze Zeit, waren ständig lustig und sehr guter Laune, doch sie konnte nicht mit dem Herzen bei uns sein. Im Grunde genommen war sie müde in einer fremden Welt und mit einer fremden Sprache zu leben. Sie konnte keine Nuancen verstehen. Sie verstand nicht, ob wir über sie oder über ihre Heimat sprachen oder nicht – vielleicht sogar mit bösen Worten? Sie war zu erschöpft, um sich ständig solche Mühe geben zu können.

Das war uns nie in den Kopf gekommen! Was empfand dieses, ehrlich gesagt, noch kleine Mädchen, das schon seit drei Jahren kein Zuhause, keine Heimat mehr hat? Was sie liebte und alles, auf das sie Wert legte, das war dort geblieben. Sie hat keine Freunde und keine Freundinnen. Sie war die ganze Zeit allein.
Sie war für uns wie ein schönes Spielzeug. Wir sahen nur immer die bunte Packung und das immer gleiche Lächeln, aber nicht das große und so sehr verletzte Herz. Es war uns nicht in den Sinn gekommen, dass wir Adriana gedankenlos und vielleicht falsch behandelt haben, dass sie ständig etwas erdulden musste - und dann diese Traurigkeit in den Augen ... Das Wichtigste für sie war, bei uns zu sein, oder warum ist sie sonst mit uns auf die Bootstour mitgekommen? Aber es hat für sie nicht funktioniert. Und wir konnten oder wollten ihr nicht helfen.

Wir schämten uns. Wir wollten die Situation ändern und wussten nicht wie. Im Grunde genommen war es so: Wir waren alle zusammen und sie war allein.

Wir mussten uns etwas ausdenken, und zwar dringend. Und wir schafften es - wir beschlossen, Spanisch zu lernen! Natürlich sollte Adriana unsere Spanisch-Lehrerin sein. Und damit hatten wir sofort eine kleine Brücke zwischen uns gebaut. Bis jetzt war es so, dass wir viele spanische Vokabeln vergessen hatten oder dass wir sie völlig falsch aussprachen. Das hörte sich dann ganz komisch an und schon musste Adriana lachen wie verrückt - und wir alle lachten mit ihr zusammen.

So haben wir die meisten spanischen Ausdrücke gelernt und dazu ein romantisches Lied in spanischer Sprache, das wir auf allen unseren Musikabenden sehr gerne gesungen haben. Adriana hörte uns zu, wie immer lächelnd, aber das war ein Lächeln ohne Traurigkeit. Aber gemeinsam mit uns singen, das wollte sie nicht. Sie war sehr schüchtern. Also war sie sehr zufrieden damit, uns zuzuhören. Und jedes Mal, wenn wir das Lied ankündigten, dann haben wir immer Adrianas Namen genannt.

Eines Tages war sie verschwunden. Sie ist einfach nicht in die Schule gekommen. Unsere Lehrer erklärten uns, dass die Situation in ihrem Land viel schlimmer geworden sei und dass ihr Vater ganz dringend zurückkehren musste. Seine Frau und seine Tochter hatten sich entschieden, mit ihm nach Chile zu reisen – es sei ihre Pflicht, meinten die zwei mutigen Frauen.

Wir haben einander nie mehr gesehen. Alle Nachrichten aus Chile waren natürlich immer ein wichtiges Gesprächsthema unter uns, das Land wurde uns vertrauter. In unseren Gesprächen erinnerten wir uns sehr oft an Adriana und ihre bitteren Tränen. Das sollte für uns eine sehr gute Lebenserfahrung sein. Wie leicht kann man einen Menschen beleidigen - ohne Absicht, nur weil man kein Mitgefühl mit ihm hat.

Sei glücklich, Adriana. Hasta luego!

Moskau-Berlin

Kann das sein? Ich fliege wirklich nach Berlin? Nein, das glaube ich nicht. Es ist unmöglich. Vielleicht träume ich? Ich, ein ganz einfaches Mädchen aus einer Moskauer Schule? Aber es ist die reine Wahrheit! Wir sitzen gemeinsam mit unseren Eltern in einer Schulversammlung und besprechen unsere Fahrt nach Deutschland.
Die Rektorin spricht von Verantwortung, von großem Vertrauen. Das Wichtigste ist: Wir sollen unserer Heimat keine Schande bereiten. Das ist die Hauptsache. Und dann natürlich die Frage, wie viel Geld uns unsere Eltern mitgeben sollen. Unsere Eltern schreiben hektisch alles mit. Am Abend, das merke ich schon jetzt, werden meine Eltern sehr ernsthaft mit mir sprechen. Über alles, was sie hier gehört haben und wie ich mich in Berlin benehmen soll. Dann denken sie natürlich auch an das Geld. Aber nein, das Geld – das ist nicht das größte Problem. Wir erkennen, dass alles doch recht schwierig ist. Welche Geschenke sollen wir mitnehmen? Wie sollen wir angezogen sein? Was können wir machen? Was nicht? Über welche Themen kann man sprechen und über welche auf keinen Fall? So viel auf ein Mal. Ich bin sehr nervös: Ich werde viel vergessen von dem, was wir besprechen - auch wenn meine Mama alles genau mitschreibt. So viel kann ich gar nicht behalten! Und natürlich werde ich mit Sicherheit irgendwelche Dummheiten sagen.

Ich schaue auf die anderen Eltern, die neben uns sitzen und viele Notizen auf ihre Zettelchen schreiben. Alle sind angestrengt. Niemand lächelt. Alle haben ein bisschen Angst vor dieser Reise! Niemand möchte sich blamieren. War es wirklich nötig, so um diese Reise zu kämpfen?

Denn das haben wir: Wir haben gekämpft! Und wie! Das ist kein Witz. Aus 80 Kindern, die sich beworben hatten, sollten nur 25 ausgewählt werden – die Besten! Und wie kann man die Besten finden? Das war schwierig.

In erster Linie sollten es sehr gute Schüler sein, aber wir alle lernen grundsätzlich gar nicht schlecht. Unsere Schule stellt hohe Anforderungen. Wer hier nicht sehr gut lernt, der sollte am besten sofort die Schule verlassen. Alle Kinder bei uns sind begabt, das ist richtig. Natürlich sollte, wer mit nach Berlin reisen wollte, die deutsche Sprache gut beherrschen. Das war wichtig bei der Auswahl der Teilnehmer, aber es war auch klar, dass wir hier eine Schule mit erweitertem Deutschunterricht besuchten.
Wir hatten zehn Stunden Deutsch in der Woche! Das ist nicht wenig. Dazu deutsche Literatur und Geschichte, und ständig haben wir Gäste aus Deutschland an unserer Schule. Das alles fördert unsere Deutschkenntnisse und was die deutsche Sprache betrifft, so haben wir alle ein hohes Niveau. Wer in Sprachen schlecht ist, der hat an unserer Schule sowieso nichts verloren. Entweder du bekommst ausgezeichnete Noten oder es ist eine Schande ohne Ende. Im ungünstigsten Fall genügt vielleicht die Note „gut“, aber wenn man schlechtere Zensuren schreibt, dann macht das keinen Sinn an unserer Schule.

Man stelle sich vor, ein Gast aus Deutschland kommt zu uns und stellt eine Frage. Da ist völlig unmöglich, nicht zu antworten. Sofort sieht dich unsere Klassenlehrerin Faina mit so strengen Augen an, dass du automatisch zu antworten beginnst.

Ehrlich gesagt, unsere Schule ist sehr gut. Und ganz gute Deutsch-Kenntnisse bekommen wir auch. Wie verrückt lernen wir die treffendsten deutschen Formulierungen. Und selbst, wenn wir nervös sind oder wenn wir Bauchschmerzen haben – die zehn wichtigsten deutschen Formulierungen vergessen wir nie. Darum haben wir auch keine Angst, mit Deutschen zu sprechen. Wir alle waren schließlich sehr aktiv und engagiert „in Sachen deutsche Sprache“.

Doch darf man nicht vergessen, dass wir für zwei Wochen nach Berlin fahren - das ist etwas ganz anderes. Nicht nur zwei Stunden deutsch sprechen und dann ist Schluss. Nein! Hinzu kommen viele zusätzliche Aktivitäten im Rahmen des Schüleraustausches zwischen einer russischen und einer deutschen Schule. Da ist zum Beispiel ein „Tag der deutschen Sprache“ geplant und ein „Tag der russischen Sprache“ natürlich. Wir sollen singen und tanzen. Das heißt, wir sollten alle auch noch musisches Talent haben, auch das war ein Auswahlkriterium. Hat das Kind ein besonderes Talent oder nicht? Kann es tanzen, ein Musikinstrument spielen? Und so weiter und so weiter.

Insgesamt heißt das also: Wir sollten sprachbegabt sein, gut erzogen und gehorsam. Das ist nicht gerade wenig, oder? Deshalb sehen wir heute auf dieser Versammlung wegen der Berlinreise auch meinen besten Freund Kupzov mit seiner Mutter nicht. Das finde ich so schade. Aber er hat selbst Schuld. Zum Fest der Frauen sollte er Blumen für unsere Lehrerin kaufen. Und was hat er gemacht? ER hat das Geld von uns allen eingesammelt – aber wofür er dieses Geld verwendet hatte, daran konnte er sich allerdings nicht erinnern ... Ach, nicht so wichtig, hatte er gedacht und dann einfach alle Blümchen vom Schulhof stibitzt. Das war natürlich nicht gerade schön. Alle haben gleich erkannt, warum der Schulhof jetzt so nackt aussieht und warum alle Lehrerinnen statt Rosen diese kurzen Blümchen bekommen hatten.

Jetzt also erkennen wir die Folgen dieser Dummheiten. Der kluge und begabte Kupzov fährt nicht mit. Weil er schlecht erzogen ist, ganz einfach!

Und jetzt, wer fährt nun mit? In erster Linie unser Chor – das sind acht Mädchen aus unserer Klasse. Und ich bin der Chorvorstand – nein, nicht weil ich besser singe als alle anderen, sondern weil ich gut organisieren kann. Das ist schon von Bedeutung und spielte einige Male eine große Rolle. So zum Beispiel, als es um Marinka Generalova ging. Sie war Mitglied in unserem Chor und sang besser als jede andere von uns. Sie hatte eine unvergleichliche Stimme, tief und laut. Klar, dass wir Marinka immer etwas näher ans Mikrofon stellten, wenn wir ein Konzert gaben. Und wir anderen bildeten die „Chorkulisse“ zu ihrer Stimme.

Und dann passierte das: Marinka sollte nicht mit nach Berlin fahren. Das war eine Katastrophe für uns! Bis jetzt konnten wir uns alle immer offen und ehrlich in die Augen sehen – aber jetzt sollten wir ein Mitglied aus unserem Chor einfach aussortieren? Von dieser Fahrt nach Berlin einfach so ausschließen? Die Erwachsenen hatten uns die Wahl überlassen – wir sollten selbst bestimmen, wer von uns es nicht verdient hätte, mitzufahren. Oh Gott, was war das für eine schwierige Wahl! Unglaublich schwierig. Aber wir hatten keine andere Möglichkeit. Eine von uns musste zu Hause bleiben. Und wir sollten den Grund dafür finden. Das haben wir auch, denn Marinka lernte schlechter als wir alle; sie war die schlechteste Schülerin in unserem Chor. Das stimmte zwar, war aber für den Chor überhaupt nicht wichtig. Es blieb uns gar nichts anderes übrig, als unseren Lehrern zu widersprechen: „Entweder fahren wir alle zusammen oder wir fahren gar nicht.“

Aber wir wollten doch alle so gerne nach Berlin! Eine solche Möglichkeit bekommt man wahrscheinlich nur einmal im Leben! Insbesondere wenn man daran denkt, dass es das Jahr 1978 war. Nicht einmal alle unsere Eltern waren je im Ausland gewesen. Und wir mussten zudem nur die Zugfahrt bezahlen, alles anderes bezahlte die Schule. Wann würde sich uns jemals wieder eine solche Gelegenheit eröffnen?

Also „verkauften“ wir unsere Freundin Marinka. Und jetzt sitzen wir hier in dieser Versammlung, hören kluge Reden über richtige Manieren. Wir sehen uns ab und zu an und denken alle dasselbe – und es drückt auf unsere Seelen. Es will keine richtige Stimmung aufkommen wegen dieser Geschichte mit Marinka. Wir alle dachten nur: Sind wir tatsächlich die letzten Luder, oder gibt es für uns noch eine Chance, bessere Menschen zu sein? Gibt es eine Entschuldigung für uns oder ist alles zu spät?

Eine Entschuldigung für uns haben wir schnell gefunden: Wir dachten nicht darüber nach, dass die Fahrt für uns schön sein sollte, sondern dass wir auf der Fahrt unser Land um jeden Preis so gut wie möglich präsentieren müssten. Marinka fährt nicht, aber der Chor muss fahren! Ohne Marinka wird es zwar nicht so schön, aber wir kennen alle Lieder, und unser Repertoire, sowohl in russischer als auch in deutscher Sprache, ist umfangreich und schön. Nina begleitet am Klavier. Gott sei Dank, dass wir sie nicht weggeschickt haben, denn ohne Begleitmusik wäre es wirklich unmöglich. Denn wenn wir etwas falsch singen, dann spielt Nina einfach etwas lauter.

Und wir haben beschlossen, Marinka ein teures Geschenk zu kaufen. Trotzdem bleiben wir schlechte Freundinnen, aber wir wollen so sehr gerne nach Berlin fahren!

Also, wer fährt nach Berlin: Die Kapelle - außer einer Person, dann fahren mit unsere Komsomolleiterin Ira und noch ein paar Mädchen aus der Klasse “B”. Die sind natürlich alle sehr frech, aber uns hat ja niemand gefragt. Aber es ist nicht so schlimm, wir sind viel mehr. Und natürlich fahren die Jungen mit, ohne sie geht es gar nicht. Andrej ist sehr intelligent und hat eine Balalaika. Spielen kann er zwar nicht, aber das ist nicht so wichtig. Die Balalaika ist ja auch nur für die Begleitung wichtig, klar. Dann fährt auch Pavel mit. Er ist nicht intelligent, lernt schlecht und kommt nicht weiter, in der deutschen Sprache versteht er auch wenig. Warum kommt er dann mit? Ich weiß es nicht. Ich habe gehört, dass seine Mutter eine gute Freundin einer unserer Lehrerinnen ist. Vielleicht ist es deshalb.

Den Bahnhof von Belorusskij haben wir noch sehr gut vom vorigen Jahr in Erinnerung, denn dort hatten wir die Gruppe aus Berlin abgeholt.

Unsere zukünftigen Freundinnen wollten zuerst nicht aus den Wagen aussteigen. Sie hatten solche Angst. Sie wussten ja auch nicht, was für Leute wir Russen sind! Dann begannen sie, langsam den Wagen zu verlassen. Es kamen nur Mädchen heraus. Sie hatten blaue Hemden an. Wir waren alle sehr gespannt, sie und wir gleichermaßen. Wir hörten Wörter, die wir bestimmt kannten, die wir aber trotzdem nicht übersetzten konnten. Das war alles ganz anders als in unserer Deutschstunde. Als Erste erwachten unsere Lehrer: “Natascha, Lena, warum helft ihr den Mädchen nicht? Bitte nehmt ihre Rucksäcke.“

Wir begannen, umständlich unsere Hilfe anzubieten. Die Deutschen rutschten zur Seite. Die Spannung löste sich, als bei einem der Mädchen der Rucksack aufging und alles auf den Bahnsteig fiel: Alle begannen nun, schnell die Sachen wieder einzusammeln. Und was sehen wir? Lippenstifte! Mensch, kein Zweifel. Und wir begannen alle zu lachen und einander zu helfen.

Ein Mädchen kam mit Gitarre. Gut! Das heißt also, dass wir zusammen singen werden.

“Spielst du Gitarre?”, fragte ich. „Wie schön, ich heiße Lena. Und ich spiele Klavier, wie heißt du?“

“Petra. Setzen wir uns im Bus zusammen?”

“Na klar! Und wie alt bist du? 16? Ich bin 15. Und in welche Klasse gehst du? Was willst du in Moskau in erster Linie sehen? Weißt du, du sollst einen Tag in einer Familie verbringen. Kommst du zu mir?”